23
Sarna ließ uns beim Café wieder aussteigen. Milo verbrachte die nächste halbe Stunde damit, etwas aus Asa Skaggs herauszuholen. In leichtem Plauderton versuchte er, zu erfahren, ob Skaggs sich an irgendjemanden erinnern konnte, der wie Jamey, Chancellor oder Gary ausgesehen hatte. Der Alte hörte auf, ein Backblech zu scheuern, kratzte sich am Kopf und sog an seinen zahnlosen Kiefern.
»Yamagutsch - is’ das nich”n Name von’m Japs?«
»Sie haben Recht.«
»Waren viele Japse hier in der Gegend, im Ausländerlager bei Mojave.«
»Während des Zweiten Weltkriegs?«
»Kapiert. Später ließ man sie hinaus und steckte sie in die Army, sollen sich dort gut gemacht haben, zähe kleine Affen.«
»Ich meinte, mehr in letzter Zeit, Mr. Skaggs.«
»Hmm. Nein, ich habe seit damals keinen Japs mehr gesehen. Denke,’s gibt’ne Menge davon in der Stadt. In der Nähe von San Pedro Street. Nennen es jetzt Klein-Tokio. Kannte mal’ne Frau in der Stadt, Alma Bachmann, die fuhr immer dahin, um rohen Fisch zu essen. Sagte, sie fühle sich immer jünger danach, is’ doch Unsinn, oder?«
»Vermutlich«, sagte Milo.
»Sie erinnern sich bestimmt noch sehr gut an diese Zeit, Mr. Skaggs?«, fragte ich. »An den Krieg und die Zeit danach?«
»Kapiert.«
»Erinnern Sie sich auch noch an den Mann, der das Militärgelände kaufte?«
»Mr. Black Jack Cadmus? Den kann man nicht vergessen. War’n richtiger Gentleman, gibt’s heute nicht mehr. Benahm sich wie’n richtiger König. Dolle Klamotten, vom Scheitel bis zur Sohle. Manchmal kam er hier hochgefahren, um den See anzugucken, und machte bei mir’ne Pause. Voll tanken und Scheiben waschen. Ich erinnere mich noch an den Wagen. Ein siebenundzwanziger Bugatti, Typ Royal einundvierzig, Acht-Zylinder-Reihenmotor, Doppelvergaser. Tiefschwarz und riesengroß. War in Italien restauriert worden und kam mit dem Schiff rüber. Der Schlitten war so gebaut, dass du die ganze Maschine ausbauen musstest, um an die Kerzen ranzukommen. Von den Unterhaltungskosten hätte ein halbes Dutzend Familien ein Jahr leben können, aber so war der Mann eben. Großzügige Lebensart, verlangte immer das Beste für sich. Wenn ich mal Ölwechsel machte oder den Reifendruck nachprüfte, kam er rein, setzte sich genau da hin, wo Sie sitzen. Verlangte’ne Tasse Kakao und’nen Schokoriegel - der Mann war scharf auf Schokolade. Sal sagte immer, er sähe aus wie ein Filmstar, mit seinem schwarzen Haar und den weißen Zähnen.«
»Brachte er mal jemanden mit hoch?«
»Nee, machte alles allein. Fuhr mit dem Bugatti, so weit es ging, und marschierte dann ein paar Stunden im Gelände herum. Ich weiß das, weil er manchmal voller Staub zurückkehrte, ich habe ihn deswegen auf den Arm genommen. ›Herumgeklettert und Pech gehabt, Colonel Cadmus?‹ Man konnte so mit ihm reden, er hatte Sinn für Humor. Er grinste dann immer zurück und sagte: ›Zurück zur Natur, Asa. Zurück zur Basis.‹«
Der Alte winkte mich näher und senkte die Stimme.
»Ich habe ihn nie darauf angesprochen, ich glaube aber, dass er da oben Gedichte gemacht hat.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Er hatte immer so ein kleines Taschenbuch bei sich und’nen Füller mit Goldfeder. Als ich einmal die Autoscheiben putzte, lag es offen auf dem Sitz. Ich hab’nen schnellen Blick drauf geworfen, und es sah so aus, wie Gedichte geschrieben sind. Als er merkte, wie ich hinguckte, hat er es schnell zugemacht. Wollte wahrscheinlich nicht für’n Weichling gehalten werden.«
Milo lächelte.
»Wie sah das Buch denn aus?«, fragte ich.
