Elf

Über den Kreis der Verwandtschaft hinaus haben sie wenig gesellschaftliche Kontakte. Wenn gelegentlich Fremde ins Haus kommen, huschen er und sein Bruder davon wie wilde Tiere, dann schleichen sie zurück, um hinter Türen zu lauern und zu lauschen. Sie haben auch Gucklöcher in die Decke gebohrt, so daß sie auf den Dachboden klettern und von oben ins Wohnzimmer spähen können. Ihrer Mutter ist das Geraschel peinlich. »Das sind nur die Kinder, die spielen«, erklärt sie mit einem gequälten Lächeln.

  Er flieht vor höflichen Gesprächen, weil ihn die Floskeln – »Wie geht’s?« – »Macht dir die Schule Spaß?« – verlegen machen. Da er nicht so recht weiß, was er darauf antworten soll, nuschelt und stottert er töricht herum. Doch letzten Endes schämt er sich seines ungehobelten Benehmens nicht, seiner Ungeduld mit dem langatmigen Geschwafel der artigen Unterhaltung.

  »Kannst du dich nicht einfach normal benehmen?« fragt seine Mutter.

  »Ich hasse normale Leute«, antwortet er leidenschaftlich.

  »Ich hasse normale Leute«, plappert ihm der Bruder nach.

  Der Bruder ist sieben. Er lächelt permanent verkrampft und nervös; in der Schule übergibt er sich manchmal aus keinem ersichtlichen Grund und muß nach Hause gebracht werden.

  An Stelle von Freunden haben sie Familie. Die Verwandten mütterlicherseits sind die einzigen Menschen, die ihn mehr oder weniger so akzeptieren, wie er ist. Sie akzeptieren ihn – grob, ungeschliffen, seltsam – nicht nur, weil sie sonst nicht zu Besuch kommen könnten, sondern weil auch sie ungehobelt und grob erzogen worden sind. Die Verwandten väterlicherseits sind jedoch nicht einverstanden mit ihm und seiner Erziehung durch die Mutter. In ihrer Gegenwart fühlt er sich gehemmt; sobald er entwischen kann, verspottet er die höflichen Floskeln (»En hoe gaan dit met jou mammie? En met jou broer? Dis goed, dis goed!« Wie geht’s der Mama? Dem Bruder? Gut!). Aber man kann dem nicht entgehen – kein Besuch auf der Farm, ohne an ihren Ritualen teilzunehmen.

  Deshalb gibt er nach und windet sich vor Verlegenheit, verachtet sich wegen seiner Feigheit. »Dit gaan goed«, sagt er.

  »Dit gaan goed met ons almal.« Uns geht’s allen gut.

  Er weiß, daß sein Vater sich mit seiner Familie gegen ihn verbündet. Das ist eine der Methoden des Vaters, es der Mutter heimzuzahlen. Der Gedanke, welches Leben er führen müßte, wenn der Vater dem Haushalt vorstünde, läßt ihn frösteln – ein Leben voll langweiliger, dummer Floskeln, nicht zu unterscheiden von dem aller anderen. Seine Mutter ist die einzige, die zwischen ihm und einer für ihn unerträglichen Lebensweise steht. Deshalb ärgert er sich zwar über sie wegen ihrer Langsamkeit und Beschränktheit, doch gleichzeitig klammert er sich an sie als seine einzige Beschützerin. Er ist ihr Sohn, nicht der Sohn seines Vaters. Er lehnt den Vater ab und verabscheut ihn. Nie wird er den Tag vor zwei Jahren vergessen, als die Mutter zum ersten und einzigen Mal den Vater auf ihn losließ, wie einen Hund von der Kette (»ich habe genug, ich halte es nicht mehr aus!«), und die Augen des Vaters ihn zornig blau anstarrten, als er ihn schüttelte und ihm eins hinter die Ohren gab.

  Er muß zur Farm, weil es keinen Ort auf der Welt gibt, den er mehr liebt oder den er sich vorstellen kann, mehr zu lieben.

  Alles was an seiner Liebe zur Mutter kompliziert ist, bei seiner Liebe zur Farm ist es unkompliziert. Doch soweit er zurückdenken kann, mischte sich in diese Liebe eine Spur Schmerz. Er darf die Farm besuchen, aber er wird nie dort leben. Die Farm ist nicht sein Zuhause; er wird nie mehr als ein Gast sein, ein unsicherer Gast. Schon jetzt bewegen sich die Farm und er, Tag für Tag, in unterschiedliche Richtungen, streben auseinander, kommen sich nicht näher, sondern entfernen sich voneinander. Eines Tages wird die Farm ganz verschwunden sein, ganz verloren; er trauert jetzt schon um den Verlust.

  Die Farm gehörte einmal seinem Großvater, aber der Großvater starb und vermachte sie Onkel Son, dem ältesten Bruder des Vaters. Son hatte als einziger eine Neigung zur Landwirtschaft; die übrigen Geschwister flüchteten nur zu gern in die Städte und Großstädte. Trotzdem ist die Farm, auf der sie aufgewachsen sind, in gewissem Sinne noch ihre Farm.

  Also fährt sein Vater wenigstens einmal im Jahr, und manchmal zweimal, auf die Farm und nimmt ihn mit.

  Die Farm heißt Voelfontein, Vogelquelle; er liebt jeden Stein dort, jeden Busch, jeden Grashalm, er liebt die Vögel, nach denen sie benannt ist, Vögel, die sich bei Anbruch der Dämmerung zu Tausenden in den Bäumen um die Quelle sammeln, einander Rufe zusenden, leise gurren, ihr Gefieder ordnen, sich für die Nacht vorbereiten. Kaum vorstellbar, daß ein anderer die Farm genauso lieben könnte wie er. Aber er kann über seine Liebe nicht sprechen, nicht nur weil normale Leute über so etwas nicht reden, sondern weil es auch einem Verrat an seiner Mutter gleichkäme, wenn er es gestehen würde. Es wäre nicht nur ein Verrat, weil sie ebenfalls von einer Farm kommt, einer rivalisierenden Farm weit weg von hier, von der wiederum sie mit Liebe und Sehnsucht spricht und die sie nie wieder besuchen kann, da sie an Fremde verkauft worden ist, sondern auch weil sie auf dieser Farm, der wahren Farm, Voelfontein, nicht wirklich willkommen ist.

  Warum das so ist, erklärt sie nie – wofür er am Ende dankbar ist –, aber allmählich kann er die Geschichte rekonstruieren.

  Während des Krieges hat seine Mutter lange Zeit mit ihren beiden Kindern in einem einzigen gemieteten Zimmer in der Stadt Prince Albert gewohnt und mußte mit sechs Pfund monatlich, die der Vater von seinem Sold überwies, plus zwei Pfund aus dem Notfonds des Generalgouverneurs, über die Runden kommen. Während dieser Zeit wurden sie nicht ein einziges Mal auf die Farm eingeladen, obwohl sie nur zwei Wegstunden entfernt lag. Diesen Teil der Geschichte kennt er, weil sogar der Vater, als er aus dem Krieg heimkehrte, verärgert war und sich dafür schämte, wie man sie behandelt hatte.

  Von der Stadt Prince Albert ist ihm nur noch im Gedächtnis geblieben, wie die Moskitos in den langen heißen Nächten sirrten und wie seine Mutter im Unterrock hin und her ging, Schweißperlen auf der Haut, die schweren, plumpen Beine von Krampfadern durchzogen, und versuchte, seinen kleinen Bruder zu beruhigen, der immerzu heulte; und er erinnert sich an Tage voll schrecklicher Langeweile hinter zum Schutz gegen die Sonne herabgelassenen Jalousien. So lebten sie, eingepfercht, für einen Umzug zu arm, und warteten auf die Einladung, die nie kam.

