26

Gelangweilt öffnete der Aufsichtsbeamte die Tür des Verhörzimmers und rief Milo ans Telefon. Dieser folgte dem Beamten nach draußen. Ich nahm das schwarze Buch in die Hand und begann zu lesen.

Was der alte Skaggs für Poesie gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Ansammlung spontan aufgeschriebener Notizen, Black Jack Cadmus’ Art von Tagebuch. Die Eintragungen variierten vom unvollständigen Satz bis zur seitenlangen Prosa. An manchen Tagen hatte er überhaupt nichts geschrieben. Seine Handschrift war groß, breit und linksgerichtet, voller Verzierungen und Schnörkel, beinahe kalligrafisch zu nennen.

Besonders ausführlich schrieb Black Jack über seine Grundstücksspekulationen; so hatte er einmal dreihundert Morgen Obstplantagen von einem Farmer in San Fernando gekauft und nur einen Spottpreis gezahlt, weil er die Farmersfrau um den Finger gewickelt hatte. »Ich sagte ihr, dass ich noch nie eine so gute Pastete gegessen hätte, und lobte das prächtige Aussehen ihres Kindes. Sie fühlte sich überaus geschmeichelt, und noch am selben Nachmittag wurde der Kauf getätigt.«

Cadmus stellte außerdem ausführliche Überlegungen darüber an, wie viele Bungalows auf einem freien Grundstück am östlichen Ende des Valley Platz finden würden, wie am besten und billigsten Wasserleitungen gelegt werden könnten. Auch berichtete er von einem Mexikaner, der billige Arbeitskräfte vermittelte.

Dem Privatleben widmete Cadmus nur wenig Raum, so wurden seine Heirat, die Geburt seiner zwei Söhne und selbst die beginnende Geisteskrankheit seiner Frau nur in kurzen Stichworten abgehandelt. Eine Ausnahme bildete die detaillierte Analyse seiner Beziehung zu Souza, die vom August 1949 datierte.

»Horace hat sich ebenso wie ich von ganz unten emporgearbeitet. Wir sind echte Selfmademen und haben allen Grund, stolz darauf zu sein. Ein Stiefelputzer ist mehr wert als hundert kalifornische Muttersöhnchen, die ihr Sozialprestige mit der Muttermilch einsaugen. Toinettes Vater war einer von ihnen, aber sobald er mit der harten Wirklichkeit konfrontiert wurde, war es aus mit ihm. Sicher, der Weg nach oben hinterlässt Spuren, manchmal Narben, und ich bin nicht sicher, ob Horace es gelernt hat, mit seinen Narben zu leben. Er ist einfach zu ehrgeizig und zu wenig zurückhaltend. Die Sache mit Toinette zum Beispiel hat er viel zu ernst genommen. Sie hat mir erzählt, dass Horace sie missverstanden hätte. Für sie war er nie etwas anderes als ein netter Kamerad. Und dass er dann noch der hässlichen Lucy nachgelaufen ist, nur um den Arzt auszustechen! Er lächelt zu alldem, wie es sich für einen Gentleman gehört, aber mich stimmt das nachdenklich. Ich weiß, dass er immer gehofft hat, ich würde ihn eines Tages zu meinem Partner machen, aber nur weil man Anwalt ist, und sei man noch so gut in seinem Job, steht man noch lange nicht auf der gleichen Stufe wie derjenige, der die Ideen hat, die Planung macht und das Risiko trägt. Auch nach dem Krieg hat er mich nicht eingeholt. Ich vermute, dass er mich im tiefsten Innern hasst, und ich frage mich, wie ich dieses Gefühl mildern oder zerstreuen kann. Ich will die Fäden zwischen uns nicht durchschneiden, er ist ein erstklassiger Tatsachenverdreher und ein so guter Freund, dass er mir nur nützen kann. Dass ich ihn bat, Peters Pate zu werden, erschien allgemein als edle, ernst gemeinte Geste. In Wirklichkeit habe ich das nur wegen des Geldes getan. Vielleicht erhöhe ich noch das Wilshire-Paket als Prämie, aber wenn der Spring-St. -Louis-Deal vernünftig über die Bühne geht, werde ich bald noch mehr zur Verfügung haben. Ein bisschen Nächstenliebe, getarnt als Dankbarkeit, könnte mich weiterbringen. Ich muss Horace an der Stelle lassen, wo er ist, aber ich will ihm das Gefühl geben, wichtig zu sein. Wenn er jetzt bloß noch ein Mädchen fände, am liebsten eins, das nichts mit mir zu tun hat!«

Milo kam zurück, die Augen vor Aufregung weit aufgerissen.