»Klein und aus Leder.«
»Schwarzes Leder?«
»Ich kann mich nur erinnern, dass es dunkel war. Hätte schwarz sein können.«
»Haben Sie irgendwann mal gesehen, was drinstand?«
»Nee, bin nie so nah rangekommen.«
»Sie sind sich aber ziemlich sicher, dass es wie Gedichte aussah?«
»Kapiert. Wofür sollte sich’n richtiger Mann sonst schämen?«
Wir verließen das Café. Die Beamten der Spurensicherung waren schon weggefahren, und auf der Straße herrschte Friedhofsstille.
»Was hältst du denn davon?«, fragte mich Milo. »Gedichte und so.«
»Skagg hat ein Buch beschrieben, das so aussieht wie das in der Verwerflichen Tat«, sagte ich. »Wenn ich genauer darüber nachdenke, passte es nicht zu den anderen Teilen der Skulptur. Alles war dort verkleinert, das Buch hatte jedoch normale Größe. Die Proportionen passten nicht. Im Übrigen sah es eher wie ein sehr altes Tagebuch aus als wie das eines Teenagers. Gary hatte in lavendelfarbener Schrift Tagebuch darauf geschrieben, aber das wirkte so schluderig, gar nicht seine Art. Er ist zwanghaft genau, Milo. In all den anderen Details bemühte er sich um äußerste Präzision.«
Über uns war ein Falke aus den dunkler werdenden Hügeln hinaufgef logen und zog seine Kreise. Milo blickte nach oben und beobachtete seinen Flug.
»Ich weiß«, sagte ich, »in dieser Welt gibt es tausende schwarzer Tagebücher. Aber ein gläserner Canyon spielt in Jameys halluzinativen Phasen eine große Rolle. Er benutzte diesen Ausdruck, als er mich nachts anrief, das bedeutet, dass er diese Gegend kennt. Natürlich könntest du dieses Argument leicht wegwischen, weil er geisteskrank ist. Viele Experten, Mainwaring eingeschlossen, geben nicht viel darauf, was psychisch Kranke erzählen. Aber Radovic wurde hier draußen ermordet. Ist das vielleicht ein Zufall?«
Milo fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, zog eine Grimasse und räusperte sich.
»Lass uns das Ganze noch mal kurz nachvollziehen«, antwortete er dann. »Vor langer Zeit pflegte der alte Cadmus, hier heraufzufahren, zu dem gläsernen Canyon, um Gedichte in ein schwarzes Tagebuch zu schreiben. Vierzig Jahre später ersticht sein Enkel, der scharf auf Gedichte ist und über einen gläsernen Canyon halluziniert, seinen Freund und einen Strichjungen und entpuppt sich als Massenmörder. Der Leibwächter des ermordeten Freundes kauft eine verrückte Skulptur, um an das schwarze Tagebuch heranzukommen, versucht, damit zwei Motorradfans zu erpressen, und wird deswegen von ihnen niedergemetzelt.«
Er sah mich an.
»Willst du dir den Kopf noch weiter zerbrechen?«
Er ging hinüber zu seinem Matador, stieg ein und schloss die Tür hinter sich. Ich beobachtete, wie er zum Funktelefon griff, einige Minuten hineinsprach, nickte, sich wiederholt das Haar aus der Stirn strich, auflegte und wie er schließlich geistesabwesend aus dem Auto kletterte.
»Die Pacific Division hat gerade mit der Durchsuchung von Radovics Boot begonnen. Es sind vorher schon welche da gewesen und haben es durchgefilzt. Schusswaffen, Messer und ein Bündel Banknoten, das er im Ruderkasten versteckt hatte, haben sie nicht angerührt. Ebenso wenig eine Bohrmaschine, einen Stapel Spielmarken, Staub und die Überreste der Skulptur - der Kollege, mit dem ich telefonierte, ist von der Harakiri-Szene sehr angetan -, aber kein schwarzes Tagebuch. Wie Skaggs ausgesagt hat, ist zwischen Radovic und den Motorradfahrern nichts ausgetauscht worden; das allein überzeugt mich von gar nichts. Aber die Tatsache, dass jemand sich die Mühe gemacht hat, in Radovics Boot einzubrechen, bedeutet, dass man nach etwas sucht. Entweder haben sie es gefunden, oder Radovic hat es gut versteckt, und es ist noch da.«
Ein kalter Wind kam plötzlich von Süden auf. Milo zog seine Krawatte enger, und wir beide knöpften unsere Jacketts zu. Der Himmel hatte sich schwarz gefärbt, mit Streifen aus tiefem Blau und Korallenrot. Der Falke, der wie ein dunkler Schatten wirkte, verschwand. Ringsherum herrschte eine urzeitliche Stille.