  Die Mutter preßt immer noch die Lippen zusammen, wenn die Rede auf die Farm kommt. Trotzdem fährt sie zu Weihnachten mit auf die Farm. Die ganze Großfamilie versammelt sich. Betten und Matratzen und Notliegen sind in jedem Zimmer hergerichtet, auch auf der langen Veranda; zu einem Weihnachtsfest zählt er sechsundzwanzig. Den ganzen Tag lang schuften seine Tante und die beiden Mägde in der dampfigen Küche, sie kochen und backen und bereiten Mahlzeit um Mahlzeit zu, eine Runde Tee oder Kaffee und Kuchen nach der anderen, während die Männer auf der Veranda sitzen, faul über die flimmernde Karoo blicken und Geschichten über die alten Tage austauschen.

  Begierig saugt er die Atmosphäre auf, saugt die glückliche, unbekümmerte Mischung von Englisch und Afrikaans auf – ihre gemeinsame Sprache, wenn sie zusammenkommen. Er mag diese lustige, tanzende Sprache, mit den willkürlich im Satz verteilten Partikeln. Sie ist leichter, luftiger als das Afrikaans, das sie in der Schule lernen und das überfrachtet ist mit Redewendungen, die angeblich aus dem volksmond kommen, doch offenbar nur vom Großen Treck stammen, schwerfällige, blödsinnige Wendungen mit Planwagen und Vieh und Geschirr.

  Bei seinem ersten Besuch auf der Farm, zu Lebzeiten des Großvaters, waren noch alle Bauernhoftiere aus seinen Geschichtenbüchern da: Pferde, Esel, Kühe mit ihren Kälbern, Schweine, Enten, eine Hühnerkolonie mit einem Hahn, der krähend die Sonne begrüßte, Ziegen und bärtige Ziegenböcke.

  Dann, nach dem Tod des Großvaters, schmolz der Bauernhof dahin, bis nichts übrig war als Schafe. Zuerst wurden die Pferde verkauft, dann wurden die Schweine zu Schinken verarbeitet (er sah zu, wie sein Onkel das letzte Schwein erschoß; die Kugel traf es hinterm Ohr; es gab ein Grunzen und einen gewaltigen Furz von sich und brach zusammen, zunächst auf die Knie, dann auf die Seite, und zitterte). Dann verschwanden die Kühe und die Enten.

  Der Grund dafür war der Wollpreis. Die Japaner zahlten ein Pfund für ein Pfund Wolle – es war einfacher, einen Traktor zu kaufen, als Pferde zu halten, einfacher, in dem neuen Studebaker nach Fraserburg Road zu fahren und Feinfrostbutter und Milchpulver zu kaufen, als eine Kuh zu melken und zu buttern. Nur Schafe zählten, Schafe mit ihrem goldenen Vlies.

  Die Mühen des Ackerbaus konnte man auch hinter sich lassen. Auf der Farm wird einzig und allein noch Luzerne angebaut, falls einmal das Weidegras nicht ausreichen sollte und die Schafe gefüttert werden müssen. Von den Obstgärten ist nur noch ein Orangenhain geblieben, der Jahr für Jahr die süßesten Navelorangen trägt.

  Wenn sich seine Tanten und Onkel nach einem erfrischenden Mittagsschläfchen auf der Veranda versammeln, um Tee zu trinken und Geschichten zu erzählen, wendet sich ihr Gespräch manchmal den alten Zeiten auf der Farm zu. Sie ergehen sich in Erinnerungen an den Vater, den »Gentleman-Farmer«, der sich einen Wagen mit Gespann hielt, der auf dem Land unterhalb des Wasserreservoirs Getreide anbaute, das er selbst drosch und mahlte. »Ja, das waren noch Zeiten«, sagen sie und seufzen.

  Sie schwelgen gern nostalgisch in früheren Zeiten, aber keiner von ihnen möchte wie er diese Vergangenheit zurück haben. Er möchte es wirklich. Er wünscht sich alles so, wie es früher war.

  In einem Verandawinkel hängt im Schatten der Bougainvillea ein Wasserbehälter aus Segeltuch. Je heißer der Tag, desto kühler das Wasser – ein Wunder, wie das Wunder des Fleisches, das in der dunklen Vorratskammer hängt und nicht verdirbt, wie das Wunder der Kürbisse, die auf dem Dach in der brennenden Sonne liegen und frisch bleiben. Auf der Farm gibt es offenbar keinen Verfall.

  Das Wasser aus der Wasserflasche ist zauberhaft kühl, aber er nimmt jedesmal nicht mehr als einen Schluck. Er ist stolz darauf, wie wenig er trinkt. Das wird ihm zugute kommen, hofft er, wenn er sich je im Veld verlaufen sollte. Er möchte eine Kreatur der Wüste sein, dieser Wüste, wie eine Eidechse.

  Unmittelbar oberhalb des Farmhauses befindet sich ein Wasserreservoir mit einer Steinmauer darum, das von einer Windpumpe gefüllt wird und Wasser für Haus und Garten liefert. An einem heißen Tag lassen sein Bruder und er eine verzinkte Wanne in das Wasser hinab, klettern in das schwankende Gefährt und paddeln damit kreuz und quer über die Wasserfläche.

  Er ist wasserscheu; für ihn ist dieses Abenteuer eine Möglichkeit, seine Angst zu überwinden. Ihr Boot schaukelt in der Mitte des Wasserbeckens. Das gekräuselte Wasser reflektiert Lichtbündel; kein anderer Laut als das Zirpen von Zikaden ist zu vernehmen. Zwischen ihm und dem Tod ist nur dünnes Blech. Trotzdem fühlt er sich ganz sicher, so sicher, daß er fast dösen kann. Das ist die Farm – hier kann nichts Böses geschehen.

  Nur einmal schon, als er vier war, ist er in einem Boot gewesen. Ein Mann (wer? – vergeblich versucht er sich an ihn zu erinnern) hat sie in Plettenberg Bay auf die Lagune hinausgerudert. Es sollte eine Vergnügungsfahrt sein, doch die ganze Zeit saß er wie erstarrt im Boot und ließ die ferne Küste nicht aus den Augen. Nur einmal blickte er über den Bootsrand. Seegraswedel schwankten träge tief unter ihnen.

  Es war, wie er befürchtet hatte, und noch schlimmer; ihm schwirrte der Kopf. Nur diese zerbrechlichen Bretter, die bei jedem Ruderschlag stöhnten, als würden sie gleich bersten, schützten ihn davor, in ein nasses Grab zu sinken. Er klammerte sich noch fester, schloß die Augen und kämpfte aufsteigende Panik nieder.

  In Voelfontein gibt es zwei farbige Familien, jede hat ein Haus für sich. Bei der Mauer des Wasserreservoirs steht auch das Haus, jetzt ohne Dach, in dem früher Outa Jaap gelebt hat.

  Outa Jaap war vor dem Großvater auf der Farm; er selbst erinnert sich an Outa Jaap nur als sehr alten Mann mit milchig-weißen, blinden Augäpfeln und zahnlosem Mund und knotigen Händen, der auf einer Bank in der Sonne saß, zu dem er gebracht wurde, bevor der alte Mann starb, vielleicht um gesegnet zu werden, er weiß es nicht genau. Obwohl Outa Jaap nun fort ist, wird sein Name noch mit Ehrfurcht genannt. Aber wenn er sich erkundigt, was denn so besonders an Outa Jaap war, sind die Antworten, die er bekommt, sehr gewöhnlich.

