Dreizehn

Es ist spät in der Nacht. Die anderen schlafen alle. Er liegt im Bett und erinnert sich. Quer über sein Bett fällt ein orangefarbener Lichtstreifen von der Straßenbeleuchtung, die in Reunion Park die ganze Nacht über brennt.

  Ihm geht durch den Kopf, was an diesem Vormittag während der Morgenandacht passiert ist, während die evangelischen Christen ihre Kirchenlieder sangen und die Juden und Katholiken frei herumstreiften. Zwei ältere Jungen, Katholiken, hatten ihn in einer Ecke gestellt. »Wann kommst du zum Katechismus?« hatten sie wissen wollen. »Ich kann nicht zum Katechismus kommen, ich muß freitagnachmittags immer Besorgungen für meine Mutter machen«, hatte er gelogen. »Wenn du nicht zum Katechismus kommst, kannst du kein Katholik sein«, hatten sie gesagt. »Ich bin Katholik«, hatte er beharrlich behauptet und wieder gelogen.

  Wenn das Schlimmste geschehen sollte, denkt er jetzt und sieht dem ins Auge, wenn der katholische Priester seine Mutter aufsuchen und fragen würde, warum er nie zum Katechismus kommt, oder – der andere Alptraum – wenn der Schulrektor ankündigen sollte, daß alle Jungen mit Afrikaans-Namen in Afrikaanerklassen versetzt würden – wenn der Alptraum Realität werden sollte und ihm nichts weiter übrig bliebe, als sich auf bockiges Schreien, Toben und Heulen zu verlegen, sich in die kindische Art zu flüchten, die, wie er weiß, noch in ihm steckt, zusammengerollt wie eine Feder – wenn er sich nach diesem Sturm in einem letzten, verzweifelten Schritt in den Schutz seiner Mutter begeben und sich weigern würde, in die Schule zurückzukehren, sie anflehen würde, ihn zu retten – wenn er sich in dieser Weise völlig und endgültig blamieren und offenbaren sollte, was nur er auf seine Art und die Mutter auf ihre und vielleicht der Vater auf seine eigene verächtliche Art wissen, daß er nämlich noch ein Baby ist und nie erwachsen werden wird – wenn alle Geschichten, die über ihn entstanden sind, durch ihn selbst, durch jahrelanges normales Verhalten – zumindest in der Öffentlichkeit, wenn diese Geschichten in sich zusammenfallen sollten und sein häßlicher, finsterer, jämmerlicher, kindischer Kern sichtbar würde, so daß alle ihn erkennen und darüber lachen könnten, gäbe es dann noch eine Chance für ihn weiterzuleben? Wäre es dann nicht um ihn bestellt wie um eins der mißgebildeten, behinderten, mongoloiden Kinder mit heiseren Stimmen und sabberndem Mund, die man auch gleich mit Schlaftabletten umbringen oder erdrosseln könnte?

  Die Betten in diesem Haus sind alle alt und müde, ihre Federböden hängen durch, sie quietschen bei der kleinsten Bewegung. Er liegt so still er kann in dem Lichtstrahl, der durchs Fenster fällt, er ist sich seines auf die Seite gerollten Körpers bewußt, seiner vor der Brust geballten Fäuste. In dieser Stille versucht er, sich seinen Tod vorzustellen. Er verabschiedet sich von allem – von der Schule, vom Zuhause, von der Mutter; er versucht, sich vorzustellen, wie sich die Tage ohne ihn abspulen. Aber es gelingt ihm nicht. Es bleibt immer etwas übrig, etwas Kleines und Schwarzes, wie eine Nuß, wie eine Eichel, die im Feuer gewesen ist, trocken, aschig, hart, unfähig zu wachsen, aber vorhanden. Er kann sich vorstellen, wie er stirbt, doch er kann sich nicht vorstellen, wie er verschwindet. Er mag es noch so sehr versuchen, er kann den letzten Rest von sich nicht auslöschen.

  Was ist es, das seine Existenz stützt? Ist es Angst vor der Trauer seiner Mutter, eine so große Trauer, daß er es nicht ertragen kann, länger als den Bruchteil einer Sekunde daran zu denken? (Er sieht sie in einem kahlen Raum schweigend dastehen, mit den Händen vor den Augen; dann läßt er die Jalousie herunter, verdeckt ihr Bild.) Oder gibt es noch etwas in ihm, das nicht sterben will?

  Er erinnert sich an das andere Mal, als er in die Enge getrieben wurde, damals als die beiden Afrikaanerjungen ihm die Hände auf den Rücken drehten und ihn hinter den Erdwall am Ende des Rugby-Platzes abführten. Er erinnert sich speziell an den größeren von beiden, so fett, daß die Speckfalten aus seinen engen Sachen quollen – einer dieser Idioten oder Fast-Idioten, die dir mit solcher Leichtigkeit, als drehten sie einem Vogel den Hals um, die Finger brechen oder die Luftröhre zerquetschen und dabei ruhig lächeln können. Er hatte Angst gehabt, das stand außer Frage, sein Herz hatte gehämmert.

  Aber wie echt war diese Angst gewesen? War da nicht, als er mit seinen Schergen über den Platz stolperte, etwas tiefer in ihm, etwas recht Keckes, das sagte: »Keine Sorge, dir geschieht nichts, das ist bloß wieder mal ein Abenteuer«?

  Dir geschieht nichts, es gibt nichts, wozu du nicht imstande bist. Das sind die beiden Dinge über ihn, zwei Dinge, die eigentlich eine Einheit sind, das, was mit ihm stimmt und was gleichzeitig nicht stimmt mit ihm. Das Ding, das zwei Seiten hat, bedeutet, daß er nicht sterben wird, egal was geschieht; aber bedeutet es nicht auch, daß er nicht leben wird?

  Er ist ein Baby. Die Mutter hebt ihn hoch, indem sie ihm von hinten unter die Arme greift. Seine Beine baumeln, der Kopf sinkt nach vorn, er ist nackt; aber die Mutter hält ihn vor der Brust und schreitet in die Welt hinein. Sie braucht nicht zu sehen, wo sie hingeht, sie braucht nur zu folgen. Während sie voranschreitet, erstarrt alles zu Stein und zerfällt. Er ist nur ein Baby mit einem dicken Bauch und einem baumelnden Kopf, aber er hat diese Macht.

  Dann ist er eingeschlafen.