»Ich kann mir alles schon richtig vorstellen«, sagte Milo. »Da drüben wird ein goldener Torbogen stehen, rechts davon ein Hamburgerrestaurant, Seite an Seite mit einem Souvenirladen, da kannst du närrische Postkarten und Plastikmodelle des Wasserkraftwerks kaufen. Wahrer Fortschritt.«
Ich versetzte mich in seine Vorstellungswelt, sah vor mir hohe Betontürme anmaßend aus den flachen, stillen Hügeln emporragen, eine Fertigbaustadt, die mit ihrer Eintönigkeit die Abgeschiedenheit zerstören würde. Dann erinnerte ich mich an etwas, das Heather Cadmus mir erzählt hatte.
»Milo, Jamey und Chancellor haben sich auf einer Abendgesellschaft kennen gelernt, die Dwight Cadmus für die Anleger eines Projekts der Cadmus Construction veranstaltete. Es ging um das ganz große Geschäft, Chancellor gehörte zu den Hauptbeteiligten. Es würde doch interessant sein, herauszubekommen, was das für ein Projekt war und in welcher Weise Chancellor involviert war, nicht wahr?«
Seine Augen zeigten beginnendes Interesse.
»Sehr interessant.« Er verschränkte die Hände hinter seinem Hals und begann, laut nachzudenken.
»Das würde bedeuten, dass wir an Chancellors Finanzakten rankommen müssen. Abgesehen davon, dass so ein Verfahren einen Riesenaufstand verursachen würde, weil’ne Masse Kapitalisten Bauchschmerzen bekäme, müsste Dickie Cash die Sache erledigen können, über Chancellors Banken in Beverly Hills. Bei seinem Fleiß wird das mindestens einen Monat dauern. Wenn er die Sache macht, wird ihm Whitehead wie immer helfen. Zu allem Unglück gibt es noch so genannte Vorgesetzte, im Falle Trapps eine völlig falsche Bezeichnung. Du kennst diese Typen, Alex. Wenn es nach ihnen ginge, wären die Mordfälle schon längst erledigt. Sie würden wirklich begeistert sein, wenn sie von solchen Ermittlungen etwas mitkriegten.«
»Und über den Mord an Radovic würden sie sich keine Gedanken machen?«
»Radovic ist Abfall, für ihn gilt: aufgreifen, zu den Akten nehmen und wegwerfen. Wie sagte der charmante Cal zu Dickie, als sie glaubten, dass ich nicht zuhöre: ›Der Schwule war bestimmt froh, es ging alles viel schneller als Aids. Haha.‹«
Er zog eine Grimasse.
»Ist sehr einfach, so zu denken, alles in saubere kleine Kästchen zu verteilen, nicht?«
»Ich glaube, ich könnte etwas über das Projekt herausbekommen, ohne an die Öffentlichkeit zu gehen«, sagte ich.
Als ich es ihm erzählte, war er angetan.
»Sehr gut. Mach das so. Wenn du was erfährst, graben wir tiefer nach.«
Er sah auf seine Uhr.
»Wir sollten besser zurückfahren.«
»Warte einen Moment«, sagte ich zu ihm. »Du bist zwar von Jameys Schuld überzeugt, aber es würde doch nicht schaden, Alternativen zu überdenken.«
»Wenn du welche hast, erzähl sie mir.«
»Erstens sollte sich jemand näher um die Canyon Oaks-Klinik kümmern. In der Nacht, als Jamey ausbrach, war niemand auf der Wache. Vielleicht sind solche Fehler dort üblich, vielleicht aber auch nicht. Die damals verantwortliche Krankenschwester hat eine Menge Schulden. Sie kündigte kurz nach Jameys Verhaftung und verließ die Stadt in einem nagelneuen Auto.«
Er lächelte schwach.
»Hast du ein bisschen Detektiv gespielt?«
»Ein bisschen.«
»Wie heißt sie?«, fragte er und zog sein Notizbuch heraus.
»Andrea Vann. Sie ist geschieden und mit ihrem kleinen Jungen unterwegs.« Ich gab ihm ihre Adresse in Panorama City.
