25

»Die Tante!«, rief Milo aus. »Das ist ein vertrackter Fall, streut wie ein Tumor; überall, wo man hinsieht, eine neue Geschwulst.«

Er wärmte sich die Hände an seinem Kaffeebecher, biss in sein Teilchen und las den McAllister Monograph.

Wind und Regen hatten am späten Nachmittag begonnen und waren wegen eines tropischen Sturms, der ins Landesinnere gelangte, immer heftiger geworden. Der letzte Sturm dieser Stärke hatte die Canyons in tobende Kessel verwandelt und ein ganzes Stück von Malibu ins Meer gespült. Mein Haus hatte trotz seiner geringen Stabilität - es stand auf Stelzen wie Flamingos und frei auf dem Hügel - allen bisherigen Unwettern tapfer widerstanden. Trotzdem schichtete ich jedes Mal, wenn ein neuer Regenguss gegen die Holzwände klatschte, Sandsäcke auf und überlegte, ob ich mir nicht eine Arche bauen sollte wie Noah. Draußen sah es aus, als würde der Hügel wegschmelzen, und mich überkam tiefe Melancholie, jenes typisch kalifornische Gefühl der eigenen Nichtigkeit. Blitze zuckten über den Himmel, und der Donner applaudierte ihnen. Milo ließ sich von meiner Unruhe nicht anstecken, sondern las.

»Diese Brugmansia ist ja eine grauenhafte Pflanze«, sagte er, »es gibt unzählige Möglichkeiten, jemanden damit umzubringen - Tee, Suppen, Essen, Zigaretten.«

»Man kann das Gift auch so zubereiten, dass es durch die Haut aufgenommen wird«, sagte ich. »In dem Buch steht ein ganzes Kapitel über Breiumschläge.«

»Wunderbar. Und Tantchen ist Expertin auf dem Gebiet.« Er runzelte die Stirn und schlug dann so heftig mit der Hand auf den Tisch, dass die Tassen wackelten. »Einen Arzt zu bestechen, damit er ein Kind zum Wahnsinn treibt. Ein eiskaltes Verbrechen. Glaubst du, Jamey hat begriffen, was da vor sich ging? Hat er vielleicht deshalb so viel von Zombies gesprochen?«

»Das weiß Gott allein.«

»Alex, ich hasse solche Familiengeschichten. Je reicher die Familie, desto ekelhafter wird es. Arme Leute machen es auf ehrenvolle Weise, sie sind stinksauer aufeinander, reißen die Remington aus dem Gewehrständer und pusten sich um. Aber diese Arschlöcher aus der Oberschicht sind gar nicht in der Lage, Wut im Bauch zu haben. Sie lassen sogar ihre Darmtätigkeit von anderen ausführen. ›Grimes, würden Sie bitte für mich kacken.‹ - ›Sehr wohl, Madame. ‹« Er schüttelte den Kopf und nahm einen ausgiebigen Schluck Kaffee.

»Abgesehen davon, dass es nicht gerade fantasievoll ist, kommt man in den Knast, wenn man einen mit der Knarre umlegt.«

Milo blickte auf.

»Ja, ich weiß. Wir haben in unserem Fall noch keinen sicheren Beweis. Das ist ja die Idiotie.«

»Habt ihr nach dem Tagebuch gesucht?«

»Nein«, sagte er grimmig, »wir haben Freiwillige vom Braille-Institut mit der Suche beauftragt. Sie liefen mit ihren kleinen weißen Rohrstöckchen ein bisschen an Deck herum und ließen es damit gut sein. Was glaubst du denn, was ich machen soll?«

»Du bist der Sergeant.«

»Hast ja Recht«, murmelte er und wandte sich wieder dem Buch zu, dann sang er ziemlich schräg das Lied: »Regentag und Montag ist mein Unglückstag«.