»Platt war am Telefon. Man hat in den Bluttests Anticholinergika gefunden. Jede Menge. Der Doktor war Feuer und Flamme und fragte, wann er darüber in einer Fachzeitschrift berichten darf.«

Er setzte sich.

»Damit hätten wir endlich Beweise und verlassen die Spekulation.«

»Wann soll Jamey das Gegenmittel bekommen?«

»Heute noch nicht, und wahrscheinlich morgen auch nicht. Durch die Kopfverletzung gibt es zusätzliche Komplikationen. Es ist schwer, herauszufinden, ob seine Bewusstlosigkeit von der Gehirnerschütterung oder von den Drogen herrührt. Bevor sie sein Nervensystem erneut aufrütteln, wollen sie, dass sich sein Zustand etwas gebessert hat.«

Er sah auf das Buch, das ich in Händen hielt.

»Bringt die Lektüre was?«

»Bisher nur, dass Jack Cadmus und Souza ihr gegenseitiges Verhältnis recht unterschiedlich interpretieren.«

»Das soll es öfter geben.«

Er streckte die Hand aus, und ich reichte ihm das Tagebuch.

»Jetzt, wo wir endlich Tritt gefasst haben, würde ich gerne noch ein paar Motive entdecken, bevor ich Whitehead und seine Leute informiere. Wie weit bist du gekommen?«

»Bis August’49.«

Er fand die Stelle, blätterte zurück, überflog ein paar Seiten und sah mich bedeutsam an.

»Ein ziemlich arrogantes Arschloch, oder?«

»Die Narben des Selfmademans.«

Zwanzig Minuten später hatte Milo die erste Eintragung über Bitter Canyon gefunden.

»Also. Na da wär’s ja. 12. Oktober 1950: ›Ich bin, was Bitter Canyon angeht, in einer günstigen Position, weil mir Hornburgh entgegengekommen ist und nicht ich ihm. Das bedeutet, dass die Army das Terrain möglichst bald los sein will; sie wissen, dass ich jederzeit eine größere Summe Bargeld aufbringen kann. Ich habe das Gefühl, dass Hornburgh an mein Nationalgefühl appellieren will, damit ich besser zahle. Wenn er das tut, schlage ich mit den gleichen Waffen zurück und frage ihn, ob ein Mann, der im letzten Krieg ausgezeichnet wurde, es nicht verdient hat, von Uncle Sam einen günstigen Preis zu kriegen. Wenn er dann immer noch weitermacht, frage ich ihn, was er denn so im Krieg geleistet hat. Horace hat sich umgehört und sagt, er sei ein West-Point-Knabe, der nichts anderes gemacht hat als Schreibstubenarbeit in Biloxi, Miss.‹«

Milo blätterte um.

»Da, jetzt hat er was Neues, es geht um ein Bürogebäude im Stadtzentrum. Er versucht, jemanden zu bestechen, um billiger ranzukommen. Aber jetzt geht es mit Bitter Canyon weiter: ›Hornburgh hat mich mitgenommen, um die Militärbasis zu besichtigen. Als wir uns dem See näherten, kam er mir ein wenig beunruhigt vor. Aber vielleicht rührte dieser Eindruck nur von der Hitze und dem grellen Licht her. Das Wasser sieht aus wie eine riesige Glaslinse, und wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel darauf scheint, blendet es bis zur Unerträglichkeit. Hornburgh, zimperlich, wie er ist, lässt sich leicht schmeicheln. Während der Fahrt klapperte er fast mit den Zähnen. Er mag ja Colonel sein, aber er klatscht wie ein Weibsbild. Er erzählte mir ausführlich, was ich alles mit dem Gelände anstellen könnte. Häuser bauen und Hotels, sogar einen Golfplatz und ein Freizeitgelände. Ich ließ ihn reden, dann sagte ich: ›Das klingt ja geradezu nach Garten Eden, Stanton.‹ Er nickte wie eine Kasperlepuppe. ›Warum will die Army es dann unbedingt loswerden?‹, fragte ich und lächelte dazu. Er blieb freundlich und nett und erzählte mir was von Budgetbeschränkungen für militärische Einrichtungen in Friedenszeiten durch den Kongress. Das ist natürlich Unsinn, denn das Militär kann bei uns machen, was es will. Und wenn bald Ike Präsident wird, wie alle glauben, kann es nur besser werden. Ich muss deshalb Acht geben, was eigentlich los ist.«

