Wassili und Alexandra wurden zu einer baufälligen Hütte gebracht, die einem von Latzkos Männern gehörte und jetzt leer stand, da der Besitzer Latzko nach Österreich begleitet hatte. Sie enthielt zwar das Notwendigste - einige Stühle und einen Tisch, ein schmales Bett, etwas Geschirr und ein paar Decken -, aber nichts Persönliches, denn der Besitzer vertraute seinen Kameraden offensichtlich nicht genug, um seine Wertsachen zurückzulassen. Im Innern der Hütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand, war es beinahe genauso kalt wie draußen, da seit mehreren Wochen nicht mehr geheizt worden war.
Es gab zwar ein Fenster, aber dieses war von außen mit Brettern zugenagelt worden. Die Tür hatte kein Schloss, deshalb nagelte der Mann, der sie hergebracht hatte, ein Brett darüber. Sie würde sich erst morgen früh wieder öffnen, wenn jemand das Brett losriss .
Das Beste an ihrer Unterkunft war, dass sie wirklich miteinander allein waren. Die Kerze, die man ihnen gelassen hatte, verbreitete einen warmen Schein. In einer Ecke lag ein kleiner Stapel Feuerholz, der wahrscheinlich deshalb so klein war, weil auch der Ofen winzig war. Es würde Stunden dauern, bis das Feuer den Raum auch nur ein wenig erwärmt hatte, aber so lange würde er nicht warten, um sich zu trocknen. Doch zuerst muss te er ein Feuer machen.
Sobald er sich vergewissert hatte, dass draußen keine Wache zurückgelassen worden war, ging Wassili auf das Feuerholz zu. Bevor er dort war, streifte eine hölzerne Schüssel seine Schulter.
»Was, zum Teufel ...?«
Er drehte sich um, musste sich aber sofort ducken, weil ein Teller an seinem Kopf vorbeiflog. Alexandra stand neben einem Schrank an der Wand, der ein ganzes Arsenal an Wurfgeschossen enthielt, und sie sah aus, als ob sie jeden einzelnen Gegenstand für diesen Zweck gebrauchen wollte. Angesichts der geringen Entfernung zwischen ihnen be schloss Wassili, sofort mit Reden anzufangen.
»Was immer ich über Eure Pferde gesagt habe, Alexandra, habe ich nur gesagt, um Pawels Preis zu drücken. Ihr wollt doch Eure Tiere wiederhaben, nicht wahr?«
Ihre Antwort bestand aus einem Glaskrug, der verdammt nah an seiner Wange vorbeisauste. Es ging also nicht um die Pferde?
Er trat langsam auf sie zu, während er es noch einmal versuchte. »Ich musste auch alle diese Dinge über Euch sagen, und das hatte nichts mit dem Preis zu tun. Wenn Pawel gedacht hätte, Ihr würdet mir etwas bedeuten, hätte er Euch vielleicht verletzt, bevor er Euch an mich verkauft hätte. Der Kerl ist unberechenbar und rachsüchtig. Er denkt, dass alles, was mir schadet, auch Stefan schaden wird. Er würde alles tun, um Stefan zu schaden, er hasst ihn nämlich.«
Wassili musste sich wieder ducken, aber er spürte, dass er der Sache allmählich näher kam. Doch offensichtlich hatte er den wunden Punkt noch nicht getroffen, während sie inzwischen immer besser traf.
Seine Stimme klang bedrohlich leise. »Spuckt es aus, Alex, bevor ich die Geduld verliere.«
Sie schleuderte ihm noch einen Teller und ein empörtes fünfundzwanzig Rubel? entgegen.
Du lieber Himmel, er hätte wissen müssen, dass sie sich daran am meisten stören würde. Frauen und ihr verdammtes Zartgefühl. Und er hatte gedacht, sie würde sich auch in dieser Beziehung von anderen Frauen unterscheiden. Aber nein, sie war natürlich nur dann normal, wenn er sich genau das Gegenteil wünschte.
»Ihr habt doch gehört, dass Stefan für Arina nur fünfzig Rubel bezahlt hat«, entgegnete er.
»Arina wird offenbar recht oft weitergereicht, das zählt also nicht. Wer war die andere Frau, und wieviel habt Ihr für sie bezahlt?«
Die Frage wurde von einem Hackbrett begleitet, das gegen seine Brust donnerte. Er war so überrascht davon, dass er erst nach einigen Augenblicken bemerkte, dass sich Alexandra inzwischen vom Wandschrank entfernt hatte und jetzt nach schwereren Wurfgeschossen in Form von Feuerholz griff.
