16

Zu Hause fand ich eine Nachricht von Sarita Flowers vor, die zwei Stunden vorher geschickt worden war. Es hieß darin, dass ich am nächsten Morgen um acht die anderen Jugendlichen aus dem Projekt 160 treffen könnte, wenn mir immer noch daran läge. Sie bat mich um baldige Antwort. Ich rief in ihrer Abteilung an und bestätigte mein Kommen für den nächsten Tag. Robin kam um zwanzig vor acht nach Hause. Zu Abend gab es Reste. Wir nahmen einen Korb mit Obst, setzten uns auf die Terrasse, aßen die Früchte und betrachteten dabei die Sterne. Wir gingen früh zu Bett.

Ich stand um sechs auf, um sieben machte ich mich auf den Weg zur Universität. Auf der Eingangstreppe zum Gebäude der Psychologischen Fakultät saßen hunderte von Tauben. Sie gluckerten, pickten und verdreckten den Zementboden, in glücklicher Ahnungslosigkeit der Gefahr, die ihnen innen im Gebäude drohte: Käfige in der Abteilung für Verhaltensforschung, Zuchthaus für Tauben.

Die Tür zu Saritas Büro war verschlossen. Karen hörte mich klopfen und kam eilig herbei. Sie sah mich stirnrunzelnd an und reichte mir ein Heft.

»Sie kommen doch allein zurecht, oder müssen Sie Dr. Flowers sprechen?«

»Nein, es genügt, wenn ich die Schüler sehe.«

»Gut. Sie hat nämlich eine Menge Ergebnisse auszuwerten.«

Wir nahmen den Aufzug zwei Stockwerke hoch zum Gruppenraum. Karen schloss die Tür auf, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.

Ich sah mich um. In den fünf Jahren hatte sich nichts geändert, immer noch gallengrüne Wände mit Postern, dieselben durchgesessenen, billigen Sofas und die Tische mit den Resopalplatten. Eine Wand wurde von zwei hohen drahtverstärkten Glasfenstern beherrscht. Von dort aus konnte man auf die Laderampe des Chemiegebäudes blicken, jenes Viereck von ölverschmiertem Asphalt, auf dem ich Jamey seine Schuhe gegeben hatte, kurz bevor er sich ganz von mir zurückzog.

Ich setzte mich auf ein Sofa und begann, das Heft durchzusehen. Mit der üblichen Sorgfalt hatte Sarita über jeden meiner Gesprächspartner einen kleinen Bericht verfasst.

Ich las:

»Für Dr. Alexander Delaware von Dr. Sarita Flowers, Projektleiterin.

Betrifft: Bisherige Ergebnisse des Projekts 160, Entwicklung der Teilnehmer.

Wie Du weißt, Alex, wurden im Herbst des Jahres 1982 sechs Kinder im Alter von zehn bis vierzehn Jahren in das Projekt aufgenommen. Mit Ausnahme von Jamey nahmen alle regelmäßig teil, bis zum Sommer 1986, als Gary Yamaguchi ausschied, um eine Künstlerlaufbahn einzuschlagen. Gary war achtzehn und hatte drei Jahre lang an der UCLA Psychologie studiert mit dem Abschluss eines Bachelor of Arts. Sein Stanford-Binet-IQ lag damals bei 167, seine sprachliche Ausdrucksweise entsprach der eines Promovierten. Es ist mir nicht gelungen, ihn für heute herzubitten. Er besitzt kein Telefon und hat auf die Karte, die ich an seine zuletzt bekannte Adresse richtete, nicht reagiert.

Du wirst mit folgenden Jugendlichen sprechen:

1. Felicia Blocker: Sie ist inzwischen fünfzehn, studiert Mathematik und wird zum Ende des Jahres ihren Bachelor of Arts ablegen. Verschiedene Universitäten haben ihr angeboten, sie als Doktorandin aufzunehmen. Sie wird wahrscheinlich nach Princeton gehen. Letztes Jahr bekam sie den Hawley-Deckman-Preis für besondere Leistungen in Mathematik. Ihr Stanford-Binet-IQ liegt bei 188. Sprachliche Ausdrucksfähigkeit wie bei Gary. Ihre allgemeinen geistigen Fähigkeiten liegen oberhalb jeglicher Norm.

2. David Krohnglass: Er ist jetzt neunzehn und hat ein Physikstudium abgeschlossen sowie eines in Physikalischer Chemie. Er war unter den zehn besten Bewerbern in ganz Amerika für die Aufnahme zum Medizinstudium. Er hat vor, im nächsten Herbst an die University of Chicago zu gehen, um in Medizin zu promovieren. Sein IQ liegt bei 177. Sprachliche Ausdrucksfähigkeit entspricht der eines Promovierten. Seine geistigen Fähigkeiten liegen oberhalb jeglicher Norm.

3. Jennifer Leavitt: Sie ist siebzehn und studiert im fünften Jahr Verhaltensforschung an der UCLA. Drei wissenschaftliche Aufsätze von ihr sind in Fachzeitschriften erschienen, zwei verfasste sie völlig selbstständig. Nach ihrem Doktor möchte sie Medizin studieren. Sie interessiert sich besonders für Psychiatrie. Ihr IQ liegt bei 169. Sprachlicher Ausdruck und geistige Fähigkeiten entsprechen denen promovierter Wissenschaftler.

4. Joshua Marciano: Er ist achtzehn und steht kurz vor dem Bachelor of Arts in den Fächern Russisch und Politische Wissenschaften. Er hat ein Computerprogramm geschrieben, das simultane Trendanalysen in den Bereichen Ökonomie, Weltgesundheit und Internationale Beziehungen ermöglicht, und verhandelt mit der Weltbank um die Lizenz. Er wurde zu den verschiedensten Förderprogrammen für Fortgeschrittene zugelassen und hat vor, ein Jahr zum State Department zu gehen, bevor er an der Kennedy School für Internationale Beziehungen in Harvard promovieren und einen Abschluss in Jura machen will. Sein IQ liegt bei 171. Sprachlicher Ausdruck und geistige Fähigkeiten entsprechen denen promovierter Wissenschaftler.«

Ein beeindruckender Bericht, mit großer Sorgfalt verfasst, aber für den gegebenen Anlass, meinen Besuch, beinahe zu detailliert, selbst für Saritas Verhältnisse. Was sie mir eigentlich sagen wollte, war zwischen den Zeilen zu lesen: Jamey war ein Hindernis, Alex. Sieh nur, was ich mit den anderen erreicht habe.

