Vierzehn
Aus Kapstadt kommt ein Anruf. Tante Annie ist auf der Treppe ihrer Wohnung in Rosebank gestürzt. Mit einer gebrochenen Hüfte hat man sie ins Krankenhaus gebracht; jemand muß hinfahren und sich um sie kümmern.
Es ist Juli, mitten im Winter. Über dem ganzen Westkap liegt eine Kälte- und Regenfront. Sie nehmen den Frühzug nach Kapstadt, er, seine Mutter und sein Bruder, dann einen Bus, der die Kloof Street hinauf zum Volkshospitaal fährt. Tante Annie, in ihrem geblümten Nachthemd winzig wie ein Baby, ist in der Frauenstation. Die Station ist voll belegt – alte Frauen mit bösen, abgehärmten Gesichtern schlurfen in Morgenmänteln herum und zischeln vor sich hin; fette, schlampige Frauen mit ausdruckslosen Gesichtern sitzen auf den Bettkanten und lassen unbekümmert die Brust raushängen.
Aus einem Lautsprecher in der Ecke hört man Springbok Radio. Drei Uhr, das Wunschprogramm am Nachmittag:
»Wenn irische Augen lächeln« mit Nelson Riddle und seinem Orchester.
Tante Annie packt den Arm seiner Mutter mit runzliger Hand. »Ich will hier raus, Vera«, flüstert sie heiser. »Das hier ist nichts für mich.«
Die Mutter tätschelt ihre Hand, versucht sie zu beruhigen, auf dem Nachtschränkchen ein Glas Wasser für das Gebiß der Tante und eine Bibel.
Die Stationsschwester sagt ihnen, daß die gebrochene Hüfte gerichtet ist. Tante Annie wird noch einen Monat im Bett bleiben müssen, bis der Knochen wieder zusammengewachsen ist. »Sie ist nicht mehr die Jüngste, es braucht seine Zeit.«
Danach wird sie eine Krücke benutzen müssen.
Später fügt die Schwester noch hinzu, daß die Zehennägel von Tante Annie bei ihrer Einlieferung so lang und schwarz wie Vogelklauen waren.
Der Bruder, gelangweilt, hat angefangen zu quengeln. Er klagt über Durst. Die Mutter hält eine Schwester auf und überredet sie, ihm ein Glas Wasser zu holen. Er schaut verlegen weg.
Man schickt sie den Korridor hinunter zum Büro der Sozialarbeiterin. »Sind Sie die Verwandten?« fragt die Sozialarbeitern!. »Können Sie die Frau bei sich zu Hause aufnehmen?«
Die Mutter preßt die Lippen zusammen. Sie schüttelt den Kopf.
»Warum kann sie nicht in ihre Wohnung zurück?« fragt er die Mutter hinterher.
»Sie kann die Treppe nicht steigen. Sie kann nicht einkaufen gehen.«
»Ich will nicht, daß sie bei uns wohnt.«
»Sie wird nicht bei uns wohnen.«
Die Besuchszeit ist vorüber, Zeit Abschied zu nehmen. Tante Annies Augen füllen sich mit Tränen. Sie klammert sich so fest an den Arm der Mutter, daß ihre Finger mit Gewalt aufgebogen werden müssen. »Ek wil huistoe gaan, Vera«, flüstert sie – ich will nach Hause.
»Nur noch ein paar Tage, Tante Annie, bis du wieder laufen kannst«, sagt die Mutter so beschwichtigend sie kann.
Diese Seite von ihr hat er noch nie gesehen: diese Falschheit.
Dann ist er an der Reihe. Tante Annie streckt die Hand aus.
Tante Annie ist sowohl seine Großtante als auch seine Patin.
Es gibt im Fotoalbum ein Foto von ihr mit einem Baby auf dem Arm, das er sein soll. Sie trägt ein schwarzes knöchellanges Kleid und einen altmodischen schwarzen Hut; im Hintergrund ist eine Kirche zu sehen. Weil sie seine Patin ist, glaubt sie, eine besondere Beziehung zu ihm zu haben.
Offenbar entgeht ihr der Widerwille, den er für sie empfindet, wie sie da verrunzelt und häßlich in ihrem Krankenhausbett liegt, der Widerwille, den er für diese ganze Krankenstation voll häßlicher alter Frauen empfindet. Er versucht, diesen Widerwillen nicht zu zeigen; brennende Scham erfüllt sein Herz. Er erträgt die Hand auf seinem Arm, doch er will weg, fort von diesem Ort und nie zurück.