Milo las leise weiter.

»Jetzt schreibt er wieder von seinem Bürogebäude.« Er runzelte die Stirn und glitt mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang. »Aha, sein Bestechungsversuch hat geklappt. Und jetzt schreibt er etwas über seine Frau. Sie waren im Sheraton Hotel zu einer Party eingeladen, und sie hat allein in der Ecke gestanden und sich geweigert, mit anderen Leuten zu reden. Er hat sich darüber sehr geärgert. Mensch, wo geht es denn endlich mit Bitter Canyon weiter? Das war doch hoffentlich nicht alles?«

Langsam arbeitete sich Milo durch September und Oktober durch, ab und zu las er mir einen Abschnitt laut vor. Immer deutlicher war die Persönlichkeit von Jack Cadmus zu erkennen, das Bild eines rücksichtslosen, eigenwilligen, selbstherrlichen Menschen zeichnete sich ab, der sich nur ab und zu kleine Gefühlsanwandlungen gestattet. Sein Verhältnis zu seiner Frau war von einer Mischung aus Mitleid, Zorn, Zuneigung, Ablehnung und Unzulänglichkeit bestimmt. Er hob immer wieder seine Liebe zu ihr hervor, verschwieg aber nicht, wie sehr er sie wegen ihrer Schwächen verachtete. Von seiner Ehe sagte er schließlich, sie sei »toter als Hitler«, nannte die Heilanstalt in Muirfield eine »teuflische Gruft« und beschimpfte Antoinettes Ärzte als »Quacksalber mit Harvard-Diplom, die mir mit der einen Hand auf die Schulter klopfen und mir mit der anderen das Geld aus der Tasche ziehen. Alles, was sie können, ist, idiotisch zu grinsen und fachzusimpeln.« Er hatte sich dem seelischen Stress durch harte Arbeit entzogen, durch Börsenspekulation, Landkäufe und riskante Geschäfte, bei denen es um Riesensummen ging, die er mit fast erotischer Hingabe tätigte.

»Jetzt geht es weiter«, begann Milo, »Mittwoch, fünfzehnter November: ›Jetzt habe ich Hornburgh und die verdammte U.S. Army am Wickel. Nach langem telefonischen Gerangel habe ich mich bereit erklärt, mir die Militärbasis noch einmal genauer anzusehen. Aber als ich dann da war, drehte und wand Hornburgh sich, ließ mir sagen, dass er bei einer wichtigen Inventarisierung sei und nicht kommen könne. Er schickte mir einen Chauffeur, der mit mir im Jeep durch das Gelände fahren sollte. Mir fiel bei der Besichtigung nichts Besonderes auf, alles wirkte leer und verlassen. Als wir am östlichen Rand an ein paar Holzbaracken vorbeikamen, trat eine Gruppe von Militärpolizisten zwischen den Gebäuden hervor. Sie wirkten steif und irgendwie todernst. Sie sahen wie eine Eskorte aus, und als ich näher hinsah, erkannte ich, wen sie begleiteten. Ich hatte Mühe, nicht aus dem Jeep zu springen und ihm an die Gurgel zu gehen. Es war diese ekelhafte Ratte von Kaltenblud! Ich sah ihn nur eine Sekunde lang, weil wir in so eiligem Tempo vorbeifuhren, aber ich kannte diese Fratze gut genug, Gott ist mein Zeuge. Er war zur Anklage bei den Nürnberger Prozessen vorgesehen, aber wir hatten ihn nicht gekriegt, immer war er uns im letzten Moment entwischt. Ich hatte damals schon geglaubt, dass die CIA ihn in Sicherheit gebracht hatte, um irgendwelche Drecksarbeiten von ihm erledigen zu lassen, aber als ich nachfragte, bekam ich nichts als Blabla zur Antwort. Jetzt sah ich den Beweis lebend vor mir!