  Outa Jaap stammte aus der Zeit, als es noch keine Zäune gab, die vor Schakalen schützten, wird ihm erzählt, als man vom Hirten, der seine Schafe zum Weiden in eins der weit entfernten Lager brachte, erwartete, daß er bei ihnen blieb und sie endlose Wochen lang hütete. Outa Jaap gehörte einer verschwundenen Generation an. Das ist alles.

  Trotzdem spürt er etwas von dem, was sich hinter diesen Worten verbirgt. Outa Jaap war Teil der Farm; obwohl der Großvater ihr Käufer und rechtmäßiger Besitzer sein mochte, gehörte Outa Jaap zur Farm, wußte mehr über sie, über Schafe, das Veld, das Wetter, als der Neuankömmling je wissen würde.

  Deshalb mußte man Outa Jaap Respekt erweisen; deshalb kommt es nicht in Frage, daß man Outa Jaaps Sohn Ros, der jetzt in mittleren Jahren ist, los wird, obwohl er kein besonders guter Arbeiter ist, unzuverlässig und oft etwas falsch versteht.

  Es ist klar, daß Ros auf der Farm leben und sterben wird und daß einer seiner Söhne dann seinen Platz einnehmen wird.

  Freek, der andere Knecht, ist jünger und tatkräftiger als Ros, er begreift schneller und ist zuverlässiger. Trotzdem gehört er nicht zur Farm – es herrscht Einigkeit darüber, daß er nicht unbedingt bleiben wird.

  Da er aus Worcester, wo Farbige offenbar um alles betteln müssen (Asseblief my nooi! Asseblief my basie!), auf die Farm kommt, ist er erleichtert darüber, wie korrekt und förmlich die Beziehungen zwischen seinem Onkel und dem volk sind. Jeden Morgen bespricht der Onkel mit seinen beiden Männern die Aufgaben des Tages. Er gibt ihnen keine Befehle. Statt dessen schlägt er die Aufgaben vor, die erledigt werden müssen, eine nach der anderen, als teile er Karten aus und lege sie auf den Tisch; seine Männer teilen auch ihre eigenen Karten aus.

  Zwischendurch gibt es Pausen, langes, nachdenkliches Schweigen, wo nichts geschieht. Dann scheint auf einmal, geheimnisvoll, die ganze Angelegenheit klar zu sein: wer wohin geht, wer was tun wird. »Nouja, dan sal ons maar loop, baas Sonnie!« – Wir machen uns auf den Weg! Und Ros und Freek setzen ihren Hut auf und machen sich schnell davon.

  In der Küche ist es das gleiche. Zwei Frauen arbeiten dort: Ros’ Frau Tryn und Lientjie, seine Tochter aus erster Ehe. Sie kommen zur Frühstückszeit und gehen nach dem Mittagessen, der Hauptmahlzeit des Tages, hier Dinner genannt. Lientje ist Fremden gegenüber so scheu, daß sie ihr Gesicht verbirgt und kichert, wenn man sie anspricht. Aber wenn er an der Küchentür steht, hört er einen leisen Redefluß, der zwischen seiner Tante und den beiden Frauen hin und her geht und den er gern heimlich belauscht – das sanfte, tröstliche Geplauder von Frauen, Geschichten, von Ohr zu Ohr weitererzählt, bis nicht nur die Farm, sondern auch das Dorf in Fraserburg Road und die Siedlung der Farbigen vor dem Dorf mit Geschichten überzogen sind, auch alle anderen Farmen der Gegend – ein sanftes weißes Netz aus Geschichten, das über Vergangenheit und Gegenwart gesponnen wird, ein Netz, an dem zur gleichen Zeit auch in anderen Küchen gesponnen wird, in den Küchen der Van Rensburgs, der Alberts, der Nigrinis, der verschiedenen Zweige der Botes-Familie – wer wen heiraten wird, wessen Schwiegermutter welche Operation durchmachen wird, wessen Sohn in der Schule gut ist, wessen Tochter in Schwierigkeiten steckt, wer wen besucht hat, wer was wann angehabt hat.

  Aber mit Ros und Freek hat er mehr Umgang. Er brennt vor Neugier, was ihre Lebensumstände angeht. Tragen sie wie weiße Leute Unterhemd und Unterhose? Haben sie jeder sein eigenes Bett? Schlafen sie nackt oder in den Arbeitsklamotten, oder haben sie Schlafanzüge? Essen sie richtige Mahlzeiten, am Tisch sitzend mit Messer und Gabel?

  Er kann diese Fragen nicht beantworten, denn man hält ihn davon ab, ihre Häuser zu besuchen. Das wäre unhöflich, sagt man ihm – unhöflich, weil es Ros und Freek peinlich wäre.

  Wenn es nicht peinlich ist, daß Ros’ Frau und Tochter im Haus arbeiten, möchte er fragen, daß sie Essen kochen, Wäsche waschen, Betten machen, warum ist es dann peinlich, sie in ihrem Haus zu besuchen?

  Es klingt einleuchtend, hat aber einen Schönheitsfehler, wie er weiß. Denn in Wahrheit ist es peinlich, Tryn und Lientjie im Haus zu haben. Es gefällt ihm nicht, wenn er an Lientjie im Korridor vorbeigeht und sie so tun muß, als sei sie unsichtbar, und er so tun muß, als sei sie Luft. Es gefällt ihm nicht, wenn er Tryn auf den Knien vor dem Waschzuber antrifft, wie sie seine Sachen wäscht. Er weiß nicht, wie er ihr antworten soll, wenn sie ihn in der dritten Person anspricht und ihn kleinbaas nennt, den kleinen Herrn, als wäre er nicht selbst anwesend.

  Das alles ist äußerst peinlich.

  Mit Ros und Freek ist es einfacher. Doch selbst mit ihnen muß er in gequält konstruierten Sätzen sprechen, um sie nicht mit jy anzureden, wenn sie ihn kleinbaas nennen. Er weiß nicht genau, ob Freek als Mann oder als Junge gilt, ob er sich lächerlich macht, wenn er Freek als Mann behandelt. Bei den Farbigen im allgemeinen, und bei den Menschen in der Karoo im besonderen, weiß er einfach nicht, wann die Kindheit aufhört und sie Männer und Frauen werden. Es scheint so früh und plötzlich zu geschehen – eben noch haben sie mit Spielsachen gespielt, da sind sie schon am nächsten Tag mit den Männern draußen bei der Arbeit, oder sie waschen in der Küche von irgendwelchen Leuten das Geschirr ab.

  Freek ist freundlich und spricht leise. Er besitzt ein Fahrrad mit dicken Reifen und eine Gitarre; abends sitzt er draußen vor seinem Zimmer, spielt für sich auf seiner Gitarre und lächelt sein ziemlich abwesendes Lächeln. An Samstagnachmittagen radelt er zur Siedlung bei Fraserburg Road und bleibt dort bis Sonntagabend. Er kommt erst lange nach Einbruch der Dunkelheit zurück – in meilenweiter Entfernung können sie den winzigen, schwankenden Lichtfleck seiner Fahrradlampe sehen. Es erscheint ihm heldenhaft, eine so gewaltige Entfernung mit dem Fahrrad zurückzulegen. Er würde Freek als Helden verehren, wenn das gestattet wäre.

  Freek ist Knecht, er bekommt Lohn, man kann ihm kündigen und ihn fortschicken. Und trotzdem, wenn er Freek da kauern sieht, die Pfeife im Mund in das Veld hinausstarrend, scheint ihm, daß Freek mit größerer Sicherheit hierher gehört als die Coetzees – wenn nicht nach Voelfontein, dann in die Karoo.