»Was für einen Wagen hat sie gekauft?«
»Einen Mustang.«
»Ich werde Auskünfte über sie einholen, mal sehen, was dabei herauskommt. Hast du noch was?«
»Mainwaring. Man sagt, dass er mit Geld zu beeinflussen ist. Keine schlechte Wahl, wenn du jemanden ohne lästige Fragen verschwinden lassen willst. Er hat die Vorschriften missachtet, indem er zuließ, dass die Familie Cadmus eine private Krankenschwester für die Pflege einsetzte. Vielleicht ist er noch ein bisschen mehr beeinflusst worden.«
»Du hast ja mit dem Mann gesprochen. Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
»Nein«, musste ich zugeben. »Er hat Jamey nicht sehr einfallsreich behandelt, aber schlimme Fehler hat er nicht gemacht.«
»Hättest du etwas anders gemacht als er?«
»Ich hätte mehr mit dem Jungen geredet, hätte versucht, mir ein Bild zu machen von dem, was in seinem Kopf vorging; das heißt nicht, dass ich damit Erfolg gehabt hätte. Aber Mainwaring hat das gar nicht erst versucht. Jamey hatte zusammenhängende Halluzinationen. Monate vor seiner Festnahme sagte er immer wieder die gleichen Sachen wie in der Nacht, als er mich anrief. Bei etwas mehr Aufmerksamkeit hätte das einen Arzt nachdenklich stimmen müssen. Vielleicht fiel es Mainwaring auf, aber er verdrängte es.«
Milo hob seine Augenbrauen.
»Jetzt kommst du mir auch noch mit einer Verschwörung.«
»Ich stelle dir nur Material zur Verfügung.«
»Lass uns noch mal auf diese zusammenhängenden Halluzinationen zurückkommen. Worüber redete Cadmus noch, außer über gläserne Canyons?«
»Er brauchte häufig das Wort ›stinkend‹. Die Erde ›stinkt‹ oder ›blutet‹. ›Übel riechend‹. ›Blutige Federn‹. ›Weiße Zombies‹. ›Nadelspiele‹.«
Er schwieg eine Weile.
»Sonst noch etwas?«
»Diese Ausdrücke wiederholte er immer wieder.«
»Sind welche davon bedeutsam für dich?«
»Seitdem ich über das geplante Kraftwerk Bescheid weiß, vermute ich einen ökologischen Zusammenhang - ›die Erde blutet‹, ›stinken‹ als ein Symbol für ihre Verschmutzung.«
»Wie passen dazu Nadelspiele?«
»Nadelspiele und Kilometer Röhren«, erinnerte ich mich. »Als ich das zum ersten Mal hörte, dachte ich, dass er Angst vor der Behandlung hätte. Natürlich war ich, nachdem ich sie gesehen hatte, der Auffassung, mit ›gläsernem Canyon‹ meinte er die Klinik.«
»Was bedeuten ›Federn‹ und ›Zombies‹?«
»Das weiß ich nicht.«
Nach einer Weile fragte er: »War’s das?«
Als ich nickte, steckte er das Notizbuch weg.
»Ich bin mir nicht sicher«, fügte ich hinzu, »vielleicht hat Mainwaring Recht, und ich mache mir etwas vor. Vielleicht hat das ganze Gerede überhaupt keinen Sinn.«
»Wer weiß das schon«, antwortete Milo. »Mit den Jahren habe ich Respekt vor deiner Intuition bekommen, mein Junge. Ich möchte aber keine unrealistischen Erwartungen unterstützen. Du hast dir viel vorgenommen, wenn du Cadmus’ Unschuld beweisen willst.«
»Vergiss die Unschuld. Die Wahrheit würde mir reichen.«
»Bist du sicher?«
Als ich nach Hause kam, empfing mich Robin mit einem boshaften Lächeln. »Ein süßes junges Ding namens Jennifer hat alle halbe Stunde angerufen.«
Ich gab ihr einen Kuss und zog mein Jackett aus.
»Danke, ich rufe sie nach dem Abendessen an.«
»Es gibt Pizza und einen Salat von Angelino. Ist sie so hübsch wie ihre Stimme?«
»Natürlich. Sie hat studiert und ist gerade siebzehn Jahre alt.«
Robin tat so, als rechne sie mit den Fingern, lächelte und sagte:
»Weniger als halb so alt wie du.«
»Das ist ein schrecklicher Gedanke.«
Sie kam näher und knabberte mir am Ohr.
