Wassili schaffte es nicht, Alexandra einzuholen. Anders als sie folgte er nicht der Spur, sondern ließ Alexandra nicht aus den Augen. Aber mehr als einmal wurde das Schneegestöber so dicht, dass er sie nicht mehr sehen konnte, und dann geriet er in Panik und rief nach ihr, obwohl er genau wusste , dass sie ihn nicht hören konnte.
Obwohl die Straße durch die Berge wie alles andere in der Umgebung nicht mehr zu sehen war, war sich Wassili sicher, dass sie auf dieser Straße waren und die Räuber um das Lager herumgegangen waren, um wieder zur Straße zu gelangen. Es war schließlich der sicherste Weg für sie, zumal die Nacht bald hereinbrechen würde und sie wahrscheinlich annahmen, dass ihnen niemand folgen würde.
Als die Dämmerung dann hereinbrach, geriet er wieder in Panik, da er nichts bei sich hatte, womit er eine Fackel hätte anzünden können. Dazu hätte er auch gar keine Zeit gehabt. Er versuchte, seinen Rotschimmel anzutreiben, aber der Abstieg war zu steil und wegen des Schnees auch zu gefährlich. Der Hengst, der bereits einmal gestrauchelt und einige Meter weit gerutscht war, scheute. Es war unmöglich, ihn zu einer schnelleren Gangart zu bewegen.
Als die Dämmerung der Nacht wich, stellte Wassili fest, dass seine Befürchtungen unbegründet gewesen waren. Aufgrund der weißen Schneedecke wurde es nicht völlig dunkel, so dass er immer noch einige Meter weit sehen konnte, wenn ihn die herumwirbelnden Schneeflocken nicht blendeten.
Die Stunden vergingen, er wusste nicht, wie viele es waren. Aber er wusste, dass er sterben würde. Ganz langsam erfror er, seine Hände und Füße waren schon taub. Er hielt sich nur durch reine Willenskraft im Sattel und dachte nur an eines - er würde diese Närrin umbringen ... nein, erst würde er mit ihr schlafen, und dann erst würde er sie umbringen.
Plötzlich legte sich der Wind. Unmittelbar darauf hörte es auch auf zu schneien. Vielleicht war es auch nicht mehr so kalt, aber das konnte Wassili jetzt nicht feststellen. Auf jeden Fall aber war der Eichen-und Tannenwald dichter geworden. Er muss te wohl beinahe am Fuß des Berges mit seinen flacheren Hängen angekommen sein. Dort gab es Dörfer, wärmendes Feuer und warme, gemütliche Hütten mit Essen und Trinken. Wenn er sich nur noch eine Weile auf seinem Pferd halten konnte, würde er vielleicht doch nicht sterben müssen.
Bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, sah er Alexandra, die plötzlich die Straße verließ und in Richtung Süden ritt. Wassili stöhnte. Beinahe hätte er sie aus den Augen verloren. Er wäre einfach auf der Straße weitergeritten und hätte die Spur übersehen, die von der Straße weg ins Gelände führte.
Da der Wind sich jetzt gelegt hatte, rief er nach ihr, aber er konnte sie nicht mehr sehen. Als er die Stelle erreichte, wo sie die Straße verlassen hatte, sah er sie wieder, aber sie hatte einen großen Vorsprung. Es ging jetzt nicht mehr abwärts. Der kleine Pfad, dem sie gefolgt war, führte wieder den Berg hinauf.
Wieder rief er ihren Namen. Dieses Mal hörte sie ihn. Ihr Kopf fuhr herum. Sie sah ihn an. Aber sie hielt nicht an. Statt dessen trieb sie ihr Pferd an.
Das war zu viel! Er würde sie auf jeden Fall umbringen, sobald er sie in die Finger bekam - wenn sie nicht beide vorher erfroren. Zum Glück hatte ihr geliehenes Pferd genauso wenig Lust zum Galopp wie sein Hengst, deshalb konnte sie ihm nicht entkommen. Aber ihr Vorsprung war immer noch so groß, dass er sie nicht einholen konnte.
Er fragte sich, ob ein Schuss aus der Pistole, die in seinem Gürtel steckte, sie zum Anhalten bewegen oder nur noch mehr anspornen würde. Wenn er mehr als eine Pistole dabeigehabt hätte, hätte er es vielleicht versucht. Aber vielleicht hatte sie ja auch eine Pistole dabei und feuerte zurück, weil sie dachte, er wollte sie umbringen. Es gab ja auch allen Grund dazu. Außerdem hatte er den Verdacht, dass sie es fertigbringen würde, aus Rache auf ihn zu schießen. Schließlich ging es hier um ihre Pferde, und es gab überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Tiere ihr mehr bedeuteten als er. Diese verdammten Pferde. Er wäre jetzt nicht hier draußen und würde langsam erfrieren, wenn ...
