Alexandra behagte es überhaupt nicht, dass sie schon wieder einen Monat unterwegs sein würde. So lange würde sie ungefähr brauchen, um nach England zu kommen. Genauso wenig gefiel es ihr, dass sie dieses Mal auf fremden Pferden reiten muss te. Sie vermisste ihre Pferde schon, bevor sie die Grenze Kardiniens überquert hatten. Daher war sie erleichtert, als Nina in Warschau Lady Beatrice Haversham kennenlernte und diese sie einlud, die Reise zusammen mit ihr in ihrer Kutsche fortzusetzen.
Lady Beatrice war Mitte Vierzig, etwas füllig um die Hüften und trug ihr blondes Haar immer noch so, wie es in ihrer Jugend modern gewesen war. Dank ihrer lachenden grauen Augen sah dies jedoch nicht ganz so lächerlich aus, wie es hätte sein können. Erstaunlicherweise erinnerte sie sich an Alexandra, die sie in deren einziger Saison in St. Petersburg kennengelernt hatte. Die englische Lady und ihr Mann, der inzwischen gestorben war, hatten damals die Stadt zusammen mit Freunden besucht, wo sie Alexandra bei mehreren gesellschaftlichen Anlässen getroffen hatte. Sie war auch bei jenem denkwürdigen Diner von Olga Romanowsky anwesend gewesen, das zu Alexandras inoffiziellem Hinauswurf aus St. Petersburg geführt hatte.
Aber gerade wegen dieses Diners hatte sich Lady Beatrice noch an Alexandra erinnert. Sie sagte zu Alexandra: »Ich habe noch nie im Leben so sehr gelacht, meine Liebe, und ich hoffe, es macht Euch nichts aus, aber alle meine Freunde zu Hause haben sich ganz köstlich über diese Geschichte amüsiert. Es war so ungeheuer einfallsreich von Euch, ein ganz ernstes Gesicht zu machen, als Ihr Prinzessin Olga sagtet, wie sie etwas abnehmen könne. Alle meine Freunde fanden es überaus komisch, und ich bringe meine Freunde doch so gern zum Lachen.«
Alexandra machte sich nicht die Mühe zu erwähnen, dass sie ihren Vorschlag ernst gemeint hatte. Sie erzählte Lady Beatrice auch nichts von den Folgen, die diese Worte für sie gehabt hatten. Und obwohl sie sich ihrerseits nicht mehr an die Engländerin erinnern konnte, gewann sie sie auf ihrer gemeinsamen Reise nach England lieb. Beatrice lachte wirklich von Herzen gern, und sie fand in allem und jedem etwas zum Lachen. Sie hielt sogar Alexandras Direktheit für einen etwas merkwürdigen Humor und versicherte ihr, dass die Engländer ihr zu Füßen liegen würden. Die Anwesenheit von Lady Beatrice bewirkte auch, dass Alexandra sich keine Vorwürfe von Nina und deren Brüdern mehr anhören muss te, die ihr wegen ihrer Entscheidung, Christopher zu suchen, heftig zugesetzt hatten. Alexandra hatte die Einwände ihrer Freunde einfach ignoriert.
Beatrice konnte sich nicht daran erinnern, Christopher in Russland begegnet zu sein, und sie kannte ihn auch nicht persönlich. Aber sie versicherte Alexandra, dass Freunde von ihr ihn bestimmt kannten. Und tatsächlich: Als sie schließlich in London eingetroffen waren, brauchte sie nur zwei Tage, um seine Adresse herauszufinden. Sie brachte sie Alexandra in ihr Hotel.
Alexandra hatte sich direkt an die Botschaft gewandt, da dies die einzige Adresse war, die Christopher auf seinen Briefen aus England als Absender angegeben hatte. Dort jedoch hatte sie nichts erfahren. Er sei gerade mit einer anderen Aufgabe betraut, war alles, was sie aus dem hochnäsigen Beamten herausbekommen konnte, mit dem sie gesprochen hatte, und nein, die Botschaft gebe keine privaten Informationen über ihre Diplomaten heraus. Sie solle es woanders versuchen.
Dank Lady Beatrice musste sie sich nun nicht mit weiteren unhöflichen Beamten herumschlagen. Früher als erwartet war sie jetzt unterwegs zum Haus von Christophers Tante, wo er wohnte. Es war glücklicherweise direkt in London.