Ich finde es verdammt ungerecht, dass man die Ratte hat laufen lassen nach allem, was sie angerichtet hat. Aber jetzt ist es natürlich zu spät, irgendwas zu unternehmen. Andererseits erscheint mir das Ganze als geeignetes Druckmittel gegen Hornburgh. Wenn ich mit meinen Vermutungen Recht habe, liegt auf der Hand, warum die so nervös sind und das Gelände so schnell verkaufen wollen. Diese Waffe benutze ich nicht sofort, ich hebe mir sie noch eine Weile auf.‹«

»Hast du je von diesem Kaltenblud gehört?«, fragte Milo.

Ich schüttelte den Kopf.

Milo dachte einen Augenblick nach.

»Im Simon-Wiesenthal-Center haben sie ein Archiv mit lauter Akten über solche Arschlöcher. Ich ruf da an, sobald ich dieses Buch hier durchhabe.« Er blickte wieder hinein. »Verdammt, jetzt weicht er schon wieder vom Thema ab! Er erzählt, wie er mit ein paar Indianern in Palm Springs Land getauscht hat. Der alte Black Jack war wirklich überall.« Ungeduldig überschlug Milo ein paar Seiten.

»Aha«, sagte er nach ein paar Minuten, »jetzt kommt offenbar der Showdown. 29. November: ›Ich aß mit Hornburgh in meinem Büro zu Mittag und zog meinen Trumpf aus der Tasche. Ich sagte ihm, dass ich, wenn Kaltenblud sich auf dem Gelände aufhielte, genau wüsste, was für Schweinereien da passiert seien und weshalb er unbedingt das Areal loswerden wolle. Zuerst stritt er alles ab, aber als ich ihm sagte, entweder wir machten einen fairen Kaufvertrag oder ich würde mich an die Zeitung wenden, gab er klein bei und packte aus. Es war genau, wie ich gedacht hatte. Sie hatten dem Schwein den Hals aus der Schlinge gezogen, es in einem Militärtransport über den Ozean geschleppt und auf die Basis gebracht. Hier richteten sie ihm ein Labor ein. Der Ratte war es völlig egal, für wen sie ihre Sauereien machte, ob für Uncle Sam oder Schicklgruber. Er machte fröhlich weiter und produzierte tonnenweise Giftmüll. Der wurde, wie mir Hornburgh bestätigt hat, vergraben. Er behauptet, das sei sehr sorgfältig gemacht worden, mit Metallkanistern und unter der Aufsicht von Fachleuten, aber ich glaube ihm kein Wort, denn ich habe anderswo schon gesehen, was die zustande bringen. Das ganze Gelände ist das reinste Pulverfass. Ein Erdbeben oder weiß Gott was, und schon sickert das Gift in den See und in die Erde. Der ganze Verkauf - ein Riesenbetrug. Sie hielten mich für einen Idioten, mit dem man alles machen kann, weil ich immer sehr schnell kaufe und mehr als alle anderen. Sie dachten, ich falle drauf rein, ohne Fragen zu stellen. Als wir mit Essen fertig waren, waren sie die Idioten, sie erfüllten nämlich alle meine Bedingungen: 1. Das Land bekomme ich für einen extrem niedrigen Preis, beinahe umsonst, und zwar alles bis auf ein paar Quadratmeter für Skaggs und seine Frau, weil sie verdammt gut kocht und er meinen Bugatti pflegt. 2. Sie müssen mir mit offiziellem Stempel versehene geologische Gutachten beschaffen, aus denen hervorgeht, dass der Platz von jeglichem Gift frei ist. 3. Die Regierung und niemand darf etwas von Kaltenbluds schmutzigen Aktivitäten erfahren. 4. Die Ratte wird aus dem Verkehr gezogen, auf medizinische Weise, damit sie nicht eines Tages auf dumme Gedanken kommt und das Maul aufreißt. Hornburgh sagte mir, dass sie das sowieso vorhatten, da Kaltenblud seine Schuldigkeit getan hätte. Ich werde in dieser Sache erst Ruhe geben, wenn ich ein Foto von der Leiche gesehen habe.

