22

Das Essen war gut, aber Wassili war das warme Feuer viel wichtiger. Er war immer noch bis auf die Knochen durchgefroren, trotz des Lehmofens in der Mitte des Raumes, der alle anderen zu wärmen schien. Latzkos Haus bestand aus einem einzigen großen Zimmer, das als eine Art Versammlungsraum für das Dorf und als Schlafstätte für die unverheirateten Männer der Siedlung diente.

Wassilis Hände waren nicht mehr taub, aber der getaute Schnee war in seine Stiefel geflossen und hatte seine Füße, die immer noch eiskalt waren, durchweicht. Ihm würde erst dann wieder richtig warm werden, wenn er seine feuchte Kleidung ausziehen konnte. Alexandra ging es vermutlich ebenso.

Sie sagte jedoch kein Wort und ignorierte geflissentlich alle Anwesenden - ihn selbst eingeschlossen. Oder sollte man sagen, ganz besonders ihn? Sie saß im Schneidersitz auf einer der vielen Pritschen und hatte einen Teller auf dem Schoß, aus dem sie ihr Essen herauspickte - mit den Fingern natürlich. Der Löffel, den man ihr gegeben hatte, lag neben ihrem Knie auf der Decke. Wahrscheinlich wusste sie überhaupt nicht, wozu er gut sein sollte.

Wassili hatte sich inzwischen beinahe an ihre Esssitten gewöhnt, aber ihre Gastgeber waren überrascht gewesen. Selbst die Räuber hatten bessere Tischmanieren als seine Verlobte. Ausnahmsweise war er froh darüber, denn sie hielten sie für eine Bäuerin und daher für bedeutungslos. Er hätte ihr den Hals umgedreht, wenn sie sich plötzlich anständig benommen hätte.

Sie hatte den dicken, wollenen Rock immer noch bis zum Hals zugeknöpft. Im Schein der Lampen sah er, dass dessen Vorderseite völlig durchnässt war, was wohl daher rührte, dass man sie mit dem Gesicht nach unten in den Schnee gestoßen hatte. Ihre Brüste muss ten eiskalt sein, die Brustwarzen harte kleine Hügel, die nur darauf warteten, von ihm ...

Wassili legte eine Hand über seine Augen und stöhnte innerlich. Was zum Teufel tat er da gerade? Ihm gegenüber saß Pawel, links und rechts von ihm je einer seiner Männer. Eine der Frauen aus dem Dorf ging herum, füllte die Krüge mit Bier und gratulierte den Männern zu ihrem Mut und ihrer Gerissenheit. Und was tat er, anstatt jeden Gesprächsfetzen aufzuschnappen, der ihm nützlich sein konnte?

Bis jetzt hatte er lediglich erfahren, dass die Räuber nicht - wie er angenommen hatte - zufällig auf ihn und seine Begleiter gestoßen waren, sondern schon lange vorher über die Reisenden und die Pferde Bescheid gewusst hatten. Anscheinend standen Männer in ihrem Sold, die im Dorf auf der anderen Seite der Berge lebten, wo Wassilis Gruppe in der Nacht zuvor Rast gemacht hatte.

Aufgrund dieser Absprache wussten es die Räuber immer vorher, wenn eine wohlhabende Reisegesellschaft die Berge überquerte. Über Abkürzungen waren die beiden Dörfer innerhalb weniger Stunden erreichbar. Und heute hatte der Sturm außerdem dafür gesorgt, dass sie sich nehmen konnten, was sie haben wollten, ohne eine Auseinandersetzung befürchten zu müssen.

»Wer ist das Mädchen?«

Alexandra sah plötzlich zu Wassili hin, was bewies, dass sie - im Gegensatz zu ihm - die ganze Zeit über zugehört hatte. Aber dieses Mal würde er nicht den Fehler machen, eine verfängliche Antwort in Russisch zu geben. Er wusste einfach nicht, wie sie reagieren würde. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie ihm dabei helfen würde, aus den Schwierigkeiten, in die sie durch ihre Schuld hineingeraten waren, auch wieder heil herauszukommen. Wenn er sie verärgerte, würde sie ihn genauso angreifen wie die Räuber.

