Fünf

Daß er katholisch ist, gehört nur zu seinem Schulleben. Daß er die Russen mehr mag als die Amerikaner, ist ein Geheimnis, so düster, daß er es keinem anvertrauen kann. Russenfreundlichkeit ist eine ernste Sache. Sie kann dazu führen, daß man geächtet wird.

  In seinem Schrank hat er in einem Karton das Heft mit den Zeichnungen, die er 1947 auf dem Höhepunkt seiner Begeisterung für die Russen angefertigt hat. Die Zeichnungen, mit weichem Bleistift ausgeführt und mit Wachsstiften ausgemalt, zeigen russische Flugzeuge, die amerikanische vom Himmel schießen, russische Schiffe, die amerikanische versenken. Obwohl die Leidenschaft jenes Jahres, als im Radio plötzlich eine Haßkampagne gegen die Russen begann und jeder Stellung beziehen mußte, abgeflaut ist, hält er fest an seiner heimlichen Treue – Treue den Russen gegenüber, doch noch mehr Treue sich selbst gegenüber, wie er war, als er diese Zeichnungen anfertigte.

  Hier in Worcester gibt es keinen, der weiß, daß er die Russen mag. In Kapstadt hatte es Freund Nicky gegeben, seinen Gefährten bei Kriegsspielen mit Bleisoldaten und einer Kanone mit Sprungfeder, die Streichhölzer verschoß; doch als er mitbekam, wie gefährlich seine Bündnistreue war, was auf dem Spiel stand, ließ er sich erst von Nicky schwören, daß er nichts verraten würde, und dann, um ganz sicherzugehen, erzählte er ihm, er hätte die Seiten gewechselt und wäre jetzt für die Amerikaner. In Worcester gibt es außer ihm keinen Menschen, der für die Russen ist. Seine Treue zum Roten Stern macht ihn zum absoluten Außenseiter.

  Woher stammt nur diese Vernarrtheit, die sogar ihm seltsam vorkommt? Seine Mutter heißt Vera – Vera, mit dem eisigen großen ein Pfeil, der nach unten schießt. Vera sei ein russischer Name, hat sie ihm einmal erzählt. Als man ihm die Russen und die Amerikaner zum ersten Mal als Gegner vorsetzte, zwischen denen er zu wählen hatte (»Für wen bist du, für Smuts oder Malan? Für wen bist du, für Superman oder Captain Marvel? Für wen bist du, für die Russen oder die Amerikaner?«), entschied er sich für die Russen, wie er sich für die Römer entschieden hatte – weil er den Buchstaben r mag, besonders das große R, den stärksten von allen Buchstaben.

  Er entschied sich 1947 für die Russen, als alle anderen sich für die Amerikaner entschieden; und da er sich für sie entschieden hatte, verschlang er alles, was es über sie zu lesen gab. Sein Vater hatte eine dreibändige Geschichte des Zweiten Weltkrieges gekauft. Er liebte diese Bücher und studierte sie, studierte die Fotos von russischen Soldaten in weißen Skiuniformen, von russischen Soldaten mit Maschinenpistolen, die gebückt durch die Ruinen von Stalingrad huschten, von russischen Panzerkommandanten, die durch ihre Ferngläser starrten. (Der russische T-34 war der beste Panzer der Welt, besser als der amerikanische Sherman, besser sogar als der deutsche Tiger.) Immer wieder kam er zu einem Gemälde zurück, das einen russischen Piloten zeigte, der mit seinem Sturzkampfbomber über einer brennenden, vernichteten deutschen Panzerkolonne abdrehte. Er bekannte sich zu allem Russischen. Er bekannte sich zum strengen, doch väterlichen Feldmarschall Stalin, dem größten und weitsichtigsten Strategen des Krieges; er bekannte sich zum Barsoi, dem russischen Windhund, dem schnellsten aller Hunde. Er wußte alles Wissenswerte über Rußland: seine Größe in Quadratmeilen, seine Kohleförderung und Stahlproduktion in Tonnen, die Länge seiner großen Flüsse: Wolga, Dnjepr, Jenissei, Ob.

  Dann wurde ihm klar, durch die Mißbilligung der Eltern, durch die Verwunderung der Freunde, durch das, was sie ihren Eltern über ihn erzählten – die Parteinahme für die Russen war kein Spiel mehr, sie war nicht erlaubt.

  Anscheinend läuft immer etwas schief. Was er will, was er mag, muß früher oder später zum Geheimnis werden. Allmählich hält er sich für eine dieser Spinnen, die in einem Loch im Boden mit einer Falltür leben. Immer muß die Spinne in ihr Loch zurückhuschen, die Falltür hinter sich schließen, die Welt aussperren, sich verstecken.

  In Worcester hält er seine russische Vergangenheit geheim, versteckt das verwerfliche Heft mit den Zeichnungen, auf denen feindliche Kampfflugzeuge Rauchfahnen hinter sich herziehend ins Meer stürzen und Kriegsschiffe mit dem Bug voran in den Wellen versinken. Das Malen ersetzt er durch Phantasie-Cricketspiele. Er benutzt ein Strandschlagholz und einen Tennisball. Die Herausforderung besteht darin, den Ball so lange wie möglich in der Luft zu halten. Stundenlang umkreist er den Eßzimmertisch und schlägt den Ball in die Luft. Alle Vasen und Nippes sind fortgeräumt; jedesmal wenn der Ball gegen die Decke prallt, rieselt feiner roter Staub herab.