»Du bist so klug«, sagt Tante Annie mit der leisen, heiseren Stimme, die sie gehabt hat, solange er sich erinnern kann. »Du bist ein großer Mann, deine Mutter verläßt sich auf dich. Du mußt sie liebhaben und sie unterstützen, und deinen kleinen Bruder auch.«
Seine Mutter unterstützen? So ein Quatsch. Die Mutter ist wie ein Fels, wie eine steinerne Säule. Nicht er muß sie unterstützen, sie muß ihn unterstützen! Warum sagt Tante Annie überhaupt so etwas? Sie tut so, als läge sie im Sterben, dabei hat sie doch nur eine gebrochene Hüfte.
Er nickt, versucht ernsthaft und aufmerksam und folgsam auszusehen, während er heimlich bloß darauf wartet, daß sie ihn losläßt. Sie lächelt das bedeutungsvolle Lächeln, das ein Zeichen für die besondere Beziehung zwischen ihr und Veras Erstgeborenem sein soll, eine Beziehung, die er überhaupt nicht empfindet, nicht anerkennt. Ihre Augen sind matt, blaßblau, wäßrig. Sie ist achtzig und beinahe blind. Sogar mit Brille kann sie die Bibel nicht richtig lesen, kann sie nur auf dem Schoß halten und die Worte vor sich hin murmeln.
Sie lockert ihren Griff; er murmelt etwas und zieht sich zurück.
Jetzt ist der Bruder dran. Er läßt den Kuß über sich ergehen.
»Auf Wiedersehen, liebe Vera«, krächzt Tante Annie. »Mag die Here jou seen, jou en die kinders« – Gott segne dich und die Kinder.
Es ist um fünf und wird allmählich dunkel. In der ungewohnten Hektik des städtischen Berufsverkehrs nehmen sie einen Zug nach Rosebank. Sie werden die Nacht in Tante Annies Wohnung verbringen – diese Aussicht versetzt ihn in trübe Stimmung.
Tante Annie hat keinen Kühlschrank. In ihrer Speisekammer ist nichts zu finden außer ein paar verschrumpelten Äpfeln, einem schimmligen halben Laib Brot, einem Glas Fischpaste, der seine Mutter nicht traut. Sie schickt ihn zum indischen Laden; dort haben sie Brot und Marmelade und Tee zum Abendbrot.
Die Kloschüssel ist braun vor Schmutz. Ihm dreht sich der Magen um, wenn er sich die alte Frau mit den langen schwarzen Zehennägeln darauf hockend vorstellt. Er will das Klo nicht benutzen.
»Warum müssen wir hier bleiben?« fragt er. »Warum müssen wir hier bleiben?« echot sein Bruder. »Darum«, sagt die Mutter grimmig.
Tante Annie benutzt 40-Watt-Glühbirnen, um Strom zu sparen. In dem trüben gelben Licht des Schlafzimmers beginnt die Mutter, Tante Annies Sachen in Kartons zu packen.
Er ist noch nie zuvor in Tante Annies Schlafzimmer gewesen. An den Wänden hängen Bilder, gerahmte Fotografien von Männern und Frauen, die steif und abweisend aussehen: Brechers, du Biels, seine Vorfahren.
»Warum kann sie nicht bei Onkel Albert wohnen?«
»Weil Kitty sich nicht um zwei kranke alte Leute kümmern kann.«
»Ich will nicht, daß sie bei uns wohnt.«
»Sie wird nicht bei uns wohnen.«
»Wo dann?«
»Wir werden ein Heim für sie suchen.«
»Was meinst du damit, ein Heim?«
»Ein Heim, ein Heim, ein Altersheim.«
Der einzige Raum in Tante Annies Wohnung, der ihm gefällt, ist der Abstellraum. In ihm sind alte Zeitungen und Kartons bis zur Decke gestapelt. Es gibt Regale voller Bücher, immer das gleiche: ein kompaktes Buch mit rotem Einband, gedruckt auf dickem, groben Papier, das für Afrikaans-Bücher üblich war und wie Löschpapier aussieht, mit Holzspänen und eingeschlossenem Fliegendreck. Der Titel auf dem Buchrücken lautet Ewige Genesing; auf dem Einband vorn steht der volle Titel: Deur ‘n gevaarlike krankheid tot ewige genesing – Durch eine gefährliche Krankheit zur ewigen Genesung. Das Buch hatte sein Urgroßvater, Tante Annies Vater, geschrieben; ihm hat sie – die Geschichte hat er viele Male gehört – fast ihr ganzes Leben gewidmet, zuerst das Manuskript aus dem Deutschen ins Afrikaans übersetzt, dann ihre Ersparnisse geopfert, um einen Drucker in Stellenbosch zu bezahlen, damit er Hunderte von Exemplaren druckte, und einen Buchbinder, damit er einige davon band, dann hat sie die Runde durch die Buchläden von Kapstadt gemacht. Als die Buchhändler nicht überzeugt werden konnten, das Buch zu verkaufen, wanderte sie selbst von Tür zu Tür. Was übriggeblieben ist, liegt hier in den Regalen im Abstellraum; die Kartons enthalten gefaltete, ungebundene bedruckte Seiten.