Wenn das alles über die Bühne gegangen ist, gehört Bitter Canyon mir, und zwar ohne Abstriche. Es sieht nicht so aus, als ob ich in nächster Zeit viel damit anfangen könnte, aber da ich es umsonst bekommen habe, kann ich ruhig ein wenig warten. Vielleicht finde ich eines Tages einen Weg, es von dem Müll zu befreien, oder es lässt sich anderweitig nutzen, als Schuttabladeplatz oder Sammelbehälter. Wenn nicht, behalte ich es trotzdem, und sei es nur, um mich privat zurückzuziehen. Toinettes Benehmen wird immer verrückter und zwingt mich dazu, woanders etwas Ruhe zu suchen. Diese Gegend hat durchaus etwas Reizvolles und Schönes trotz aller Verseuchung, es ist ganz ähnlich wie bei Toinette. Für den Spottpreis kann ich es ruhig brachliegen lassen. Nicht mehr alles bis zum Letzten nutzen zu müssen ist ein sicheres Zeichen dafür, dass man es ganz nach oben geschafft hat.‹«

»Vergiftete Erde«, sagte ich. »Federn. Jameys Worte hatten durchaus einen Sinn.«

»Mehr Sinn, als gut für ihn war«, sagte Milo und stand auf. »Ich rufe mal eben beim Wiesenthal-Center an.«

Er kam nach einer Viertelstunde wieder mit einem Zettel in der Hand.

»Sie kennen ihn: Professor Doktor Werner Kaltenblud, Chef der Abteilung für chemische Waffen der Deutschen Wehrmacht, Giftgas-Experte. Sollte in Nürnberg vor Gericht gestellt werden, verschwand aber ohne jede Spur. Das wird wohl seine Richtigkeit haben, jedenfalls dann, wenn die Army Black Jacks Forderungen nachgekommen ist.«

»Darauf wird er bestanden haben.«

»Klar. Also ist der unliebsame Zeuge tot. Der Archivar, mit dem ich sprach, sagte, dass er immer noch zu den dicken Fischen gerechnet wird, nach denen man weiter fahndet. Der Mann wollte unbedingt von mir wissen, weshalb ich anrufe, aber ich habe gemauert und ihn mit vagen Versprechungen auf später vertröstet. Wenn wir je in dieser Sache weiterkommen, kann ich sie ja sogar halten.«

Milo begann, im Raum auf und ab zu gehen.

»Ein Kraftwerk, das über Tonnen von giftigem Gas errichtet wird!«, sagte ich. »Da hast du dein Motiv.«

»Allerdings. Fünfundsiebzig Millionen Dollar wert. Wie der Junge wohl an das Tagebuch geraten ist?«

»Vielleicht durch puren Zufall. Er verschlang jede Menge Bücher und wühlte gerne in alten Bänden herum. In der Nacht, in der sie ihn nach Canyon Oaks brachten, verwüstete er die Bibliothek seines Onkels. Möglicherweise hatte er dort früher etwas entdeckt, das er unbedingt wiederfinden wollte.«

»Das heißt, das Tagebuch war vierzig Jahre lang unter Erstausgaben und sonstigen wertvollen Büchern versteckt?«

»Möglich wäre es. Nach Peters Tod war Dwight Black Jacks Haupterbe. Er bekam die Bibliothek seines Vaters, interessierte sich aber nicht weiter dafür und sah sich die Bücher nie an. Er machte auf mich keinen besonders bibliophilen Eindruck. Wenn er oder Heather das Tagebuch gefunden hätte, wäre es längst vernichtet worden. Es blieb unversehrt, weil niemand etwas von seiner Existenz wusste. Bis zu dem Tag, an dem Jamey es fand und begriff, welchen Zündstoff es enthält. Chancellor hatte sein Interesse für Wirtschaft und Finanzen geweckt, hatte ihn sogar dazu gebracht, sich mit Börsenkursen zu befassen. So wusste er bestimmt, wie stark der Beverly Hills Trust in Bitter-Canyon-Aktien investiert hatte. Er ging zu Chancellor und sagte ihm freiheraus, dass er nichts als nutzloses Papier im Wert von zwanzig Millionen Dollar gekauft hatte, das er aber nicht loswerden konnte, ohne unerwünschtes Aufsehen zu erregen.«