Die Tür ging auf, und zwei junge Männer kamen herein.

David, den ich als zierlich und zu klein in Erinnerung hatte, passte jetzt von seiner Statur her in jedes Footballteam. Er maß sicher einen Meter neunzig, war massiv gebaut und muskulös.

Sein ingwerfarbenes Haar hatte einen modernen Schnitt, oben kurz und mit einer Strähne im Nacken. Sein flaumiges Gesichtshaar reichte für einen blonden Schnurr- und Kinnbart. Er trug eine randlose runde Brille, weit geschnittene Khakihosen, schwarze Schnürschuhe, ein am Hals offenes Schottenhemd mit knappem Kragen und eine Lederkrawatte, die ein paar Zentimeter oberhalb seines Gürtels endete. Seine Hand umfasste die meine mit festem Griff.

»Hallo, Dr. D.!«

Josh war schmächtig und mittelgroß gewachsen, hatte sich von einem hübschen Teenager zu einem gut aussehenden jungen Mann entwickelt. Sein lockiges schwarzes Haar trug er kurz geschnitten, seine dichten schwarzen Wimpern saßen über großen Haselnussaugen, er hatte ein viereckiges, strenges, in der Mitte gespaltenes Kinn und eine glatte Haut. Er war angezogen wie ein Schüler, trug ausgebeulte Flanellhosen, schmutzige Sandalen und ein Hemd, dessen Kragen oben aus einem maronenfarbenen weiten Pullover herauskam. Ich hatte ihn als eines jener glücklichen, mit gutem Aussehen, Charme und Intelligenz gesegneten Geschöpfe in Erinnerung, die von keinerlei Selbstzweifel gequält werden. Heute Morgen jedoch erschien er mir recht angespannt.

Mit gequältem Lächeln sagte er: »Es freut mich, Sie wiederzusehen.« Das Lächeln verschwand. »Schade, dass es aus diesem Anlass geschieht.«

David nickte zustimmend und sagte: »Es ist einfach nicht zu begreifen.«

Ich bat sie, Platz zu nehmen, und sie setzten sich mir schweigend gegenüber.

»Es ist wirklich nicht zu begreifen«, sagte ich, »ich hoffe, ihr könnt mir dabei helfen, etwas Licht in das Dunkel zu bringen.«

Josh runzelte die Stirn. »Als Dr. Flowers uns erzählte, dass Sie uns wegen Jamey sprechen möchten, wurde uns klar, wie wenig wir über ihn wissen, wie sehr er sich immer von der Gruppe fern hielt.«

»Es war mehr als sich fernhalten«, sagte David. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Er schloss uns regelrecht aus. Er machte keinen Hehl daraus, dass er grundsätzlich mit anderen Menschen nichts zu tun haben wollte, und folglich auch nicht mit uns.« Er strich sich über den Schnurrbart und zog die Brauen zusammen. »Das heißt natürlich nicht, dass wir ihm nicht helfen wollen, nur sind wir wahrscheinlich keine ergiebige Informationsquelle.«

»Der Einzige, mit dem er je sprach, war Gary«, sagte Josh, »aber auch das tat er nur selten.«

»Schade, dass Gary nicht herkommen konnte«, sagte ich.

»Er ist schon seit einiger Zeit nicht mehr bei uns«, sagte David.

»Habt ihr eine Ahnung, wo ich ihn finden könnte?«

Sie tauschten besorgte Blicke aus.

»Letzten Sommer zog er zu Hause aus. Das Letzte, was wir hörten, ist, dass er irgendwo im Stadtzentrum lebt.«

»Dr. Flowers sagte mir, er habe großes Interesse an Kunst. Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt, was meint ihr?«

»Sie würden ihn nicht wiedererkennen«, sagte Josh.

In meiner Erinnerung war Gary ein adretter junger Japaner, in Amerika geboren und aufgewachsen, der großes Interesse für Bauingenieurwesen und Städteplanung hatte. Er baute immer neue Modelle riesiger Siedlungen, und Sarita nannte ihn mir gegenüber aus Spaß immer den kleinen Mies van der Rohe. Ich fragte mich, wie er sich so hatte verändern können, aber bevor ich es aussprechen konnte, ging die Tür auf, und ein kleines Mädchen mit lockigem Haar kam herein. In einer Hand hielt sie eine große Stofftasche, in der anderen einen Pullover. Sie sah verwirrt aus. Sie zögerte, sah auf ihre Füße herab, dann kam sie in bewusster Anstrengung auf mich zu. Ich stand auf und ging ihr entgegen.

»Hallo, Dr. Delaware«, sagte sie scheu.

»Grüß dich, Felicia. Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut«, sagte sie mit Singsangstimme, »und Ihnen?«

»Gut geht’s mir, danke, dass du gekommen bist.«

Ich bemerkte, dass ich leiser sprach als vorher und in besonders freundlichem Ton, so als spräche ich mit einem furchtsamen Kind. Aber genauso sah sie auch aus.

Sie setzte sich seitlich in einigem Abstand zu den Jungen. Sie legte ihre Tasche auf den Schoß, kratzte sich am Kinn, sah auf ihre Schuhe und rutschte unruhig hin und her.