  Er spielt ganze Spiele, elf Schlagmänner pro Mannschaft schlagen jeweils zweimal. Jeder Treffer zählt als ein Lauf. Wenn seine Aufmerksamkeit nachläßt und er den Ball verfehlt, scheidet ein Schlagmann aus, und er vermerkt den Spielstand auf der Anschreibekarte. Es ergeben sich gewaltige Summen: fünfhundert Läufe, sechshundert Läufe. Einmal erzielt England tausend Läufe, was noch keine wirkliche Mannschaft je geschafft hat. Manchmal gewinnt England, manchmal Südafrika; seltener Australien oder Neuseeland.

  In Rußland und Amerika spielt man kein Cricket. Die Amerikaner spielen Baseball; die Russen scheinen gar nichts zu spielen, vielleicht weil es dort immer schneit.

  Er weiß nicht, was die Russen so machen, wenn sie nicht gerade Krieg führen. Von seinen privaten Cricketspielen erzählt er den Freunden nichts, die sind nur für zu Hause. Als sie noch neu in Worcester waren, ist einmal ein Junge aus seiner Klasse zur offenen Haustür hereingekommen und hat ihn unter einem Stuhl auf dem Rücken liegend entdeckt. »Was machst du da?« hat er gefragt. »Ich denke«, hat er ohne zu überlegen gesagt: »Ich denke gern.« Bald wußten alle in seiner Klasse davon: Der Neue war verrückt, er war nicht normal. Aus diesem Fehler hat er gelernt, vorsichtiger zu sein. Vorsichtig zu sein, heißt zum Beispiel, eher weniger als mehr zu erzählen.

  Er spielt auch richtiges Cricket mit jedem, der dazu bereit ist. Doch richtiges Cricket auf dem freien Platz im Zentrum von Reunion Park ist unerträglich langsam; der Ball wird ständig vom Schlagmann verfehlt, vom Torwächter verfehlt, verschwindet irgendwo. Er haßt es, nach verschwundenen Bällen zu suchen. Er haßt auch das Spiel als Fänger auf steinigem Boden, wo man sich beim Hinfallen jedesmal Hände und Knie aufschrammt. Er will nur Schlagmann oder Werfer sein, das ist alles.

  Er beschwatzt den Bruder, obwohl der erst sechs ist, verspricht ihm, daß er mit seinen Spielsachen spielen darf, wenn er für ihn im Hinterhof den Ball bowlt. Eine Weile bowlt der Bruder, dann verliert er die Lust, es langweilt ihn, und er huscht schutzsuchend ins Haus. Dann versucht er, seiner Mutter das Bowlen beizubringen, doch sie stellt sich ungeschickt an. Während er allmählich verzweifelt, schüttet sie sich aus vor Lachen über ihre Unbeholfenheit. Deshalb erlaubt er ihr, den Ball einfach zu werfen. Doch am Ende ist das Schauspiel zu peinlich, zu leicht von der Straße aus zu beobachten: eine Mutter, die mit ihrem Sohn Cricket spielt.

  Er halbiert eine Marmeladenbüchse und nagelt die untere Hälfte an einen 60 Zentimeter langen hölzernen Arm. Er befestigt den Arm an einer Achse, die er durch die Wände einer mit Ziegelsteinen beschwerten Transportkiste steckt. Ein Stück Fahrradschlauch zieht den Arm nach vorn, und ein Seil, das durch einen Haken in der Kiste läuft, zieht ihn nach hinten. Er legt einen Ball in die Blechbüchse, geht zehn Schritte zurück, zieht an dem Seil, bis der Gummischlauch gespannt ist, klemmt das Seil unter seine Ferse, nimmt die Schlagposition ein und läßt das Seil fahren. Manchmal fliegt der Ball in den Himmel, manchmal ihm direkt an den Kopf; doch hin und wieder fliegt er in seine Reichweite, und er kann ihn schlagen. Das befriedigt ihn – er ist Werfer und Schlagmann zugleich, er hat es geschafft, nichts ist unmöglich.

  Eines Tages fordert er Greenberg und Goldstein in einer vertrauensseligen Stimmung auf, ihre frühesten Erinnerungen hervorzuholen. Greenberg sträubt sich – das ist ein Spiel, auf das er sich nicht einlassen will. Goldstein bietet eine lange und witzlose Geschichte, wie er an den Strand mitgenommen wird, eine Geschichte, der er kaum zuhört. Denn er hat sich das Spiel natürlich ausgedacht, damit er seine erste Erinnerung erzählen kann.

  Er beugt sich aus dem Fenster ihrer Wohnung in Johannesburg. Die Dämmerung bricht herein. Unten auf der Straße kommt ein Auto angerast. Ein Hund, ein kleiner gefleckter Hund, läuft vor das Auto, das den Hund überfährt – die Räder fahren dem Hund mitten über den Leib. Mit gelähmten Hinterpfoten schleppt sich das Tier fort und jault vor Schmerz. Ganz bestimmt wird es sterben; doch in dem Moment zieht man ihn schnell vom Fenster weg.

  Das ist eine großartige erste Erinnerung, sie stellt alles in den Schatten, was der arme Goldstein ausgraben kann. Aber ist sie auch wahr? Warum hat er sich aus dem Fenster gelehnt und auf eine leere Straße geschaut? Hat er wirklich gesehen, wie das Auto den Hund überfahren hat, oder hat er nur einen Hund jaulen hören und ist zum Fenster gerannt? Hat er vielleicht nur gesehen, wie ein Hund seine Hinterpfoten nachgeschleppt hat, und der Rest der Geschichte mit Auto und Fahrer ist von ihm frei erfunden?

  Da gibt es noch eine frühe Erinnerung, eine, der er mehr traut, die er aber nie erzählen würde, ganz bestimmt nicht Greenberg und Goldstein, die sie in der Schule ausposaunen und ihn damit lächerlich machen würden.