»Wir haben heute Donnerstag.«

»Ist mir egal, was heute ist.«

Ich ging in die Küche, um noch mehr Kaffee zu holen. Dann setzte ich mich auf die Fensterbank und hielt Ausschau nach dem nächsten Regenguss. Es sah nicht danach aus, deshalb zog ich meinen Regenmantel und einen alten Cowboyhut an und lief in den Garten hinunter, um nach den Zierkarpfen zu sehen. Der Kies rund um den Teich war zum Teil weggeschwemmt, die Azaleen ließen regenschwer die Zweige hängen. Aber die Wasserfläche war noch nicht bis zum Überlaufen gestiegen, und die Fische schienen in bester Form zu sein. Sie ließen sich in dem aufgewühlten Wasser treiben, kamen ab und zu mit den Mäulern an die Oberfläche und sahen in dem dunklen Wasser aus wie lebende Regenbogen. Als sie mich bemerkten, schwammen sie in meine Richtung auf die bemoosten Steine zu. Sie gaben glucksende Geräusche von sich, stießen mit dem Kopf an und zeigten ihre bunten, glänzenden Körper. Ich nahm ein paar Körner aus der Futterdose und warf sie ihnen hin.

»Guten Appetit, meine Freunde.« Ich ging den Garten hinauf, um einen Blick unter das Haus zu werfen. Der Boden war matschig, aber fest, es war nichts abgerutscht. Nur ein paar Sandsäcke waren nass geworden.

Ich wollte sie gerade wegräumen, als Milo mich rief:

»Alex, komm ans Telefon.«

Ich machte mir die Schuhe sauber und stieg die Treppe zur Terrasse hinauf. Er hielt mir den Hörer hin.

»Da will dich ein Kerl sprechen, der behauptet, er sei dein Finanzberater. Er quatscht in rasendem Tempo.«

Ich nahm den Hörer.

»Hallo, Alex. Lou hier. Gibt’s was Neues über die Aktien vom Bitter Canyon?«

Ich sah zu Milo herüber. Er saß da mit aufgestütztem Kinn, in ein Kapitel über indianische Kulte und Beschwörungsrituale vertieft.

»Nein, ich weiß weiter nichts darüber, dazu müsste ich …«<

»Mach dir die Mühe nicht, Alex, ich habe sie schon abgestoßen. Nach unserem letzten Gespräch habe ich mich umgehört. In Beverly Hills gab es so ein Gerücht, keine riesigen Transaktionen, nur ein paar Anzeichen hier und da, aber es hat Verkäufe gegeben, in aller Stille. Das braucht nichts zu bedeuten, aber es könnte schon was dran sein. Ich bin die Dinger jedenfalls los.«

»Lou, ich …«<

»Mach dir keine Gedanken, Alex. Ich habe sie zu einem günstigen Preis verkauft und einen schnellen Dollar damit gemacht. Meine Klienten sind hocherfreut, mein Charisma ist unangetastet. Wenn’s schief geht, stehe ich da wie Nikodemus, wenn nicht, haben wir’s mal wieder richtig gemacht. Also vielen Dank, Doktor.«

»Aber wofür?«

»Den Tipp. Ich wusste, dass du nicht viel sagen konntest, aber deine Andeutungen haben genügt. Der Markt ist ganz wild auf die Dinger.«

»Wird wohl so sein, wenn du es sagst. Freut mich, dass ich dir helfen konnte.«

»Ich bin gerade dabei, die Incentive aufzutanken, und komme auf dem Weg nach Cabo San Lucas bei dir vorbei. Ich wollte Seebarsch fangen und den späten Thunfischschwärmen auflauern, ich hab auch läuten hören, dass es wieder Tutuavas gibt. In Marina Del Rey gehe ich ein paar Tage vor Anker, um ein paar lose Fäden zu einem Klienten von früher zu knüpfen. Wie wär’s, wenn wir mal zusammen essen gingen?«

»Klar, Lou«, sagte ich geistesabwesend. »Das wäre toll. Sag mal, kann ich dich etwas Technisches fragen?«

»Dazu bin ich da.«

»Nichts über Finanzen, wegen eines Boots.«

Milo unterbrach seine Lektüre.