Als Jüngste und Frühreifste aus dem Projekt war sie die Einzige, die den Klischeevorstellungen von einem Genie wirklich entsprach. Sie war klein, hatte verträumte Augen, war ängstlich und lebte in der atmosphärisch dünnen Welt mathematischer Abstraktion. Im Gegensatz zu Josh und David hatte sie sich kaum verändert. Natürlich war sie ein bisschen gewachsen, war vielleicht einen Meter sechzig groß, auch gewisse Anzeichen körperlicher Reife waren an ihr sichtbar, zwei hoffnungsvolle Knospen unter ihrem weißen T-Shirt und Pickel auf der Stirn. Davon abgesehen jedoch war sie noch ganz kindlich, mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck, mit dicken Brillengläsern auf der Nase, die ihre Augen meilenweit entfernt wirken ließen. Ihr lockiges braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Gliedmaßen zeigten noch Reste von Babyspeck. Ich fragte mich, ob sie wohl zuerst ihren Doktor oder das Ende ihrer Pubertät erreichen würde.

Ich wollte ihr in die Augen sehen, aber sie hatte bereits ein Spiralheft aus der Tasche gezogen und sich hineinvertieft. Sie war eine Einzelgängerin, darin Jamey nicht unähnlich, während aber seine Zurückgezogenheit auf Verbitterung und Zorn beruhte, war ihre die Folge von ständiger geistiger Betätigung. Sie war von sanftem Temperament und liebenswürdig und gab sich Mühe, Kontakt zu den anderen zu halten, was ihr allerdings nicht selten misslang, da ihre ständige Beschäftigung mit abstrakten Problemen ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.

»Wir sprachen gerade über Gary«, sagte ich.

Sie blickte auf, so als ob sie etwas sagen wollte, dann sah sie wieder auf ihr Heft. Die Jungen redeten leise miteinander.

Ich sah auf die Uhr, es war zehn nach acht.

»Wir warten noch, bis Jennifer kommt, und dann fangen wir an.«

Josh bat darum, telefonieren zu dürfen, David stand auf, ging im Raum umher und summte vor sich hin. Eine Minute später erschien Jennifer, außer Atem und um Entschuldigung bittend.

»Hallo, Alex«, sagte sie, beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange.

»Hallo, Jen.«

Sie trat ein paar Schritte zurück, musterte mich und sagte:

»Sie haben sich überhaupt nicht verändert!«

»Aber du«, antwortete ich und lächelte.

Sie hatte ihr früher langes Haar zu einem Bubikopf schneiden lassen und es von Asch- in Goldblond gefärbt. Sie hatte hohe Backenknochen, und zwei riesige Plastikgebilde hingen von ihren Ohren herab. Ein locker sitzendes himmelblaues Oberteil ließ eine Schulter frei, sie trug dazu einen engen Minirock aus Baumwolle, ihre langen, schlanken Beine steckten in hochhackigen Plastiksandalen. Ihre Fingernägel waren lang und rosa lackiert, die Fußnägel ebenso, ihre Haut war braun wie Kaffee mit viel Sahne. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein typisch kalifornisches junges Mädchen, das sich für Mode interessiert.

»Das will ich hoffen«, antwortete sie mir und setzte sich auf einen Klappstuhl. »Gut, dass ich nicht die Letzte bin«, sagte sie dann.

»Stimmt nicht ganz«, sagte David grinsend und ging, um Josh zu holen.

»Tut mir Leid«, sagte Jennifer mit einem Ausdruck des Bedauerns, »ich ging gerade einige Artikel durch und blieb an einem hängen, der so gut wie unlesbar war.«

»Das macht nichts.«

Die Jungen kamen zurück. Ein paar witzige Bemerkungen, die die Nervosität nicht verdecken konnten, flogen durch den Raum, dann herrschte Schweigen. Ich sah den vieren in ihre ernsten Gesichter und begann zu sprechen.

»Ich freue mich sehr, euch alle wiederzusehen. Dr. Flowers hat mir aufgeschrieben, was ihr inzwischen gemacht habt, und ich muss sagen, dass ich sehr beeindruckt bin.«

Sie lächelten höflich, dachten jedoch: Komm endlich zur Sache, Alex.

»Ich bin hergekommen, weil man mich gebeten hat, für Jameys Verteidiger zu arbeiten, ich muss unter anderem Informationen über Jameys geistiges Befinden sammeln. Mit euch verbrachte er die meiste Zeit in den letzten vier, fünf Jahren, und ich dachte, ihr erinnert euch vielleicht an irgendetwas, das helfen könnte, zu erklären, wie es zu seinem Zusammenbruch kommen konnte. Bevor wir anfangen, möchte ich euch noch sagen, dass ich weiß, wie schwer das alles für euch ist. Wenn also einer von euch erst darüber sprechen will, soll er es tun.«

Wieder Schweigen. Zu meiner Überraschung brach Felicia es als Erste.

»Das ist doch klar, dass wir alle von dem, was passiert ist, sehr betroffen sind, in mehrfacher Hinsicht.« Sie sprach sehr leise, es war beinahe ein Flüstern. »Wir haben alle Mitleid mit Jamey, zugleich aber sind wir erschrocken, dass wir vier Jahre mit ihm verbracht haben. Vielleicht waren wir in ernster Gefahr während dieser Zeit. Eine andere Frage ist, ob man nichts hätte tun können, um all das zu verhindern. Hätten wir, seine Kollegen, vielleicht irgendetwas tun können? Und, was mich persönlich besonders stört: Seine Verbrechen haben ein schlechtes Licht auf unser Projekt geworfen, drohen, in unser Leben einzugreifen. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber ich werde andauernd von Reportern belästigt.«

Josh schüttelte den Kopf.

»Wir haben eine Geheimnummer.«

»Wir auch«, sagte Jennifer. »Dr. Austerlitz erhielt einige Anrufe in seinem Büro, aber er sagte, ich sei außer Landes.«

»Unsere Nummer steht im Telefonverzeichnis, und drei Tage lang waren sie hinter mir her«, sagte David. »Vorwiegend Boulevardpresse, miese Schreiberlinge. Es hatte keinen Zweck, sie abzuwimmeln, sie riefen immer wieder an. Schließlich redete ich nur noch Lateinisch mit ihnen, bis sie mich in Ruhe ließen.« Zu Felicia sagte er: »Das musst du nächstes Mal auch versuchen.«

Sie kicherte nervös.

