10

Am nächsten Morgen zog ich Jeans, ein Polohemd und Sandalen an, nahm meine Mappe und ging den Berg hinunter zur UCLA. Die Straße war dicht befahren, von Pendlern, die tagaus, tagein eine Pilgerfahrt von ihren Häusern im Valley zum westlichen Geschäftsviertel unternahmen. Sie kamen nur zentimeterweise vorwärts, und wie ich sie so beobachtete, kam mir Black Jack Cadmus in den Sinn, und ich fragte mich, wie viele von ihnen wohl Obstbäume im Garten hatten. Ich ging durch Sunset, dann in südlicher Richtung bis Hilgard und betrat das Unigelände in Strathmore. Von hier war es nicht weit bis zum Medizinischen Institut, einem Komplex, der aus riesigen verziegelten Ungetümen besteht und angeblich mehr Flure beherbergt als das Pentagon. Ich hatte einen Großteil meiner Jugend in diesen Räumen verbracht.

Ich betrat das Gebäude im Parterre und sah mich gewohnheitsgemäß nach rechts um. In den Glasvitrinen auf dem Flur zur Biochemie-Bibliothek war eine Ausstellung zu sehen. Diesen Monat wurden Operationsinstrumente gezeigt. Ich sah mir dieses Arsenal therapeutischer Waffen an. Es begann mit Feuersteinen, mit denen in prähistorischer Zeit Schädel trepaniert worden waren - alles war an Puppen demonstriert, deren Gehirn man zu sehen bekam -, und endete mit modernsten Laserinstrumenten zur Behandlung von Arterien.

Die Bibliothek hatte gerade erst geöffnet, es herrschte angenehme Ruhe hier. Das würde nicht lange so bleiben. Spätestens um zwölf waren die Räume überfüllt mit Medizinstudenten, Anfängern und Fortgeschrittenen, übernächtigten Assistenzärzten und grimmig aussehenden Diplomanden, die hinter Mengen aufgestapelter Fachbücher kaum zu sehen waren.

Ich setzte mich an einen Eichentisch, öffnete meine Tasche und nahm den Band Fish’s Schizophrenie heraus, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. Es war die neueste Auflage; nach zwei Stunden genauer Lektüre aber hatte ich nichts erfahren, was ich nicht schon gewusst hätte. Ich legte das Buch weg und machte mich auf die Suche nach neueren Arbeiten, Zeitschriftenartikeln und Forschungsberichten. Nachdem ich eine halbe Stunde in der Microfiche-Kartei nachgesehen, Kataloge gewälzt und schließlich drei Stunden lang zahlreiche Sachen durchgelesen hatte, flimmerte es mir vor den Augen, und mir war schwindelig im Kopf. Ich machte eine Pause und ging zum Imbissautomaten.

Draußen im Innenhof trank ich bitteren Kaffee, aß dazu ein schrecklich süßes Teilchen und überlegte, wie wenig an neuen Erkenntnissen ich in der Unmenge von Literatur gefunden hatte; das meiste war theoretisch und spekulativ, mit Wirklichkeit hatte es nicht viel zu tun.

Schizophrenie bedeutet vom Wortsinn her »Gespaltener Geist«, aber diese Bezeichnung trifft die Sache nicht besonders gut. Es wäre richtiger, zu sagen, dass der Geist sich zersetzt, auf bösartige, krebsähnliche Weise zerfressen wird, es ist ein Verfall des Denkens. Die Symptome der Schizophrenie sind das, was ein Laie als Verrücktheit bezeichnet: Wahrnehmungstäuschung, Halluzinationen, ungeordnetes Denken, Wirklichkeitsverlust, wirres Reden und eigentümliches Benehmen. In allen Gesellschaftsformen kommt sie vor, etwa bei einem Prozent der Bevölkerung, aber über ihre Ursachen weiß man nichts. Man hat versucht, es zu erklären mit einem Geburtstrauma, Hirnschäden, einer bestimmten körperlichen Beschaffenheit, Mangelernährung im Säuglingsalter. Man hat nichts von dem wirklich beweisen können, aber einiges widerlegt. Manches deutet darauf hin, dass es eine, wie Souza es so fröhlich nannte, Veranlagung ist, mit der man geboren wurde. Der Verlauf der Krankheit ist so unvorhersehbar wie Feuer in einem Wirbelsturm. Manche Patienten erleben nur einen schizophrenen Anfall und sind danach für immer geheilt. Andere erleiden mehrere Schübe, und danach ist es vorbei. Bei vielen dauert der Zustand an, ohne dass er sich sehr verschlechtert, aber in den meisten schweren Fällen verfallen die Patienten immer mehr.