»Das ist gut so. Ich werde dich immer lieben, auch wenn du alt und grau bist.« Sie strich mir übers Haar. »Noch grauer.«
»Oh, vielen Dank.«
»Sag mal, nennen dich alle deine ehemaligen Studentinnen Alex, in dieser atemlos erwartungsvollen Weise?«
»Nur die hübschesten.«
»Du Ekel.«
Sie biss mich fest ins Ohr und entfernte sich lachend.
»Ich stelle jetzt die Pizza in den Ofen und nehme ein Bad, während sie backt. Hier hast du Jennileins Telefonnummer. Warum rufst du sie nicht an, Alex, und besuchst mich, wenn du dich genügend in Form gebracht hast?«
Sie gab mir die Nummer und tänzelte hinaus.
Ich wählte und bekam Mrs. Leavitt ans Telefon.
»Oh, Sie haben sie gerade verpasst. Sie wird in ein paar Stunden aber wieder zu Hause sein.«
»Ich werde später wieder anrufen.«
»Bitte tun Sie das, Doktor, sie will unbedingt mit Ihnen reden.«
Ich hörte das Badewasser einlaufen. Weil ich noch ein anderes Gespräch führen wollte, ging ich in die Bibliothek.
Ich war mir nicht sicher, ob Lou Cestare noch auf der Ansporn hübschen Katzen den Hof machte oder schon wieder in Willamette Valley war, so wählte ich die Yacht an und wurde von einer Tonbandstimme gebeten, in Oregon anzurufen. Mit der Nummer von Willamette erreichte ich ein weiteres Tonband, das mich über den Geschäftsschluss informierte und mitteilte, dass Mr. Cestare im Notfall über Funk erreicht werden könnte.
Ich wählte den Funkcode und wurde mit einer Kinderstimme verbunden.
»Hallo, hier ist Brandon Cestare. Wer ist da, bitte?«
»Hallo, Brandon. Ich heiße Alex. Kannst du bitte deinen Vater ans Telefon holen?«
»Sind Sie ein Klient?«
»Ja, mein Name ist Alex.«
»Hallo, Alex.«
»Hallo, ist dein Vater zu Hause?«
»Er ist im Badezimmer.«
»Und deine Mutter?«
»Die gibt Hillary das Fläschchen.«
»Oh, wie alt bist du denn, Brandon?«
»Fünfeinhalb.«
»Kannst du schon schreiben?«
»Nur in Druckbuchstaben.«
»Wenn ich dir meinen Namen buchstabiere, kannst du ihn auf einen Zettel schreiben und deinem Papa geben, wenn er aus dem Bad kommt?«
»Natürlich. Ich hole mir einen …«<
Das Ende des Satzes wurde durch Lous Stimme unterbrochen (»Wer ist dran, Bran? … Danke, mein Junge … Nein, ist schon in Ordnung, ich geh dran … Wie bitte? … Nein, das brauchst du nicht, Brandon, ist nicht mehr nötig. Ich bin doch … Okay, okay, reg dich nicht auf, ich werde es ihm erklären«).
Cestare kam lachend ans Telefon.
»Hier ist Lou, Alex. Brandon besteht darauf, deinen Namen aufzuschreiben.«
»Gib ihn mir.«
Der Junge kam wieder und fragte: »Wie sind die Buchstaben?«
Ich buchstabierte meinen Namen, danach las er ihn vor.
»Das war perfekt, Brandon. Kannst du mir jetzt bitte deinen Papa geben?«
»Danke. Auf Wiedersehen.«
»Da bin ich wieder«, sagte der Broker.
»Du hast sehr gewissenhafte Mitarbeiter, Lou.«
»Man muss sie von jung auf daran gewöhnen. Was gibt’s?«
»Ich brauche Informationen über ein relativ neues Anleiheprojekt. Das Bitter-Canyon-Projekt.«
»Gute Anlage. Du hast aber schon genügend langfristige Gelder angelegt.«
»Ich bin nicht am Kauf interessiert, ich möchte nur einige Details wissen.«
»Was für Details?«
»Über die Hintergründe dieser Geschichte. Wer ist der Hauptbeteiligte?«
Seine Stimme klang plötzlich wachsam.
»Warum willst du das wissen?«
»Das hängt mit einem Fall zusammen, mit dem ich beschäftigt bin.«
Das ließ ihn eine Weile schweigen.