  Die Karoo ist Freeks Land, seine Heimat; die Coetzees, auf der Veranda des Farmhauses Tee trinkend und schwatzend, sind wie Schwalben, Zugvögel, heute hier, morgen fort, oder sogar wie Spatzen, tschilpend, flink, kurzlebig.

  Das Beste an der Farm, das Allerbeste, ist die Jagd. Der Onkel besitzt nur ein Gewehr, eine schwere Lee-Enfield Kaliber .303 mit Munition, zu groß für jegliches Wild (einmal hat der Vater damit einen Hasen geschossen, und es war nichts von ihm übriggeblieben außer blutigen Fetzen). Wenn sie also die Farm besuchen, borgen sie sich von einem der Nachbarn ein altes Gewehr Kaliber .22. Es faßt eine einzelne Patrone, die man direkt in den Verschluß des Hinterladers schiebt; manchmal versagt es, und ihm klingen stundenlang danach die Ohren. Es gelingt ihm nicht, mit diesem Gewehr irgend etwas anderes zu treffen als Frösche im Wasserreservoir und muisvoels, Mausvögel, im Obstgarten. Doch das Leben ist für ihn nie intensiver als in den frühen Morgenstunden, wenn er und der Vater mit ihren Gewehren losziehen, im trockenen Bett des Boesmansflusses auf der Suche nach Wild: Steenbok, Waldducker, Hasen und an den kahlen Berghängen korhaan, Busch-Trappen.

  Jeden Dezember kommen der Vater und er auf die Farm, um zu jagen. Sie nehmen den Zug – nicht den Trans-Karoo-Express oder den Orange-Express, ganz zu schweigen von dem Blue Train, die alle zu teuer sind und sowieso nicht in Fraserburg Road halten – sondern den gewöhnlichen Personenzug, der auf allen Stationen hält, sogar auf den unbekanntesten, und manchmal auf Rangiergleise kriechen und warten muß, bis die berühmteren Expreßzüge vorbeigedonnert sind. Er liebt diesen Bummelzug, er liebt es, gemütlich und sicher unter den frischen weißen Laken und marineblauen Decken zu schlafen, die der Schlafwagenschaffner bringt, er liebt es, an einer ruhigen Station am Ende der Welt aufzuwachen und das Zischen der wartenden Lokomotive zu hören, den metallenen Klang, den der Bahnarbeiter mit seinem Hammer beim Prüfen der Räder erzeugt. Und dann im Morgengrauen, wenn sie in Fraserburg Road ankommen, wartet schon Onkel Son mit seinem breiten Lächeln und seinem alten fleckigen Filzhut auf sie und sagt: »Jis-laaik, maar jy word darem groot, John!« – Du bist aber groß geworden! – und pfeift durch die Zähne, und sie können ihr Gepäck im Studebaker verstauen und die lange Fahrt antreten.

  Ohne groß zu fragen, akzeptiert er die verschiedenen Arten der Jagd, die man auf Voelfontein ausübt. Er akzeptiert, daß es eine gute Jagd war, wenn sie einen einzigen Hasen aufspüren oder ein Paar korhaan in der Ferne kollern hören. Das ist schon eine Geschichte, die sie der übrigen Familie erzählen können, die auf der Veranda sitzt und Kaffee trinkt, wenn sie zurückkehren und die Sonne hoch am Himmel steht. An den meisten Tagen haben sie nichts zu erzählen, überhaupt nichts.

  Es hat keinen Sinn, in der Hitze des Tages auf Jagd zu gehen, wenn die Tiere, die sie erlegen wollen, im Schatten dösen.

  Aber am Spätnachmittag fahren sie manchmal mit dem Studebaker auf den Farmwegen herum, Onkel Son am Steuer, der Vater daneben mit der .303 in der Hand und er und Ros hinten auf dem Notsitz.

  Normalerweise wäre es Ros’ Aufgabe, rauszuspringen und die Tore für das Auto zu öffnen und hinter ihm wieder zu schließen, ein Tor nach dem anderen. Aber auf diesen Jagden ist es sein Vorrecht, die Tore zu öffnen, während Ros beifällig zuschaut.

  Sie jagen die sagenumwobene paauw, die Kori-Trappe. Aber da man paauw nur ein- oder zweimal im Jahr zu sehen bekommt – sie sind sogar so selten, daß auf ihren Abschuß ein Bußgeld von fünfzig Pfund steht, wenn man erwischt wird –, beschließen sie, korhaan zu jagen. Ros wird auf die Jagd mitgenommen, da er als Buschmann oder beinahe Buschmann außergewöhnlich scharfe Augen haben muß.

  Und wirklich ist es Ros, der mit einem Schlag auf das Wagendach signalisiert, daß er die korhaan als erster sieht – graubraune Vögel, so groß wie Junghennen, die in Zweier- oder Dreiergruppen im Gebüsch herumlaufen. Der Studebaker hält; der Vater legt das Gewehr auf die Fensterkante und zielt; der Schuß hallt über das Veld hin und her. Manchmal erheben sich die Vögel aufgeschreckt in die Luft; häufiger laufen sie einfach schneller und stoßen dabei den für sie charakteristischen kollernden Laut aus. Nie trifft der Vater wirklich einen korhaan, deshalb bekommt er nie einen dieser Vögel aus der Nähe zu sehen.

  Sein Vater war im Krieg Kanonier – er gehörte zur Mannschaft eines Bofors-Flakgeschützes, das auf deutsche und italienische Flugzeuge schoß. Er würde gern wissen, ob der Vater jemals ein Flugzeug abgeschossen hat; er hat sich dessen bestimmt nie gerühmt. Wieso ist er überhaupt Kanonier geworden? Er hat kein Talent dazu. Wurden den Soldaten rein zufällig Aufgaben zugeteilt?

  Die einzige Art der Jagd, bei der sie doch Erfolg haben, ist die bei Nacht, und die ist, wie er bald entdeckt, beschämend und unrühmlich. Die Methode ist einfach. Nach dem Abendessen klettern sie in den Studebaker, und Onkel Son fährt sie im Dunkeln über die Luzernefelder. An einer gewissen Stelle hält er und schaltet die Scheinwerfer ein.

  Keine dreißig Schritt entfernt steht erstarrt ein Steenbok, die Ohren weisen in ihre Richtung, seine geblendeten Augen reflektieren die Scheinwerfer. »Skiet!« zischt der Onkel. Sein Vater schießt, und der Bock fällt.

  Sie versichern einander, daß diese Art Jagd akzeptabel ist, weil die Böcke eine Plage sind und Luzerne fressen, die an die Schafe verfuttert werden soll. Doch als er sieht, wie winzig der tote Bock ist, nicht größer als ein Pudel, weiß er, daß die Begründung falsch ist. Sie jagen bei Nacht, weil sie nicht gut genug sind, um etwas bei Tag zu erlegen.

  Andererseits ist das Wild, in Essig eingelegt und dann mit Nelken und Knoblauch gebraten (er sieht zu, wie die Tante Schlitze in das dunkle Fleisch schneidet und es spickt), noch köstlicher als Lamm, würzig und zart, so zart, daß es im Mund zergeht. Alles in der Karoo ist köstlich, die Pfirsiche, die Wassermelonen, die Kürbisse, das Hammelfleisch, als wäre alles, was sein Auskommen in dieser kargen Erde findet, dadurch gesegnet.

  Sie werden nie berühmte Jäger sein. Dennoch liebt er das Gewicht des Gewehrs in seiner Hand, das Geräusch ihrer Schritte auf dem grauen Flußsand, die Stille, die sich schwer wie eine Wolke herabsenkt, wenn sie stehenbleiben, und immer die sie umschließende Landschaft, die geliebte Landschaft in Ocker- und Grautönen, in Rehbraun und Olivgrün.

