20

Als ich nach Hause kam, richtete Robin in der Küche gerade einen Salat her; sie gab mir zur Begrüßung einen Kuss, der nach Sardellen und Knoblauch schmeckte.

»Hallo! Billys Manager hat angerufen und durchgegeben, dass Roland Oberheim morgen gegen drei für dich Zeit hat. Ich habe die Adresse auf deinen Nachttisch gelegt.«

»Wunderbar«, sagte ich teilnahmslos, »wenn du Billy mal wieder siehst, richte ihm meinen Dank aus.«

Sie sah mich spöttisch an.

»Alex, das Ganze war nicht einfach zu arrangieren, du könntest schon ein bisschen mehr Begeisterung zeigen.«

»Du hast Recht, es tut mir Leid.«

Sie wandte sich wieder dem Salat zu. »Hattest du einen schlimmen Tag?«

»Nur eine Vergnügungsfahrt durch die Slums.«

Ich erzählte ihr in Kurzfassung, was ich in den letzten zehn Stunden erlebt hatte.

Sie hörte mir zu, ohne zu unterbrechen, dann sagte sie:

»Gary scheint ja wirklich Schwierigkeiten zu haben.«

»Er ist von einem Extrem in das andere gefallen. Vor fünf Jahren war er genauso ordentlich, zwanghaft fleißig und zielstrebig, wie er jetzt rebellisch ist. Er wendet alle Kraft dafür auf, seinen Nihilismus zu kultivieren.«

Robin zog eine Augenbraue hoch.

»Nach dem, was du über seine Bilder erzählst, scheint er immer noch zwanghaft fleißig zu sein. Solche Bilder und Skulpturen wollen gründlich durchdacht und bis ins Detail geplant sein, und man muss handwerklich sehr sorgfältig vorgehen.«

»Da hast du Recht. Die Szene, die ich gesehen habe, soll schockieren, aber es herrscht eine gewisse Ordnung. Fast glaubte ich, ein Ritual vor mir zu haben.«

Robin lächelte.

»Das kenne ich. Es ist typisch japanisch. Als ich letztes Jahr in Tokio war, sah ich Straßentänzer, Jugendbanden, die angezogen waren wie die Halbstarken der Fünfzigerjahre. Sie nennen sich Zoku, Stämme. Es gibt mehrere rivalisierende Gruppen, jede von ihnen steckt sich sonntagnachmittags ein eigenes Terrain im Yoyogi Park ab. Sie kommen daher in schwarzen Lederanzügen, stellen sich zur Schau, grinsen und führen zynische Reden, lassen Knallkörper explodieren und tanzen zu kultischer Musik. Die ältere Generation ist schockiert, aber das ist ja auch der Sinn der Sache. Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass ihr Verhalten alles andere ist als spontan. Alle Tänze, jede kleinste Bewegung, sind festgelegt. Abweichungen von den vorgeschriebenen Gesten gibt es nicht. Keinerlei Individualität. Sie haben aus ihrer Rebellion ein Shinto-Ritual gemacht.«

Ich musste an Garys Abschiedsmonolog über sein zukünftiges Leben in Middleville denken. Im Rückblick erschien es mir wie ein Kirchengesang.

Jetzt nahm Robin ein Salatblatt aus der Schüssel und probierte, dann spritzte sie einige Tropfen Zitrone hinein. Ich saß am Küchentisch, krempelte meine Hemdsärmel hoch und starrte auf die Tischplatte.

»Worüber machst du dir Sorgen, Liebling? Du wirkst so beunruhigt.«

»Ich dachte gerade darüber nach, wie seltsam es ist, dass zwei von sechs Kindern aus dem Projekt solche psychischen Schäden haben.«

Robin setzte sich mir gegenüber und nahm meine Hand.

»Vielleicht ist Gary überhaupt nicht geschädigt, sondern nur in einer Art Identitätskrise, und wenn du ihn das nächste Mal triffst, ist er schon Mitglied des California Institute of Technology.«

»Das glaube ich nicht. Er hat einen Fatalismus an den Tag gelegt, der mich wirklich erschreckte. Es war, als ob es ihm völlig egal sei, ob er lebt oder stirbt. Er zeigte keinerlei Gefühl oder Anteilnahme, das ist mehr als Rebellion. Weißt du, Robin, alle beide, Jamey und Gary, sind von erstaunlicher Intelligenz, und doch sind sie mir nichts, dir nichts aus der Bahn geworfen worden.«

»Und damit wäre die alte Theorie, dass Genie und Wahnsinn zusammengehören, wieder einmal bestätigt.«

»Nach allen neueren Forschungen ist sie falsch. Man hat sogar herausgefunden, dass Leute mit besonderer Intelligenz große seelische Stabilität besitzen. Die Versuchspersonen waren allerdings durchweg Leute mit einem IQ von hundertdreißig bis hundertundvierzig, also herausragend, aber durchaus noch innerhalb der Norm. Die Jugendlichen aus dem Projekt 160 sind anders. Ein Dreijähriger, der Griechisch übersetzen kann, ein sechs Monate altes Baby, das in Sätzen redet, solche Dinge sind fast Furcht erregend. Im Mittelalter glaubte man, dass Genies von Dämonen besessen sind. Heute halten wir uns für aufgeklärt, aber vor großer Intelligenz haben wir trotzdem Angst. Wir isolieren solche Menschen, stellen sie ins Abseits. Genau das ist mit Jamey geschehen. Sein eigener Vater hat ihn als eine Art Monster angesehen. Er misstraute ihm, dann ließ er ihn im Stich. Dutzende von Kindermädchen gaben einander die Tür in die Hand. Seine Tante und sein Onkel brüsten sich mit ihren Wohltaten, trotzdem ist deutlich herauszuhören, dass sie sich über seine Anwesenheit in ihrem Haus ärgerten.«

Robin hörte aufmerksam zu. Ich redete immer weiter, dachte laut vor mich hin.