  Er sitzt neben seiner Mutter in einem Bus. Es muß kalt sein, denn er hat rote Wollhosen an und eine Wollmütze mit einer Bommel auf. Der Motor des Busses quält sich ab; sie fahren den wilden und einsamen Swartberg-Paß hinauf.

  In der Hand hat er ein Bonbonpapier. Er hält das Papier aus dem Fenster, das einen Spalt offensteht. Es flattert und zittert im Wind.

  »Soll ich es loslassen?« fragt er die Mutter.

  Sie nickt. Er läßt es los.

  Das Stück Papier fliegt hoch in den Himmel. Dort unten ist nichts als der schreckliche Abgrund des Passes, umgeben von kalten Berggipfeln. Er verrenkt sich den Hals und erhascht nach hinten hinaus einen letzten Blick auf das Papier, das immer noch tapfer fliegt.

  »Was wird aus ihm?« fragt er die Mutter; doch sie versteht nicht.

  Das ist die andere frühe Erinnerung, die geheime. Er denkt immerzu an das Stück Papier, allein in dieser unendlichen Weite, das er im Stich gelassen hat, als er es nicht hätte tun dürfen. Eines Tages muß er wieder zum Swartberg-Paß und es finden und retten. Das ist seine Pflicht: Er darf nicht sterben, bis er es getan hat.

  Seine Mutter verachtet Männer, die »zwei linke Hände« haben, und zu denen zählt sie auch seinen Vater, doch ebenso ihre eigenen Brüder, und vor allem ihren ältesten Bruder Roland, der die Farm hätte behalten können, wenn er hart genug gearbeitet hätte, um die Schulden abzuzahlen, es aber nicht getan hat. Von den vielen Onkeln väterlicherseits (er zählt acht blutsverwandte und weitere acht angeheiratete) bewundert sie am meisten Joubert Olivier, der auf Skipperskloof einen Generator installiert hat und sich sogar selbst die Grundlagen der Zahnheilkunde beigebracht hat. (Bei einem seiner Besuche auf der Farm bekommt er Zahnschmerzen. Onkel Joubert setzt ihn auf einen Stuhl unter einen Baum und bohrt ohne Betäubung das Loch und füllt es mit Guttapercha. Noch nie in seinem Leben hat er so gelitten.) Wenn etwas kaputtgeht – Teller, Nippes, Spielzeug –, repariert das die Mutter selbst: mit Strick, mit Leim. Die Dinge, die sie zusammenbindet, werden locker, weil sie keine Ahnung von Knoten hat. Die Dinge, die sie klebt, fallen auseinander; sie schiebt es auf den Leim.

  Die Küchenschubfächer sind voller krummer Nägel, Strickenden, Bälle aus Stanniolpapier, alter Briefmarken.

  »Warum hebst du das auf?« fragt er. »Man kann ja nie wissen«, antwortet sie.

  Wenn sie schlechte Laune hat, verunglimpft sie alle Bücherweisheit. Die Kinder sollte man in die Berufsschule schicken, sagt sie, und dann arbeiten lassen. Studieren ist sinnlos. Am besten lernt man Möbeltischler oder Zimmermann, wie man Holz bearbeitet. Von der Landwirtschaft ist sie enttäuscht; es gibt jetzt, wo die Farmer plötzlich reich geworden sind, zu viel Faulheit, zu viel Protzerei unter ihnen.

  Denn der Wollpreis ist kräftig gestiegen. Laut Rundfunkmeldungen zahlen die Japaner für die beste Qualität ein Pfund pro Pfund. Schaffarmer kaufen neue Autos und leisten sich Urlaub am Meer. »Du mußt uns etwas von deinem Geld abgeben, wo du jetzt so reich bist«, sagt sie zu Onkel Son bei einem ihrer Besuche auf Voelfontein. Sie lächelt, als sie das sagt, und tut so, als sei es ein Scherz, aber es ist nicht lustig. Onkel Son sieht verlegen aus und erwidert leise etwas, das er nicht versteht.

  Die Farm sollte eigentlich nicht an Onkel Son allein vererbt werden, erzählt ihm die Mutter; sie wurde allen zwölf Söhnen und Töchtern zu gleichen Teilen vermacht. Damit sie nicht versteigert werden mußte, kamen die Geschwister überein, ihre Anteile an Son zu verkaufen; von diesem Verkauf blieben allen Schuldscheine über ein paar Pfund. Nun ist die Farm wegen der Japaner Tausende Pfund wert. Son sollte sein Geld teilen.

  Er schämt sich für seine Mutter wegen der Taktlosigkeit, mit der sie über Geld spricht.

  »Du mußt Arzt oder Rechtsanwalt werden«, sagt sie zu ihm.

  »Das sind die Leute, die Geld machen.« Bei anderen Gelegenheiten erzählt sie ihm jedoch, daß alle Anwälte Gauner sind. Er fragt nicht, wie sein Vater in dieses Bild paßt, sein Vater, der Anwalt, der kein Geld gemacht hat.

  Den Ärzten sind ihre Patienten gleichgültig, sagt sie. Sie verschreiben einfach Pillen. Die Afrikaans-Ärzte sind die schlimmsten, weil sie noch dazu inkompetent sind.