  Am letzten Tag seines Besuchs darf er, wie es Brauch ist, die restlichen .22er Patronen aus seiner Schachtel verschießen und damit eine Blechbüchse auf einem Zaunpfahl zu treffen versuchen. Das ist eine schwierige Situation. Das geliehene Gewehr ist keine gute Waffe, er ist kein guter Schütze.

  Während die Familie von der Veranda aus zusieht, feuert er hastig und trifft häufiger daneben als das Ziel.

  Eines Morgens, als er allein draußen im Flußbett ist und muisvoels jagt, klemmt die .22er. Es gelingt ihm nicht, die Patronenhülse zu entfernen, die im Verschluß feststeckt. Er geht mit dem Gewehr zum Haus zurück, aber Onkel Son und der Vater sind draußen im Veld. »Frag Ros oder Freek«, schlägt die Mutter vor. Er findet Freek im Stall. Freek will jedoch das Gewehr nicht anfassen. Mit Ros geht es ihm genauso, als er Ros findet. Obwohl sie keine Erklärungen abgeben wollen, scheinen sie eine Heidenangst vor Gewehren zu haben. Er muß daher warten, bis der Onkel kommt und die Patronenhülse mit seinem Taschenmesser entfernt. »Ich habe Ros und Freek gebeten«, beklagt er sich beim Onkel, »aber sie wollten nicht helfen.« Der Onkel schüttelt den Kopf. »Du darfst sie nicht bitten, Gewehre anzufassen«, sagt er. »Sie wissen, daß sie das nicht dürfen.«

  Sie dürfen es nicht. Warum nicht? Keiner will es ihm sagen.

  Aber er brütet über den Worten nicht dürfen. Auf der Farm hört er sie häufiger als sonst irgendwo, sogar noch häufiger als in Worcester. Seltsame Worte. »Das darfst du nicht anfassen.«

  »Das darfst du nicht essen.« Wäre das der Preis dafür, wenn er nicht mehr zur Schule ginge und darum bäte, hier auf der Farm leben zu dürfen – müßte er dann aufhören, Fragen zu stellen, alle Verbote befolgen und tun, was ihm befohlen würde? Wäre er bereit, sich dem zu fügen und diesen Preis zu zahlen? Gibt es denn keine Möglichkeit, in der Karoo zu leben – dem einzigen Ort auf der Welt, wo er sein möchte –, so wie er will: ohne einer Familie anzugehören?

  Die Farm ist riesengroß, so groß, daß er erstaunt ist, als er und der Vater an einem Zaun quer durch das Flußbett ankommen und der Vater erklärt, sie hätten die Grenze zwischen Voelfontein und der nächsten Farm erreicht. In seiner Vorstellung ist Voelfontein ein eigenständiges Königreich. Ein einziges Leben bietet nicht genug Zeit, ganz Voelfontein kennenzulernen, jeden Stein und Busch. Keine Zeit ist ausreichend, wenn man einen Ort mit solch verzehrender Liebe liebt.

  Am vertrautesten ist ihm Voelfontein im Sommer, wenn es flach ausgebreitet unter einem gleichmäßigen, blendenden Licht liegt, das vom Himmel herabströmt. Aber Voelfontein hat auch seine Geheimnisse, Geheimnisse, die nicht zu Nacht und Schatten gehören, sondern zu heißen Nachmittagen, wenn Trugbilder am Horizont tanzen und sogar die Luft in seinen Ohren singt. Wenn dann alle anderen, betäubt von der Hitze, vor sich hin dösen, kann er auf Zehenspitzen aus dem Haus schleichen und auf den Hügel zum Labyrinth der von Steinmauern umringten Krale steigen, die aus der alten Zeit stammen, als die Schafe zu Tausenden aus der Steppe zusammengetrieben werden mußten, um gezählt oder geschoren oder gedippt zu werden. Die Kralmauern sind zwei Fuß dick und überragen ihn; sie bestehen aus flachen, blaugrauen Steinen, die alle per Eselskarren herangeschafft wurden. Er versucht, sich die Schafherden vorzustellen, jetzt tot und verschwunden, die sich einst vor der Sonne in den Schutz dieser Mauern begeben haben mußten. Er versucht, ein Bild von Voelfontein heraufzubeschwören, wie es gewesen sein muß, als sich das große Haus und die Nebengebäude und Krale noch im Bau befanden – ein Ort geduldiger, ameisengleicher Arbeit, Jahr um Jahr. Jetzt sind die Schakale, die einst die Schafe gerissen haben, ausgerottet, erschossen oder vergiftet, und die Krale, nun ohne Zweck, verfallen langsam.

  Die Mauern der Krale schlängeln sich meilenweit bergauf, bergab. Hier wächst nichts – die Erde ist festgetrampelt und für immer abgetötet, er weiß nicht, wie; sie hat ein fleckiges, ungesundes, gelbes Aussehen. Sobald er innerhalb der Mauern steht, ist er vom Rest der Welt abgeschnitten, außer vom Himmel. Alan hat ihn davor gewarnt hierherzukommen, wegen der Schlangengefahr, weil niemand ihn hören wird, wenn er um Hilfe ruft. Schlangen genießen solche heißen Nachmittage, ist er gewarnt worden, sie kommen aus ihren Verstecken – die Ringhalskobra, die Puffotter, die Sandrenn-Natter –, um ein Sonnenbad zu nehmen und ihr kaltes Blut zu wärmen.

  Auf eine Schlange ist er in den Kralen noch nicht gestoßen; trotzdem sieht er sich bei jedem Schritt vor.

  Freek überrascht hinter der Küche, wo die Frauen die Wäsche aufhängen, eine Sandrenn-Natter. Er erschlägt sie mit einem Stock und drapiert den langen, gelben Körper über einen Busch. Wochenlang wollen die Frauen dort nicht hingehen.

  Schlangen gehen lebenslange Verbindungen ein, sagt Tryn; wenn man das männliche Tier tötet, kommt das weibliche und sinnt auf Rache.

  Der Frühling, der September, ist die beste Zeit für einen Besuch in der Karoo, obwohl die Schulferien nur eine Woche dauern. Als eines Tages im September die Schafscherer kommen, sind sie gerade auf der Farm. Sie tauchen aus dem Nichts auf, wilde Männer auf Fahrrädern, bepackt mit Bettrollen, Töpfen und Pfannen.

  Schafscherer, entdeckt er, sind besondere Leute. Wenn sie auf der Farm auftauchen, ist das ein glücklicher Umstand. Um sie zu halten, wird ein fetter Hammel ausgesucht und geschlachtet. Sie ergreifen Besitz vom alten Stall, den sie in ihre Unterkunft verwandeln. Ein Feuer brennt bis spät in die Nacht, während sie schmausen.

  Er hört eine lange Diskussion zwischen Onkel Son und ihrem Anführer mit an; einem so dunklen und wilden Mann, daß er fast ein Farbiger sein könnte. Er hat einen Spitzbart, und seine Hose hält ein Strick fest. Sie unterhalten sich über das Wetter, über den Zustand des Weidelandes im Prince-Albert-Bezirk, im Beaufort-Bezirk, im Fraserburg-Bezirk, über Löhne. Das von den Scherern gesprochene Afrikaans hat einen so ausgeprägten Akzent, steckt so voll seltsamer Redewendungen, daß er es kaum verstehen kann. Woher kommen sie? Gibt es ein noch tiefer im Inneren gelegenes Land als das von Voelfontein, ein Herzland, das noch abgeschiedener von der Welt ist?