»Irgendeiner hat mal gesagt, dass die Geschichte der Zivilisation Geschichte der Genies ist; die Begabten schaffen Dinge, die anderen ahmen es nach. Es gibt eine Menge Wunderkinder, die auch als Erwachsene große Leistungen vollbringen. Aber viele verzehren sich schon in ihrer Jugend. Entscheidend für ihre Entwicklung ist wohl, welche Förderung und Unterstützung Kinder von ihren Eltern erhalten. Ein überbegabtes Kind zu erziehen verlangt eine Menge Einfühlungsvermögen. Manche Kinder haben Glück, Jamey hatte keins. Ende des Vortrags.«

Robin nahm meine Hand und sah mich besorgt an:

»Was bedrückt dich wirklich, Alex?«

Eine ganze Weile antwortete ich nichts, dann begann ich zu sprechen, es fiel mir jedoch schwer:

»Als Jamey vor fünf Jahren an meine Tür klopfte, suchte er verzweifelt nach einem Vater. Die Zeit, die wir miteinander verbrachten, und unsere gemeinsamen Erlebnisse müssen ihm die Illusion vermittelt haben, dass er endlich einen gefunden hatte. Es ist dann so eine Art romantischer Zuneigung entstanden, und als er sie zum Ausdruck brachte, stieß ich ihn zurück. Das war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Wäre ich besser mit ihm umgegangen, wäre sicher alles anders gelaufen.«

»Du konntest das nicht voraussehen, Alex. Niemand hätte es anders gemacht.«

»Als gelernter Psychologe hätte ich besser reagieren müssen.«

»Du warst an dem Projekt nur zeitweilig beteiligt und hast es auch nicht geleitet. Was ist denn mit Sarita Flowers, die die Verantwortung hatte? Zwei von sechs Kindern sind ausgeflippt, wirft das nicht ein Licht auf ihre Fähigkeiten?«

»Sarita ist eher Technikerin als Psychologin, aber sie macht keinerlei Hehl daraus. Deshalb hat sie mich ja ins Projekt geholt. Ich sollte mich um das seelische Gleichgewicht der Kinder kümmern. Aber ich war einfach zu naiv. Ich hielt meine Gesprächsgruppen ab und bildete mir ein, das Wichtigste sei damit getan.«

»Du bist zu streng mit dir«, sagte Robin und ließ meine Hand los. Sie stand auf, machte sich wieder an den Salat und holte zwei Steaks aus dem Kühlschrank. Ich sah ihr zu, wie sie geschickt das Fleisch zurechtschnitt und würzte.

»Alex, Jameys Schwierigkeiten begannen schon lange, bevor das Projekt ins Leben gerufen wurde. Die Gründe dafür hast du mir selbst genannt. Es ist einfach unlogisch, zu glauben, dass dieser eine Vorfall für Jameys Entwicklung so entscheidend war. Du hast dich von all diesen schrecklichen Dingen zu sehr beeindrucken lassen und hast deinen klaren Blick verloren. Souza hat dir einen Gefallen getan, als er dich entließ. Sieh doch darin auch einen Vorteil.«

»Vielleicht hast du Recht«, sagte ich, mehr um auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen als aus Überzeugung.

Den größten Teil des nächsten Vormittags verbrachte ich damit, Kliniken und Pflegevermittlungen anzurufen. Marthe Brown war nicht aufzufinden, aber Andrea Vann war bei der neunten Agentur, die ich anrief, unter Vertrag. Ich sprach mit dem Telefondienst und ließ mich zum Direktor durchstellen, einem Mann namens Tubbs, der Stimme nach zu urteilen, ein älterer Mann. Er hatte einen leichten Karibik-Akzent. Als ich nach Mrs. Vanns Adresse fragte, klang seine Stimme plötzlich reserviert.

»Wie war Ihr Name, bitte?«

»Dr. Guy Mainwaring«, sagte ich in blasiertem Ton, »medizinischer Leiter der Canyon Oaks-Klinik in Agoura.«

Bedeutsames Schweigen.