Was den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Mordlust angeht, so kann man klare Aussagen machen. Die meisten dieser Kranken sind ausgesprochen harmlos, weniger gewalttätig als die Gesunden. Einige wenige jedoch sind ausgesprochen gefährlich. Sie haben plötzliche Zornausbrüche, und ihre Opfer sind zumeist die, welche sie pflegen und sich liebevoll um sie kümmern, Eltern, Ehepartner, Schwestern und Ärzte.

Schizophrene morden jedoch niemals serienweise. Der Sadismus, die genaue Planung und der Wiederholungszwang im Fall des Lavendelmörders gingen zweifellos auf eine andere Ausgeburt der Hölle seelischer Krankheiten zurück.

Menschen mit dieser Krankheit sehen nicht wie Monster aus. Wenn man ihnen auf der Straße begegnet, erscheinen sie ganz normal, sie können sogar sehr freundlich sein. Der Lavendelmörder streifte durch die Stadt, ein kaltblütiges Ungeheuer, unter dem Deckmantel der Zivilisiertheit hielt er kühl Ausschau nach Opfern. Er kannte nicht den Unterschied zwischen Menschen und Monstern. Er lebte nach der Devise »Füge dem andern zu, was du willst«. Er nutzte das Leben für seine Zwecke aus, kannte kein Mitgefühl und hatte kein Gewissen. Die Schreie seiner Opfer ließen ihn im besten Falle gleichgültig, im schlimmsten erfreute er sich daran.

Solche Psychopathen durchschaut die Psychiatrie noch weniger als die Schizophrenen. Die Auswüchse der Krankheit können häufig durch Medikamente im Zaum gehalten werden, aber eine echte Heilung des Bösen gibt es nicht.

Was war Jamey, ein Verrückter oder ein Ungeheuer?

Sonnenschein hatte mit einem für Polizisten nicht ungewöhnlichen Zynismus das Letztere vermutet. Ich wusste, dass er aus Erfahrung gesprochen hatte, denn das Erste, was Mörder nach ihrer Verhaftung versuchen, ist, den Wahnsinnigen zu spielen. Das wusste man von prominenten Beispielen: dem Yorkshire-Ripper, Manson, Bianchi, dem Son of Sam. Keiner von ihnen war damit durchgekommen, aber zunächst hatten sie alle mehrere Experten an der Nase herumgeführt.

Ich hatte im Lauf der Jahre eine ganze Reihe kleiner Gewalttäter untersucht, Kinder ohne jedes Gefühl, die Schwächere prügelten, Feuer legten und Tiere quälten - alles ohne den geringsten Anflug von Mitleid oder Gewissensbissen. Sieben-, acht- und neunjährige Kinder, die schlichtweg Furcht erregend waren. Jamey passte in diese Kategorie nicht hinein; ganz im Gegenteil, er war einfühlsam, sensibel, in sich gekehrt, mehr, als für ihn gut sein konnte. Aber wie genau hatte ich ihn gekannt? Sein Zustand im Gefängnis schien alles andere als gespielt, aber war ich souverän genug, nicht Opfer einer List zu werden?

Ich wollte Souza nur zu gerne glauben, wollte sicher sein, dass ich auf der Seite der Guten war. Aber in dieser Frage konnte ich mich auf nichts verlassen als auf Wunschdenken und die Geschichte der Familie Cadmus, so wie Souza sie mir erzählt hatte - und die möglicherweise nicht der Wahrheit entsprach.

Es war Zeit, dass ich mich an die Arbeit machte. Ich musste die Vergangenheit ans Licht holen, anstatt die Gegenwart auszuleuchten, musste den Geist von Jamey untersuchen, den Verfall eines jungen Genies.

Die Gespräche mit Mainwaring und den Cadmus lagen schon Tage zurück. Die psychologische Fakultät lag nur wenige Minuten entfernt im naturwissenschaftlichen Komplex.