Nina hatte ihr geraten, mit ihrem Besuch bis zum nächsten Morgen zu warten, da es bereits dämmerte, als sie fertig zum Gehen war, aber Alexandra konnte es sich nicht leisten zu warten. Bevor sie den Kontinent verlassen und das Schiff nach England genommen hatten - die Überfahrt war ein einziger Alptraum für sie geworden, da ihr andauernd schlecht gewesen war -, hatte sie bereits gewusst , dass sie ein Baby von Wassili erwartete. Und dieses Baby brauchte einen Vater. Sie würde es Christopher natürlich sagen. Und obwohl dies die Dinge etwas komplizieren konnte, bedauerte sie ihren Zustand nicht einen einzigen Moment lang. Sie war sogar völlig begeistert davon.
Das Stadthaus seiner Tante war strahlend hell erleuchtet, und die zahlreichen Kutschen, die ihre festlich gekleideten Insassen vor dem Eingang absetzten, deuteten darauf hin, dass wohl gerade eine Gesellschaft stattfand. Alexandra hatte einige Tage Zeit zum Einkaufen gehabt, während sie auf ihr Schiff gewartet hatten, drei bereits halb fertige Kleider gefunden und den wenigen Kleidern in ihrer Reisetasche hinzugefügt. Nina hatte sie dann später fertiggenäht, denn Alexandras Nähkünste waren fürchterlich. Eines davon war ein hübsches Abendkleid aus Seide in Rosa und Dunkelblau. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sie es heute Abend brauchen würde. In ihrem grünen Wollkleid wollte man sie zuerst auch gar nicht hineinlassen, trotz des Zobelbesatzes an ihrem Mantel.
Ihr Kleid war für einen Besuch geeignet, aber nicht für den Ball, den die Leightons gerade gaben. Daher ließ man sie nicht zu den anderen Gästen, sondern führte sie in ein leeres Zimmer - anscheinend eine Bibliothek -, wo sie warten sollte.
Sie wartete. Nach einer Stunde wartete sie immer noch. Aber es machte ihr nichts aus. Jetzt, da sie nach so vielen Jahren Christopher endlich wiedersehen würde, war sie nicht ungeduldig. Eigentlich fühlte sie gar nichts, keine Nervosität, nichts. Sie war nicht einmal aufgeregt.
Sie fand das ziemlich merkwürdig, schrieb es aber den starken Depressionen zu, an denen sie seit ihrer Abreise aus Kardinien litt, und diese wiederum schrieb sie der Tatsache zu, dass sie ihre Pferde zurückgelassen hatte. Wassili hatte rein gar nichts damit zu tun, denn ihn vermisste sie überhaupt nicht. Sie dachte inzwischen nur noch ein Dutzendmal pro Tag an ihn. Aber angesichts der Hoffnungslosigkeit, von der sie in Kardinien überfallen worden war, und der Melancholie, die sie jetzt empfand, war es wohl kein Wunder, dass sie keine Gefühlsregung mehr spürte.
Lady Beatrice hatte Alexandra mit ihrer unerschütterlich guten Laune etwas aufgemuntert, und der Gedanke an ihr Baby half ihr auch. Aber sonst gab es nichts, worüber sie sich freuen konnte. Die Tatsache, dass sie in wenigen Augenblicken Christopher wiedersehen würde, hätte sie doch froh stimmen müssen. Warum war sie es dann nicht?
»Alexandra, bist du das wirklich?«
Sie hatte nicht gehört, dass die Tür hinter ihr geöffnet und wieder geschlossen wurde, aber als sie sich umdrehte, sah sie Christopher, der mit offenen Armen auf sie zuging. Sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, wie sehr er sich freute. Er hatte sich in all den Jahren kaum verändert, obwohl er jetzt fünfunddreißig Jahre alt sein muss te. Er sah vielleicht sogar noch etwas besser als in ihrer Erinnerung aus, war etwas fülliger im Gesicht und am Körper, was ihm gut stand. Damals war er viel zu schlank gewesen. Mit seinem braunen Haar, den dunklen Augen und seinem schwarzen Abendanzug sah er so vornehm aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Aber seine Einsachtzig kamen ihr jetzt gar nicht mehr so groß vor, und ...
Er umarmte sie, viel zu fest. Und bevor sie wieder Luft holen konnte, küsste er sie. Plötzlich wollte sie nur noch weg von ihm. Was stimmte nicht mit ihr? Dieser Mann war Christopher, der Mann, den sie liebte. Er war offensichtlich ganz überwältigt von ihrem plötzlichen Erscheinen, also lief doch alles bestens. Warum freute sie sich dann nicht darüber? Früher hatten seine Küsse sie immer elektrisiert, aber jetzt regte sich nichts in ihr, nicht einmal ein Bruchteil des Verlangens, das Wassili in ihr ausgelöst hatte. Aber sie würde nicht an ihn denken, nicht jetzt.