»O ja«, sagte er plötzlich servil, da er offensichtlich einen wichtigen Kunden nicht verprellen wollte. »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber wir haben die Datenschutzregeln einzuhalten.«

»Das verstehe ich sehr gut«, sagte ich ungeduldig, »aber das spielt jetzt wirklich keine Rolle. Mrs. Vann hat bis vor kurzem bei uns gearbeitet, und ich vermute, dass das in Ihren Unterlagen vermerkt ist.«

Er konnte unmöglich die Akten zur Hand haben, trotzdem sagte er: »Aber natürlich.«

»Unsere Personalabteilung hat mich informiert, dass sie noch eine Entschädigung für ungenutzte Ferientage zu bekommen hat. Wir haben ihr den Scheck nach Hause geschickt, aber er kam zurück, weil die Adresse nicht stimmte. Mein Sekretariat hat deshalb schon letzte Woche mit Ihnen telefoniert, und man hatte uns einen Rückruf zugesagt, der jedoch bisher noch nicht erfolgt ist.«

»Ich werde der Sache nachgehen.«

»Das brauchen Sie nicht, ich habe mich entschlossen, selber anzurufen, sozusagen über den heißen Draht.«

»Natürlich. Möchten Sie auch ihre Telefonnummer, Doktor?«

»Das könnte mir weiterhelfen.«

Er ließ mich einige Minuten warten, dann teilte er mir Folgendes mit:

»Doktor, Mrs. Vann hat uns in der letzten Woche mit einer Stellenvermittlung beauftragt. Wir haben zwei Teilzeitjobs für sie gefunden, aber sie hat nicht wieder angerufen, und wir haben sie auch nicht erreichen können.«

»Typisch«, seufzte ich, »eine so intelligente und fähige Person, aber leider neigt sie dazu, plötzlich mir nichts, dir nichts zu verschwinden.«

»Gut, dass ich das weiß«, sagte er grantig.

»Sicherlich. Um auf die Adresse zurückzukommen …«, ich raschelte mit Papier. »Nach unseren Unterlagen lebt sie in Colfax, Nord-Hollywood.«

»Nein, bei uns ist sie unter Panorama City verzeichnet.«

Dann gab er mir die Information, die ich suchte. Ihr Telefon war abgemeldet.

Die Fahrt über den Freeway in den unteren Teil des Valley dauerte fünfundzwanzig Minuten. Die Adresse, die Tubbs mir gegeben hatte, lag in der Cantaloupe Street in einer Siedlung mit dreistöckigen Apartmenthäusern aus den Fünfzigerjahren - rhombusförmig und seltsam bunt gestrichen. Das Gebäude, das ich suchte, war zitronengelb mit grauen Schmutzflecken. Ich ging durch einen Torbogen und blickte in einen Innenhof mit Swimmingpool. In grüner Frakturschrift stand über dem Tor Cantaloupe Arms, was bei mir Assoziationen hervorrief, von denen mir ganz schwindelig wurde. Vorne sah ich ein mickriges Beet mit Kakteen, aus dessen Mitte ein wasserloser Springbrunnen aus Gips herausragte. Ein betonierter Weg führte an den Pflanzen vorbei zum Eingang.

Das Gebäude besaß keine Hausmeisterloge, aber gleich rechts vom Eingang waren Briefkästen aus Messing angebracht, von denen die meisten mit Namen versehen waren. Den von mir gesuchten Namen fand ich nirgendwo. Die Briefschlitze der Wohnungen 7 und 15 waren nicht beschriftet. Ich ging in den Innenhof hinein, um mir die Rückseite des Gebäudes anzusehen. Alle Wohnungen hatten Fenster, die auf das trübe Wasser des nierenförmigen Swimmingpools hinausgingen, alle hatten einen separaten Eingang. Die Türen waren olivgrün gestrichen, Geländer in der gleichen Farbe säumten die Außenf lure. Das Apartment Nr. 7 lag im Erdgeschoss. Ich klopfte an die Tür, aber niemand antwortete. Durch die Vorhänge erkannte ich ein kleines leer stehendes Wohnzimmer und hinter einer Abtrennung aus Sperrholz eine kleine, fensterlose Küche. Offensichtlich wohnte niemand dort. Ich nahm die Treppe zum Apartment Nr. 15, das sich im ersten Stock befand. Wieder klopfte ich, diesmal mit Erfolg. Die Tür ging auf, und eine kleine, noch ein wenig verschlafene zierliche Frau von etwa fünfundzwanzig steckte lächelnd den Kopf heraus. Sie hatte ein spitzes, katzenähnliches Gesicht, trug kurze, locker gehäkelte Shorts und ein enges Top aus Nickistoff, unter dem voluminöse Brüste zu sehen waren. Ihre Brustwarzen waren so groß wie Perlzwiebeln. Aus dem Apartment drangen der Duft nach schwerem Parfüm, Kaffee sowie der liebliche Refrain eines Songs von Barry Manilow. Über eine Schulter der Dame sah ich ein rotes Plüschsofa und zwei kleine Tische mit schmiedeeisernen Beinen. An der Wand hingen ein Bild mit Tierkreiszeichen und ein billiges Ölgemälde, ein hingebungsvoll daliegender Akt, der gewisse Ähnlichkeit mit der Frau in der Tür hatte.

»Hallo«, sagte sie mit ein wenig rauchiger Stimme, »du bist sicher Tom. Du kommst ein bisschen früh, aber das ist ganz toll.«

Sie kam näher und berührte meinen Bizeps.

»Du brauchst nicht schüchtern zu sein«, sagte sie mit Nachdruck. »Komm rein, dann machen wir eine schöne kleine Orgie.«

»Entschuldigung«, sagte ich, »falsche Nummer.«

Die Hand glitt von meinem Arm, ihr Gesichtsausdruck wurde finster, sodass sie zehn Jahre älter wirkte.

»Ich suche Andrea Vann«, erklärte ich ihr.

Sie ging schnell ein paar Schritte zurück und verschwand in der Tür. Im letzten Moment stellte ich meinen Fuß dazwischen.