Wassili schoss durch das Zimmer, packte sie von hinten und hob sie hoch. Seine Arme hatten ihre Taille umfaßt. Sie kreischte. Er schüttelte sie. Sie trat mit dem Fuß nach hinten und zielte dabei auf seine Knie. Er schüttelte sie wieder. Ihre Mütze rutschte herunter, und plötzlich fiel ihm ihr Haar ins Gesicht. Es war kalt und seidig und roch nach Frühlingsblumen.
Er wollte sie lieber nicht zu lange festhalten. »Über was für eine andere Frau redet Ihr da?«
»Lasst mich runter!«
»Erst wenn Ihr Euch wieder beruhigt habt«, erwiderte er. »Was für eine andere Frau?«
»Die, von der Euer Freund gesprochen hat...«
»Er ist nicht mein Freund.«
»... als er Euch fragte, ob ich soviel wert sei wie die andere!«
Ihre Stimme klang so zornig, dass ihm endlich klar wurde, warum sie ihn draußen im Schnee so finster angeblickt hatte, als Pawel diese Frage gestellt hatte. »Ihr wart doch nicht etwa eifersüchtig, Alex?«
Er glaubte zu spüren, wie sie sich in seinen Armen vor Verlegenheit wand, aber ihre Antwort war ein bockiges »Beantwortet meine Frage, Petroff«.
»Beantwortet zuerst meine Frage, oder ich erinnere mich vielleicht an das Versprechen, das ich Euch gegeben habe. Ihr wisst doch noch ... falls Ihr mir gegenüber wieder gewalttätig werdet...«
»Mistkerl!«
Seine Arme verstärkten den Griff um ihre Taille gerade so weit, dass er sie zum Schweigen bringen und seinen Satz beenden konnte: »Ich hatte ja eigentlich vor, mein Versprechen eine Zeitlang zu ignorieren, da wir uns momentan in etwas ungewöhnlichen Umständen befinden, aber ...«
»Ich war nicht eifersüchtig«, unterbrach sie ihn. »Nur die Frauen, mit denen Ihr jetzt etwas anfangt, werden die Klinge meines Messers zu spüren bekommen. Ich habe Euch ja gesagt, warum.«
»Ja, ja, weil ich Euch gehöre«, sagte er in einem Ton, der deutlich machte, dass er das schon viel zu oft gehört hatte. »Für mich sieht das aber trotzdem wie Eifersucht aus, Liebling.«
»Egal, was es ist, Ihr habt die schlechteren Karten«, schleuderte sie ihm entgegen. »Wer war die Frau?«
»Königin Tatiana.«
»Wer?«
»Die Frau meines Cousins. Damals war sie jedoch nur eine Prinzessin. Sie ist in Amerika aufgewachsen, nein, eigentlich ist sie dort verlorengegangen, aber das ist eine lange Geschichte, die Ihr sicher nicht hören wollt. Schämt Ihr Euch jetzt wenigstens, weil Ihr mich verdächtigt habt?«
»Euch? Einen Mann ohne jedes Schamgefühl? Ich denke ja gar nicht daran«, entgegnete sie. »Wieviel wurde für sie bezahlt?«
Wassili seufzte. »Fünfhundert Rubel, und bevor Ihr Euch mit einer Prinzessin vergleicht, solltet Ihr wissen, dass dies ein geradezu lächerlich hoher Preis für eine Frau war und Latzko davon ausging, dass er heruntergehandelt würde. Mein Cousin war jedoch viel zu wütend, um zu handeln. Er wollte nur seine Braut zurückhaben. Aber er hat ein schlechtes Beispiel gegeben, indem er den geforderten Preis einfach bezahlt hat. Das ist auch der Grund, weshalb Pawel jetzt so unsinnige Forderungen stellt.«
Ihr Ton wurde ausgesprochen hochnäsig. »Der Preis, den er für meine Pferde fordert, ist ganz und gar nicht lächerlich.«
»Darum geht es nicht, Alex. Wir haben es hier mit einfachen Menschen zu tun, die einfache Bedürfnisse haben. Sie können nur deshalb hier in den Bergen überleben, weil sie nie zu viel nehmen. Die Menschen, die von ihnen ausgeraubt oder entführt werden, ärgern sich lediglich über die Unannehmlichkeiten. Aber wenn sich die Räuber plötzlich zu viel nehmen, wird irgendwann jemand so ärgerlich werden, dass er etwas dagegen unternimmt. Latzko versteht das. Pawel hat leider nicht genug Hirn, um es zu begreifen.«
»Soll das etwa heißen, dass wir gar nicht in Gefahr sind?«
»Wenn Latzko hier wäre, würde das vielleicht stimmen. Da jetzt jedoch Pawel das Sagen hat, bin ich mir da nicht so sicher, insbesondere, wenn es um uns beide geht. Und der Grund dafür ist sein Hass auf Stefan.«
»Ihr könnt mich jetzt wieder loslassen, Petroff.«
Nichts lieber als das. Nachdem er sie so lange festgehalten hatte, kam sein Körper auf Gedanken, die sein Gehirn verzweifelt zu ignorieren versuchte.