Wassili antwortete ihm daher in kardinisch. »Ihr Vater hat sie mir geschenkt. Ich will mich eine Weile mit ihr amüsieren.«

Der Blick, den Alexandra ihm zuwarf, bevor sie sich wieder ihrem Essen widmete, machte deutlich, dass sie absolut kein Verständnis dafür aufbrachte, von der Antwort ausgeschlossen zu sein. Wassili war erleichtert. Er hatte nicht genau gewusst , ob sie Kardinisch verstand. Die Wahrscheinlichkeit war zwar nicht sehr groß, aber es hätte immerhin sein können.

»Und Ihr amüsiert Euch mit ihr, indem Ihr sie verprügelt?«

Pawel hatte auf Russisch weitergesprochen, ohne Zweifel, um Wassili zu ärgern. Alexandra hob den Kopf. Wassili hätte zwar in kardinisch antworten können, aber da Pawel mit seiner Frage sowieso schon einen falschen Eindruck hervorgerufen hatte, würde er es wahrscheinlich wieder tun, also konnte Wassili genauso gut Russisch sprechen. Wenn Alexandra so dumm war, sie zu unterbrechen und dadurch Pawels Aufmerksamkeit zu erregen, dann war das ihre eigene Schuld.

Wassilis goldene Augen blickten Pawel an. Er sah nicht ein einziges Mal zu Alexandra hin. »Ich glaube, meine Worte vorhin lauteten, dass keiner außer mir sie schlagen darf. Und ich amüsiere mich dabei nicht, es ist lediglich eine Notwendigkeit. Schließlich hat sie es fast immer auch verdient.«

»Aber Ihr wollt sie behalten, nicht wahr?«

»Da sie mich noch nicht langweilt, werde ich sie noch eine Weile behalten. Aber so lange gehört sie mir, und zwar ausschließlich mir - oder ich verliere das Interesse an ihr.«

Pawel zuckte mit den Schultern, was besagen sollte, dass er ihn vollkommen verstand. Gebrauchte Waren verloren ihren Wert. Und jetzt konnten sie sich endlich dem Geschäft widmen.

»Fünfzig Rubel und keinen Rubel mehr«, bot Wassili ihm an. Sein Gesichtsausdruck sagte, dass er damit ein sehr großzügiges Angebot gemacht hatte. Dann lehnte er sich zurück und legte einen Arm auf die Lehne seines Stuhls. »War das nicht auch der Preis, den Stefan damals zahlen muss te, um Arina zurückzubekommen?«

Es war ein kalkuliertes Risiko, Arina zu erwähnen. Aber er hatte bereits vermutet, dass die Frau, die sie bediente, Pawels Ehefrau war - wegen der Blicke, die sich die beiden zuwarfen, und der Tatsache, dass die anderen Männer die Finger von ihr ließen. Pawel würde entweder vor Eifersucht explodieren, so wie er das immer tat, wenn von Arina gesprochen wurde, oder er würde das Thema Frauen möglichst schnell beenden, da seine eigene Frau zuhörte.

»Wie könnt Ihr Latzkos Tochter mit diesem Trampel vergleichen?« fragte er und deutete auf Alexandra.

War er etwa entrüstet? Wassili hätte sich keine bessere Reaktion wünschen können. »Ihr habt natürlich recht. Was wäre denn angemessen? Fünfundzwanzig?«

»Fünfundvierzig«, erwiderte Pawel, dem offensicht-lieh klargeworden war, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»Ich nehme an, dass wir mit diesem Preis niemanden beleidigen werden«, bemerkte Wassili trocken. Alexandra natürlich ausgenommen. »Einverstanden. Übrigens, wen heiratet Arina denn eigentlich?«

Pawel spuckte auf den Boden, bevor er mit entrüsteter Stimme sagte: »Ihr österreichischer Herzog wurde ihr mit der Zeit zu langweilig, da hat sie sich mit einem Grafen eingelassen. Er ist so verrückt, sie zu heiraten.«

Wassili wusste, dass es ein Fehler war, aber er muss te es Pawel einfach noch ein wenig unter die Nase reiben. »Latzko ist sicher sehr erfreut darüber, einen Grafen in der Familie zu haben.«

»Latzko will nur, dass sie endlich heiratet«, murmelte Pawel vor sich hin. »Es ist ihm egal, wen sie heiratet. Und nun zu Euch, Graf Petroff. Ich bin sicher, dass mein guter Freund Stefan einen anständigen Preis für Euch zahlen wird. Die Pferde werde ich natürlich für mich selbst behalten. Aber Ihr ...«