»Was zum Teufel …«, sagte sie.

»Warten Sie einen Moment.«

»Hören Sie mal zu, Mister, ich habe eine Verabredung.«

Eine Autotür wurde zugeschlagen, und sie machte einen Hüpfer. »Das könnte er sein. Los, hauen Sie endlich ab!«

»Andrea Vann, eine Krankenschwester, dunkel, gut aussehend.«

Sie biss sich auf die Lippen.

»Große Brüste und ein dunkelhaariges Kind?«

Mir fiel zum Glück ein, dass mir Mrs. Vann erzählt hatte, meine Vorlesungen hätten ihr geholfen, Einschlafprobleme bei ihrem Sohn zu lösen.

»Stimmt«, sagte ich.

»Unten.«

»In welcher Wohnung?«

»Ich weiß nicht, eine von denen auf der Seite da.«

Sie zeigte mit einem überlangen Fingernagel in Richtung Norden. Vom Hof her hörte man Schritte. Die Blonde erschrak und lehnte sich gegen die Tür.

»Los, jetzt reicht’s, da kommt er, machen Sie mir nicht mein Geschäft kaputt, Mister.«

Ich trat zurück, und die Tür fiel ins Schloss. Ich ging auf die Treppe zu und begegnete einem Mann, der gerade heraufkam; er war jung, schmächtig, trug Jeans und ein blaues Hemd mit der Aufschrift »Tom« über der einen Brusttasche. Er hatte einen Bart und hielt eine Papiertüte im Arm. Er wich meinem Blick aus, als er an mir vorbeiging.

Ich ging zurück zum Apartment Nr. 7, starrte wieder in das leere Wohnzimmer und fragte mich, was ich jetzt tun könnte. Da hörte ich plötzlich eine schrille Frauenstimme hinter mir, die fragte:

»Was suchen Sie?«

Ich wandte mich um und sah eine alte Frau mit einem gesteppten rosa Hausmantel und einem Haarnetz in der gleichen Farbe. Das Haar darunter sah aus wie ein zinnfarbener Helm und passte zu ihrer sonstigen Erscheinung. Sie war klein und hager, hatte einen schiefen Mund, herabhängende Wangen, ein spitzes Kinn und blaue Augen, die mich argwöhnisch ansahen.

»Ich suche Mrs. Vann.«

»Sind Sie ein Verwandter?«

»Ich bin ein Freund.«

»Ein so guter Freund, dass Sie ihre Schulden bezahlen?«

»Wie viel schuldet sie Ihnen denn?«

»Drei Monate hat sie schon keine Miete mehr gezahlt. Hielt mich immer wieder hin mit fadenscheinigen Entschuldigungen: Das Kindergeld käme zu spät, sie hätte Arztrechnungen und lauter solches Zeug. Ich hätte mich darauf gar nicht erst einlassen sollen. Aber ich habe es ihr immer wieder gestundet. Und das ist der Dank.«

»Wie hoch ist die Miete für drei Monate?«

Sie rückte ihr Haarnetz zurecht und zwinkerte mit den Augen.

»Also, um ehrlich zu sein: Ich habe noch die Kaution, die ist zwar nicht hoch, aber sie deckt anderthalb Monatsmieten ab. Es bleiben noch siebenhundertfünfzig. Glauben Sie, dass Sie so eine Summe für sie bezahlen würden?«

»Ach Gott«, sagte ich, »da sitzen wir beide im selben Boot. Sie hat sich bei mir Geld geliehen, ich bin eigentlich hier, um es abzuholen.«

»Na, das ist ja toll«, schnaubte sie. »Was für eine Hilfe.« Wieder zwinkerte sie mir zu.

»Wann ist sie weggegangen?«

»Letzte Woche. Schlich sich mitten in der Nacht davon wie ein Dieb. Ich habe es nur deshalb gemerkt, weil zu so später Stunde ihre Hupe losging. Sie saß in ihrem Wagen, redete mit irgendwelchen Nichtsnutzen und lehnte über dem Steuer, sodass die Hupe losging. Sie tat, als wäre nichts Besonderes dabei. Als sie mich sah, erschrak sie, machte ein schuldbewusstes Gesicht und raste davon. Was mich besonders überraschte, war, dass sie einen neuen Wagen hatte. Ihre alte Mühle hatte sie abgeschafft und sich einen spritzigen kleinen Mustang gekauft. Dafür hatte sie Geld, aber nicht für meine Miete. Wie viel schuldet sie Ihnen denn?«

»Eine ganze Menge«, sagte ich brummig. »Haben Sie eine Ahnung, wo sie hin ist?«

»Schätzchen, glauben Sie, ich würde mit Ihnen reden, wenn ich das wüsste?«

Ich musste lächeln.