»Wenn du eines kaufen willst, ich kenne da einen, der hat einen Bostoner Walfänger, elf Meter lang, sehr günstige Gelegenheit …«

»Ich will kein Boot kaufen«, sagte ich, aber als ich den Regen sah, fügte ich hinzu: »Jedenfalls jetzt noch nicht.«

»Was willst du dann?«

»Lou, wenn du in einem Schiff etwas verstecken wolltest, wo würdest du es hintun?«

»Das hängt vom Bootstyp ab. Auf der Incentive gibt es alle möglichen Ecken und Winkel durch die Teakholzverkleidung. Wenn genug Holz auf einem Schiff ist, kann man im Grunde überall ein Versteck aussägen.«

»Ich meine ein Versteck, das selbst ein Bulle nicht finden würde.«

»Wie, ein Bulle?«

»Ein Polizist.«

Milo blickte auf und sah mich durchdringend an.

»Alex, was zum Teufel hast du vor?«, fragte Cestare.

»Gar nichts. Ich denke über ein theoretisches Problem nach.«

Lou pfiff leise durch die Zähne.

»Das hat entfernt mit Bitter Canyon zu tun, stimmt’s?«

»Möglicherweise.«

Es folgte längeres Schweigen, dann fragte Lou:

»Wie groß soll der Gegenstand sein, den du verstecken willst?«

»Sagen wir, ungefähr elf mal zwanzig Zentimeter.«

»Wie dick?«

»Zwei Zentimeter.«

»So klein? Ich hatte schon Angst, du bist in irgendein Verbrechen verwickelt, Kokainschmuggel oder so was. Aber Koke in so kleiner Menge, das würde sich ja überhaupt nicht lohnen, es sei denn, es wäre nur zu deinem eigenen Gebrauch bestimmt, und du …«<

»Lou«, sagte ich ruhig, »ich bin kein Rauschgiftschmuggler. Aber jetzt sag mir, wo würdest du es verstecken …«<

»Einen elf mal zwanzig Zentimeter großen Gegenstand, Moment mal, hast du schon im Seewasserfilter gesucht?«

»Was ist denn das?«

»In einem Motorboot - wir reden doch über einen Stinkpott, oder?«

Ich hielt die Hand über die Muschel und fragte Milo:

»Hatte Radovic ein Motorboot?«

Er nickte.

»Ja.«

»In einem Motorboot verwendet man Meerwasser, um den Motor zu kühlen. Der Wasserfilter ist am Ende einer Leitung, die durch das Boot führt, das Wasser von außen zu der Maschine leitet und sie von Sand und Dreck freihält. An beiden Enden des Kühlsystems befinden sich außenbords mit Sieben verdeckte Kammern. Wenn ich etwas wirklich gut verbergen wollte, würde ich es dorthin unter den Rumpf tun. Um es zu finden, müsste man unter Wasser suchen. Ist der Gegenstand denn empfindlich?«

»Ja, das ist er.«

»Ist es etwas für die Küche? Fleisch, Gemüse oder Mineralien vielleicht?«

Ich musste lachen.

»Also, ich würde es auf jeden Fall in eine Schutzhülle legen, dann das Sieb einer Kammer abschrauben und das Ding reinstecken. Dann könnte man es in Ruhe vergessen. Ist es das, was du suchst?«

»Könnte sein, danke, Lou.«

»Wofür denn, wir sind ein Brokerbüro mit jeglichem Service. Noch eins fällt mir gerade ein, Alex.«

»Nämlich?«

»Brandon lässt grüßen. Durch deine nette Konversation ist er überzeugt, ein perfekter Manager zu sein.«

»Grüß Brandon zurück.«

Ich legte auf. Milo stand dicht bei mir.

»Also, was gibt’s?«

»Kennst du einen guten Froschmann?«

Es wehte ein starker Wind, heftige Böen wurden ab und an durch eine kurze, eiskalte Windstille unterbrochen. Die stärksten Windstöße beugten die Masten der kleinen Segelboote, die wild hin und her schaukelten. In der Luft hing der Geruch von Bilgewasser, Motoröl und leicht salzigem Meerwasser.

»Gegen Abend soll der Wind vorbei sein«, sagte Milo, zog sein gelbes Ölzeug fester zu und klopfte sich warm. Sein sonst blasses Gesicht war von dem kalten Wind ganz rosig, seine Augen tränten und waren rot. In der Öljacke sah er wie ein zu großes Schulkind aus. »Wir haben Zeit, Sie müssen es nicht unbedingt jetzt versuchen.«

Der Mann im Tauchzeug blickte in das Hafenbecken. Der rußschwarze Himmel ließ das Wasser tiefgrau und gefährlich aussehen. Die dunklen Wellen trugen Schaumköpfe. Sie hatten die Form von Haiflossen, waren in wilder Bewegung und wurden am oberen Ende grün, bevor sie zusammenstürzten. Der Mann beobachtete sie eine Weile, die zusammengekniffenen Augen in seinem jungen, sommersprossigen Gesicht blickten ruhig und entschlossen.