Ich ging zu einer Telefonzelle, rief im Fachbereich Psychologie an und ließ mich mit Sarita Flowers verbinden. Nach siebenmaligem Läuten antwortete eine nüchterne junge Frauenstimme:

»Büro von Dr. Flowers.«

»Hier ist Dr. Delaware. Ich bin ein früherer Mitarbeiter von Dr. Flowers. Ich bin zufällig in der Nähe. Könnte ich eventuell vorbeikommen? Ich hätte etwas mit ihr zu besprechen.«

»Ihr Terminkalender heute ist voll ausgebucht.«

»Wann hat sie wieder Zeit?«

»Erst morgen.«

»Vielleicht ist sie einverstanden, vorher mit mir zu reden. Könnten Sie sie bitte fragen?«

Sie antwortete mit einem Anflug von Argwohn: »Wie war noch mal Ihr Name?«

»Delaware. Dr. Alex Delaware.«

»Sie sind nicht von der Zeitung, oder?«

»Nein, ich bin Psychotherapeut. Ich habe beim Projekt 160 mitgearbeitet.«

Zögern.

»Na gut, ich gehe fragen.«

Es dauerte mehrere Minuten, bis sie mir mit leicht verärgerter Stimme mitteilte:

»Sie können sie in zwanzig Minuten sprechen. Ich heiße Karen, kommen Sie zum Aufzug im vierten Stock.«

Als ich den Aufzug verließ, kam sie gerade um die Ecke. Sie war groß und anmutig, trug ein rotweißes Kleid, das ihr sehr gut stand. Ihr Haar war hochgesteckt, sie hatte hübsche kleine Ohren und hohe Wangenknochen. Sie trug ovale Elfenbeinohrringe und elfenbeinerne Armreifen.

»Dr. Delaware? Ich bin Karen. Bitte hier entlang.« Sie führte mich zu einer Tür mit der Aufschrift: »Untersuchung - bitte nicht stören«.

»Sie können hier drin warten. Es kann nur noch ein paar Minuten dauern.«

»Danke.«

Sie nickte freundlich. »Bitte seien Sie mir nicht böse, dass ich vorhin etwas abweisend war. Seit dieser Cadmus-Geschichte lässt man ihr keine Minute Ruhe. Wir hatten größte Mühe, heute Morgen einen Mann vom Enquirer loszuwerden.«

»Keine Angst, so einer bin ich nicht.«

»Möchten Sie Kaffee oder sonst etwas zu trinken?«

»Nein, vielen Dank.«

»Gut, ich gehe dann.« Sie legte die Hand auf die Türklinke, zögerte. »Sie sind auch wegen Cadmus hier, stimmt’s?«

»Ja.«

»Was für eine verrückte Sache. Wir haben ganz schöne Schwierigkeiten wegen des Projekts bekommen deswegen. Dr. Flowers hat schon so Ärger genug, aber jetzt ist es wirklich schlimm.«

Ich lächelte freundlich, denn ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

Der Raum war düster. Ein Mikrofon hing von der Decke herab, welche, wie drei der Wände auch, mit schalldämpfenden Platten isoliert war. Die vierte Wand war ein durchsichtiger Spiegel. Eine Frau saß in einem Korbsessel und schaute hindurch. Auf ihrem Schoß lag ein Schreibblock. Sie wandte sich um, als ich eintrat, und lächelte.

»Alex«, flüsterte sie.

Ich beugte mich zu ihr und küsste ihr die Wange. Sie duftete nach Sonnencreme und Chlor.

»Hallo, Sarita.«

»Ich freu mich, dich zu sehen«, sagte sie, nahm meine Hand und drückte sie.

»Ich freu mich auch.«

Sie saß aufrecht in ihrem Stuhl, war salopp, aber doch etwas konventionell gekleidet, mit einem blauen Blazer, einer hellblauen Seidenbluse und weißen Hosen, die jedoch ihre verkrüppelten Beine nicht verbargen.

»Ich bin in ein paar Minuten fertig«, sagte sie und wies auf den Spiegel. Auf der anderen Seite sah man einen hell erleuchteten Raum ohne Fenster, weiß gestrichen und mit Linoleumboden. Darauf saß ein Junge vor einer elektrischen Eisenbahn.

Er war etwa sechs oder sieben, trug Jeans, ein gelbes T-Shirt und Turnschuhe. Er hatte rosa Pausbacken und karamellfarbenes Haar. Zur Miniatureisenbahn gehörten bunte Waggons, silberne Schienen, eine Landschaft mit Brücken, Seen und Hügeln aus Pappmaché, Bäumen und Signalen, zweistöckigen Häusern und Holzzäunen.