»Kennen die anderen Mieter sie?«

»Nein. Wenn Sie ein Freund von ihr sind, müssen Sie der einzige sein. Sie hat in dem halben Jahr, in dem sie hier wohnte, nie mit jemandem gesprochen und auch keinen Besuch empfangen. Natürlich arbeitete sie nachts und schlief tagsüber, vielleicht lag es auch daran. Ich habe mich trotzdem immer gefragt, ob mit ihr etwas nicht stimmt. Sie sah so gut aus und war doch so isoliert.«

»Wissen Sie, wo sie ihre Arbeitsstelle hatte, als sie auszog?«

»Nirgendwo. Ich habe es daran gemerkt, dass sie nicht mehr wie immer morgens das Kind zur Schule brachte, dann den Tag über schlief, das Kind abends wieder abholte und zur Arbeit hetzte. Armes Schlüsselkind, wenn sie mich fragen, so darf man Kinder wirklich nicht erziehen, aber das machen sie heute ja alle so. Manchmal fragte sie mich, ob ich auf das Kind aufpassen könnte, ab und zu habe ich ihm einen Keks geschenkt. Vor ein paar Wochen wurde alles anders. Das Kind blieb mit ihr zu Hause. Gegen Mittag fuhr sie weg und nahm es mit. Erst dachte ich, der Junge sei krank, aber danach sah er gar nicht aus. Vielleicht hatte sie auch Ferien. Ich hätte ahnen können, dass sie bald nicht mehr zahlen würde, wo sie doch nicht mehr arbeitete. Aber so geht’s einem, wenn man zu vertrauensselig ist. Stimmt’s?«

Ich nickte verständnisvoll.

»Das Verrückte ist, dass ich das Mädchen mochte. Sie war ruhig, aber irgendwo schon ganz schön tüchtig. Zog das Kind ganz alleine groß. Das mit dem Geld hätte mir ja nichts ausgemacht, der Besitzer ist ein fetter Kater und braucht nicht um seine Existenz zu bangen. Die Lügerei kann ich nicht ausstehen, irgendwas zu erzählen, nur um davon zu profitieren.«

»Ich kann Sie gut verstehen.«

»Und was mich am meisten ärgert«, fuhr sie fort und stemmte die Hände in die Hüften, »ist dieser kleine Flitzer von Auto.«

Ich fuhr auf dem Freeway zurück und überlegte, weshalb Andrea Vann wohl so plötzlich verschwunden war. Dass sie bei Tubbs’ Agentur um eine Stellenvermittlung nachgesucht hatte, wies eigentlich darauf hin, dass sie die Absicht hatte, in Los Angeles zu bleiben. Irgendetwas musste geschehen sein, das sie veranlasst hatte, mitten in der Nacht Hals über Kopf ihre Sachen zu packen. Ob das etwas mit Jamey zu tun hatte oder nicht, war schwer zu sagen. Eine junge allein stehende Mutter hatte Grund genug, in Panik zu geraten und die Stadt zu verlassen. Aber der einzige Weg, herauszufinden, was wirklich geschehen war, war, mit der Dame selbst zu sprechen, wo aber konnte ich sie finden?

Ich nahm die Ausfahrt Laurel Canyon und fuhr dann in südlicher Richtung nach Hollywood. Roland Oberheims Büro war in La Brea, südlich vom Santa Monica Boulevard. Das Gebäude, ein zweistöckiges Bürohaus, war von Zedern umgeben. In der ersten Etage war ein Aufnahmestudio untergebracht. Über eine Außentreppe und durch einen separaten Eingang gelangte man in den zweiten Stock, in dem die Büros von drei Schallplattenfirmen lagen: Joyful Noise Records, eine Filiale des Christlichen Musikfunks, die Druckmann-Gruppe: eine Managerfirma für Musiker; am Ende des mit Kork tapezierten Flurs las ich auf einer Tür die Aufschrift: Anavrin Productions, R. Oberheim, Direktor.

Anavrin bestand aus einem Warteraum und einem Büro. Das Vorzimmer war mit zwanzig Jahre alten psychedelischen Postern dekoriert, die Big Blue Nirvana in mehreren Konzerten im ganzen Land zeigten. Die Zwischenräume waren mit gerahmten Fotos behängt, auf denen mir unbekannte Bands mit mürrischen Gesichtern zu sehen waren. Das Mädchen, das hinter der Empfangsloge saß, trug einen grellrosa Hosenanzug. Sie hatte kurzes, dauergewelltes Haar und kräftige Unterkiefer, die rhythmische Kaubewegungen ausführten, während sie unter ständigem Bewegen ihrer Lippen Billboard las. Als ich den Raum betrat, machte sie ein Gesicht, als sei ich der erste Mensch, dem sie in diesem Jahr begegnete.

»Ich bin Dr. Alex Delaware und würde gern Mr. Oberheim sprechen.«

»Okay«, sagte sie lang gezogen. Sie legte ihre Illustrierte weg, stand auf und ging hoch aufgerichtet die wenigen Stufen zum Büro hinauf. Sie öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, und rief nach drinnen:

»Rolly, da ist so ein Typ namens Alex für dich.«

Als Antwort hörte ich nur ein Murmeln. Sie wies mit dem Daumen auf die Bürotür und sagte: »Gehen Sie rein.«

Ich betrat einen kleinen, fensterlosen Raum mit dunkelbraunen Wänden, einem Eichenfußboden und sechs naturfarbenen Kissen. Möbel gab es dort nicht. Oberheim saß im Yogasitz auf einem der Kissen, hielt die Hände auf den Knien und rauchte eine Beedie.

Oberhalb seines Kopfes hing eine goldene Single-Platte an der Wand, die wie ein Heiligenschein wirkte. Sonst gab es überall psychedelische Poster, ein Ziegenfell und in einer Ecke eine riesige Wasserpfeife. Auf Regalen waren meterweise Langspielplatten zu sehen und eine hypermoderne Stereoanlage. Auf dem Ziegenfell lag eine Bassgitarre.