Milo war stehen geblieben, hatte eine Handfläche auf die Tischplatte gestützt, rieb sich mit der anderen die Augen und hörte mir gespannt zu.

»Genau das Erpressungs-Beseitigungs-Szenario, das du schon entworfen hattest«, sagte er leise, »nur dass es sich um ein paar Nullen mehr handelt. Chancellor geht zu Onkel Dwight und erzählt ihm, was er aus dem Tagebuch weiß. Vielleicht hat der Onkel von dem Gift schon gewusst, vielleicht auch nicht. Wie auch immer, Chancellor will auf jeden Fall seine Aktien loswerden und verlangt von Dwight, sie zurückzukaufen. Onkelchen jedoch weigert sich. Daraufhin droht ihm Chancellor, mit der Sache an die Öffentlichkeit zu gehen. Daraufhin kommen sie zu einer Einigung. Dwight verspricht, die Aktien zurückzunehmen, freilich nur sehr langsam, damit es nicht auf dem Markt publik wird. Es kann auch sein, dass Chancellor zusätzlich noch eine bestimmte Summe pro Aktie wegen Gewinneinbußen verlangt.«

»Oder eine bestimmte Entschädigungssumme.«

»Genau.« Milo überlegte eine Weile, dann sagte er:

»Dein Quasselfreund hat dir doch erzählt, dass kleine Mengen der Aktien bereits verkauft worden sind, vielleicht hat Onkel Dwight genau wie Chancellor welche abfließen lassen, aber natürlich nicht viele. Er geht so ein doppeltes Risiko ein: Er baut ein Kraftwerk auf all dem Gift und muss auch noch selbst die Kosten tragen.«

»Damit sitzt er fest in der Klemme«, sagte ich. Milo nickte. »Und dann noch der Zeitdruck. Onkelchen kann nicht lange unbemerkt Aktien von Chancellor zurückkaufen, ohne dass es bei Buchprüfungen auffällt und zu stinken anfängt. Er sucht nach einem Ausweg und überrascht sich bei dem Gedanken, wie schön das Leben sein könnte, wenn Chancellor - und der Junge - von der Bildfläche verschwänden. Er erzählt seinen Kummer seinem Mäuschen zu Hause, die Expertin darin ist, Leute durch giftige Kräuter abzumurksen, und sie machen einen hübschen Plan, der sie von all ihren Sorgen befreien wird: Chancellor aufzuschlitzen und dem Jungen den Mord in die Schuhe zu schieben.«

Er schwieg, überlegte eine Weile und fuhr dann fort:

»Du bist dir wohl über eins im Klaren: Das heißt noch lange nicht, dass der Junge keinen Mord begangen hat. Es könnte bedeuten, dass er es unter Drogeneinf luss getan hat.«

»Richtig. Aber es sagt etwas über Zurechnungsfähigkeit aus. Sie haben ihn abgerichtet, Milo. Sie haben ihn mit allergrößter Sorgfalt ganz allmählich in den Wahnsinn getrieben, so lange, bis er in eine geschlossene Anstalt musste. Dort haben sie ihm munter weiter Gift verabreicht. Die Cadmus-Familie fand einen Doktor, der für Geld alles tat, sogar seine eigenen Vorschriften durchbrach und eine Privatpflegerin einstellte. Ich wette zehn zu eins, dass Frau Brown ihm seine tägliche Dosis verpasste, unter Mainwarings Aufsicht.«

»Brown«, murmelte Milo und schrieb in sein Notizbuch. »Wie heißt sie mit Vornamen?«

»Marthe. Wenn das ihr wahrer Name ist. Sie ist in keinem Berufsregister zu finden. Nach Jameys Ausbruch aus der Klinik verschwand sie. Genau wie die Vann, die nur ganz zufällig nicht an ihrem Platz saß, als Jamey weglief. Sie haben ihm dabei geholfen, dann brachten sie ihn in Chancellors Villa und …«

»Und?«

»Ich weiß es nicht.« Im Klartext: Ich möchte es nicht wissen.

