Zwei

Seiner Mutter verrät er nichts. Sein Schulleben hält er streng geheim vor ihr. Sie soll nichts wissen, beschließt er, als das, was in seinem Quartalszeugnis steht, und das soll makellos sein. Er wird immer der Klassenerste sein. Sein Betragen wird immer ›Sehr gut‹ sein, seine Fortschritte ›Ausgezeichnet‹. Solange das Zeugnis tadellos ist, hat sie kein Recht, Fragen zu stellen. Diese Regel stellt er für sich auf.

  Was in der Schule passiert, ist, daß Jungen verprügelt werden. Jeden Tag passiert das. Den Jungen wird befohlen, sich zu bücken und die Zehen zu berühren, und dann werden sie mit einem Stock verprügelt.

  In der dritten Klasse hat er einen Schulkameraden, der Rob Hart heißt und den die Lehrerin besonders gern schlägt. Die Lehrerin der dritten Klasse ist eine reizbare Frau mit rot gefärbtem Haar, eine Miss Oosthuizen. Von irgendwoher ist sie seinen Eltern als Marie Oosthuizen bekannt – sie macht bei Theateraufführungen mit und war nie verheiratet. Offensichtlich hat sie ein Leben außerhalb der Schule, doch er kann es sich nicht vorstellen. Er kann sich bei keinem Lehrer vorstellen, daß er ein Leben außerhalb der Schule hat.

  Miss Oosthuizen bekommt Wutanfälle, befiehlt Rob Hart, aus seiner Bank zu kommen und sich zu bücken, und versohlt ihm den Hintern. Die Schläge fallen dicht hintereinander, so daß der Stock kaum Zeit hat, auszuholen. Wenn Miss Oosthuizen fertig mit ihm ist, hat Rob Hart ein gerötetes Gesicht. Doch er weint nicht; vielleicht ist er ja nur rot geworden, weil er sich gebückt hat. Miss Oosthuizens Brust andererseits hebt und senkt sich heftig, und sie scheint den Tränen nahe – den Tränen und anderen Ergüssen.

  Nach diesen Anfällen ungezügelter Leidenschaft ist die ganze Klasse gedämpft und bleibt so bis zum Klingeln.

  Es gelingt Miss Oosthuizen nie, Rob Hart zum Heulen zu bringen; vielleicht ist das der Grund, warum sie solche Wutausbrüche seinetwegen hat und ihn so heftig schlägt, heftiger als alle anderen. Rob Hart ist der Klassenälteste, fast zwei Jahre älter als er (er ist der jüngste); er spürt, daß zwischen Rob Hart und Miss Oosthuizen etwas vor sich geht, in das er nicht eingeweiht ist.

  Rob Hart ist groß und hübsch auf verwegene Art. Obgleich Rob Hart nicht intelligent und vielleicht sogar versetzungsgefährdet ist, fühlt er sich zu ihm hingezogen. Rob Hart gehört zu einer Welt, zu der er noch keinen Zugang gefunden hat – einer Welt des Sex und der Prügel.

  Er selbst hat kein Verlangen, von Miss Oosthuizen oder irgendeinem anderen geschlagen zu werden. Bei der bloßen Vorstellung, verprügelt zu werden, windet er sich vor Scham. Er ist bereit, alles zu tun, um sich das zu ersparen. In dieser Beziehung ist er unnormal und weiß das. Er kommt aus einer unnormalen Familie, für die man sich schämen muß, in der nicht nur die Kinder nicht geschlagen, sondern die älteren Familienmitglieder mit dem Vornamen angeredet werden, in der keiner in die Kirche geht und man jeden Tag Schuhe trägt.

  Jeder Lehrer und jede Lehrerin an seiner Schule hat einen Rohrstock und darf ihn nach Belieben einsetzen. Jeder dieser Stöcke hat eine Persönlichkeit, einen Charakter, der den Jungen vertraut ist und endlosen Gesprächsstoff liefert. Im Geist echter Kennerschaft wägen die Jungen die Charaktere der Stöcke ab und die Art des Schmerzes, den sie zufügen, sie vergleichen die Arm- und Handgelenktechnik der Lehrer, die sie schwingen. Keiner erwähnt die Schande, aufgerufen zu werden, sich bücken zu müssen und den Hintern versohlt zu bekommen.

  Ohne eigene Erfahrungen kann er sich an diesen Gesprächen nicht beteiligen. Trotzdem weiß er, daß nicht der Schmerz das wichtigste daran ist. Wenn die anderen Jungen den Schmerz aushalten können, dann kann er, der einen viel stärkeren Willen hat, das auch. Was er nicht ertragen könnte, ist die Schande. Die Schande wird so schlimm sein, fürchtet er, so schrecklich, daß er sich an sein Pult klammern und sich weigern wird, nach vorn zu kommen, wenn er aufgerufen wird. Und das wird eine noch größere Schande sein: es wird ihn absondern und auch die anderen Jungen gegen ihn aufbringen. Wenn der Fall je eintreten sollte, daß man ihn zur Prügelstrafe aufruft, wird es eine so beschämende Szene geben, daß er nie wieder in die Schule gehen kann; es wird schließlich keinen anderen Ausweg geben, als sich umzubringen.