Plötzlich sah er Fackeln vor sich. Entweder hatte sie jetzt die Diebe oder ein Dorf gefunden - oder beides. Aber Alexandra ritt nicht langsamer, damit er sie einholen konnte. Sie ritt schnurstracks auf das Licht zu, und einige Zeit später wusste er auch, warum. Ihre Pferde. Sie hatte ihre Pferde gesehen und war wahrscheinlich viel zu wütend, um an die Gefahr zu denken, die vor ihr lag. Ganz sicher war sie zu wütend, um vernünftig zu sein.
Da er sie nicht aufhalten konnte, musste er zusehen, wie sie mitten in eine Gruppe von sechs Männern hineinritt und anfing, mit der Reitpeitsche um sich zu schlagen, die sie seit dem Kampf ständig bei sich trug. Die Männer sprangen auseinander. Pferde bäumten sich auf. Einer der Männer wurde von seinem Pferd abgeworfen und rutschte mehrere Meter den steilen Abhang hinunter. Ein anderer zog eine Pistole, die sie ihm aus der Hand peitschte. Der Rest der Männer stieg jetzt ab. Der Pfad war zu eng für so viele Pferde, und offensichtlich hatten die Männer vor, Alexandra von ihrem Pferd herunter zu zerren, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte.
Wassili zog seine Pistole und feuerte, aber da er nur einen Schuss hatte, warf er sie gleich darauf weg und zog sein Schwert. Er kam zu spät, um zu verhindern, dass Alexandra von ihrem Pferd gezogen wurde. Da die Fa c keln zu Boden gefallen und vom Schnee gelöscht worden waren, konnte er nicht sehen, was dann mit ihr geschah.
Es wurde noch ein Schuss abgefeuert, der dieses Mal jedoch Wassili galt. Aber er war immer noch so taub vor Kälte, dass er es wahrscheinlich überhaupt nicht gemerkt hätte, wenn er getroffen worden wäre. Er vertraute einfach darauf, unverletzt zu sein, und als er schließlich vom Pferd sprang, schwang er sein Schwert, um zu beweisen, dass seine Kampfkraft ungebrochen war.
Die Räuber liefen wieder auseinander, da sie vor seinem Schwert mehr Respekt hatten als vor der Pferdepeitsche, aber sie entfernten sich nicht sehr weit. Dann fuchtelten sie mit einem Sammelsurium von Waffen herum - einem Dolch, zwei Schwertern, einer Keule, aber weitere Pistolen konnte er nicht erkennen. Und jetzt sah er auch Alexandra wieder.
Sie lag auf dem Boden und kämpfte mit einem der Männer, der sie festzuhalten und ein Seil um sie zu schlingen versuchte. Die Tatsache, dass er Alexandra anfasste , ließ Wassili alle Vorsicht vergessen. Ohne daran zu denken, dass er damit alle Vorteile aufgab, die sich ihm auf dem Rücken seines Pferdes boten, warf er sich auf den Mann und riss ihn zu Boden. Dort wälzte er sich mit ihm im Schnee, bis er ihn schließlich mit dem Knauf seines Schwertes niederschlagen konnte.
Obwohl der Schnee ihn behinderte, kam er sofort wieder auf die Beine und sah sich jetzt drei weiteren Männern gegenüber. Der vierte hatte Alexandra überwältigt, bevor sie eine Chance gehabt hatte, aufzustehen. Er hatte sie mit dem Gesicht nach unten in den Schnee geworfen, ihr ein Knie in den Rücken gestoßen und war jetzt gerade dabei, ihr die Hände zusammenzubinden. In wenigen Augenblicken würde er - Wassili - genauso verpackt werden.
Wassili hatte sich jetzt wieder unter Kontrolle. Er schätzte seine Chancen gegen die Männer als gar nicht so schlecht ein, da sie es selbst zu dritt nicht mit seinem Schwert aufnehmen konnten. Aber der rutschige Schnee unter seinen Füßen würde diesen Vorteil wieder wettmachen. Er muss te daran denken, wie er einmal mit Stefan im Schnee trainiert hatte und sie fast mehr Zeit im Schnee liegend als auf den Füßen verbracht hatten. Mehr als einen Gegner würde er trotz dieser Erfahrung nicht besiegen können.
Wassili machte sich bereit für den ersten Angriff, der nicht lange auf sich warten ließ. Er wich nicht von der Stelle, da er dachte, dass es unter diesen Umständen wohl die beste Verteidigungstaktik war, sich möglichst wenig zu bewegen. Eine Weile schien das auch tatsächlich so zu sein. Er entwaffnete einen Mann, verwundete den zweiten und hatte bei dem dritten gerade eine Chance für einen Angriff entdeckt, als er plötzlich gezwungen wurde, völlig still zu stehen. Die Klinge, die sich in seinen Rücken bohrte - er wusste nicht, ob es ein Schwert oder ein Dolch war -, war durch seinen Mantel, seinen Rock und sein Hemd gedrungen und bewies ihm, dass er doch noch nicht zu taub vor Kälte war, um eine Verletzung zu spüren.