»Ist schon gut, Sergeant, ich hab schon Schlimmeres erlebt.«

Er rieb die Hände gegeneinander, untersuchte die Sauerstoffflaschen, prüfte die Werkzeuge, die an seinen Tauchgewichten befestigt waren, und ging an die dünne Aluminiumreling. Ein zweiter Taucher kletterte aus der Kabine und kam uns auf seinen Flossen entgegengewatschelt. Auch er war noch jung, hatte ein vorstehendes Kinn, graue Augen und eine Boxernase.

»Fertig, Steve?«, fragte er.

Der erste Taucher grinste und sagte: »Los, bringen wir’s hinter uns.«

Sie zogen die Atemmasken auf, kletterten über die Reling, rollten ihre Körper geschmeidig wie Seehunde zusammen und ließen sich vornüberfallen. Sie stießen durch die Wasseroberfläche und verschwanden.

»Rekruten der Pacific Division, echte Macho-Surfer«, sagte Milo.

Wir standen am Bug von Radovics Boot, einer fünfzehn Jahre alten Chris Craft, auf der in halb abgeblätterten Buchstaben der Name Sweet Vengeance{6} stand. Der Rumpf war zerkratzt, die Glasteile trübe, das Deck schmutzig, voller Fischgerippe und schwarzer Algen. Es bedurfte dringend der Reparatur. Die Deckaufbauten waren teilweise zerstört. Ein Anglersitz lag umgestürzt in einer Ecke, daneben ein paar Schrauben. Büschel verfaulten Seetangs schwammen in einer Pfütze aus moderigem Wasser.

Die Tür zur Kabine stand offen und gab den Blick frei auf einen engen Raum voller unordentlich hingeworfener Kleider und aufgestapelter Kartons. Der geeignete Ort, um klaustrophob zu werden. Nichts auf diesem Schiff war heil.

»Es sieht aus, als ob die Braille-Leute hier gewütet hätten«, sagte ich.

»Das kann man wohl sagen«, antwortete Milo. »Mit Hunden und allem Drum und Dran.« Er zog ein Taschentuch heraus, schnaubte sich die Nase und sah auf das Wasser. Eine plötzliche Böe wühlte die Wellen auf, das Schiff schwankte. Wir hielten uns beide schnell an der Reling fest. Ich konnte mich auf dem schlickigen Boden nur schwer auf den Beinen halten. Milo glitt aus, ihm rutschten buchstäblich die Beine weg, aber es gelang ihm mit letzter Kraft, stehen zu bleiben, indem er sein ganzes Gewicht auf die Fersen verlagerte. Als der Windstoß nachließ, war seine Stirn schweißbedeckt, und sein Gesicht zeigte grünliche Farbe.

»Ich brauche festen Boden unter den Füßen, bevor ich die Beute hebe«, sagte er mit schwacher Stimme. Er verließ vorsichtig das Boot und wartete am Kai, nass, aber offenbar wieder im Gleichgewicht. Er atmete tief und sah auf das wild bewegte Wasser im Hafen. Zwanzig Meter lange Schiffe schaukelten hin und her wie Spielzeugboote. Milos Gesicht war immer noch grünlich bleich.

»Geht’s wieder?«

Er blies die Backen auf, atmete aus und schüttelte den Kopf.