  Sie macht zu verschiedenen Gelegenheiten so verschiedene Äußerungen, daß er nicht weiß, was sie wirklich denkt. Er und sein Bruder diskutieren mit ihr, sie weisen sie auf die Widersprüche hin. Wenn sie glaubt, daß Farmer besser als Rechtsanwälte sind, warum hat sie dann einen Rechtsanwalt geheiratet? Wenn sie findet, daß Schulwissen nichts taugt, warum ist sie dann Lehrerin geworden? Je mehr sie mit ihr diskutieren, desto mehr lächelt sie. Das Geschick ihrer Kinder, mit Worten umzugehen, macht ihr so viel Freude, daß sie alles zugibt, sich kaum verteidigt, weil sie ihnen den Sieg gönnt.

  Er versteht ihre Freude nicht. Er findet diese Diskussionen nicht lustig. Ihm wäre lieber, wenn sie an etwas glauben würde. Ihre Pauschalurteile, aus vorübergehenden Launen geboren, regen ihn auf.

  Er seinerseits wird wahrscheinlich Lehrer werden. Das wird sein Leben sein, wenn er erwachsen ist. Scheint eine ziemlich langweilige Sache zu sein, aber was gibt es sonst? Ziemlich lange wollte er Lokführer werden. »Was willst du einmal werden?« fragten seine Tanten und Onkel immer. »Lokführer!« krähte er, und alle nickten und lächelten. Jetzt begreift er, daß man von allen kleinen Jungen erwartet, daß sie »Lokführer« sagen, wie man von kleinen Mädchen erwartet, daß sie »Krankenschwester« sagen. Er ist nicht mehr klein, er gehört zur Welt der Großen; er wird sich vom Traum, ein großes Dampfroß zu fahren, verabschieden und sich der Realität anpassen müssen. Seine schulischen Leistungen sind gut, er weiß sonst nichts, was er gut kann, deshalb wird er bei der Schule bleiben und sich hocharbeiten. Vielleicht wird er eines Tages sogar Schulrat. Jedenfalls wird er keine Büroarbeit machen; von früh bis spät zu arbeiten, mit nur zwei Wochen Urlaub im Jahr, hält er nicht aus.

  Was für eine Art Lehrer wird er werden? Er kann sich nur ein verschwommenes Bild von sich selbst machen. Er sieht eine Gestalt im sportlichen Sakko und in grauer Flanellhose (das ist offenbar die Lehrertracht) mit Büchern unterm Arm einen Korridor entlanggehen. Es ist nur ein flüchtiges Bild, das gleich wieder verblaßt. Das Gesicht sieht er nicht.

  Er hofft, daß er, wenn es soweit ist, nicht als Lehrer an einen Ort wie Worcester geschickt wird. Aber vielleicht ist Worcester ein Fegefeuer, durch das man hindurchmuß. Vielleicht schickt man Leute nach Worcester, um sie zu testen.

  Eines Tages müssen sie in der Schule einen Aufsatz schreiben: »Was ich am Morgen mache.« Sie sollen beschreiben, was sie machen, ehe sie zur Schule gehen. Er weiß, was erwartet wird: Wie er sein Bett macht, wie er das Frühstücksgeschirr abwäscht, wie er sich Pausenbrote abschneidet. Obwohl er in Wirklichkeit nichts dergleichen tut – das alles macht seine Mutter für ihn –, lügt er gut genug, um nicht entdeckt zu werden. Doch er geht zu weit, als er beschreibt, wie er seine Schuhe putzt. Er hat noch nie im Leben seine Schuhe geputzt. Im Aufsatz schreibt er, daß man die Bürste benutzt, um den Dreck abzubürsten, und danach trägt man die Schuhcreme auf. Miss Oosthuizen versieht den Heftrand neben der Schuhputzgeschichte mit einem dicken blauen Ausrufezeichen. Es ist ihm äußerst peinlich, er betet, daß sie ihn ja nicht auffordert, seinen Aufsatz der Klasse vorzulesen. An jenem Abend paßt er genau auf, als die Mutter seine Schuhe putzt, damit er es nicht noch einmal falsch macht.

  Er läßt die Mutter seine Schuhe putzen, wie er sie alles für sich tun läßt, was sie will. Das einzige, was er ihr nicht mehr gestattet, ist, daß sie ins Bad kommt, wenn er sich ausgezogen hat.

  Er weiß, daß er lügt, weiß, daß er schlecht ist, aber er ändert sich nicht. Er ändert sich nicht, weil er sich nicht ändern will. Daß er sich von anderen Jungen unterscheidet, hat vielleicht etwas mit seiner Mutter zu tun und mit seiner unnatürlichen Familie, aber auch mit seinen Lügen. Wenn er aufhören würde zu lügen, müßte er seine Schuhe putzen und höflich sein und alles tun, was normale Jungen tun. Dann wäre er nicht mehr er selbst. Wenn er nicht mehr er selbst wäre, was hätte das Leben dann noch für einen Sinn?

  Er lügt, und er ist hartherzig – er belügt die Welt im allgemeinen und ist seiner Mutter gegenüber hartherzig. Es tut seiner Mutter weh, merkt er, daß er sich immer mehr von ihr entfernt. Trotzdem verhärtet er sein Herz und will sich nicht erweichen lassen. Seine einzige Entschuldigung ist, daß er auch zu sich selbst ohne Mitleid ist. Er lügt, aber er belügt sich nicht selbst.

  »Wann wirst du sterben?« fragt er sie eines Tages herausfordernd, erstaunt über seine eigene Kühnheit.

  »Ich werde nicht sterben«, antwortet sie. Sie spricht in munterem Ton, aber ihre Munterkeit klingt gekünstelt.

  »Und wenn du nun Krebs bekommst?«

  »Krebs bekommt man nur durch einen Schlag vor die Brust. Ich bekomme keinen Krebs. Ich lebe ewig. Ich werde nicht sterben.«

  Er weiß, warum sie das sagt. Sie sagt das ihm und seinem Bruder zuliebe, damit sie sich keine Sorgen machen. Es ist dumm, so etwas zu sagen, aber er ist ihr dankbar dafür.