»Felicia, du hast das Problem sehr schön zusammengefasst. Wir können jetzt darüber reden. Bei welchem der erwähnten Punkte wollt ihr anfangen?«

Sie zuckten die Schultern und blickten zu Boden. Aber so einfach wollte ich es ihnen nicht machen.

Sie alle waren hoch begabt, aber trotzdem Jugendliche, befangen in Selbstbezogenheit und Fantasievorstellungen von der eigenen Unsterblichkeit. Kein Wunder schließlich, hatte man doch immer wieder betont, wie intelligent sie seien, hatte ihnen erzählt, dass sie alles, was ihnen im Leben widerfuhr, damit meistern würden. Jetzt aber war etwas geschehen, das ihre Unfehlbarkeit erschütterte. Das musste nicht leicht für sie sein.

»Also gut«, sagte ich, »fangen wir mal mit Folgendem an: Hat einer von euch das Gefühl, er hätte etwas unternehmen können, um zu verhindern, was mit Jamey geschehen ist, und wenn, fühlt ihr euch schuldig, dass ihr es nicht getan habt?«

»Schuldig ist zu viel gesagt«, meinte Jennifer, »aber ich frage mich, ob ich mehr hätte tun können.«

»In welcher Hinsicht?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin ziemlich sicher, dass ich die Erste war, die bemerkt hat, dass etwas nicht stimmt. Vielleicht hätte ich mich früher um Hilfe bemühen sollen.«

Niemand hielt etwas dagegen.

»Jamey hat mich immer fasziniert«, erklärte Jennifer. »Er war so eingeigelt in sich selbst, scheinbar unabhängig von anderen, und dabei im tiefsten Innern doch ganz unglücklich. Die wenigen Male, die ich mit ihm zu sprechen versuchte, wies er mich ab, manchmal sehr schroff. Zuerst fühlte ich mich verletzt, dann aber war das Gefühl, ihn verstehen zu wollen, stärker. Ich schaute mir psychologische Arbeiten über abweichendes Verhalten an, suchte etwas, das auf Jamey passte. Schizophrenie schien dem Ganzen am nächsten zu kommen. Schizoide sind unfähig, Beziehungen aufzubauen, ohne dass sie das stört. Sie sind menschliche Inseln. Zu Beginn der Psychoanalyse hielt man sie für Schizophrene im Frühstadium, und obwohl spätere Forschungen ergaben, dass die meisten von ihnen keine Psychosen bekommen, betrachtet man sie immer noch als gefährdet.« Sie schwieg verlegen. »Ihnen brauche ich das alles ja nicht zu erzählen.«

»Bitte fahr fort.«

Sie zögerte.

»Bitte, Jennifer.«

»Gut, also beobachtete ich ihn, suchte nach Anzeichen einer Psychose, ohne jedoch damit zu rechnen, dass ich sie finden würde. Deswegen war ich ziemlich schockiert, als er dann wirklich solche Symptome zeigte.«

»Wann geschah das?«

»Einige Monate, bevor Dr. Flowers ihn aufforderte, das Projekt zu verlassen. Eine Zeit lang erschien er mir noch verschlossener als sonst - und ich hatte inzwischen gelernt, dass dies krankhaft sein kann -, aber etwas wirklich Anomales tat er erst drei oder vier Monate, bevor er ging. Es war an einem Dienstag. Ich weiß das deshalb so genau, weil der Dienstag mein freier Tag war. Ich saß im Leseraum und arbeitete dort. Ich war allein, es war später Nachmittag. Jamey kam herein, ging in eine Ecke, drehte das Gesicht zur Wand und begann, vor sich hin zu murmeln. Das Murmeln wurde lauter. Er sprach mit jemandem, der gar nicht da war, und daran erkannte ich, dass er krank war.«

»Weißt du noch, was er sagte?«

»Er war sehr böse auf diese imaginäre Person und beschuldigte sie, ihn zu verletzen, blutige Federn in die Gegend zu streuen. Er wiederholte dieses Wort mehrmals. Federn. Er verwendete auch das Wort Gestank, immer wieder, er gebrauchte es als Eigennamen, sein unsichtbarer Gesprächspartner war, wie er sagte, voll Gestank, die Erde auch. Ich fand es faszinierend, und am liebsten wäre ich dageblieben und hätte ihm weiter zugehört. Aber ich bekam Angst, und so lief ich weg. Er merkte es gar nicht. Er hatte, glaube ich, gar nicht gesehen, dass ich überhaupt da war.«

»Kam in seinen wirren Reden irgendetwas über Zombies oder einen gläsernen Canyon vor?«

Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Knien und dachte nach. »Gläserner Canyon, das kommt mir bekannt vor.« Wieder dachte sie nach. »Ja, ich habe es gehört. Und ich sagte mir, dass es sich eigentlich mehr nach Gedicht als nach Wahnvorstellung anhört. Sehr archaisch irgendwie. Vielleicht habe ich es deswegen nicht gleich registriert. Aber woher wissen Sie davon, Alex?«

»Er rief mich in der Nacht, in der er aus der Klinik floh, an. Er hatte offensichtlich Wahnvorstellungen und redete von einem gläsernen Canyon, aus dem er entkommen musste. Am nächsten Tag besuchte ich ihn im Gefängnis, und er sagte mehrmals das Wort Glas.«

»Wie ging es ihm?«, fragte Josh.

»Nicht sehr gut«, antwortete ich.

»Aber offensichtlich gibt es ja in seinen Wahnvorstellungen so was wie thematische Kontinuität«, sagte Jennifer.