»Ihr werdet nichts mehr nach mir werfen?«
»Ich glaube, ich werde mich eine Weile beherrschen können.«
Der Sarkasmus in ihrer Stimme ließ ihre Antwort glaubhafter klingen, als wenn sie es ihm rundheraus versprochen hätte. Ihm war aufgefallen, dass ihre Antworten immer sehr direkt ausfielen, wenn sie wütend war.
Behutsam stellte er sie wieder auf die Erde. Jetzt, da er ihre Wärme nicht mehr spürte, fröstelte es ihn, und er wandte sich sofort wieder dem Feuerholz zu.
Er war sich nicht ganz sicher, wie sie auf seine nächste Bemerkung reagieren würde, aber er musste es sagen. »Wir müssen aus diesen nassen Sachen herauskommen.«
»Ich weiß«, sagte sie leise hinter ihm.
Sie konnte tatsächlich vernünftig sein? Dem Himmel sei Dank für dieses kleine Geschenk. Und dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass Alexandra ihre Sachen ausziehen würde. Sie waren in einem verschlossenen Raum, allein - mit einem Bett. Schon der Gedanke daran war zu viel für ihn. Er stöhnte.
»Stimmt etwas nicht?« fragte sie.
»Nein, nein, alles in Ordnung«, erwiderte er, aber er blieb über das Feuerholz gebeugt stehen und rührte sich nicht.
»Das Feuer, Petroff«, erinnerte sie ihn ungeduldig. »Oder glaubt Ihr, wir würden die Nacht ohne überleben?«
Da er diese Nacht so oder so nicht überleben würde, konnte es ihm eigentlich egal sein. Aber er bekam sich wieder unter Kontrolle und machte sich daran, das Feuer im Ofen zu entfachen.
»Sagt mir, warum Pawel Euren Cousin so sehr hasst«, verlangte sie.
Gut. Jetzt konnte er endlich an etwas anderes denken als an das, was er bald mit ihr machen würde.
»Pawel war in Latzkos Tochter Arina verliebt. Wahrscheinlich ist er das immer noch. Aber sie wollte höher hinaus. Vor ungefähr acht Jahren lernte sie Stefan kennen, der zu dieser Zeit noch Kronprinz war. Sie war dann eine Zeitlang seine Geliebte. Dann haben sie sich gestritten, und sie kam wieder hierher zurück. Stefan folgte ihr, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Das Ganze endete damit, dass Stefan an Latzko fünfzig Rubel zahlen muss te, bevor er sie wieder mitnehmen konnte. Pawel bestand außerdem darauf, dass Stefan um Arina kämpfte.«
»Hat er das getan?«
»Ja.«
»Das klingt sehr romantisch.«
Wassili schnaubte empört. »Es war überhaupt nichts romantisch daran. Pawel hat unfair gekämpft, aber trotzdem verloren. Das Problem dabei war, dass er ein schlechter Verlierer ist. Als Tania gefangengenommen wurde ...«
»Wer ist Tania?«
Er ignorierte die Tatsache, dass ihr Ton wieder schärfer geworden war. »Tania ist Tatiana. Sie möchte so genannt werden. Wie ich Euch bereits sagte, ist sie in Amerika aufgewachsen, und dort hieß sie so. Ihren richtigen Namen hat sie erst erfahren, als wir sie letztes Jahr gefunden haben ... aber ich schweife ab. Wie gesagt, sie wurde gefangengenommen, Stefan muss te wieder hierherkommen, und Pawel hatte endlich die Gelegenheit, sich zu rächen. Er forderte Stefan erneut zum Kampf heraus - dieses Mal mit Messern -, um ihn dabei zu töten.«
»Diesen Kampf hat er wohl auch verloren?«
»Ja, aber Ihr habt gehört, was er gesagt hat. Er ist immer noch nicht zufrieden, obwohl ihm Latzko das letzte Mal angedroht hat, er werde ihn umbringen, wenn er Stefan noch einmal zum Kampf herausfordern sollte.«
»Aber Latzko ist nicht hier, um dafür zu sorgen, dass Pawel sich daran hält, und ... Ihr glaubt, er wird Euch herausfordern, bevor das alles hier vorüber ist, nicht wahr?«
Machte sie sich etwa Sorgen um ihn? Du lieber Himmel, das bildete er sich doch nur ein. Alexandra und sich Sorgen um ihn machen? Da konnte er lange warten.