  Er kann sich nicht vorstellen, daß sie stirbt. Sie ist der Fixpunkt in seinem Leben. Sie ist der Fels, auf dem er steht. Ohne sie wäre er nichts.

  Sie paßt gut auf, daß ihre Brust keinen Stoß abbekommt. Seine allererste Erinnerung, noch früher als die an den Hund, früher als die an das Bonbonpapier, ist die Erinnerung an ihre weiße Brust. Er vermutet, daß er ihr als Baby wehgetan hat, mit den kleinen Fäusten gegen ihre Brust geschlagen hat, sonst würde sie ihm jetzt die Brust nicht so entschieden verweigern, sie, die ihm sonst nichts verweigert.

  Krebs ist die große Angst ihres Lebens. Was ihn angeht, so hat man ihm beigebracht, auf Schmerzen in der Seite zu achten, jeden Stich als Anzeichen von Blinddarmentzündung zu deuten. Wird ihn der Krankenwagen ins Krankenhaus bringen können, bevor der Blinddarm platzt? Wird er aus der Narkose jemals wieder erwachen? Ihm gefällt der Gedanke nicht, daß ihn ein fremder Arzt aufschneidet. Andererseits wäre es ganz nett, hinterher eine Narbe zu haben, die man herumzeigen könnte. Wenn in der Schulpause Erdnüsse und Rosinen verteilt werden, bläst er die papierdünnen roten Häute der Erdnüsse fort, die im Ruf stehen, sich im Blinddarm festzusetzen und dort Entzündungen hervorzurufen.

  Er geht ganz in seinen Sammlungen auf. Er sammelt Briefmarken. Er sammelt Bleisoldaten. Er sammelt Bilder – Bilder von australischen Cricketspielern, Bilder von englischen Fußballern, Bilder von Autos aus aller Welt. Um an die Bilder zu kommen, muß er Packungen mit Zigaretten aus Nougat und Zuckerguß kaufen, die rosabemalte Enden haben. Seine Hosentaschen sind immer voller schmelzender, klebriger Zigaretten, die er zu essen vergessen hat.

  Viele Stunden bringt er mit seinem Meccano-Baukasten zu und zeigt so seiner Mutter, daß auch er geschickte Hände hat.

  Er baut mit paarweise verbundenen Scheiben eine Windmühle, deren Flügel so schnell angekurbelt werden können, daß ein Luftzug durchs Zimmer streicht.

  Er läuft um den Hof, wirft dabei einen Cricketball in die Luft und fängt ihn, ohne aus dem Tritt zu kommen. Was ist die wahre Flugbahn des Balles: Steigt er gerade in die Luft und fällt gerade herunter, wie er es sieht, oder beschreibt er im Aufsteigen und Fallen einen Kreis, wie es ein stillstehender Zuschauer sehen würde? Wenn er mit seiner Mutter über solche Dinge redet, sieht er die Verzweiflung in ihren Augen – sie weiß, daß diese Dinge wichtig sind, und möchte verstehen, warum, kann es aber nicht. Er hingegen wünscht sich, daß sie an den Dingen um ihrer selbst willen interessiert ist, nicht nur weil sie ihn interessieren.

  Wenn es etwas Handwerkliches zu tun gibt, was er nicht tun kann und sie nicht tun kann, wie zum Beispiel einen tropfenden Hahn zu reparieren, ruft sie einen Farbigen von der Straße herein, irgendeinen, einen, der gerade vorbeikommt.

  Warum, fragt er sich verärgert, hat sie diesen Glauben an Farbige? Weil sie es gewöhnt sind, mit den Händen zu arbeiten, antwortet sie. Eben weil sie nicht zur Schule gegangen sind, eben weil sie kein Schulwissen haben, scheint sie damit zu sagen, wissen sie, wie die Dinge in der Realität funktionieren.

  Es ist einfältig, das zu glauben, besonders wenn sich dann herausstellt, daß diese Leute keine Ahnung haben, wie man einen Wasserhahn abdichtet oder einen Küchenherd repariert.

  Doch es unterscheidet sich so von dem, was alle anderen glauben, ist so wunderlich, daß er es liebenswert findet, ohne es zu wollen. Es ist ihm lieber, daß seine Mutter von den Farbigen wahre Wunder erwartet, als wenn sie gar nichts von ihnen erwarten würde.

  Er versucht immer, seine Mutter zu begreifen. Juden sind Ausbeuter, sagt sie; doch sie geht lieber zu jüdischen Ärzten, weil sie ihre Sache verstehen. Farbige sind das Salz der Erde, sagt sie, doch sie und ihre Schwestern machen sich immer lustig über vorgebliche Weiße mit geheimgehaltenen farbigen Vorfahren. Er versteht nicht, wie sie so viele widersprüchliche Meinungen gleichzeitig haben kann. Doch sie hat wenigstens Meinungen. Und auch ihre Brüder. Ihr Bruder Norman glaubt an den Mönch Nostradamus und seine Prophezeiungen des Weltendes; er glaubt an fliegende Untertassen, die nachts landen und Leute entführen. Er kann sich nicht vorstellen, daß sein Vater oder dessen Familie über das Ende der Welt reden.

  Ihr einziges Ziel im Leben ist, Auseinandersetzungen zu vermeiden, niemanden zu verletzen, stets liebenswürdig zu sein; verglichen mit der Familie seiner Mutter sind sie farblos und langweilig.