Er hat versucht, Ewige Genesing zu lesen, aber es ist zu öde.
Kaum hat Balthazar du Biel mit der Geschichte seiner Kindheit in Deutschland angefangen, da unterbricht er sie mit langen Berichten von Lichtern am Himmel und Stimmen, die aus den Wolken zu ihm dringen. Das ganze Buch ist offenbar so: kurzen Stücken über sich selbst folgen lange Nacherzählungen dessen, was die Stimmen ihm gesagt haben. Er tauscht mit dem Vater alte Witze über Tante Annie und ihren Vater Balthazar du Biel aus. Sie intonieren den Buchtitel in der salbungsvollen, singenden Art eines predikant und ziehen die Vokale in die Länge: »Deur ’n gevaaaarlike kranmmkheid tot eeeewige geneeeeesing.«
»War Tante Annies Vater verrückt?« fragt er die Mutter.
»Ja, ich glaube, er war verrückt.«
»Warum hat sie dann ihr ganzes Geld dafür ausgegeben, um sein Buch drucken zu lassen?«
»Ganz bestimmt hat sie Angst vor ihm gehabt. Er war ein schrecklicher alter Deutscher, schrecklich grausam und herrschsüchtig. Seine Kinder hatten alle Angst vor ihm.«
»Aber war er nicht schon tot?«
»Ja, er war schon tot, doch sie hatte bestimmt noch das Gefühl, es ihm schuldig zu sein.«
Sie möchte Tante Annie und ihr Pflichtgefühl dem verrückten alten Mann gegenüber nicht kritisieren.
Das Beste im Abstellraum ist die Buchpresse. Sie ist aus Eisen und so schwer und kompakt wie das Rad einer Lokomotive. Er überredet den Bruder, seine Arme unter die Presse zu legen; dann dreht er an der großen Schraube, bis seine Arme festgenagelt sind und er nicht fort kann. Danach wechseln sie die Plätze, und der Bruder macht dasselbe mit ihm.
Ein oder zwei Umdrehungen mehr, denkt er, und die Knochen zersplittern. Wozu erdulden sie das, sie beide?
Während ihrer ersten Monate in Worcester wurden sie auf eine der Farmen eingeladen, die Standard Canners mit Obst belieferten. Während die Erwachsenen Tee tranken, streiften er und sein Bruder auf dem Farmhof umher. Dort stießen sie auf eine Maismühle. Er überredete den Bruder, seine Hand in den Trichter zu stecken, in den die Maiskörner geschüttet wurden; dann drehte er an der Kurbel. Einen Augenblick lang, ehe er zu drehen aufhörte, konnte er fühlen, wie die zarten Fingerknochen zermalmt wurden. Der Bruder stand mit der Hand in der Maschine gefangen da, aschfahl vor Schmerz, und hatte einen verwunderten, fragenden Blick.
Ihre Gastgeber brachten sie alle eilig ins Krankenhaus, wo ein Arzt dem Bruder den halben Mittelfinger der linken Hand amputierte. Eine Weile lang lief er mit bandagierter Hand und mit dem Arm in einer Schlinge herum; dann trug er eine kleine schwarze Lederkappe über dem Fingerstumpf. Er war sechs Jahre alt. Obwohl keiner so tat, als würde der Finger wieder nachwachsen, beklagte er sich nicht.
Er hat sich nie bei seinem Bruder entschuldigt, und er ist auch nie gescholten worden für das, was er getan hat.