»Was haben Psychos mit einem Wasserkraftwerk zu tun?«
»Ich kann dir das nicht näher erläutern.«
»Weißt du etwas über die Sache, die ich auch wissen sollte?«
»Nein, ich …«<
»Ich habe mich nämlich so sehr in dieser Anleihe engagiert, dass ich kaputt bin, wenn sie schief geht. Wenn es da nur den leisesten Anschein eines Problems gibt, würde ich das gern wissen.«
»Ist das eine unsichere Investition?«
»Verdammt noch mal, nein. Es handelt sich um ein Triple-A-Geschäft, wird von der MBIC abgesichert.« Er machte eine Pause. »Aber das war genauso bei der Finanzierung des Washington-Kraftwerks. Das ganze verdammte Investmentgeschäft beruht auf Vertrauen. Wenn man sich die Pleiten der letzten Jahre ansieht, kann schon eine Kleinigkeit das Vertrauen erschüttern. Wenn es zu plötzlichen Verkäufen im Bitter-Canyon-Projekt kommen sollte, möchte ich gern unter den Ersten sein. Was hast du also mit der Sache zu tun?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Lou.«
»Das verstehe ich nicht. Du rufst mich zu Hause an, um mich auszufragen, und weigerst dich, mir den Grund dafür zu nennen. Alex, wir beide …«
»Lou, das hat überhaupt nichts mit Finanzen zu tun. Ich weiß gar nichts darüber, ob das Unternehmen eine windige Sache ist. Verdammt, ich weiß wirklich nichts. Mich interessieren nur die Leute, die dahinter stehen.«
»Welche Leute?«
»Ivar Digby Chancellor. Beverly-Hills-Konzern. Die Familie Cadmus. Ich will etwas über die Beziehungen wissen, die sie untereinander haben.«
»Oh, das willst du wissen.«
»Genau das.«
»Und was hast du damit zu tun?«
»Sachverständiger der Verteidigung.«
»Nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit?«
»Ungefähr die Richtung.«
»Wie man sich erzählt, bist du für diese Aufgabe wie geschaffen. Der Junge soll wirklich verrückt sein.«
»Hast du das aus dem Wall Street Journal?«
»Der Bombenknüller für die Finanzwelt. Immer wenn ein großes Unternehmen in eine üble Sache verwickelt ist, machen wir Geldleute uns die Mühe, die Konsequenzen abzuschätzen.«
»Und?«
»Und die allgemeine Ansicht ist, dass es keine geben wird. Wenn der Junge Einfluss auf das Unternehmen gehabt und geplant hätte, den See in einen riesigen Whirlpool zu verwandeln, würde man sich schon Sorgen machen. Aber bei der Sachlage ist das kaum zu befürchten, nicht wahr?«
»Kaum.«
»Wolltest du das wissen, Alex?«
»Nein. Etwas über Chancellor …«<
»Total schwul, aber ein kluger Kopf und ein verdammtes Schlitzohr, die richtige Kombination von Kreativität, Vorsicht und Vitalität. Der Beverly-Hills-Konzern ist eine der potentesten kleineren Banken an der Westküste. Chancellor hat sich wirklich um seine Kunden gekümmert. Machte eine Masse guter Geschäfte und schlug die größere Konkurrenz mit höheren Zinsen, ohne sich dabei zu übernehmen. Er machte sein Geld auf die gute alte Art, er erbte und pflegte es, bis es gedieh und immer größer wurde. Wenn du dann reich genug bist, darfst du auch mit süßen Knaben spazieren gehen und geschminkt sein wie ein Clown. Was möchtest du noch wissen?«
»War er eigentlich an dem Bitter-Canyon-Geschäft von Anfang an beteiligt?«
»Das ist sehr wahrscheinlich. Als Büchsenspanner. Er hatte jahrelange geschäftliche Verbindungen mit den Cadmus und sehr großen Einfluss bei den Wasserkraft-Fritzen, seine Beziehungen wirkten deshalb heilsam. Die wichtigste Rolle spielte er jedoch, als es zum Verkauf der ersten Anleihen kam. Sein Konzern war der Hauptabnehmer der ersten kurzfristigen Serien. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil alle Serien bereits unter der Hand verkauft waren, als das Angebot auf den Markt kam. Damals wollte ich wissen, wer sie bekommen hat, und habe ein paar Nachforschungen angestellt. Er hat auch die langfristigen Anleihen aufgekauft. Lass mich mal an den Computer gehen und eine Anfrage starten.«
Er ließ mich warten, war aber in einem Moment wieder zurück.