»Er wäre ein Idiot, wenn er mich herausfordern würde«, sagte Wassili verächtlich.
»Ach, Ihr glaubt also, dass er zumindest ein paar Gehirnzellen besitzt?«
Sie sagte das so trocken, dass er fast gelacht hätte. Und das überraschte ihn. Wann zum Teufel hatte er damit angefangen, ihren Humor witzig zu finden?
Endlich war es ihm gelungen, das Feuer anzuzünden. Es war gar nicht so schwach, wie er befürchtet hatte. Der Lehmofen würde zwar eine Zeitlang brauchen, um den Raum aufzuheizen, aber sicherlich nicht viele Stunden, wie er zuerst gedacht hatte.
Er drehte sich um und wollte Alexandra sagen, dass sie näher an den Ofen herankommen sollte, bevor sie sich auszog. Er war nicht darauf gefasst gewesen, sie mit einer Decke um die Schultern dastehen zu sehen. Rock, Hose und Hemd hingen über der Rückenlehne des Stuhls, der neben ihr stand. Sogar die Strümpfe hatte sie ausgezogen. Ihm stockte der Atem. Alle seine Gedanken waren wie weggefegt, und dann konnte er sich nur noch auf eines konzentrieren. War sie unter der Decke völlig nackt, oder hatte sie immer noch ihre Unterwäsche an? Trug sie überhaupt Unterwäsche? Beinahe hätte er sich in Verlegenheit gebracht und gefragt, aber er wusste nur zu gut, dass er nicht wagen würde, es herauszufinden.
Er wandte den Blick von ihr ab, fand aber nichts in der Hütte, womit er sich hätte ablenken können, um die Reaktion seines Körpers zu ignorieren. Hatte er etwa nach einer Unterkunft gefragt, in der er mit ihr allein sein würde? Er muss te verrückt gewesen sein.
»Ihr könnt das Bett haben«, platzte er heraus. »Ich werde auf dem Boden schlafen.«
»Macht Euch nicht lächerlich. Ich finde diese Situation ganz und gar nicht angenehm ...«
Wassilis Kopf fuhr herum. Er unterbrach sie mit dem energischen Ausruf: »In dieser Beziehung sind wir völlig einer Meinung.«
»... aber wir sind schließlich beide erwachsen. Es gibt hier nur dieses eine Bett, und sobald Ihr Eure Stiefel auszieht, werdet Ihr merken, dass die Kälte durch den Fußboden kommt. Ihr würdet Euch fürchterlich erkälten, wenn Ihr versucht ...«
»Ich habe schon verstanden, Alex«, fuhr er sie an. Seine Stimme war etwas zu laut.
Angesichts seines Tons antwortete sie ihm steif: »Ihr könnt ja versuchen, jemanden zu rufen und nach einer anderen Unterkunft für Euch zu fragen, aber so, wie sich das von hier aus anhört, sind die Räuber schon ausgiebig beim Feiern. Ich glaube nicht, dass Euch jemand hören wird.«
In diesem Punkt musste er ihr beipflichten, aber es konnte nicht so bleiben, wie es jetzt war. Er wollte sie ... nun, eigentlich nicht er, er ganz gewiss nicht, aber sein Körper, und er war ein Mann, der seinem Körper schon zu oft die Entscheidung überlassen hatte. Aber dieses Mal konnte er das nicht tun. Er wollte sie um keinen Preis wissen lassen, wie sehr sie ihn erregte.
»Ihr habt natürlich recht. Ich hatte nur nicht erwartet, dass Ihr so ... vernünftige Ansichten darüber haben würdet.«
Sie wirkte immer noch ein wenig eingeschnappt. Ihr Kinn reckte sich sogar noch etwas mehr in die Höhe, und ihr Rücken wurde noch steifer.
»Es ist doch nur vernünftig, in einer Nacht wie dieser seine Körperwärme zu teilen«, sagte sie zu ihm. »Kommt also nicht auf falsche Gedanken, Petroff. Mir wäre zwar ein anderer Körper lieber, aber da der Eure nun mal der einzig verfügbare ist...«
»Legt Euch in dieses verdammte Bett und schlaft endlich«, brummte er. »Wenn es doch schon Morgen wäre!«