»In geringem Maße schon.«

»Wäre das nicht ein Zeichen dafür, dass seine Halluzinationen mit einem bestimmten Ereignis in Zusammenhang stehen, das bei ihm eine Krise auslöste?«

Nach Meinung von Dr. med. Mainwaring nicht.

»Es könnte sein«, sagte ich. »Weiß einer von euch vielleicht, ob Jamey irgendetwas erlebt hat, das mit Federn oder Gestank zu tun hat?« Keine Reaktion.

»Was ist mit Zombies oder gläsernen Canyons?«

Sie schüttelten die Köpfe.

»Ich habe oft gesehen«, sagte schließlich Felicia, »wie er zu sich selbst sprach, aber ich war nie nahe genug dran, um zu hören, was er sagte. Ich hatte Angst vor ihm, und immer wenn ich ihn kommen sah, ging ich weg. Einmal hat er auch geweint.« Sie hielt ihre Arme vor dem Oberkörper verschränkt und starrte wieder zu Boden.

»Habt ihr je Dr. Flowers davon erzählt?«, fragte ich.

»Nicht direkt«, antwortete Jennifer. »Darüber ärgere ich mich ja gerade. Ich hätte es tun müssen. Aber zwei Tage nach dieser Sache kam er mir wieder viel normaler vor. Er begrüßte mich sogar. Da dachte ich, dass es eine einmalige Sache war, vielleicht die Folge von Drogen. Ein paar Tage später ging es dann erneut los - er hatte wieder Wahnvorstellungen und wurde so nervös. Ich ging sofort zu Saritas Büro, aber sie war auf Reisen. Ich wusste nicht, wen ich hätte anrufen sollen, ich wollte Jamey auch keine Schwierigkeiten machen, so wartete ich, bis das Wochenende rum war, und sagte es Sarita. Sie bedankte sich und sagte, sie hätte schon gemerkt, dass er Probleme habe, und ich solle mich von ihm fern halten. Ich wollte mit ihr noch länger darüber reden, aber sie schickte mich weg. Ich fand das gefühllos von ihr. Aber später wurde mir klar, dass sie sich wegen ihrer Schweigepflicht so verhalten hatte.«

»Ich wollte es ihr auch erzählen, aber ich hatte Angst«, sagte Felicia. »Ich dachte, er würde mir etwas antun, wenn er herausfände, dass ich es ihr gesagt hatte.«

»Ich habe ihn auch mit sich selber sprechen sehen«, sagte Josh. »Mehrfach. Ich wusste, dass da etwas nicht stimmt, aber er hatte schon genug Schwierigkeiten, weil er nicht in die Vorlesungen ging, und ich wollte seine Lage nicht noch verschlimmern.« Er schwieg und sah weg. »Ich weiß, es klingt wie eine billige Entschuldigung, aber ich habe wirklich aus diesem Grund nichts gesagt.«

»Was mich betrifft«, sagte David, »so habe ich nie Derartiges gesehen. Mir graute vor ihm, deshalb tat ich alles, um ihm aus dem Weg zu gehen. Mir fiel erst etwas auf, als er in der Gruppe ausflippte.«

»Das war schrecklich«, sagte Jennifer, und die anderen nickten zustimmend. »Die Art, wie er schrie und rot anlief, dieser Blick in seinen Augen - wir hätten es nicht so weit kommen lassen dürfen.«

Die Atmosphäre verdüsterte sich zusehends. Ich wählte meine Worte sorgfältig, denn ich war mir bewusst, dass ich auf ihren Verstand und ihre Gefühle Rücksicht nehmen musste, wenn ich zu einem Ergebnis kommen wollte.

»So gut wie alle Leute, mit denen ich über diesen Fall spreche, fühlen sich irgendwie schuldig, allerdings zu Unrecht. Ein Mensch verfällt in Wahnsinn, und niemand weiß, warum. Für die Wissenschaft ist diese Krankheit immer noch ein riesiges schwarzes Loch, nichts macht Menschen hilfloser als ein tragisches Geschehen, das sie sich nicht erklären können. Wir alle möchten gerne unser Leben unter Kontrolle haben, und wenn sich Dinge ereignen, die uns unserer Sicherheit berauben, suchen wir nach Antworten, nach einem Sinn und bestrafen uns mit allen möglichen Hätte-ich-dochs. Nichts von dem, was ihr getan oder unterlassen habt, ist die Ursache für Jameys Wahn. Es ist auch ganz gleich, ob ihr es Dr. Flowers erzählt habt oder nicht, Schizophrenie entwickelt sich unabhängig von all dem.« Ich wiederholte im Grunde das, was ich Heather Cadmus am Vortage gesagt hatte, um sie zu beruhigen.

Sie hörten mir zu und verarbeiteten, was ich gesagt hatte. Wenn dies jemandem gelingen konnte, dann diesen vier hochintelligenten Jugendlichen.

»Ja, das leuchtet mir ein«, sagte David.

»Ich verstehe, was Sie sagen, aber ich fühle mich genauso elend wie vorher«, sagte Felicia. »Es dauert wahrscheinlich eine Weile, bis man solche Informationen auch emotional verarbeitet.«

»Können wir noch über anderes reden?«, fragte Jennifer und betrachtete ihre Fingernägel.

Niemand widersprach ihr, und so erteilte ich ihr das Wort.

»Schon seit einiger Zeit geht mir das nach«, begann Jennifer. »Nach seiner Festnahme ging ich in die Bibliothek und las alles, was ich über Massenmörder finden konnte. Es gibt erstaunlicherweise nur sehr wenig Literatur dazu, aber alles, was ich fand, wies darauf hin, dass diese Art Morde von Sadisten begangen werde und nicht von Schizophrenen. Ich weiß, dass manche Spezialisten der Meinung sind, dass Soziopathen nichts anderes sind als schlecht verkleidete Verrückte - Cleckley redet in diesem Zusammenhang von einer Maske, die Gesundheit vortäuscht -, aber sie werden doch nicht wirklich wahnsinnig, oder?«

»Im Allgemeinen nicht.«

»Also passt es doch überhaupt nicht ins Bild.«

»Vielleicht beging er die Morde, bevor er ganz in Wahn verfiel«, mutmaßte Josh.