Am Kopf des Jungen waren Elektroden befestigt, sie hingen an langen schwarzen Kabeln, liefen wie Schlangen über den Boden und mündeten in einen Enzephalographen, aus dem langsam ein Papierstreifen hervorkam, mit spitzen und welligen Linien.

»Nimm dir einen Stuhl«, sagte Sarita, die gerade mit einem Bleistift eine Notiz machte.

Ich setzte mich auf einen Klappstuhl und beobachtete das Kind. Während es zunächst nervös und zappelig gewesen war, saß es jetzt stocksteif da. Ein Summer ertönte, und der Zug begann, auf den Schienen seine Kreise zu drehen. Der Junge lächelte, seine Augen weit geöffnet. Kurz darauf ließ seine Konzentration nach, und er schaute weg. Der Zug blieb stehen, und er blickte wieder auf die Lok, schien dann in eine Art Trance zu fallen, das Gesicht ohne Regung, die Hände im Schoß gefaltet. Ich konnte nirgendwo einen Schalter erkennen, und immer wenn der Zug fuhr oder anhielt, schien das von ganz allein zu geschehen.

»Er macht das sehr gut«, sagte Sarita. »Achtundfünfzig Prozent der Zeit passt er auf.«

»Hat er Konzentrationsschwächen?«

»Und was für welche. Als er zum ersten Mal hier war, rannte er nur herum, konnte keinen Moment ruhig sein. Seine Mutter war drauf und dran, ihn zu töten. Ich habe noch ein Dutzend andere, die sind wie er. Wir untersuchen gerade, wie man solchen Kindern Selbstbeherrschung beibringen kann.«

»Ihr macht ihnen ihren Zustand bewusst, damit sie ihn selbst steuern können, oder?«

Sie nickte.

»Da die meisten von ihnen sehr angespannt sind, habe ich mir überlegt, dass der Zug ihnen helfen könnte, lockerer zu werden. Der Zug ist durch Kabel mit dem EEG-Gerät verbunden. Wenn sie im Konzentrationsstadium sind, fährt er los, wenn sie abgelenkt werden, hält er. Eines unserer Kinder hasst Züge, bei ihm machen wir es mit einem Kassettenrekorder, der Musik spielt. Wir können die Anlage immer neu programmieren. Wenn sie Fortschritte gemacht haben, dauert es länger, bis die Züge fahren, und so sitzen sie automatisch länger still und aufmerksam da. Das gibt ihnen mehr innere Sicherheit und steigert ihr Selbstwertgefühl. Ein Student, der seine Doktorarbeit darüber schreibt, macht die Auswertungen.«

Saritas Armbanduhr gab ein Piepsen von sich, sie stellte es ab, machte sich noch ein paar Notizen, griff mit der Hand nach oben und zog ein Mikro zu sich herunter.

»Sehr gut, Andy. Heute hast du ihn ja prima am Laufen gehalten.«

Der Junge blickte auf und berührte eine der Elektroden.

»Es kneift«, sagte er.

»Ich komme sofort und nehm es dir ab. Einen Moment, Alex.«

Sie rollte zur Tür, stieß sie auf, fuhr hindurch. Ich folgte ihr auf den Flur. Eine junge Frau mit einem viel zu alten Gesicht, bekleidet mit Shorts und einem dünnen Hemd, stand neben einer Tür, gegen die Wand gelehnt. Mit einer Hand drehte sie an einer langen schwarzen Haarsträhne herum, in der anderen hielt sie eine Zigarette.

»Guten Tag, Mrs. Graves. Wir sind gleich fertig. Andy hat es heute sehr gut gemacht.«

Die Frau zuckte mit den Schultern und seufzte.

»Ich will’s hoffen. Heute hat mir die Schule wieder einen Bericht über Andy geschickt.«

Sarita sah sie an, reichte ihr die Hand, lächelte und öffnete die Tür. Sie rollte zu dem Jungen hin, nahm ihm die Elektroden ab, strich ihm übers Haar und sagte ihm noch einmal, wie gut er es heute gemacht habe. Sie fasste in die Tasche ihres Blazers, zog ein kleines Spielzeugauto heraus und schenkte es ihm.