  Er steht seiner Mutter zu nahe, seine Mutter steht ihm zu nahe. Das ist der Grund, weshalb die Familie seines Vaters, trotz der Jagd und all der anderen männlichen Betätigungen während seiner Besuche auf der Farm, nie warm mit ihm geworden ist. Vielleicht war seine Großmutter allzu hart, als sie sich weigerte, die drei aufzunehmen, als sie 1944 mit dem halben Sold eines Obergefreiten auskommen mußten und zu arm waren, um Butter oder Tee zu kaufen, doch ihr Instinkt war richtig gewesen. Die Familie, angeführt von seiner Großmutter, ist nicht blind, was das Geheimnis der Pappelallee Nr. 12 betrifft, nämlich daß der Erstgeborene die erste Geige im Haushalt spielt, der Zweitgeborene die zweite, und der Mann, der Ehemann, der Vater, zuletzt kommt. Entweder gibt sich seine Mutter nicht genug Mühe, es vor der Familie zu verbergen, oder sein Vater hat sich insgeheim beschwert. Sie finden, diese Perversion der natürlichen Ordnung ist zutiefst beleidigend für ihren Sohn und Bruder und daher auch für sie.

  Sie mißbilligen das und verbergen ihre Mißbilligung nicht, ohne grob zu sein.

  Wenn die Mutter mit dem Vater streitet und einen Punkt machen will, beschwert sie sich manchmal bitter darüber, daß seine Familie sie kalt behandelt. Meist aber versucht sie – ihrem Sohn zuliebe, weil sie weiß, von welch zentraler Bedeutung die Farm für sein Leben ist, weil sie nichts als Ersatz bieten kann –, sich bei ihnen auf eine Art einzuschmeicheln, die er geschmacklos findet. Diese Bemühungen ihrerseits sind begleitet von Scherzen über Geld, die nicht lustig sind. Sie hat keinen Stolz. Oder um es anders auszudrücken: Sie würde alles für ihn tun.

  Er wünschte, sie wäre normal. Wenn sie normal wäre, könnte er normal sein.

  Bei ihren beiden Schwestern ist es dasselbe. Jede von ihnen hat ein Kind, einen Sohn, den sie mit erstickender Besorgtheit bemuttern. Sein Cousin Juan in Johannesburg ist sein allerbester Freund – sie schreiben sich, sie freuen sich auf gemeinsame Ferien am Meer. Trotzdem gefällt es ihm nicht, wenn er sieht, daß Juan verschämt jede Vorschrift seiner Mutter befolgt, auch wenn sie gar nicht da ist, um es zu kontrollieren. Von allen vier Söhnen ist er der einzige, der nicht völlig unter dem Pantoffel seiner Mutter steht. Er hat sich gelöst, oder halb gelöst: Er hat seine eigenen Freunde, die er sich selbst ausgesucht hat, er fährt mit der Rad fort, ohne zu sagen, wohin oder wann er zurückkommen wird. Seine Cousins und sein Bruder haben keine Freunde. Er denkt, daß sie blaß und furchtsam sind, immer zu Hause unter den Augen ihrer starken Mütter. Der Vater nennt die drei verschwisterten Mütter die drei Hexen. »Sudel, sudel, treib und trudel«, sagt er, Macbeth zitierend. Amüsiert, boshaft gibt er ihm recht.

  Wenn seine Mutter besonders bittere Gedanken über ihr Leben in Reunion Park bewegen, sagt sie, sie hätte doch lieber Bob Breech heiraten sollen. Er nimmt sie nicht ernst.

  Gleichzeitig traut er seinen Ohren nicht. Wenn sie Bob Breech geheiratet hätte, wo wäre er dann? Wer wäre er dann? Wäre er dann der Sohn von Bob Breech? Wäre dann der Sohn von Bob Breech er?

  Von der Existenz eines echten Bob Breech ist nur ein Zeugnis geblieben. Er findet es zufällig in einem der Fotoalben seiner Mutter: ein unscharfes Foto von zwei jungen Männern in langen weißen Hosen und dunklen Blazern, die an einem Strand stehen, einer den Arm um die Schultern des anderen gelegt, und in die Sonne blinzeln. Einen davon kennt er: Juans Vater. Wer ist der andere Mann? fragt er seine Mutter, ohne sich was dabei zu denken. Bob Breech, antwortet sie. Wo ist er jetzt? Er ist tot, sagt sie.

  Angestrengt starrt er in das Gesicht des toten Bob Breech.

  Von sich selbst kann er darin nichts entdecken.

  Er stellt keine weiteren Fragen. Doch indem er den Schwestern aufmerksam zuhört und zwei und zwei zusammenzählt, erfährt er, daß Bob Breech aus gesundheitlichen Gründen nach Südafrika gekommen war; daß er nach ein oder zwei Jahren nach England zurückgekehrt ist; daß er dort gestorben ist. Er starb an Tuberkulose, aber ein gebrochenes Herz, so wird angedeutet, hat vielleicht sein Ende beschleunigt – die dunkelhaarige, dunkeläugige junge Lehrerin mit dem mißtrauischen Blick, die er an der Bucht von Plettenberg kennengelernt hatte und die ihn nicht heiraten wollte, hatte ihm das Herz gebrochen.

  Gern blättert er in den Fotoalben. Ganz egal wie undeutlich das Foto ist, er kann seine Mutter immer in der Gruppe ausmachen – sie ist die mit dem scheuen, abweisenden Blick, in dem er eine weibliche Version seines eigenen Blicks erkennt. Er verfolgt ihr Leben in den Alben durch die zwanziger und die dreißiger Jahre: zuerst die Mannschaftsbilder (Hockey, Tennis), dann die Bilder von ihrer Europareise: Schottland, Norwegen, die Schweiz, Deutschland; Edinburgh, die Fjorde, die Alpen, Bingen am Rhein. Unter ihren Andenken befindet sich ein Drehbleistift aus Bingen, mit einem winzigen Guckloch in der Seite, durch das man eine Burg auf einem Felsen sieht.