»Das kann nicht sein«, antwortete Jennifer. »Die ersten Morde geschahen ein halbes Jahr, nachdem Jamey das Projekt verlassen hatte. Damals war er schon sehr krank. Die beiden letzten wurden verübt, nachdem er aus der Klinik ausgebrochen war. Natürlich kann er so was wie eine Remission gehabt haben.« Sie sah mich fragend an.

»Sein Zustand war tatsächlich sehr schwankend«, sagte ich. »War er an einem Tag ausfällig und erschien wirklich paranoid, konnte er zwei Tage später wieder fast normal wirken. Dein Gedanke, dass Psychopathen nur ganz selten zu Psychotikern werden, ist interessant und richtig. Ich habe bei Jamey nie irgendein Anzeichen von Sadismus oder Manie festgestellt, es hat mir auch nie jemand Ähnliches berichtet. Hat einer von euch vielleicht so etwas an ihm bemerkt?«

»Nein«, sagte Josh. »Er war zwar asozial und wenig umgänglich, aber etwas Grausames hatte er nicht an sich. Vielleicht war sein Gewissen einfach überentwickelt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Immer wenn er etwas Unfreundliches gesagt hatte, grübelte er. Er entschuldigte sich nicht, aber er war traurig.«

»Er mochte sich selbst nicht«, sagte Felicia. »Das Leben schien eine Last für ihn zu sein.«

Die beiden Jungen nickten zustimmend, Jennifer wurde ungeduldig.

»Wir sind vom Thema abgekommen. Wir haben gesehen, dass offenbar eine große Diskrepanz zwischen seiner Krankheit und den Verbrechen besteht, deren er beschuldigt wird. Hat sich denn noch kein vernünftiger Mensch die Frage gestellt, ob er die Morde vielleicht nicht begangen hat? Oder ist das einer der Fälle, in denen sie sich einen Sündenbock suchen, um dann die Sache auf sich beruhen zu lassen?«

Entrüstung stand ihr im Gesicht. Und die Hoffnung, dass es mir wenigstens Leid täte, wenn ich ihr widersprechen würde.

»Trotz der Widersprüche deutet alles darauf hin, dass er an den Morden beteiligt war, Jen.«

»Aber die...«

»Für mich gibt es überhaupt keine Widersprüche«, warf David ein. »Es kann doch so gewesen sein: Er war schizophren und sein Freund Chancellor ein Psychopath, der ihn dazu brachte, Leute umzubringen. Schon hat sich die Diskrepanz in Luft aufgelöst.«

Ich nahm eine gespannte Haltung an.

»Wie bist du darauf gekommen, David?«

»Dazu gehört doch nichts.« Er zuckte die Schultern. »Der Kerl pflegte doch Jamey abzuholen. Das war zwar seltsam, aber er hatte eine Menge Einfluss auf Jamey.«

»Wieso seltsam?«

»Körperlich und vom Verhalten her. Er war groß und muskulös, mit Muskeln wie Schwarzenegger, aber er war gekleidet wie ein Banker, dazu trug er eine Dauerwelle, blond gefärbt, er benutzte Wimperntusche und Puder, er duftete nach Parfüm und bewegte sich wie eine Frau.«

»Das Einzige, was du damit beweist, ist, dass er schwul war«, warf Jennifer ein. »Was heißt das schon?«

»Es ist noch mehr. Dass er schwul war, ist nur das eine, das andere ist, dass er eine riesige Show daraus machte. Es war, als rechne er sich seine Wirkung aus. Ich kann nicht sagen, warum, aber auf mich machte er den Eindruck von jemandem, der gerne andere manipuliert.« Er brach ab und sah mich an. »Ergibt das einen Sinn?«

»Sicher. Warum, glaubst du, hatte er so großen Einfluss auf Jamey?«

»Jeder, der den beiden begegnete, musste bemerken, dass Jamey eine Art Heldenverehrung mit ihm trieb. Er hatte es zu einer hohen Kunst entwickelt, sich abzukapseln. In dem Augenblick, in dem Chancellor zur Tür hereinkam, wachte Jamey auf und begann, zu reden wie ein Wasserfall.«

»Das stimmt«, sagte Josh. »Es ging wirklich eine auffallende Veränderung mit ihm vor. Nachdem Jamey ihn kennen gelernt hatte, änderte er seine Ansichten und Interessen radikal. Er vergaß die Lyrik und begeisterte sich für Wirtschaftsfragen.«

»Chancellor ließ ihn sogar für sich forschen«, fügte David hinzu, »er las Bücher, die er vorher nie angerührt hätte.«

»Was für Bücher waren das?«

»Ökonomische Bücher, glaube ich. Ich habe nie so genau hingeschaut. Mich langweilt dieses Zeug zu sehr.«

»Ich bin ihm mal in der Bibliothek der Wirtschaftsabteilung begegnet«, sagte Josh. »Als er mich sah, klappte er die Bücher zu und sagte, er müsse gehen. Ich sah, dass er Listen und Kolumnen abgeschrieben hatte, es sah nach Kreditsicherungen, Aktienkursen und Staatsanleihen aus.«

»Er hatte Einfluss auf sein Denken und Fühlen.« David lächelte. »Wenn Chancellor das fertig brachte, war es nur noch eine Kleinigkeit, ihn zum Mord anzustiften.«

»Das ist ja wirklich scheußlich«, sagte Jennifer schnell. Der Junge mit dem Bart warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und zuckte die Schultern.

»Was hältst du von Davids Theorie, Jen?«, fragte ich.