  Am nächsten Morgen wird er eine Stunde vor Tagesanbruch von Hufgetrappel geweckt, als die ersten Schaftrupps am Haus vorbeigetrieben werden, um in den Kralen neben dem Schurschuppen eingepfercht zu werden. Der Haushalt beginnt zu erwachen. In der Küche gibt es Getriebe und Kaffeeduft.

  Mit dem ersten Tageslicht ist er draußen, angezogen, zu aufgeregt zum Essen.

  Er wird mit einer Aufgabe betraut. Er hat die Verfügungsgewalt über einen Zinnbecher voll getrockneter Bohnen. Wenn der Scherer mit einem Schaf fertig ist und es mit einem Schlag aufs Hinterteil freigibt, wenn er die geschorene Wolle auf den Sortiertisch wirft und das Schaf, rosa und nackt und blutend, wo die Schere es gezwickt hat, ängstlich in die zweite Pferch trabt – dann darf der Scherer jedesmal eine Bohne aus dem Becher nehmen, was er mit einem Kopfnicken und einem höflichen »My basie!« tut.

  Als er das Halten des Bechers satt hat (die Scherer können sich ihre Bohnen allein nehmen, sie sind auf dem Lande aufgewachsen und Unehrlichkeit ist ihnen völlig fremd), helfen er und sein Bruder beim Stopfen der Ballen und springen auf der dicken, heißen, öligen Wollmasse herum. Auch seine Cousine Agnes ist da, zu Besuch aus Skipperskloof. Sie und ihre Schwester machen mit; die vier purzeln durcheinander, kichern und tollen herum wie in einem riesigen Federbett.

  Agnes nimmt einen Platz in seinem Leben ein, den er noch nicht völlig versteht. Er hat sie zum erstenmal zu Gesicht bekommen, als er sieben war. Sie waren nach Skipperskloof eingeladen worden und kamen dort spät am Nachmittag nach einer langen Bahnfahrt an. Wolken jagten über den Himmel, die Sonne hatte keine Wärme. Unter dem frostigen Winterlicht breitete das Veld ein dunkles Rotblau ohne einen Hauch von Grün aus. Selbst das Farmhaus wirkte abweisend – ein strenges weißes Rechteck mit einem steilen Zinkblechdach. Es war überhaupt nicht wie Voelfontein; er wollte am liebsten wieder weg.

  Agnes, ein paar Monate älter als er, war ihm als Spielgefährtin zugeteilt worden. Sie nahm ihn auf einen Spaziergang ins Veld mit. Sie lief barfuß; sie besaß gar keine Schuhe. Bald sahen sie das Haus nicht mehr, waren am Ende der Welt. Sie fingen zu reden an. Sie hatte Rattenschwänze und lispelte, was ihm gefiel. Bald wurde er zutraulicher. Beim Sprechen vergaß er, welche Sprache er benutzte; Gedanken formten sich einfach in ihm zu Worten, klaren Worten.

  Was genau er Agnes an jenem Nachmittag mitgeteilt hat, weiß er nicht mehr. Doch er erzählte ihr alles, alles, was er so machte, was er wußte, worauf er hoffte. Schweigend nahm sie alles auf. Noch beim Reden wußte er, daß das ein besonderer Tag war, ihretwegen.

  Die Sonne sank allmählich, feuerrot, doch eisig. Die Wolken wurden dunkler, der Wind schärfer, er drang ihm durch die Kleidung. Agnes hatte außer einem dünnen Baumwollkleid nichts an; ihre Füße waren blau vor Kälte.

  »Wo seid ihr gewesen? Was habt ihr gemacht?« fragten die Erwachsenen, als sie zum Haus zurückkehrten. »Niks nie«, antwortete Agnes. Nichts.

  Hier auf Voelfontein darf Agnes nicht auf die Jagd, aber es steht ihr frei, mit ihm im Veld umherzuwandern oder Frösche im großen Wasserbecken zu fangen. Mit ihr zusammenzusein ist etwas anderes, als wenn er mit seinen Schulfreunden zusammen ist. Das hat etwas mit ihrer Sanftheit zu tun, mit ihrer Bereitschaft zum Zuhören, aber auch mit ihren schlanken braunen Beinen, mit der Art, wie sie von Stein zu Stein tanzt.

  Er ist klug, er ist der Klassenerste; auch sie gilt als klug; sie streifen umher und reden von Dingen, über die die Erwachsenen den Kopf schütteln würden: Ob das Universum einen Anfang hat; was hinter dem Pluto, dem dunklen Planeten, liegt; wo Gott ist, wenn es ihn gibt.

  Warum kann er so leicht zu Agnes sprechen? Weil sie ein Mädchen ist? Auf alles, was von ihm kommt, scheint sie ohne Vorbehalt, sanft, bereitwillig zu antworten. Sie ist seine Cousine ersten Grades, deshalb können sie sich nicht verlieben und heiraten. In gewisser Weise ist das eine Erleichterung; er ist frei, mit ihr befreundet zu sein, ihr sein Herz zu öffnen.

  Aber ist er trotzdem in sie verliebt? Ist das Liebe – diese schlichte Großzügigkeit, dieses Gefühl, daß man ihn endlich versteht, daß er nichts vorspielen muß?

  Diesen ganzen Tag und auch den ganzen nächsten arbeiten die Scherer, machen kaum eine Eßpause, stacheln einander zum Wettbewerb auf, wer von ihnen der Schnellste ist. Am Abend des zweiten Tages ist die ganze Arbeit getan, jedes Schaf auf der Farm ist geschoren. Onkel Son bringt einen Leinenbeutel mit Banknoten und Münzen heraus, und jeder Scherer wird nach der Anzahl seiner Bohnen bezahlt. Dann gibt es wieder ein Lagerfeuer, wieder ein Fest. Am nächsten Morgen sind sie fort, und die Farm kann zu ihrer alten, gemächlichen Lebensart zurückkehren.

  Es sind so viele Wollballen, daß sie aus den Schuppen quellen. Onkel Son geht mit einer Schablone und einem Stempelkissen von einem zum anderen und malt auf jeden Ballen seinen Namen, den Namen der Farm, die Güteklasse der Wolle. Tage später kommt ein großer Lastwagen (wie ist der durch das Sandbett des Boesmansflusses gekommen, wo selbst Autos steckenbleiben?), die Ballen werden aufgeladen und weggefahren.

  Das geschieht jedes Jahr. Jedes Jahr kommen die Scherer, jedes Jahr gibt es dieses Abenteuer, dieses aufregende Ereignis. Es wird nie ein Ende haben; es gibt keinen Grund, warum es je ein Ende haben sollte, solange es Jahre gibt.

  Das heimliche und heilige Wort, das ihn mit der Farm verbindet, heißt gehören. Draußen im Veld kann er das Wort laut äußern: Ich gehöre auf die Farm. Was er wirklich glaubt, aber nicht ausspricht, was er für sich behält, aus Angst, daß der Zauber endet, ist eine andere Form dieses Wortes: Ich gehöre zur Farm.

  Er sagt es niemandem, weil das so leicht falsch verstanden, so leicht umgekehrt werden kann: Die Farm gehört zu mir. Die Farm wird ihm niemals gehören, er wird nie mehr als ein Besucher sein – das akzeptiert er. Der Gedanke, wirklich auf Voelfontein zu leben, das große alte Haus sein Zuhause zu nennen, nicht länger um Erlaubnis fragen zu müssen, daß er tun darf, was er will, macht ihn schwindlig; er schiebt den Gedanken beiseite. Ich gehöre zur Farm – weiter wagt er nicht zu gehen, selbst im innersten Herzen. Aber im innersten Herzen weiß er, was die Farm auf ihre Art auch weiß: daß Voelfontein niemandem gehört. Die Farm ist größer als sie alle. Die Farm existiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wenn sie alle tot sind, wenn selbst das Farmhaus verfallen ist wie die Krale auf dem Berg, wird die Farm noch da sein.