  Manchmal blättern sie gemeinsam in den Alben, er und sie.

  Sie seufzt und meint, wie gern würde sie Schottland wiedersehen, die Heide, die Glockenblumen. Er denkt: Sie hatte ein Leben vor meiner Geburt. Das freut ihn für sie, denn jetzt hat sie kein Leben mehr.

  Ihr Europa ist ein ganz anderes Europa als das aus dem Fotoalbum seines Vaters, in dem Südafrikaner in Khakiuniformen sich vor den Pyramiden in Ägypten aufgebaut haben oder vor den Ruinen italienischer Städte. Aber bei diesem Album verweilt er weniger bei den Fotos als bei den eingelegten Flugblättern, Flugblättern, die von deutschen Flugzeugen über den alliierten Stellungen abgeworfen wurden.

  Eins erklärt den Soldaten, wie sie Fieber bekommen können (indem sie Seife essen); ein anderes zeigt eine tolle Frau, die auf den Knien eines fetten, Champagner trinkenden Juden mit Hakennase sitzt. »Weißt du, wo deine Frau heute abend ist?« fragt die Unterschrift. Und dann gibt es den blauen Porzellanadler, den sein Vater in den Ruinen eines Hauses in Neapel gefunden und im Tornister mit nach Hause gebracht hat, den Reichsadler, der jetzt auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer steht.

  Er ist unheimlich stolz auf den Kriegsdienst seines Vaters. Er ist überrascht – und befriedigt –, als er feststellt, wie wenige der Väter seiner Freunde im Krieg gekämpft haben. Wieso sein Vater nur Obergefreiter geworden ist, weiß er nicht genau; er macht ihn stillschweigend zum Unteroffizier, wenn er seinen Freunden von den Abenteuern seines Vaters erzählt. Doch er hält das Foto in Ehren, aufgenommen in einem Studio in Kairo, auf dem sein hübscher Vater zu sehen ist, wie er ein Gewehr angelegt hat und mit einem zugekniffenen Auge zielt, sein Haar ist ordentlich gekämmt, sein Barett nach Vorschrift unter die Schulterklappe geschoben. Wenn es nach ihm ginge, befände es sich auch auf dem Kaminsims.

  Vater und Mutter sind sich nicht einig, was die Deutschen betrifft. Der Vater mag die Italiener (sie waren nicht mit dem Herzen beim Kampf, sagt er; sie wollten nur kapitulieren und nach Hause gehen), doch er haßt die Deutschen. Er erzählt die Geschichte von einem Deutschen, der auf dem Klo sitzend erschossen wurde. Manchmal war er es, der in der Geschichte den Deutschen erschossen hat, manchmal einer seiner Freunde; aber in keiner der Versionen zeigt er das geringste Mitleid, nur Belustigung über die Verwirrung des Deutschen, der versucht hatte, die Hände zu heben und gleichzeitig die Hosen hochzuziehen.

  Seine Mutter weiß, daß es nicht geraten ist, die Deutschen zu offen zu preisen, doch manchmal, wenn er und sein Vater sich gegen sie verbünden, vergißt sie alle Vorsicht. »Die Deutschen sind das beste Volk der Erde«, sagt sie dann. »Es war dieser schreckliche Hitler, der soviel Leid über sie gebracht hat.«

  Ihr Bruder Norman ist nicht ihrer Meinung. »Hitler hat die Deutschen gelehrt, stolz auf sich zu sein«, sagt er.

  Die Mutter und Norman sind in den dreißiger Jahren zusammen durch Europa gereist, nicht nur durch Norwegen und das schottische Hochland, sondern auch durch Deutschland, Hitlers Deutschland. Ihre Familie – die Brechers, die du Biels – stammt aus Deutschland, oder zumindest aus Pommern, das jetzt zu Polen gehört. Ist es gut, aus Pommern zu stammen? Er weiß es nicht genau. Aber er weiß wenigstens, woher er kommt.

  »Die Deutschen wollten nicht gegen die Südafrikaner kämpfen«, sagt Norman. »Sie mögen die Südafrikaner. Wenn Smuts nicht gewesen wäre, hätten wir nie gegen Deutschland Krieg geführt. Smuts war ein skelm, ein Gauner. Er hat uns an die Briten verkauft.«

  Der Vater und Norman mögen sich nicht. Wenn der Vater seiner Mutter am Zeug flicken will, wenn sie sich spät nachts in der Küche streiten, ärgert er sie mit ihrem Bruder, der nicht eingerückt ist, sondern statt dessen mit der Ossewabrandwag marschiert ist. »Das ist eine Lüge!« behauptet sie ärgerlich.

  »Norman war nicht in der Ossewabrandwag. Frag ihn selbst, er wird es dir sagen.«

  Als er seine Mutter fragt, was die Ossewabrandwag ist, sagt sie, das sei nur Unfug, Leute, die Fackelumzüge auf den Straßen gemacht haben.