»Mr. Oberheim, ich bin Alex Delaware.«

»Rolly O.« Er wies auf den Fußboden. »Nehmen Sie Platz.«

Ich hockte mich ihm gegenüber.

»Rauchen Sie?«

»Nein, danke.«

Er nahm einen tiefen Lungenzug und blies den Rauch nicht aus. Schließlich kam ein dünner, feiner, bitterer Rauchfaden heraus, der sein Gesicht, bis er sich auflöste, wächsern aussehen ließ.

Es war nicht besonders ansehnlich, grob, mit dicken Wangen und großporiger Haut; zwischen seine kleinen Augen zwängte sich eine rosa Knollennase. Sein Kinn war narbig, der Mund unter einem großen Schnurrbart versteckt. Er war kahl wie ein Ei mit Ausnahme einer grauen Strähne, die von einer Schläfe bis zur Schulter reichte. Er trug ein verwaschenes schwarzes Big Blue Nirvana-T-Shirt mit einem aufgenähten Gitarrenemblem und eine blaue Chirurgenhose.

Er sah zu mir herüber, blinzelte durch den Rauch.

»Sie sind ein Freund von Billy, nicht?«

»Eher ein Bekannter. Meine Verlobte baut seine Gitarren.«

»O ja«, rief er, »Raumschiffe, Eis am Stiel und sechssaitige Ersatzpimmel.«

»Ersatzpimmel habe ich bisher noch nicht gesehen.« Ich grinste.

»Sie werden es noch sehen. Darauf läuft doch alles hinaus. Weg von der Substanz, immer mehr Stilisierung. Auf einem Penis herumklimpern, Platinsaiten schlagen. Billy ist ein ausgekochter Geschäftsmann und weiß, worauf es ankommt.«

Er nickte in Selbstbestätigung.

»Tatsache ist, dass heutzutage der Stil keinen Stil mehr hat. Zwei Saiten auf einem Synthesizer und eine Menge schmutziger Parolen. Nicht dass mir das was ausmachte, ich habe selbst auch unanständiges Zeug gesungen, aber das muss doch eine Bedeutung haben, auch das Unanständige, irgendeine Story muss dranhängen. Das da ist nicht gut genug, um meine Großmutter zu provozieren.«

Er massierte sich den Bauch und nahm eine neue Beedie.

»Na, tut nichts zur Sache. Billy ist ein ordentlicher Kerl, der Junge kann auch ganz normal sein, wenn er will.« Er hustete. »Ihre Freundin macht also seine Spielzeuge, muss ein interessantes Mädchen sein.«

»Ist sie auch.«

»Vielleicht sollte ich mir auch mal so ein Ding machen lassen, aber mit vier Saiten.«

Er tat, als hielte er eine Bassgitarre im Arm, und bewegte seine Finger wie auf dem Griffbrett.

»Boom da boom, chukka boom, chukka boom. Riesiger alter pelziger Pimmel mit einer schweren Resonanz. Was halten Sie davon?«

»Es gibt da eine Menge Möglichkeiten.«

»Klar. Ich hätte mal achtundsechzig im Cow Palace so einen haben sollen.«

Er begann, in einem schrägen Falsett zu summen. »Boom da boom. Hier bin ich, Mama, prachtvoll schön und jederzeit bereit. Können Sie sich vorstellen, wie da die kleinen Mädchen vor Begeisterung quietschen?« Er rauchte seine Zigarette zu Ende und legte sie in einen Keramikaschenbecher.

»Seelenklempner, was? Kennen Sie Tim Leary?«

»Ich bin ihm einmal auf einem Kongress begegnet. Es ist Jahre her, ich war noch Student.«

»Was halten Sie von ihm?«

»Ist ein interessanter Typ.«

»Der Mann ist ein Genie, der Pionier des Bewusstseins.«

Er sah mich zustimmungsheischend an. Ich lächelte unverbindlich. Er kreuzte wieder seine Beine und legte die Arme über die Brust.

»Also, Alexander der Großmütige, was möchten Sie wissen?«

»Billy erzählte mir, dass Sie alle Leute auf dem Haight kennen.«

»Das ist übertrieben« - er strahlte -, »ein bisschen wenigstens. Es war eine irre Szene, alle wie eine große Familie, fließende Grenzen. Rolly war einer der Väter.«

»Ich versuche alles, was irgend möglich ist, über zwei Leute herauszufinden, die in den Sechzigerjahren auf dem Haight lebten. Peter Cadmus und Margaret Norton. Sie wurde auch Margo Sunshine genannt.«

Ich hatte gehofft, ihn durch die Erwähnung der Namen gleich auf die Spur zu bringen, aber sein Lächeln verschwand, und sein Gesicht wurde finster.

»Sie reden von zwei Toten.«

»Kannten Sie sie persönlich?«

»Warum fragen Sie danach?«

Ich erzählte ihm von meiner Bekanntschaft mit Jamey und von Souzas Auftrag. Dass ich geflogen war, verschwieg ich ihm.