Trotzdem liegt die Erinnerung wie eine schwere Last auf ihm, die Erinnerung an den sanften Widerstand von Fleisch und Knochen und dann das Knirschen.
»Du kannst zumindest stolz darauf sein, jemanden in der Familie zu haben, der was mit seinem Leben angefangen hat, der etwas hinter sich gelassen hat«, sagt die Mutter.
»Du hast gesagt, daß er ein schrecklicher alter Mann gewesen ist. Du hast gesagt, daß er grausam gewesen ist.«
»Ja, aber er hat etwas mit seinem Leben angefangen.«
Auf der Fotografie in Tante Annies Schlafzimmer hat Balthazar du Biel grimmige, stechende Augen und einen schmalen, harten Mund. Seine Frau neben ihm wirkt müde und mürrisch. Balthazar du Biel lernte sie, die Tochter eines anderen Missionars, kennen, als er nach Südafrika kam, um die Heiden zu bekehren. Später nahm er sie und ihre drei Kinder mit nach Amerika, als er dorthin reiste, um das Evangelium zu verkünden. Auf einem Schaufelraddampfer auf dem Mississippi schenkte irgend jemand seiner Tochter Annie einen Apfel, den sie ihm zeigte. Er verabreichte ihr eine Tracht Prügel, weil sie mit einem Fremden gesprochen hatte. Das sind die wenigen Tatsachen, die er über Balthazar weiß, hinzu kommt der Inhalt des plumpen roten Buches, von dem es viel mehr Exemplare auf der Welt gibt, als die Welt haben will.
Balthazars drei Kinder sind Annie, Louisa – die Mutter seiner Mutter – und Albert, der auf den Fotos in Tante Annies Schlafzimmer als ängstlich blickender Junge im Matrosenanzug erscheint. Jetzt ist Albert Onkel Albert, ein krummer alter Mann mit schwammigem weißen Fleisch wie ein Pilz, der die ganze Zeit zittert und beim Gehen gestützt werden muß. Onkel Albert hat nie in seinem Leben ein richtiges Gehalt gehabt. Er hat sein Leben mit dem Schreiben von Büchern und Geschichten verbracht; seine Frau war diejenige, die arbeiten ging.
Er fragt seine Mutter nach den Büchern von Onkel Albert aus. Sie hat eins davon vor langer Zeit gelesen, kann sich aber nicht daran erinnern. »Sie sind sehr altmodisch. Die Leute lesen heute solche Bücher nicht mehr.«
Zwei Bücher von Onkel Albert findet er in der Abstellkammer, gedruckt auf dem gleichen dicken Papier wie Ewige Genesing,aber in braunem Einband, vom gleichen Braun wie die Bänke auf Bahnhöfen. Das eine heißt Kain, das andere Die Sondes van die vaders, Die Sünden der Väter.
»Kann ich die mitnehmen?« fragt er die Mutter. »Bestimmt«, sagt sie. »Keiner wird sie vermissen.«
Er versucht, Die Sondes van die vaders zu lesen, kommt aber nicht weiter als Seite zehn, es ist zu langweilig.
»Du mußt deine Mutter lieben und sie unterstützen.« Er grübelt über Tante Annies Belehrungen. Lieben – ein Wort, das er mit Widerwillen ausspricht. Sogar seine Mutter hat gelernt, nicht Ich liebe dich zu ihm zu sagen, obwohl sie ab und an beim Gutenachtsagen ein weiches mein Lieber einfließen läßt.
Für ihn hat die Liebe keinen Sinn. Wenn sich in Filmen Männer und Frauen küssen und Violinen leise und schmelzend im Hintergrund spielen, windet er sich auf seinem Sitz. Er schwört, daß er nie so sein wird: weich, schmachtend.
Er läßt sich nicht küssen, außer von den Schwestern seines Vaters, und für die macht er eine Ausnahme, weil sie es so gewohnt sind und es nicht anders verstehen. Das Küssen gehört zum Preis, den er dafür zahlt, auf die Farm zu kommen; eine schnelle Berührung ihrer Lippen, die zum Glück immer trocken sind, durch seine. In der Familie seiner Mutter küßt man sich nicht. Und auch Mutter und Vater hat er sich nicht richtig küssen sehen. Manchmal, wenn andere Leute da sind und sie aus irgendeinem Grund etwas vorspielen müssen, küßt der Vater die Mutter auf die Wange. Sie bietet ihm zögernd die Wange, ärgerlich, als zwinge man sie; sein Kuß ist leicht, schnell, nervös.