  Die Finger von Normans rechter Hand sind gelb vom Nikotin. Er wohnt in einem Hotelzimmer in Pretoria, und das schon seit Jahren. Er verdient sein Geld mit dem Verkauf einer Broschüre, die er über Jiu-Jitsu verfaßt hat, für die er in den Anzeigenseiten der Pretoria News wirbt. »Erlernen Sie die japanische Kunst der Selbstverteidigung«, heißt es in der Annonce. »Sechs einfache Lektionen.« Die Leute schicken ihm Postanweisungen über zehn Shilling, und er liefert ihnen dafür die Broschüre: eine einzelne, vierfach gefaltete Seite mit Zeichnungen von den verschiedenen Griffen. Wenn Jiu-Jitsu nicht genug einbringt, verkauft er auf Provisionsbasis Grundstücke für einen Makler. Bis mittags bleibt er jeden Tag im Bett, trinkt Tee, raucht und liest Geschichten in Argosy und Lilliput. Nachmittags spielt er Tennis. 1938, vor zwölf Jahren, war er der Sieger im Einzel der Westprovinz. Er hat immer noch den Ehrgeiz in Wimbledon zu spielen, im Doppel, wenn es ihm gelingt, einen Partner zu finden.

  Wenn Normans Besuch zu Ende geht, nimmt er den Neffen beiseite, ehe er nach Pretoria abreist, und steckt ihm einen braunen Zehn-Shilling-Schein in die Hemdtasche. »Für Eis«, murmelt er – jedes Jahr dieselben Worte. Er mag Norman nicht nur wegen des Geschenks – zehn Shilling sind viel Geld –, sondern auch, weil er daran denkt, weil er es nie vergißt.

  Der Vater versteht sich mit dem anderen Bruder, Lance, besser, dem Lehrer aus Kingwilliamstown, der eingerückt ist.

  Es gibt noch den dritten Bruder, den ältesten, der für den Verlust der Farm verantwortlich ist, doch keiner erwähnt ihn außer seiner Mutter. »Der arme Roland«, murmelt die Mutter und schüttelt den Kopf. Roland hat eine Frau geheiratet, die sich Rosa Rakosta nennt, Tochter eines polnischen Grafen im Exil, deren richtiger Name aber, laut Norman, Sophie Pretorius ist. Norman und Lance hassen Roland wegen der Farm und verachten ihn, weil er unter der Fuchtel von Sophie steht.

  Roland und Sophie haben eine Pension in Kapstadt. Er ist einmal mit seiner Mutter dort gewesen. Sophie entpuppte sich als große, dicke blonde Frau, die vier Uhr nachmittags einen Satinmorgenmantel trug und Zigaretten in einer Zigarettenspitze rauchte, Roland als stiller Mann mit traurigem Gesicht und einer roten Beulennase durch die Bestrahlung, die ihn vom Krebs geheilt hatte.

  Es gefällt ihm, wenn der Vater, die Mutter und Norman politische Streitgespräche führen. Die Erregung und Leidenschaft machen ihm Spaß, die unbesonnenen Äußerungen. Es überrascht ihn, daß er seinem Vater rechtgeben muß, demjenigen, dem er den Sieg am wenigsten gönnt –, daß die Engländer gut waren und die Deutschen böse, daß Smuts gut war und die Nationalisten böse sind.

  Sein Vater ist für die Einheitspartei, sein Vater mag Kricket und Rugby, doch er kann seinen Vater nicht leiden. Diesen Widerspruch versteht er nicht, hat aber kein Interesse daran, ihn zu verstehen. Sogar ehe er seinen Vater kannte, das heißt, ehe sein Vater aus dem Krieg zurückkehrte, hatte er beschlossen, ihn nicht leiden zu können. Dieses Mißfallen ist also gewissermaßen ein abstraktes: Er möchte keinen Vater haben, oder er will wenigstens keinen Vater, der im selben Haus wohnt.

  Was er an seinem Vater am meisten haßt, sind seine Gewohnheiten. Er haßt sie so sehr, daß der bloße Gedanke an sie ihn vor Abscheu schaudern läßt: das laute Naseschnauben am Morgen im Bad, den dampfigen Geruch nach Lifebuoy-Seife, den er hinterläßt, zusammen mit einem Schaum- und Haarrand im Waschbecken vom Rasieren. Am allermeisten haßt er den Geruch seines Vaters. Andererseits gefallen ihm wider Willen die flotten Sachen seines Vaters, das kastanienbraune Tuch, das er statt einer Krawatte samstagmorgens trägt, seine propere Gestalt, sein forscher Gang, sein mit Brillantine gestriegeltes Haar. Auch er benutzt Brillantine und kultiviert eine Tolle.

  Er haßt den Friseurbesuch, er haßt ihn so sehr, daß er sogar versucht, sich selbst das Haar zu schneiden, mit erbärmlichen Resultaten. Die Friseure von Worcester scheinen übereingekommen zu sein, daß Jungen kurzes Haar haben sollten. Die Sitzungen beginnen so brutal wie möglich damit, daß der elektrische Haarschneider sein Haar hinten und an den Seiten wegsäbelt, und es geht weiter mit gnadenlosem Geschnippel der Schere, bis nur noch bürstenähnliche Stoppeln übrigbleiben, vielleicht vorn mit einer rettenden Schmachtlocke. Noch ehe die Prozedur fertig ist, windet er sich vor Scham; er zahlt seinen Shilling und rennt nach Hause, voller Angst vor der Schule am nächsten Tag, voller Angst vor dem rituellen Hohn, mit dem jeder Junge mit frisch geschnittenen Haaren begrüßt wird. Es gibt ordentliche Haarschnitte, und dann gibt es die Haarschnitte, die man in Worcester erleidet, geprägt von der Boshaftigkeit der Friseure; er weiß nicht, wo man hingehen muß, was man tun oder sagen muß, wieviel man zahlen muß, um einen ordentlichen Haarschnitt zu bekommen.