  Das also steht auf dem Spiel. Deshalb gibt er im Unterricht nie einen Mucks von sich. Deshalb ist er immer ordentlich gekleidet, hat immer seine Hausaufgaben erledigt, weiß immer die Antwort. Er traut sich nicht, einen Fehler zu machen. Wenn er einen Fehler macht, riskiert er, geschlagen zu werden; und ob er nun geschlagen wird oder sich dagegen sträubt, ist ganz gleich, er wird sterben.

  Das Merkwürdige daran ist, daß nur eine Tracht Prügel genügen würde, um diesen Bann des Entsetzens, der ihn gefangen hält, zu brechen. Er weiß es nur zu gut: wenn er die Tracht Prügel irgendwie schnell hinter sich bringen könnte, ehe er Zeit gehabt hätte, zu versteinern und Widerstand zu leisten, wenn die Schändung seines Körpers schnell und gewaltsam geschehen könnte, dann könnte er daraus als normaler Junge hervorgehen und sich wie selbstverständlich an der Diskussion über die Lehrer, ihre Rohrstöcke und die verschiedenen Grade und Nuancen des Schmerzes, den sie zufügen, beteiligen. Doch von sich aus kann er diese Hürde nicht überspringen.

  Dafür macht er seine Mutter verantwortlich, weil sie ihn nicht schlägt. Er ist gleichzeitig dankbar dafür, daß er Schuhe trägt, Bücher aus der Bücherei ausleiht und nicht zur Schule geht, wenn er erkältet ist – für alles, was ihn von anderen unterscheidet –, und böse auf die Mutter, weil sie keine normalen Kinder hat, die sie für ein normales Leben erzieht. Der Vater würde aus ihnen eine normale Familie machen, wenn er das Sagen hätte. Der Vater ist in jeder Beziehung normal. Er ist seiner Mutter dankbar, daß sie ihn vor der Normalität des Vaters behütet, das heißt, vor den gelegentlichen Zornausbrüchen, bei denen seine Augen blau funkeln und er damit droht, ihn zu schlagen. Gleichzeitig ist er böse auf die Mutter, weil sie ihn in ein unnatürliches Wesen verwandelt, das man schützen muß, wenn es weiterleben soll.

  Unter den Rohrstöcken ist es nicht der von Miss Oosthuizen, der ihn am meisten beeindruckt. Der gefürchtetste Stock ist der von Mr. Lategan, dem Lehrer für den Werkunterricht. Mr. Lategans Stock ist nicht lang und federnd in der Art, wie ihn die meisten Lehrer bevorzugen. Statt dessen ist er kurz und dick, eher ein Knüppel oder Schlagstock als ein Rohrstock. Man munkelt, daß Mr. Lategan ihn nur bei älteren Schülern zum Einsatz bringt, daß ein jüngerer ihn nicht verkraften würde. Man munkelt, daß Mr. Lategan mit seinem Stock sogar angehende Studenten so weit gebracht hat, daß sie heulten und um Gnade flehten, sich in die Hosen machten und sich unsterblich blamierten.

  Mr. Lategan ist ein kleiner Mann mit Igelschnitt und Schnurrbart. Ihm fehlt ein Daumen; den Stumpf schließt sauber eine dunkelrote Narbe ab. Mr. Lategan sagt fast nichts. Er ist immer in unnahbarer, gereizter Stimmung, als sei die Aufgabe, kleine Jungen bei Holzarbeiten zu betreuen, unter seiner Würde und als führe er sie nur widerwillig aus. Den größten Teil der Stunde steht er am Fenster und starrt in den Hof hinaus, während die Jungen sorgfältig messen und sägen und hobeln. Manchmal hat er den kurzen, dicken Stock dabei und schlägt müßig damit gegen sein Hosenbein, während er grübelt. Wenn er seine Inspektionsrunde macht, zeigt er verächtlich auf Mängel, dann geht er mit einem Schulterzucken weiter.

  Die Jungen dürfen mit den Lehrern Scherze über deren Rohrstöcke austauschen. Das ist wirklich ein Gebiet, auf dem eine gewisse Frotzelei den Lehrern gegenüber gestattet ist. »Lassen Sie ihn singen, Sir!« sagen die Jungen, und Mr. Gouws macht eine blitzschnelle Handbewegung und sein langer Rohrstock (der längste der Schule, obwohl Mr. Gouws nur der Lehrer der fünften Klasse ist) pfeift durch die Luft.