»Es scheint zusammenzupassen«, sagte sie ohne Begeisterung. »Grundsätzlich könnte es stimmen.«

Ich wartete, dass sie weitersprach. Sie schwieg jedoch, und so sagte ich:

»Vor ein paar Minuten meintest du, er könnte Drogen genommen haben. Was für Zeug nahm er denn?«

Eisiges Schweigen erfüllte den Raum.

»Ich will mich nicht in euer Privatleben mischen, Kinder.«

»Es geht nicht um uns, sondern um jemanden, der nicht anwesend ist«, sagte Josh.

Ich musste einen Moment überlegen.

»Ist Gary in die Drogenszene gegangen?«

»Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass Sie ihn nicht wiedererkennen würden.«

»Er hat sich seit dem letzten Sommer wirklich sehr verändert«, sagte Jennifer. »Ein sehr heikles Thema hier bei uns.«

»Warum?«

David lachte ironisch. »Man hat uns von oben nahe gelegt, nicht über Mr. Yamaguchi zu sprechen, weil dies ein schlechtes Licht auf unser Projekt werfen könnte. Wenn zwei von sechs Leuten ausflippen, sind die Chancen, dass es neue Forschungsgelder gibt, sehr gering.«

»Mich interessiert weder die Presse noch Garys Privatleben. Wenn er aber Jamey an Drogen gebracht hat, muss ich Genaueres wissen.«

»Beweise haben wir nicht«, sagte Josh.

»Es genügt, vorsichtig Vermutungen anzustellen.«

»Also ich glaube«, sagte Jennifer, »dass Gary an dem Tag, an dem er kein braver kleiner Junge mehr sein wollte, mit Drogen anfing. Er nahm Speed, LSD, Kokain, Beruhigungs- und Aufputschmittel. Das ganze letzte Jahr war er fast dauernd high. Er hatte nie vorher im Leben rebelliert, und er übertrieb maßlos, wie ein Frischbekehrter. Jedes Mal, wenn er sich im Rausch befand, war es eine kosmische Erleuchtung für ihn, und er wollte, dass alle anderen es auch probieren. Jamey hatte keine Freunde, aber Gary stand er noch am nächsten. Beide waren sie Außenseiter, und wenn sie sich nicht gegenseitig beschimpften, saßen sie zusammen und spotteten über uns. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Gary Jamey Drogen gegeben hat.«

Josh sah aus, als sei ihm unbehaglich zumute.

»Was hast du, Josh?«, fragte ich.

»Ich habe eine Szene beobachtet, die darauf hindeutet, dass sie in engerem Kontakt standen als vermutet. Chancellor holte Jamey in der Bibliothek ab, da tauchte auch Gary auf und ging mit ihnen weg. Am nächsten Tag hörte ich, wie er sich über Jamey lustig machte und ihn Chancellors Haremsknaben nannte.«

»Ist Gary homosexuell?«, fragte ich.

»Ich wäre nicht darauf gekommen, aber wer weiß das schon?«

»Wie reagierte Jamey darauf, dass Gary über ihn spottete?«

»Er bekam seinen ausweichenden vagen Blick und sagte nichts.«

»Ich muss mit Gary sprechen«, sagte ich. »Wo kann ich ihn finden?«

Spontan antwortete David: »Ich sah ihn zuletzt vor ein paar Monaten, als er auf dem nördlichen Campus Hasch rauchte. Er war als Punk angezogen und verhielt sich mir gegenüber feindselig, prahlte mit seiner großen Freiheit und bezeichnete uns als Dr. Flowers’ Sklaven. Er sagte, er lebe in der Stadt in einer Wohngemeinschaft mit anderen Künstlern und hätte demnächst eine Ausstellung in einer Galerie.«

»Was für Kunst macht er?«

Alle vier zuckten die Schultern.

»Wir haben nie etwas von ihm gesehen«, sagte David. »War wahrscheinlich nur Bluff.«

»Alex«, sagte Jennifer, »glauben Sie, dass bei Jameys Krankheit Drogen im Spiel sind?«

»Darüber kann ich im Moment noch überhaupt nichts sagen.«

Sie fühlte, dass ich ihr etwas vormachte, aber sie insistierte nicht weiter. Kurz darauf beendete ich unser Treffen und dankte ihnen für ihr Kommen. Felicia und die Jungen verschwanden schnell, aber Jennifer blieb noch da, nahm eine Nagelfeile und bearbeitete ihre Nägel.

»Was gibt’s, Jennifer?«

Sie legte die Feile beiseite und sah mich an.

»Nichts von alldem ergibt einen Sinn.«

»Was stört dich besonders?«

»Die Vorstellung, dass Jamey ein Massenmörder sein soll. Ich mochte ihn nicht, und ich weiß, dass er es sehr schwer hatte. Aber ein Mörder ist er nicht, das passt einfach nicht ins Bild.«

Menschen haben eine instinktive Abneigung gegen alle Versuche, ihresgleichen in ein bestimmtes psychologisches Schema einzuordnen. Ich sagte es ihr nicht, in ein paar Jahren würde sie ganz von selbst darauf kommen. Die Fragen, die sie aufgeworfen hatte, waren jedoch konkreter Natur und stimmten mit den meinen überein.

»Davids Erklärung leuchtet dir also nicht ein?«

Sie schüttelte den Kopf, wobei ihre Plastikohrringe heftig hin und her schaukelten.

»Sie meinen, dass Jamey von Chancellor zum Töten getrieben wurde? Nein. Jamey mag ihn bewundert haben, aber er war ein Individualist, jemand, den man nicht einfach programmieren kann. Er ist alles andere als eine Spielfigur.«

»Und wenn seine psychische Krankheit seine Individualität schwächte und er angreifbar wurde?«

»Manische Typen wie Chancellor machen sich an Willensschwache ran, Leute mit wenig Selbstbewusstsein, die Persönlichkeitsstörungen haben. Schizophrene lassen sie in Ruhe. Und wenn Jamey eine Psychose hatte, dann war er viel zu unberechenbar, um programmiert zu werden, glauben Sie nicht?«

Jennifer war brillant und hatte einen eigenen Kopf, sie brachte ihre Fragen außerdem mit jugendlichem Feuereifer vor.