»Okay. Ich rufe die Sache mal ab. Bitter-Canyon-Wasserkraftwerk, Öffentliche Anleihe, Serie von 1987 - da haben wir sie ja. Es handelt sich um Bundespapiere, keine kommunalen, weil Bitter Canyon noch keine Gemeinde ist. Es geht um die Ausgabe im Werte von fünfundsiebzig Millionen Dollar, fünfzehntausend für fünftausend Dollar das Stück zum Nennwert. Achtzehn Millionen in Serien, die ab 1988 bis zum Jahr 2000 gestaffelt fällig werden. Der Rest sind langfristige Obligationen, ein Drittel mit zwanzig Jahren Laufzeit, ein Drittel mit fünfundzwanzig und das restliche Drittel mit dreißig Jahren. Jede Tranche zu neunzehn Millionen Dollar.«
»Was hat Chancellor sich an Land gezogen?«
»Warte eine Sekunde. Ich habe das in einer anderen Datei. Okay, schon gefunden. Also, die Daten sind nicht hundertprozentig verlässlich, weil wahrscheinlich einiges unter dem Tisch verkauft wurde, aber sie stimmen schon im Großen und Ganzen. Nach meiner Datei kaufte sich der Beverly Hills Trust für zehn Millionen in die kurzfristigen Serien ein, die sehr begehrt waren, und für weitere zehn in Anleihen mit längeren Laufzeiten. Das betrifft aber nur die Bank. Chancellor könnte natürlich auch für sich persönlich eingekauft haben, aber das ist schwer nachzuweisen.«
Ich rechnete im Geiste nach.
»Das ist mehr als ein Viertel der gesamten Anleihe. Ist das nicht zu viel für eine kleine Bank?«
»Natürlich. Es ist auch ungewöhnlich für eine Bank, sich so umfangreich in langfristigen Obligationen zu engagieren, vor allem, wenn man den Abwärtstrend dieses Marktes in den letzten Jahrzehnten bedenkt. Chancellor war aber einer, der aggressiv kaufte, wenn er sich etwas davon versprach. Zweifellos wollte er zu Spitzenpreisen weiterverkaufen.«
»Wie ist er an so große Anteile herangekommen?«
»Die Cadmus und die Regierung gaben ihm Insider-Informationen, weil der Erwerb größerer Anteile durch den Beverly Hills Trust ein Geschäft war, das beiden Seiten nutzte. Wenn ein Anleger mit Köpfchen ein derartiges Vertrauen in ein Geschäft demonstriert, fördert das die allgemeine Begeisterung.«
»Wo ist der Rest der Anleihe gelandet?«
»Die Serien wurden gleichmäßig auf verschiedene größere Finanzgesellschaften aufgeteilt, andere Banken, Sparkassen, Kreditanstalten, Finanzmakler und Versicherungen. Das Gleiche passierte mit einem Großteil der Längerfristigen, ein bisschen davon blieb übrig für ein paar scharfsichtige Selbstständige, wie du einer bist.«
»Sieht ganz nach einem heißen Geschäft aus.«
»Glühend heiß. Es ist alles verkauft worden. Aber was hat das alles mit der Verteidigung des Cadmus-Jungen zu tun?«
»Vermutlich überhaupt nichts. Beantworte mir noch eine Frage: Konnte Chancellor mit einer frühzeitigen Zusage, eine erhebliche Anzahl der Obligationen zu erwerben, die Genehmigung der gesamten Anleihe beeinflussen?«
»Sozusagen als Garant? Aber sicher. Falls es Anfangsschwierigkeiten bei der Durchführbarkeit des Projekts gegeben haben sollte, konnte es nicht schaden, von vornherein einen Hauptinteressenten zu haben. Aber das war bei diesem Projekt nicht der Fall, Alex. Es entwickelte sich deshalb so schnell zu einem heißen Geschäft, weil es allen Beteiligten einen guten Profit eintrug. Die Familie Cadmus besaß das Land seit dem Krieg. Sie kauften es spottbillig der Army ab und konnten es sich leisten, es mit einem erheblichen Preisnachlass zurückzuverkaufen, wobei sie immer noch einen handfesten Profit machten. Dieser Gewinn versetzte sie wiederum in die Lage, ein außerordentlich wettbewerbsfähiges Angebot abzugeben, um das Kraftwerk zu bauen; und ich meine wirklich außerordentlich. Das bewirkte, dass die Anleihen schon mit einem halben bis einem Punkt über Nennwert auf den Markt kamen. Das ist eine Masse Geld, und da jeder heutzutage mittelfristig mit fallenden Zinserträgen rechnet, können saftige Gewinne dabei herauskommen.«