Milo steckte sein Notizbuch ein und sagte, er werde die Spur der beiden Schwestern verfolgen. »Kann ja sein, dass wir Glück haben.«

»Vielleicht«, sagte ich verdrießlich.

»Jetzt überanstreng bloß deine Mitleidsdrüsen nicht!«, sagte er unwirsch, fragte aber dann freundlich: »Was ist denn los, denkst du immer noch über Schuld und Unschuld nach?«

»Du etwa nicht?«

»Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, lasse ich’s. Stört mich zu sehr bei der Arbeit.« Er lächelte. »Das bedeutet natürlich nicht, dass zivilisierte Menschen wie du es nicht tun sollten.«

Ich stand auf und presste meine Handflächen gegen die grün gestrichenen Wände des Verhörzimmers. »Ich hatte gehofft, etwas zu finden, das klar und deutlich seine Unschuld beweist und plausibel macht, dass er niemanden getötet hat.«

»Alex, wenn sich herausstellt, dass er unter dem Einfluss von Drogen gehandelt hat, wird er nie ein Gefängnis von innen sehen.«

»Das ist etwas anderes als Unschuld.«

»Aber so etwas Ähnliches. Es gibt die Möglichkeit, auf unbewusstes Handeln zu plädieren, das macht man bei Leuten, die während ihrer Tat nicht bei vollem Bewusstsein waren: Schlafwandler, Epileptiker, Leute mit Hirnschäden, Leute unter Drogeneinfluss. Das wird nur sehr selten ins Spiel gebracht, weil es noch schwerer nachzuweisen ist als Unzurechnungsfähigkeit. Verbrechen ohne klares Bewusstsein kommen nur verdammt selten vor. Ich kenne einen solchen Fall, der vor ein paar Jahren passierte. Ich nahm einen alten Mann fest, der seine Frau erwürgt hatte. Er tat es sozusagen im Schlaf. Die Ärzte hatten seine Medikamente abgesetzt, sodass er völlig wirr im Kopf war. Die Sache lief ganz glatt, alles konnte genau nachgewiesen werden mit richtigen medizinischen Fakten, nicht mit irgendwelchem Psychokram. Es leuchtete allen ein, sogar dem Staatsanwalt. Es kam erst gar nicht zur Verhandlung. Er kam frei, ohne Makel. Souza wird es sicher auch in dieser Richtung versuchen.«

»Wo wir gerade von Souza sprechen«, sagte ich, »wir müssen auf eines achten: Er hat der Familie Mainwaring besorgt. Und Brown ebenfalls. Vielleicht hängt er auch in der Sache drin.«

»Warum hätte er dich dann als Experten in seine Dienste genommen?«

Darauf wusste ich keine Antwort.

»Alex, mir gefallen unsere Überlegungen recht gut, aber das heißt noch lange nicht, dass wir genau wüssten, was tatsächlich passiert ist. Es sind noch tausend Fragen offen. Wie zum Beispiel ist das Tagebuch von Chancellor zu Yamaguchi gelangt? Woher wusste Radovic, wo er es finden kann? Warum folgte er dir auf Schritt und Tritt? Wer sind der Dicke und der Dünne? Und was ist mit all den anderen Opfern des Lavendelmörders? Ich wüsste noch eine Menge anderer Fragen, wenn du mir etwas Zeit lässt. Aber ich kann es mir nicht leisten, hier herumzusitzen und zu spekulieren. So ganz allmählich muss ich auch Whitehead und die anderen in die Sache einbeziehen. Bevor ich das aber mache, brauche ich ein paar solidere Fakten als alte Bücher.«

»Und das wäre?«

»Ein Geständnis.«

»Und wie willst du so weit kommen?«

»Auf die übliche, ehrliche Art, durch Einschüchterung.«