»Du sprichst sehr wichtige Punkte an«, sagte ich, »ich wünschte nur, ich könnte deine Fragen beantworten.«

»Das erwarte ich doch gar nicht von Ihnen! Die Psychologie ist lange nicht wissenschaftlich genug, um präzise Antworten zu geben.«

»Stört dich das?«

»Es stört mich nicht, gerade das ist doch das Faszinierende an der Sache.«

Als Karen sah, dass ich mich auf Saritas Bürotür zubewegte, kam sie voller Entrüstung angelaufen, ihre Haltung war feindselig, »Ich dachte, Sie wollten sie heute nicht in Anspruch nehmen?«

»Ich müsste sie ein paar Kleinigkeiten fragen. Es wird nicht lange dauern.«

»Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen.«

»Vielen Dank, das ist nett, aber ich muss selbst mit ihr sprechen.«

Ihre Nüstern weiteten sich, sie kniff die Lippen zusammen. Ich wollte zur Tür, aber sie stellte sich davor. Nach einem Moment unangenehmen Schweigens glitt sie anmutig zur Seite, wandte sich um und ging. Ein Dritter hätte nicht erraten, was da vorging.

Auf mein Klopfen folgten das Quietschen und Rutschen der Reifen auf dem Vinylboden. Die Tür öffnete sich nach außen, Sarita ließ mich eintreten und schloss selbst die Tür. Sie rollte rückwärts, hielt hinter ihrem Schreibtisch, der über und über mit Computerausdrucken bedeckt war.

»Guten Morgen, Alex. Hat dich euer Treffen weitergebracht?«

»Das sind wirklich einsichtige Kinder.«

»Das sind sie wirklich.« Sie lächelte mütterlich. »Sie haben sich fantastisch entwickelt, zu richtigen Prachtexemplaren.«

»Das muss für dich ein echtes Erfolgserlebnis sein.«

»Ist es auch.«

Das Telefon klingelte. Sarita nahm den Hörer ab, sagte mehrmals Ja und legte lächelnd auf.

»Es war Karen. Sie sagt, dass sie dich gebeten hätte, mich nicht zu stören, weil ich viel zu tun habe. Du wärst einfach rücksichtslos hier reingegangen.«

»Eine echte Beschützerin.«

»Sie ist treu und anhänglich, was heute verdammt selten ist.« Sie rollte ein wenig zur Seite. »Sie ist ein beachtliches Mädchen. Sehr intelligent. Sie ist in Watts aufgewachsen, lief mit elf von zu Hause weg, fünf Jahre lang hat sie mehr oder weniger auf der Straße gelebt und Dinge gesehen und getan, von denen wir nicht mal träumen würden. Mit sechzehn gab sie sich einen Ruck, besuchte die Abendschule und schaffte in drei Jahren den High-School-Abschluss. Sie las in der Zeitung einen Artikel über mein Projekt, dachte, das sei vielleicht eine Chance für sie weiterzustudieren. Eines Morgens kam sie hierher und wollte sich testen lassen. Ihre Geschichte beeindruckte mich, und da sie mir intelligent erschien, stimmte ich zu. Sie schnitt sehr positiv ab, aber nicht gut genug, um angenommen zu werden. Ich fand es aber schade, sie laufen zu lassen, und so machte ich sie zur Forschungsassistentin. Nebenher studiert sie. Sie möchte nach Boalt oder Harvard, um Jura zu studieren. Das schafft sie sicher.« Sarita lächelte wieder und strich sich einen Fussel vom Kragen. »Wie kann ich dir helfen, Alex?«

»Ich möchte Gary Yamaguchi treffen, dazu brauche ich seine Adresse.«

Ihr Lächeln erlosch.

»Ich kann sie dir gerne geben, aber das wird nicht viel nützen. Im letzten halben Jahr hatte er keinen festen Wohnsitz.«

»Das weiß ich, aber ich werde mein Bestes versuchen.«

»Na gut«, sagte sie kalt. Sie rollte auf einen Schrank zu, öffnete ein Fach und zog einen Ordner heraus. »Hier, schreib sie dir ab.«

Ich nahm mein Notizbuch zur Hand. Bevor ich es öffnen konnte, begann sie, mir eilig eine Adresse zu diktieren, einen westlich vom Stadtzentrum gelegenen Ort, ein düsteres, heruntergekommenes Viertel, in dem zumeist illegale Einwanderer und Sozialfälle in Slums leben. Kleine Nähateliers und verrottete Bars prägen das Straßenbild. In den letzten Jahren hatten Künstler und Leute, die sich dafür hielten, sich dort illegal einquartiert, zumeist in ehemaligen Fabrikhallen.

»Danke, Sarita.«

»Was versprichst du dir von einer Unterredung mit ihm?«, fragte sie.

»Ich möchte so viel über Jamey wissen wie nur irgend möglich.«

»Mit ihm wirst du aber nicht weit kommen...«

Wieder ertönte das Telefon. Sie nahm den Hörer und sagte energisch: »Ja, bitte.« Während sie dem Anrufer lauschte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, sie sah nicht mehr verärgert aus, sondern erstaunt, schließlich geschockt.

»O nein, das ist ja furchtbar! Wann … ja, er ist hier. Ich sage es ihm.«

Sie legte den Hörer auf.

»Das war Souza, er rief vom Gefängnis aus an. Heute Morgen früh hat Jamey versucht, sich umzubringen. Souza will, dass du so schnell wie möglich hinfährst.«

Ich sprang auf und nahm mein Notizbuch.

»Ist er schwer verletzt?«

»Ich weiß nur, dass er noch am Leben ist.«

Sie rollte auf mich zu und wollte mich offenbar trösten und aufmuntern. Ich lief so schnell aus dem Zimmer, dass ich ihre Worte nicht mehr hören konnte.