»Ja, ich müsste sie kennen. Ich habe in der Zeitung von dem Jungen gelesen. Eine üble Sache. Was haben Sie vor? Wollen Sie rauskriegen, dass seine Eltern LSD nahmen und er deshalb nicht für die Morde verantwortlich ist, geschädigtes Erbgut und so? Hexenjagd auf Marihuanasüchtige à la McCarthy?«

»Nichts dergleichen. Ich möchte nur herausfinden, was für Menschen sie waren, wie sie lebten, damit ich ihn besser verstehen kann.«

»Wie sie waren? Oh, sie waren wunderschön. Sie waren Teil einer wunderschönen Zeit.«

Er nahm eine Packung Beedies, legte sie aber sogleich zurück. Aus einem Lederbeutel zog er einen Marihuana-Joint, zündete ihn beinahe liebevoll an, schloss die Augen, atmete eine Marihuanawolke ein und lächelte.

»Tot sind sie«, sagte er nach einer Weile. »Wenn ich ihre Namen höre, muss ich mich furchtbar anstrengen. Reise zurück in die Vergangenheit, das reinste Gehirnvideo.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich mich darauf einlassen soll.«

»Hatten Sie näher mit ihnen zu tun?«

Er sah mich mitleidig an.

»Es gab nicht näher oder ferner. Jeder war jeder. Ein einziges großes, kollektives Bewusstsein. Wie bei Jung. Friedvoll, wunderschön. Niemand tat einem anderen etwas zuleide, denn damit hätte er nur sich selbst verletzt.«

Als junger Student hatte ich in San Francisco im Bob Hopkins einen Job als Gitarrist in einer Tanzkapelle. Es war die große Zeit der Flower Power, und ich besuchte öfter den riesigen Kräutermarkt der Hippies in Haight Ashbury. Auf den Straßen wimmelte es von sozialen Außenseitern: Rockern mit Kindergesichtern, Huren, Zuhältern und anderen Randexistenzen. Es kam mir vor wie eine Suppe voller seltsamer Zutaten, die allzu leicht überkochen und gefährlich werden konnte, alle Reden von Liebe und Frieden erschienen mir als von Drogen hervorgerufene Illusionen.

Ich sagte nichts davon, denn ich wollte, dass Oberheim ungestört seine Erinnerungen ausgraben konnte. Ich fragte ihn, wie die Gruppe geheißen hatte, in der Peter und Margo lebten.

»Sie lebten in einer Gemeinschaft, die sich Swine Club nannte. Eine ganze Reihe hübscher Leute. Sie lebten in einem uralten Haus ganz in der Nähe von Ashbury und gaben Konzerte unter freiem Himmel im Park. Sie kochten Gemüse und Reis in Riesenmengen und verteilten es unter die Leute, niemand musste bezahlen. Das waren Massenpartys, Be-ins. Nirvana spielte dort und Big Brother und Quicksilver und The Dead. Ein einziges Rockfestival, Tag um Tag, Nacht für Nacht. Es war überhaupt jeder dort. Sogar die Angles nahmen daran teil. Die Leute sprangen auf, rissen sich die Kleider herunter und tanzten. Die kleine Margo war die Wildeste von allen. Sie hatte einen Körper wie eine Schlange, wissen Sie.«

Er nahm einen tiefen Zug, und ein Viertel seines Joints glühte. Als er schließlich ausatmete, sah man keinerlei Rauch, sondern hörte nur ein trockenes Husten. Er leckte seinen Schnurrbart und lächelte.

»Was für ein Junge war Peter?«, fragte ich.

»Unwahrscheinlich schön. Wir nannten ihn Peter the Cad{4}. Er war ein irrer Typ, eine Art Errol Flynn, ein verdammt fescher Musketier. Dunkel, wild und wunderbar gefährlich. Er war zu allem bereit, scheute keinerlei Risiko.«

»Von welchen Risiken sprechen Sie?«

»Er probierte sein Gleichgewichtsorgan aus. Er stand auf einer Klippe, hielt ein Bein über den Abgrund und schwankte. Er wollte wissen, wie weit er es treiben konnte. Er war eine Art Bewusstseinspionier wie Dr. Tim Leary.«

Er dachte einen Moment nach und nahm einen Zug.

»Machte Margo auch solche Spielchen?«

Er lächelte selig.

»Margo war sanft, wunderschön. Sie teilte alles mit anderen. Sie konnte die ganze Nacht zu einer Trommel und einem Tamburin Boogie tanzen. Wie eine Zigeunerin, ganz geheimnisvoll.«

Oberheim rauchte noch zwei weitere Joints, bevor die Droge Wirkung zeigte. Er redete nun ununterbrochen, aber er assoziierte frei, sprach unzusammenhängend und wirr. Er erzählte von Konzerten, die vor zwanzig Jahren stattgefunden hatten; er betonte, wie wenig gutes Dope es gäbe, da die »Bewusstseinspolizei«, wie er sie nannte, die Felder mit Gift besprüht hätte. Dann sagte er, er wolle die Leute von Big Blue Nirvana wieder zusammenholen, um noch mal gemeinsam aufzutreten.

»Nur Dawg, den lassen wir draußen. Er arbeitet als korrupter Anwalt bei MGM. Da halte ich mich lieber raus.«

Mit alldem konnte ich nicht das Geringste anfangen.