»Eine Hand wäscht die andere.«
»Genau. So ist der Lauf der Welt.«
»Ich habe gehört, dass es einigen Widerstand gab, unangenehme Fragen wegen der Interessenkonflikte.«
»Nichts Ernsthaftes. Ein paar konkurrierende Baugesellschaften versuchten, Wirbel zu machen, der wurde aber bereits im Vorfeld gebremst. Die Mehrheit dieser Firmen war nicht groß genug, um ein Projekt dieses Umfangs bewältigen zu können. Die anderen zwei, die dazu in der Lage waren, konnten das Angebot nicht unterbieten. Die Vergabe anzufechten hätte das Risiko einer öffentlichen Empörung über Preistreiberei - die Firmen sind da alle nicht unschuldig - entstehen lassen und erhebliche Verzögerungen veranlasst. Die umliegenden Gemeinden und das Energieunternehmen wollten das Projekt aber schnell durchziehen und übten Druck aus, um die Dinge zu beschleunigen. Dagegen anzugehen hätte - politisch gesehen - gewisse Nachteile mit sich gebracht.«
»Nach dem Motto: Wenn du stänkerst, kriegst du keine Aufträge mehr.«
»Das läuft alles ein bisschen subtiler ab, aber grundsätzlich hast du Recht. Es gab kaum Hindernisse, Alex, keine Proteste von irgendwelchen Naturschutz-Heinis gegen Kaktussterben, außerdem herrscht hohe Arbeitslosigkeit in dieser Gegend. Beim ersten Spatenstich wird es nur zufriedene Gesichter geben.«
»Wann wird das voraussichtlich geschehen?«
»Im nächsten Frühjahr. Voll im Zeitplan.«
»Und Chancellors Tod hat darauf keinen Einfluss?«
»Warum sollte er? Natürlich werden die Anleger darauf achten, wer die Bank übernimmt. Wenn der schwachsinnig ist, wirst du beobachten können, wie sich die Anleger klammheimlich, aber zielbewusst zurückziehen, ein allzu hastiger Ausstieg könnte ihnen nur schaden. So verhalten sich natürlich nur Insider, weder das Projekt noch die Anleihen werden dadurch berührt.«
»Was könnte denn die Dinge wirklich beeinflussen?«
»Nur höhere Gewalt - es macht sich immer gut, den da oben anzuklagen, wenn Sachen schief gehen. Wenn der See über Nacht verdunstet oder Cadmus Construction verstaatlicht wird und nur noch Kokosläufer fabriziert - mir passt diese Art der Konversation nicht. Was bezweckst du damit, Alex?«
»Das weiß ich wirklich nicht, Lou.«
»Hör mal zu, ich möchte nicht hysterisch wirken, aber lass dir mal meine Situation erklären. Grundsätzlich mache ich keine Geschäfte mit Anleihen. Weder für meine Klienten noch für mich selbst. Sie haben sich in der Vergangenheit nicht bewährt, du kaufst sie am besten nur zur Flankensicherung. Ich habe aber Klienten, die unbedingt welche haben wollen, konservative Typen wie du und Verrückte, die so reich sind, dass sie sich der Illusion hingeben, sie hätten genug Zaster. Deshalb habe ich immer ein Auge auf gute Angebote und greife schnell zu. Das passiert nicht oft, aber im Bitter-Canyon-Geschäft habe ich mich schwer engagiert. Bisher habe ich eine Masse Leute damit glücklich gemacht. Wenn die Sache in den Eimer geht, werden diese Leute sehr enttäuscht sein. Mörderisch enttäuscht. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob ich im letzten Jahr für sie Midas war. Nur ein Fehler, und ich bin genauso beliebt wie Arafat in der Knesset. Das Charisma vieler Jahre fällt buchstäblich in die Scheiße.«
»Wie ich dir schon gesagt habe, Lou, ich habe nichts in dieser Richtung gehört. Wenn, dann rufe ich dich sofort an.«
»Das solltest du wirklich tun«, antwortete er grimmig. »R-Gespräch, Tag und Nacht.«