  Einmal bückt er sich weit weg vom Haus draußen im Veld und reibt die Handflächen im Staub, als wasche er sie. Es ist rituell. Er schafft ein Ritual. Er weiß noch nicht, was das Ritual bedeutet, aber er ist erleichtert, daß keiner da ist, der ihn beobachten und verraten könnte.

  Daß er zur Farm gehört, ist sein heimliches Los, ein durch Geburt bestimmtes Los, das er aber freudig annimmt. Sein anderes Geheimnis ist, er mag sich noch so sehr dagegen sträuben, er gehört doch zu seiner Mutter. Es entgeht ihm nicht, daß diese doppelte Hörigkeit Konflikte mit sich bringt.

  Und es entgeht ihm auch nicht, daß der Einfluß seiner Mutter auf der Farm am schwächsten ist. Da sie als Frau nicht jagen kann, nicht einmal im Veld wandern kann, ist sie auf der Farm im Nachteil.

  Er hat zwei Mütter. Zweimal geboren: von einer Frau geboren und von der Farm geboren. Zwei Mütter und keinen Vater.

  Eine halbe Meile vom Farmhaus entfernt gabelt sich die Straße, der linke Abzweig führt nach Merweville, der rechte nach Fraserburg. An der Gabelung liegt der Friedhof, ein umzäuntes Stück Land mit eigenem Tor. Der marmorne Grabstein seines Großvaters überragt alles; darum herum drängen sich ein Dutzend andere Gräber, flacher und schlichter, mit Grabsteinen aus Schiefer, einige tragen eingemeißelte Namen und Daten, andere sind ohne Inschrift.

  Sein Großvater ist hier der einzige Coetzee, der einzige, der gestorben ist, seit die Farm im Familienbesitz ist. Hier endete er, der Mann, der als Hausierer in Piketberg anfing, dann ein Geschäft in Laingsburg aufmachte und Bürgermeister der Stadt wurde, dann das Hotel in Fraserburg Road kaufte. Er liegt im Grab, doch die Farm gehört noch immer ihm. Seine Kinder laufen wie die Zwerge auf ihr herum, und die Enkel wie Zwergenkinder.

  Auf der anderen Straßenseite ist ein zweiter Friedhof ohne Zaun, wo einige der Grabhügel so verwittert sind, daß der Erdboden sie wieder aufgenommen hat. Hier liegen die Diener und Knechte der Farm, bis zurück zu Outa Jaap und weit über ihn hinaus. Die wenigen Grabsteine, die noch aufrecht stehen, sind ohne Namen oder Daten. Aber hier spürt er größere Ehrfurcht als zwischen den Generationen der Botes-Familie, die sich um seinen Großvater drängen. Es hat nichts mit Geistern zu tun. In der Karoo glaubt niemand an Geister. Was hier stirbt, stirbt sicher und endgültig – das Fleisch wird von den Ameisen abgenagt, die Knochen werden von der Sonne gebleicht, und basta. Aber zwischen diesen Gräbern tritt er vorsichtig auf. Aus der Erde steigt eine große Stille, so tief, daß sie beinahe ein Summen sein könnte.

  Wenn er stirbt, möchte er auf der Farm begraben werden.

  Wenn sie das nicht zulassen, dann möchte er eingeäschert werden, und seine Asche soll hier verstreut werden.

  Der andere Ort, zu dem er jedes Jahr pilgert, ist Bloemhof, wo das erste Farmhaus gestanden hat. Davon ist nichts geblieben außer den Grundmauern, die uninteressant sind.

  Davor befand sich einst ein Wasserreservoir, gespeist von einer unterirdischen Quelle; doch die Quelle ist lange schon versiegt. Vom Garten und Obstgarten, die es einmal hier gegeben hat, zeugt nichts mehr. Aber neben der Quelle wächst aus der kahlen Erde eine riesige, einsame Palme. Im Stamm dieses Baumes haben Bienen sich ein Nest gebaut, angriffslustige kleine schwarze Bienen. Der Palmstamm ist geschwärzt vom Rauch der Feuer, die Menschen über Jahre hinweg angezündet haben, um die Bienen ihres Honigs zu berauben; doch die Bienen bleiben und sammeln Nektar, wer weiß wo in dieser trockenen, grauen Landschaft.

  Er hätte es gern, wenn die Bienen erkennen würden, daß er bei seinen Besuchen mit reinen Händen kommt, nicht um sie zu bestehlen, sondern um sie zu begrüßen, ihnen seinen Respekt zu erweisen. Aber als er sich der Palme nähert, beginnen sie verärgert zu summen; Vorboten stürzen sich auf ihn herab, empfehlen ihm den Rückzug; einmal muß er sogar, verfolgt von einem Bienenschwarm, fliehen und schmählich über das Veld rennen, Haken schlagend und mit den Armen wedelnd, dankbar, daß keiner ihn sieht und auslacht.

  Jeden Freitag wird für die Leute auf der Farm ein Schaf geschlachtet. Er begleitet Ros und Onkel Son, wenn sie das Schaf aussuchen, das sterben soll; dann steht er daneben und schaut zu, wenn Freek auf dem Schlachtplatz hinter dem Schuppen – vom Haus aus nicht einsehbar – die Beine des Schafes festhält, während Ros dem Tier mit seinem harmlos wirkenden kleinen Taschenmesser die Kehle durchschneidet.

  Danach halten beide Männer das Schaf fest, das ausschlägt und kämpft und hustet, während sein Lebensblut hervorsprudelt. Er schaut weiter zu, wenn Ros den noch warmen Körper häutet und den Kadaver am Kautschukbaum aufhängt, ihn aufschneidet und die Innereien in eine Schüssel herauszerrt: den großen blauen Magen voller Gras, die Gedärme (aus dem Darm drückt er die letzten paar Bohnen, die das Schaf keine Zeit mehr hatte auszuscheiden), das Herz, die Leber, die Nieren – alles, was das Schaf in seinem Inneren hat und was auch er in sich hat.

  Ros benutzt dasselbe Messer zum Kastrieren der Lämmer.

  Auch bei diesem Ereignis sieht er zu. Die jungen Lämmer und ihre Mütter werden zusammengetrieben und eingepfercht.

  Dann geht Ros zwischen ihnen herum, packt Lämmer bei den Hinterbeinen, eins nach dem anderen, drückt sie fest zu Boden, während sie vor Entsetzen blöken, einen Verzweiflungsschrei nach dem anderen ausstoßen, und schlitzt den Hodensack auf.

  Sein Kopf taucht hinunter, er packt die Hoden mit den Zähnen und zerrt sie heraus. Sie sehen aus wie zwei kleine Quallen, an denen blaue und rote Blutgefäße hängen.

  Ros schneidet auch den Schwanz ab, wenn er einmal dabei ist, und wirft ihn beiseite, nur einen blutigen Stummel übriglassend.

  Mit seinen kurzen Beinen, seinen ausgebeulten, abgelegten Hosen, die kurz unterm Knie abgeschnitten sind, seinen selbstgemachten Schuhen und dem zerschlissenen Filzhut schlürft Ros im Pferch herum wie ein Clown, wählt die Lämmer aus und kastriert sie mitleidslos. Am Ende der Operation stehen die Lämmer wund und blutend neben ihren Müttern, die nichts getan haben, um sie zu beschützen. Ros klappt sein Messer zusammen. Die Arbeit ist getan; er grinst leicht.