  Mit Mr. Lategan scherzt keiner. Man fürchtet sich vor Mr. Lategan und davor, was er Jungen, die fast Männer sind, mit seinem Stock antun kann.

  Wenn der Vater zu Weihnachten auf der Farm mit seinen Brüdern zusammentrifft, kommt man immer auf die Schulzeit zu sprechen. Man schwelgt in Erinnerungen an die Lehrer und deren Rohrstöcke; man ruft sich kalte Wintermorgen ins Gedächtnis, wenn der Rohrstock blaue Schwielen auf den Hintern hervorrief und das Brennen noch tagelang zu spüren war. In ihren Worten schwingt Nostalgie und lustvolles Gruseln mit. Er hört begierig zu, verhält sich aber so unauffällig wie möglich. Er möchte nicht, daß sie sich ihm in einer Gesprächspause zuwenden und ihn nach der Rolle des Rohrstocks in seinem Leben fragen. Er ist nie verprügelt worden und schämt sich zutiefst dafür. Er kann nicht in der leichten und verständnisvollen Art über Rohrstöcke sprechen wie diese Männer.

  Es kommt ihm so vor, als sei er beschädigt. Es kommt ihm vor, als sei in ihm die ganze Zeit über etwas am Zerreißen: eine Wand, eine Membran. Er versucht, sich so aufrecht wie möglich zu halten, um den Schaden zu begrenzen. Um ihn zu begrenzen, nicht um ihn zu verhindern: nichts wird ihn verhindern.

  Einmal die Woche marschiert er mit seiner Klasse zum Sportunterricht über das Schulgelände in die Turnhalle. Im Umkleideraum ziehen sie weiße Turnhemden und -hosen an. Dann bringen sie unter der Anleitung von Mr. Barnard, der auch in Weiß gekleidet ist, eine halbe Stunde mit Sprüngen über das Seitpferd zu, werfen den Medizinball oder hüpfen und klatschen die Hände über dem Kopf zusammen.

  Das alles geschieht barfuß. Schon Tage vorher hat er Angst davor, seine Füße für den Sportunterricht zu entblößen, seine Füße, die immer bekleidet sind. Doch wenn die Schuhe und Socken ausgezogen sind, ist es plötzlich überhaupt nicht schwer. Er muß einfach seine Scham loswerden, sich zügig und flott entkleiden, dann werden seine Füße wie die aller anderen. Irgendwo in der Nähe lauert noch die Scham und wartet darauf, wieder zu ihm zurückzukehren, doch es ist eine private Scham, von der die anderen Jungen nichts zu wissen brauchen.

  Seine Füße sind weich und weiß; sonst sind sie wie die aller anderen, sogar wie die der Jungen, die keine Schuhe haben und barfuß zur Schule kommen. Der Sportunterricht und das Auskleiden dafür machen ihm keinen Spaß, doch er sagt sich, daß er es ertragen kann, wie er auch anderes erträgt.

  Dann gibt es eines Tages eine Abwechslung von der Routine. Man schickt sie aus der Turnhalle auf die Tennisplätze, um ihnen Softball-Tennis beizubringen. Die Tennisplätze befinden sich etwas weiter weg; auf dem steinigen Weg muß er vorsichtig gehen. Der Asphalt des Platzes ist dann so heiß in der Sommersonne, daß er von einem Fuß auf den anderen hüpfen muß, damit er sich nicht verbrennt. Es ist eine Erlösung, in den Umkleideraum zurückzukommen und die Schuhe wieder anzuziehen; doch nachmittags kann er kaum noch auftreten, und als die Mutter ihm zu Hause die Schuhe auszieht, stellt sie fest, daß seine Fußsohlen voller Blasen sind und bluten.

  Er erholt sich drei Tage lang zu Hause. Am vierten Tag kehrt er mit einem Schreiben der Mutter in die Schule zurück, einem Schreiben, dessen zornigen Wortlaut er kennt und billigt. Wie ein verwundeter Krieger, der seinen Platz in den Reihen der Kameraden wieder einnimmt, humpelt er den Gang zu seinem Pult hinunter.

  »Warum hast du gefehlt?« flüstern seine Klassenkameraden.

  »Ich konnte nicht laufen, ich hatte Blasen auf den Fußsohlen vom Tennis«, antwortet er flüsternd.

  Er erwartet Verwunderung und Mitleid; statt dessen wird ihm Heiterkeit zuteil. Sogar die Schuhträger unter seinen Klassenkameraden nehmen seine Geschichte nicht ernst. Irgendwie haben auch sie abgehärtete Füße, Füße, die keine Blasen bekommen. Nur er hat empfindliche Füße, und empfindliche Füße, so stellt sich heraus, bedeuten keine Auszeichnung. Urplötzlich ist er isoliert – er, und durch ihn seine Mutter.