Nur einmal hat er den Penis seines Vaters gesehen. Das war 1945, als der Vater gerade aus dem Krieg gekommen war und die ganze Familie in Voelfontein versammelt war. Der Vater und zwei seiner Brüder gingen auf die Jagd und nahmen ihn mit. Es war ein heißer Tag; als sie an ein Wasserreservoir kamen, beschlossen sie zu schwimmen. Als er merkte, daß sie nackt schwimmen wollten, versuchte er sich zurückzuziehen, aber sie wollten ihn nicht in Frieden lassen. Sie waren lustig und voller Scherze; sie wollten, daß er sich auszog und auch schwamm, aber er mochte nicht. Da sah er alle drei Penisse, den seines Vaters am deutlichsten, blaß und weiß. Er erinnert sich noch deutlich daran, wie widerwärtig es ihm war, daß er sie anschauen mußte.
Seine Eltern schlafen in getrennten Betten. Sie haben nie ein Doppelbett gehabt. Das einzige Doppelbett, das er gesehen hat, ist auf der Farm, im Hauptschlafzimmer, wo der Großvater und die Großmutter zu schlafen pflegten. Er hält Doppelbetten für altmodisch, sie gehören zu der Zeit, als die Frauen jedes Jahr ein Kind gebaren, wie die Mutterschafe oder Sauen. Er ist dankbar, daß seine Eltern diese Angelegenheit hinter sich gebracht hatten, ehe er darüber Bescheid wußte.
Er ist bereit zu glauben, daß vor langer Zeit, in West-Victoria, ehe er geboren wurde, seine Eltern sich liebten, da Liebe eine Voraussetzung fürs Heiraten zu sein scheint. Es gibt Fotos im Album, die das offenbar bezeugen: die beiden dicht beisammen beim Picknick, zum Beispiel. Doch das alles muß schon Vorjahren aufgehört haben, und er denkt, daß das auch besser für sie alle ist.
Was nun ihn angeht, was hat das heftige und zornige Gefühl, das er für seine Mutter spürt, mit dem Geschmachte auf der Leinwand zu tun? Die Mutter liebt ihn, das gibt er zu; doch das ist ja das Problem, das ist es ja gerade, was falsch und nicht richtig ist, falsch an ihrer Haltung ihm gegenüber. Ihre Liebe zeigt sich vor allem in ihrer Wachsamkeit, ihrer Bereitschaft, hinzuzuspringen und ihn zu retten, sollte er je in Gefahr sein.
Wenn er wollte (aber er würde das nie wollen), könnte er sich in ihrer Fürsorge ausruhen und für den Rest seines Lebens von ihr getragen werden. Weil er sich ihrer Fürsorge so sicher ist, nimmt er sich ihr gegenüber so in Acht, entspannt nie, gibt ihr nie eine Chance.
Er sehnt sich danach, ihrer steten Aufmerksamkeit zu entgehen. Es kommt vielleicht die Zeit, wenn er, um das zu erreichen, sich durchsetzen und sie so brutal zurückstoßen muß, daß sie schockiert zurückweichen und ihn freigeben muß.
Doch er braucht nur an diesen Augenblick zu denken, sich ihren überraschten Blick vorzustellen, ihr Verletztsein zu spüren, und er wird von Schuldgefühlen übermannt. Dann tut er alles, um den Schlag zu mildern – sie zu trösten, ihr zu versprechen, er wird nie weggehen.
Da er ihr Verletztsein spürt, so genau, als sei er ein Teil von ihr und sie ein Teil von ihm, weiß er, daß er in der Falle sitzt und nicht heraus kann. Wer ist daran schuld? Er gibt ihr die Schuld, er ist wütend auf sie, doch er schämt sich auch wegen seiner Undankbarkeit. Liebe – das bedeutet Liebe wirklich, dieser Käfig, in dem er hin- und herläuft, hin und her, wie ein armer verstörter Pavian. Was versteht schon die törichte, unschuldige Tante Annie von der Liebe? Er weiß tausendmal mehr von der Welt als sie, die ihr Leben verschwendet hat, als sie sich mit dem verrückten Manuskript ihres Vaters abrackerte. Sein Herz ist alt, es ist finster und hart, ein Herz von Stein. Das ist sein verächtliches Geheimnis.