»Pferde wie diese kann man in den Bergen nicht gebrauchen, und das wisst Ihr auch, Pawel. Ich werde Euch dreihundert für alle Pferde geben.«

Pawel lachte. »Ihr glaubt wohl, ich wüsste nicht, dass so edle Pferde für Euren Cousin bestimmt sind? Wenn er sie haben will, dann muss er den Preis zahlen, den ich verlange, oder ich behalte sie für mich.«

Wassili hatte keine Ahnung, wie Pawel auf diese Idee gekommen war, aber er musste ihn sofort davon abbringen, andernfalls würde er die Pferde nie zurückbekommen. »Die Pferde sind ein Geschenk meiner Verlobten. Stefan mag Schimmel überhaupt nicht. Er hält sie für blutleere, launische Tiere, die ihr Futter nicht wert sind. Da ich jetzt bereits eine Weile mit ihnen gereist bin, bin ich geneigt, ihm zuzustimmen, obwohl ich sie vielleicht immer noch für eine Zucht verwenden werde, wie ich das ursprünglich geplant hatte. Da sie mich jedoch nichts gekostet haben, ist es mir eigentlich egal, was mit ihnen passiert. Dreihundert Rubel für alle und keinen Rubel mehr.«

»Eintausend Rubel für jedes der Tiere und keinen Rubel weniger«, entgegnete Pawel streitlustig.

Wassili spürte, wie sich Alexandras nachtblaue Augen wie spitze Dolche in ihn bohrten. Er hatte gerade ihre >Babys< beleidigt. Es wunderte ihn, dass sie nicht mit dem Teller nach ihm warf. Er war aber noch nicht fertig.

»Absolut lächerlich«, sagte er verächtlich. »Wenn Ihr nicht ernst sein könnt, brauchen wir gar nicht weiterzureden.«

»Stefan wird meinen Preis bezahlen, Aristo«, erwiderte Pawel zuversichtlich. »Für Euch wird er fünftausend Rubel bezahlen müssen ... nein, doch besser zehntausend.«

»Ihr seid verrückt.«

Pawels Fäuste donnerten auf den Tisch. »Das schuldet er mir! Glaubt mir, wenn er nicht zahlt, bekommt er Euch stückweise zurück.«

Wassili hatte versucht, vernünftig zu sein. Er war müde. Ihm war kalt. Und jetzt war er wütend.

Er beugte sich nach vorn und stützte sich auf den Tisch. Dann sah er Pawel in die Augen und sagte sehr leise: »Pawel, Ihr solltet keine Drohungen aussprechen, die Ihr nicht wahrmachen könnt. So etwas schwächt Eure Stellung.«

»Und warum sollte ich meine Drohungen nicht wahrmachen können?«

»Weil wir beide wissen, dass Stefan mit seinen Soldaten hierherkommen und dieses Dorf ausradieren wird, wenn mir irgend etwas passiert. Ihr könnt wählen: Tod oder Geld. Was hattet Ihr denn im Sinn, als Ihr meine Pferde gestohlen habt?«

Pawel war knallrot im Gesicht geworden, entweder aus Wut oder aus Verlegenheit, denn jetzt musste er nachgeben. Vielleicht war ihm seine Stellung als Anführer auf Zeit zu Kopf gestiegen, aber Latzko würde zurückkommen, und Latzko würde eine Erklärung verlangen.

Wassili beschloss, es ihm etwas einfacher zu machen. »Vergesst Stefan, Pawel. Ich werde zahlen, nicht Stefan, und mit mir müsst Ihr verhandeln, nicht mit Stefan. Am besten schlaft ihr erst einmal darüber. Vielleicht können wir unsere Verhandlungen morgen früh fortsetzen. In der Zwischenzeit brauche ich für mich und das Mädchen ein Zimmer, wo wir trocken werden können, und zwar allein.«

Einer der Männer fing an zu lachen. Wassili hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet. Pawel war immer noch rot im Gesicht und stimmte erst nach einigen spannungsgeladenen Momenten in das Gelächter ein. Es klang jedoch nicht sehr überzeugend.

»Aber gewiss doch. Wenn Ihr das wollt, dann werdet Ihr trocken sein, während wir hier unser Glück begießen.«