  Über das, was er gesehen hat, kann man nicht reden. »Warum müssen sie den Lämmern die Schwänze abschneiden?« fragt er die Mutter. »Weil sonst die Schmeißfliegen unter ihren Schwänzen brüten würden«, antwortet die Mutter. Sie reden beide drumherum; beide wissen, was die Frage wirklich meint.

  Einmal gibt ihm Ros sein Taschenmesser in die Hand und zeigt ihm, wie leicht es ein Haar zerschneidet. Das Haar biegt sich nicht, es teilt sich bei der leisesten Berührung der Klinge.

  Ros schärft das Messer jeden Tag, wobei er auf den Wetzstein spuckt und die Klinge immer wieder darüberzieht, ohne Druck, ganz leicht. Vom ständigen Schärfen und Schneiden und wieder Schärfen ist die Klinge so abgewetzt, daß nur ein dünner Streifen geblieben ist. Genauso ist es mit Ros’ Spaten – den hat er so lange benutzt und so oft geschärft, daß von ihm nur noch ein oder zwei Handbreit Stahl geblieben sind; das Holz des Griffes ist glatt und schwarz vom Schweiß der Jahre.

  »Du solltest da nicht zusehen«, sagt die Mutter nach einer der freitäglichen Schlachtungen.

  »Warum?«

  »Darum.«

  »Ich will aber.«

  Und er geht, um zuzusehen, wie Ros das Fell festpflockt und mit Steinsalz bestreut.

  Gern sieht er Ros und Freek und seinem Onkel bei der Arbeit zu. Um von den hohen Wollpreisen zu profitieren, will Son noch mehr Schafe auf der Farm halten. Doch nach regenarmen Jahren ist das Veld eine Wüste, das Gras und die Büsche sind bis auf den Grund abgeweidet. Er macht sich daher daran, die gesamte Farm neu einzuzäunen, sie in kleinere Weidegründe einzuteilen, so daß man die Schafe von einem zum anderen treiben kann und das Veld Zeit bekommt, sich zu erholen. Er geht mit Ros und Freek jeden Tag hinaus, treibt Zaunpfähle in die steinharte Erde, spannt eine Achtelmeile Draht nach der anderen, zieht ihn straff wie eine Bogensehne und klammert ihn fest.

  Onkel Son ist immer freundlich zu ihm, doch er weiß, daß er ihn nicht wirklich mag. Woran merkt er das? An dem unruhigen Blick in Sons Augen, wenn er in der Nähe ist, an dem gezwungenen Ton in der Stimme. Wenn Son ihn wirklich gern haben würde, dann ginge er genauso frei und ungezwungen mit ihm um wie mit Ros und Freek. Statt dessen paßt Son genau auf, daß er immer Englisch mit ihm spricht, auch wenn er auf Afrikaans antwortet. Für sie beide ist es inzwischen eine Frage der Ehre; sie wissen nicht, wie sie aus der Falle herauskommen können.

  Er sagt sich, daß dieses Mißfallen nicht ihm persönlich gilt, daß es nur da ist, weil er, der Sohn von Sons jüngerem Bruder, älter ist als Sons eigener Sohn, der noch ein Baby ist. Doch er befürchtet, daß dieses Gefühl tiefere Wurzeln hat, daß Son ihn nicht mag, weil er sich mit der Mutter, diesem Eindringling, verbündet hat statt mit dem Vater; und auch deshalb, weil er nicht aufrichtig, ehrlich, wahrheitsliebend ist.

  Wenn er zwischen Son und seinem eigenen Vater als Vater wählen dürfte, dann würde er sich für Son entscheiden, selbst wenn das bedeutete, daß er unwiderruflich zu den Afrikaanern gehören würde und Jahre im Fegefeuer einer Afrikaansinternatsschule zubringen müßte, wie alle anderen Farmkinder, ehe er auf die Farm zurückkommen dürfte.

  Vielleicht ist das der tiefere Grund dafür, warum Son ihn nicht mag – er spürt den unverständlichen Anspruch, den dieses seltsame Kind auf ihn erhebt, und weist ihn zurück wie ein Mann, der sich vom Klammergriff eines Kleinkinds befreit.

  Er beobachtet Son unablässig, bewundert das Geschick, mit dem er alles tut, vom Verarzten eines kranken Tiers bis zum Reparieren einer Windpumpe. Besonders fasziniert ihn sein Wissen über Schafe. Durch bloßes Betrachten eines Schafes kann Son nicht nur sein Alter und seine Abstammung angeben und die Wollmenge, die es erzielen wird, sondern auch, wie jeder Teil seines Körpers schmecken wird. Er kann ein Schlachtschaf danach auswählen, ob es die richtigen Rippen zum Grillen hat oder die richtige Keule zum Braten.

  Er selber ißt gern Fleisch. Ungeduldig erwartet er das Bimmeln der Glocke zu Mittag und das gewaltige Mahl, das es ankündigt: Schüsseln mit Bratkartoffeln, gelben Reis mit Rosinen, süße Kartoffeln mit Karamelsoße, Kürbis mit braunem Zucker und weichen Brotwürfeln, süßsaure Bohnen, Rote-Bete-Salat und als Mittelpunkt eine große Platte mit Hammelfleisch und Bratensoße zum Darübergießen. Aber nachdem er Ros beim Schlachten von Schafen zugesehen hat, meidet er rohes Fleisch. Daheim in Worcester geht er lieber nicht in Fleischerläden. Die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der der Fleischer ein Stück Fleisch auf den Ladentisch wirft, es aufschneidet, in Packpapier wickelt und einen Preis darauf schreibt, stößt ihn ab. Wenn er das schrille Heulen der Bandsäge beim Durchtrennen von Knochen hört, möchte er die Ohren verschließen. Es macht ihm nichts aus, Leber anzuschauen, deren Funktion im Körper unklar ist, doch er wendet die Augen ab von den Herzen in der Verkaufsvitrine, und besonders von den Tabletts mit Kutteln. Sogar auf der Farm weigert er sich, Kutteln zu essen, obwohl sie als große Delikatesse gelten.

  Er versteht nicht, warum Schafe ihr Schicksal hinnehmen, warum sie nie aufbegehren, sondern demütig in den Tod gehen. Wenn wilde Böcke wissen, daß es nichts Schlimmeres auf Erden gibt, als in die Hände des Menschen zu fallen, und bis zum letzten Atemzug zu entkommen suchen, warum sind dann Schafe so einfältig? Es sind doch schließlich Tiere, sie haben die scharfen Sinne von Tieren – warum hören sie nicht das letzte Blöken des Opfers hinterm Schuppen, riechen sein Blut und merken es sich?

  Manchmal wenn er unter den Schafen ist – wenn man sie zum Dippen zusammengetrieben hat und sie eingepfercht sind und nicht fort können –, möchte er ihnen etwas zuflüstern, sie davor warnen, was sie erwartet. Doch dann entdeckt er in ihren gelben Augen ein gewisses Etwas, was ihn verstummen läßt: eine Resignation, ein Bescheidwissen nicht nur darüber, was Ros den Schafen hinter dem Schuppen antut, sondern auch darüber, was sie am Ende einer langen Durstfahrt auf einem Viehtransporter nach Kapstadt erwartet. Sie wissen das alles, bis ins kleinste, und doch fügen sie sich. Sie haben den Preis bedacht und sind bereit, ihn zu zahlen – den Preis dafür, auf der Erde zu sein, den Preis dafür, am Leben zu sein.