Ich saß da und versuchte, einzelne Informationsfetzen über Peter und Margo zusammenzutragen, aber er wiederholte immer wieder, wie schön sie gewesen seien, dann verfiel er in seine schwärmerischen Reden über die guten alten Zeiten, denen er Schimpftiraden über die Herzlosigkeit der heutigen Musikszene folgen ließ.

»Hundert Dollar bezahlen die Leute, um Duran Duran zu sehen; in unserer beschissenen Gesellschaft fressen ehrliche Bluesspieler aus Mülleimern.«

Als der dritte Joint erloschen war, öffnete Oberheim den Mund und schluckte den Stummel herunter.

»Rolly, hat Peter je Besuch von seinem Vater bekommen?«

»Nein.«

»Und was ist mit Margos Schwangerschaft? Erinnern Sie sich daran?«

»Ich weiß nur noch, dass es ihr schlecht ging. Sie versuchte zu tanzen, aber nach ein paar Sekunden wurde sie grün im Gesicht und schwankte.«

»Wie dachten sie und Peter über die Schwangerschaft?«

»Dachten?«, murmelte er, dann ließ er den Kopf sinken.

»Ich meine, was hielten sie davon, waren sie glücklich?«

»Klar.« Seine Wimpern zuckten. »Es war eine glückliche Zeit, abgesehen vom Krieg und davon, dass LBJ alle Leute dorthin schicken wollte, war es immer ungeheuer lustig.«

Ich versuchte es aufs Neue.

»Sie sagten, dass die Angles bei den Konzerten des Swine Club dabei waren.«

»Ja, das waren irre Typen. Das war, bevor Jagger diesen Scheiß in Altamont aufzog.«

»Hatten Peter und Margo etwas mit den Angles oder anderen Rockgruppen zu tun?«

Er gähnte und schüttelte den Kopf. »Es gab keine besonderen Freundschaften. Alle waren gleich.«

»Hatten sie etwas mit Rockern zu tun?«

Er antwortete mit einem Seufzen.

»Rolly, Sie sagten, Peter wäre ein Mensch voller Lebenslust gewesen.«

»Er lebte, um zu leben.«

»Gut, aber ein paar Jahre später hat er Selbstmord begangen. Wie konnte das passieren?«

Plötzlich wurde er wach. Er öffnete die Augen und blitzte mich böse an.

»Quatsch! Das war doch kein Selbstmord!« Sein Kopf fiel herab wie der eines Spielzeughundes, dessen Batterie abgelaufen ist.

»Was meinen Sie damit?«

»Das gibt es nicht«, sagte er und flüsterte verschwörerisch. »Das ist ein verdammter Betrug. Das Establishment benutzt ihn dazu, um Rocker und tolle Stars, die von allen verehrt werden, zu Versagern zu machen. Janis, Jimi, Morrison, the Bear. Janis hat sich nicht umgebracht, sie starb aus Lebensangst. Jimi hat sich nicht umgebracht, die Regierung hat ihn mit einer Art Napalm getötet, weil er zu viel wusste und sie ihm das Maul stopfen wollten. Morrison und the Bear sind nicht tot. Und Buddy Holly ist mit ihnen zusammen. Wahrscheinlich feiern sie gerade eine Orgie auf irgendeiner griechischen Insel. Das mit dem Selbstmord ist Quatsch, das kann einfach nicht sein.«

»Peter …«<

»Peter hat sich nicht umgebracht! Er ist bei einem seiner Spiele umgekommen. Ich hab es Ihnen doch schon erzählt.«

»Was für ein Spiel denn?«

»Er hat mal wieder Grenzen ausprobiert, eine Art Ekstase-Trip.«

»Erzählen Sie mir mehr davon.«

»Klar. Warum auch nicht? Er spielte es doch dauernd. Er zog sich nackt aus, kletterte auf einen Stuhl, machte sich eine Schlinge aus einem Seidenstrick und legte sie um den Hals. Dann ließ er sich hängen, bis sein Hals zusammengedrückt wurde, nur nicht allzu sehr, dann bearbeitete er seinen Schwanz bis zum Orgasmus. Es war irre anzugucken, er stöhnte wie ein Wilder dabei. Er pflegte zu sagen: ›Der Druck erhöht die Lust.‹«

Er murmelte leise und unzusammenhängend, aber ich hörte ihm angestrengt zu. Er beschrieb nämlich ein Phänomen, das unter dem Namen erotisiertes Erhängen oder autoerotisches Ersticken in den Lehrbüchern beschrieben wird, eine wenig verbreitete sexuelle Praktik, gepflegt von Leuten, die den Reiz ihres Orgasmus durch ein Kokettieren mit dem Tod erhöhen.

Diese Leute masturbieren, während ein Seil oder ein anderes Tuch ihre Schlagadern zusammenpresst. Während des Höhepunkts sind sie dann völlig geschlossen. Manche benutzen komplizierte Flaschenzüge, um die Schlinge festzuziehen, andere verkrümmen sich zu diesem Zweck auf seltsam verkrampfte Art. Wie immer dieses Spiel betrieben wird, es ist ein Spiel mit dem Zufall und deshalb gefährlich. Wenn der Onanist das Bewusstsein verliert, bevor er das Seil ablegen kann oder sich so bewegt hat, dass er sich nicht oder zu spät befreien kann erstickt er.

»Ein schönes Spiel, was?« Oberheim lächelte. »Peter liebte solche Spiele. Und eines Tages verlor er. Ich finde das cool.«