Sie konnte sich gerade lange genug von seinen Lippen freimachen, um zu fragen: »Du liebst mich also immer noch?«
»Aber natürlich liebe ich dich immer noch, Darling. Wie konntest du jemals daran zweifeln?«
Sie hätte ihm mehrere Gründe dafür nennen können, beschloss aber, dass Sarkasmus jetzt fehl am Platze wäre. Dagegen war Direktheit nun wohl angebracht, daher stellte sie ihm die Frage, die sie ihm schon vor vielen Jahren hätte stellen sollen. »Dann willst du mich also heiraten?«
Überrascht ließ er sie los, aber dann lachte er. »Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du sagst immer noch genau das, was du denkst, ungeachtet der Konsequenzen.«
Sie hätte ihm sagen können, dass das nicht mehr so ganz stimmte. Bei einigen Dingen war es ihr gelungen, sie ganz für sich zu behalten. Die Razins wusste n noch immer nichts von dem Baby. Und Wassili hatte nie erfahren, was sie wirklich für ihn empfand - o nein, sie würde nicht schon wieder an ihn denken, nicht ausgerechnet jetzt.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Christopher.«
»Aber das meinst du doch nicht ernst«, sagte er mit leicht spöttischer Stimme. »Ich hatte gehofft, du würdest mir sagen, dass du verheiratet bist, damit wir endlich Zusammensein könnten.«
Da dies überhaupt keinen Sinn für sie ergab, musste sie ihn fragen: »Wie meinst du das?«
»Aber Alexandra, du weißt doch, dass Liebe und Ehe kaum vereinbar sind. Und ich habe damals aus erster Hand erfahren, wie zügellos und unmoralisch ihr russischen Damen seid. Ich hatte gehofft, du würdest heiraten, damit wir eine Affäre miteinander haben könnten. Ich dachte, du hättest verstanden, dass es nur darum ging.«
Er brauchte ihr nichts weiter zu erklären, da alles vollkommen klar war, aber weil seine Worte sie doch etwas schockiert hatten, entschlüpfte ihr die Bemerkung: »Eigentlich dachte ich, dass wir heiraten würden.«
»Gütiger Himmel, du kannst doch nicht so dumm sein.«
Sie zuckte zusammen. »Oh, aber das ... war ich offensichtlich.«
»Aber, aber, meine Liebe, du musst doch wissen, dass du viel zu unkonventionell bist. Deine Angewohnheit, immer genau das zu sagen, was du denkst, würde meine Karriere ruinieren.«
»Ich muss wohl immer noch ziemlich dumm sein, denn ich verstehe nicht, warum du mir dann immer noch geschrieben, warum du mir Gedichte und Liebeserklärungen geschickt hast.«
Er war so anständig zu erröten. »Ich bin der Meinung, dass es ein Fehler ist, alle Brücken hinter sich abzubrechen, Darling. Ich habe immer noch gehofft, dass wir eines Tages miteinander schlafen würden.«
Warum war sie nicht wütend, warum ohrfeigte sie ihn nicht, warum weinte sie nicht? »Das hättest du mir sagen sollen«, entgegnete sie mit ausdrucksloser Stimme. »Ich wäre damals wahrscheinlich sogar bereit dazu gewesen.«
»Aber du warst doch noch Jungfrau, und ich wollte nicht ...«Er brach ab. Er sah sie mit einer Mischung aus Neugierde und neu erwachter Hoffnung an. »Bist du es immer noch?«
Alexandra beschloss, dass eine kleine Lüge jetzt angebracht war. »Ja.«
»Wie schade.« Er seufzte. »Aber sag mir, was machst du denn überhaupt in London? Ich hoffe, du hast diese weite Reise nicht nur wegen mir gemacht.«
Noch eine Lüge, ihres Stolzes wegen. »O nein, das habe ich nicht. Ich habe gerade meine Verlobung mit einem kardinischen Grafen aufgelöst und mich dazu entschlossen, noch eine Weile zu reisen, bevor ich nach Hause zurückkehre.«
»Ein Kardinier?« Plötzlich war er ganz aufgeregt. »Kannst du das denn nicht wieder rückgängig machen?«
»Warum?«
»Weil das die ideale Lösung für uns beide wäre, Darling. Ich habe gerade erfahren, dass ich in ein paar Monaten an die Botschaft in Kardinien versetzt werde. Und wenn du dort leben würdest, verheiratet ...«
»Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee, Christopher, aber ... selbst wenn ich diesen Kardinier heiraten und dann das Bedürfnis nach einem Liebhaber verspüren sollte, was sehr wahrscheinlich der Fall sein dürfte ...« - sie tätschelte ihm leicht die Wange, bevor sie weitersprach -, »... bin ich absolut sicher, dass du dieser Liebhaber nicht sein wirst.«
Dann ging sie aus dem Zimmer. Ihr Stolz war zwar leicht angeschlagen, aber sie hatte ihn gerettet.