»Schiffe, die schaukeln, machen mich krank. Das ist seit meiner Kindheit so. Es fing schon an, als wir an Bord gingen. Und diese Böe gerade gab mir den Rest.«

»Warum nimmst du nichts gegen Seekrankheit?«

»Davon wird es nur schlimmer.«

»Es gibt Pflaster, die man sich hinters Ohr kleben kann. Da ist Skopolamin drin.«

»Sehr witzig.«

»Nein, ich meine es ernst. Anticholinergika entspannen die Magennerven. Das ist ein Punkt, an dem sie ganz legal angewendet werden.«

»Ich schaff’s auch so«, antwortete Milo, doch einen Moment später fragte er:

»Muss man sich diese Streifen verschreiben lassen, oder bekommt man sie ohne Rezept?«

»Rezeptfrei. Aber Anticholinergika kann man auch so kaufen, falls du das meinst. Sie sind in Schlaftabletten drin und auch in Abführmitteln.«

»Könnte man sich rezeptfrei so viel davon verschaffen, dass man jemanden vergiften kann?«

»Das glaube ich kaum. In den Pillen sind ja auch immer andere Stoffe, viele in höherer Konzentration. Wie zum Beispiel Adrenalin in Abführmitteln. Wenn man zu viel nimmt, gibt’s Herzstillstand. Was man an Medikamenten brauchte, um einen anderen psychotisch zu machen, würde so viel Adrenalin enthalten, dass das Opfer daran stürbe. Selbst wenn man chemisch so bewandert wäre, dass man den Stoff isolieren könnte, würde es nicht funktionieren. Jamey zeigte immer neue Symptome. Manchmal war er schlaftrunken, dann wieder wild und gereizt, immer so, wie sie ihn gerade brauchten. Das ist eine technisch perfekt hergestellte Psychose, Milo. Sozusagen maßgeschneidert nach den Bedürfnissen des Giftmischers. Reines Atropin oder Skopolamin hätte solche speziellen Effekte nicht hervorgebracht. Wenn Jamey vergiftet worden ist, dann mit ausgetüftelten Präparaten, Kombinationen mehrerer Stoffe.«

»Drogen nach Maß also.«

»Ganz genau.«

Milo stellte den Mantelkragen hoch und begann auf den Absätzen zu wippen. In sein Gesicht war die Farbe zurückgekehrt, dank geistiger Ablenkung. Nach ein paar Minuten sagte er:

»Ich gehe zum Wagen und versuche, die Klinik zu erreichen. Der Arzt, mit dem ich vorhin sprach, war sehr abweisend, aber ich versuche mal, den Boss zu erwischen.«

Entschlossenen Schrittes ging er fort und ließ mich allein am Kai zurück. Fünfzig Meter entfernt war eine Tankanlage mit einem kleinen Laden gleich neben den Zapfsäulen. Ich kaufte mir einen Becher schlechten Kaffees und einen Amerikaner, setzte mich unter eine Markise und aß und trank. Dabei beobachtete ich, wie eine große Yacht aufgetankt wurde. Nach etwa zwanzig Minuten kam Milo zurück, in der Hand sein Notizbuch. Er schaute zur Sweet Vengeance hinüber.

»Noch immer nichts?«

»Bisher noch nicht. Wie geht es Jamey?«

»Er ist immer noch ohne Bewusstsein. Er hat eine schwere Gehirnerschütterung. Einen schlimmeren Schaden hat er wohl nicht, aber es ist noch zu früh, um das definitiv auszuschließen. Seine Blutproben sind noch im Labor, in ein paar Stunden werden wir mehr wissen. Ich habe gebeten, die Untersuchung zu beschleunigen, aber aus technischen Gründen geht das nicht. Der behandelnde Arzt, ein Neurologe mit Namen Platt, der einen sehr kompetenten Eindruck macht, klang, als ich ihm von unserem Verdacht auf Atropinvergiftung erzählte, eher skeptisch. Er sagte, die wenigen Fälle von durch Atropin ausgelösten Psychosen, die er kennt, seien bei Parkinson-Patienten vorgekommen, aber auch hier seien immer mehrere Präparate die Ursache gewesen. Davon, dass jemand gezielt Atropin anwendet, um Wahnsinn zu erzeugen, hat er noch nie etwas gehört. Immerhin räumte er ein, dass Jamey schnell geholfen werden kann, falls die Tests ergeben, dass er Atropin bekommen hat. Es gibt eine Art Gegengift.«

Er schlug sein Notizbuch auf, schirmte es gegen den Regen ab und las:

»Antilirium. Macht den durch Atropin hervorgerufenen Schaden rückgängig und reinigt die Nervenenden. Das Zeug ist aber selbst sehr giftig, und ohne gründliche Überwachung und Unterstützung durch andere Mittel ist das Anwendungsrisiko hoch. Sie haben aber schon angefangen, ihn zu entgiften. Die einzigen Besucher, die man zu ihm lässt, sind Souza, seine Tante und sein Onkel. Mainwaring war seit vier oder fünf Tagen nicht mehr dort. Sie passen ständig auf Jamey auf, haben aber noch nichts Verdächtiges bemerkt, allerdings sagt Platt, dass man das Zeug auf vielfache Weise in den Körper geben kann, da es sehr leicht absorbiert wird. Er sagt, die sicherste Methode sei, dauernd das Blut zu kontrollieren und über den Zustand des Jungen genau Buch zu führen. Um die Medikation kümmert sich Platt persönlich.«

Er blickte auf die Uhr. »Wie lange sind sie schon da unten, vierzig Minuten?«

»Eher eine halbe Stunde.«

»Es wird nicht gerade sehr gemütlich sein. Haie sollen dieses Wetter besonders gern haben. Es weckt den Raubinstinkt.«

»Sie haben Sauerstoff für eine Stunde. Vielleicht kommen sie auch länger damit aus, geübt, wie sie sind.«

»Sie sind echte Profis. Hansen, der mit dem kräftigen Kinn, ist ein bekannter Tauchlehrer, und Steve Pepper war der Surf-Champion von Hawaii. Ich bin froh, dass sie bereit waren, für uns zu tauchen, aber es war vielleicht doch etwas wagemutig von ihnen.« Er strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das ist wohl der Überschwang der Jugend, meinst du nicht? Ich hatte so was auch mal, aber mir scheint, das ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnern kann. Wo wir gerade bei dem Thema Jugend sind: Glaubst du, dass deine kleine Freundin Jennifer den Mund halten kann? Nicht dass sie wer weiß was ausplaudert.«

»Sicher kann sie das. Zuerst war das Ganze nur ein intellektueller Spaß für sie, dazu kam echte Sympathie für Jamey, und als dann die raue Wirklichkeit einbrach, bekam sie’s mit der Angst zu tun.«

»Hoffentlich nimmt sie die Dinge weiterhin ernst. Wenn wirklich ein Giftmischer die Hand im Spiel hat, haben wir es mit keinem harmlosen Gegner zu tun.«

»Das habe ich ihr schon gesagt.«

Plötzlich hörte man ein lautes Platschen. Ein Kopf durchbrach die Wasserfläche, ein zweiter folgte. Die Taucher schoben ihre Masken nach oben und holten tief Luft.

»Hallo, Sergeant! Wir haben es!«

Die Taucher zogen sich am Schiffsrumpf hoch, legten die Flossen ab und sprangen behände an Deck. Hansen gab Milo ein Päckchen.

»Das Siebblech war festgerostet, sodass wir es aufstemmen mussten. Das war schwierig und dauerte’ne Weile, weil ein Schraubenzieher abbrach. Danach war alles nur noch ein Spaziergang. Steve fühlte mit der Hand hinein, und schon hatte er es. Es war etwa sechs Zentimeter in das Rohr hineingeschoben, das Kühlsystem war geöffnet. Offenbar hat der Plastikbeutel den Inhalt trocken gehalten.«

Milo untersuchte das Päckchen in seiner Hand. Das Buch schien unversehrt zu sein, eingewickelt in durchsichtige Plastikfolie, die zugeschweißt war. Durch die Hülle hindurch konnte man in lavendelfarbenen Buchstaben das Wort »Tagebuch« erkennen.

»Ausgezeichnete Arbeit. Ich werde das Ihrem Vorgesetzten sagen. Schwarz auf weiß.«

Die Männer freuten sich.

»Wir machen so was jederzeit gerne wieder, Sergeant«, sagte Pepper mit ein wenig klappernden Zähnen. Hansen klopfte ihm auf den Rücken.

»Komm, wir ziehen uns besser an.«

»Sehr wohl, Sir.«

Sie entfernten sich im Laufschritt.

»Schnell, lass uns fahren«, sagte Milo, »ich möchte es von der Spurensicherung untersuchen lassen. Danach können wir uns an einem gemütlichen Ort an die Lektüre machen.«