»Danke, Dr. Flowers«, sagte er und fingerte daran herum.

»Gern geschehen, Andy. Mach weiter so, ja?«

Er war aber schon aus dem Zimmer gelaufen, ganz mit seinem neuen Spielzeug beschäftigt, und hörte sie nicht mehr.

»Andy«, sagte seine Mutter, »was sagst du zur Frau Doktor?«

»Das hab ich schon!«

»Dann sag es noch mal.«

»Danke«, sagte er widerstrebend.

»Also dann, Wiedersehen«, sagte Sarita. Die beiden gingen fort. Als sie außer Hörweite waren, sagte sie: »Ganz schön konfliktreich, das Verhältnis der beiden. Komm, Alex, wir gehen in mein Büro.«

Das Zimmer war anders, als ich es in Erinnerung hatte. Es war spartanisch eingerichtet, nicht mehr das typische Arbeitszimmer eines Wissenschaftlers. Mir wurde schnell klar, dass sie wegen ihrer Behinderung die hohen Bücherregale durch niedrige Bretter ersetzt hatte, die alle Wände umliefen. Der schwere Schreibtisch aus Eichenholz in der Mitte des Raumes war einem niedrigen Tisch gewichen, der in einer Ecke stand. An der Wand hinter dem Tisch hatten einst Unmengen von Fotos gehangen, Erinnerungen an ihre Zeit als Sportlerin. Es waren nur noch wenige Bilder übrig. Zwei Klappstühle standen gegen die Wand gelehnt. Es war viel freier Raum überall, aber als der Rollstuhl hineinfuhr, war der Raum fast ausgefüllt.

»Bitte«, sagte sie und wies auf die Stühle. Ich klappte einen auf und setzte mich.

Sarita fuhr an den Tisch heran und legte ihre Papiere darauf. Sie sah die Zettel durch, die man ihr in ihrer Abwesenheit hingelegt hatte, und ich betrachtete die Bilder an der Wand: ein strahlender Teenager, der in Innsbruck die Goldmedaille erhält, das Programm der Eisrevue von 1965, das Schwarzweißfoto einer schlanken jungen Frau, die über das Eis gleitet, und die eingerahmte Titelseite einer Frauenzeitschrift mit dem Bild von Sarita Flowers und der Aufschrift: »Gesund und schön mit Eisstar Sarita«.

Sie drehte sich mit ihrem Stuhl und ließ ihre hellen Augen durch das Büro gleiten.

»Minimalistische Einrichtung«, sagte sie lächelnd. »Ich komm an alles leicht ran und bleibe seelisch gesund. Seit ich hier arbeite, habe ich gewisse Neigungen zur Klaustrophobie. Ich fühle mich etwas eingeengt. So aber kann ich meine Tür zumachen und trotzdem hin und her fahren.«

Sie lachte warmherzig. Dann sah sie mich an, lächelte und sagte:

»Alter Junge, die Zeit war gnädig mit dir.«

»Mit dir auch«, antwortete ich spontan, kam mir aber gleich darauf vor wie ein Idiot.

Zum letzten Mal waren wir uns auf einem Kongress begegnet, vor drei Jahren. Sie hatte gerade wieder einen Schub von Multipler Sklerose erlitten und sich eben erst davon erholt. Sie war geschwächt, konnte aber am Stock laufen. Ich fragte mich, wie lange sie wohl schon im Rollstuhl saß. Nach dem Aussehen ihrer Beine zu urteilen, war sie schon lange nicht mehr zu Fuß gegangen.

Sie bemerkte meine Verlegenheit, zeigte auf ihre Knie und lachte erneut.

»Abgesehen von den Dingern bin ich immer noch beste Ware, findest du nicht?«

Ich schaute sie an. Sie war vierzig, aber ihr Gesicht wirkte zehn Jahre jünger. Sie sah amerikanisch aus, ihr Gesichtsausdruck war offen und freundlich, ihre Haut von der Sonne gebräunt und sommersprossig, ihr dickes blondes Haar trug sie als Pagenkopf.

»Unbedingt Spitzenqualität«, antwortete ich.

»Lüg nicht so«, antwortete sie lachend. »Wenn ich mich demnächst wieder deprimiert fühle, dann rufe ich dich an, damit du die Wirklichkeit rosa malst.«

Ich musste lächeln.

»Also«, sagte sie schließlich ernst, »dann lass uns mal über Jamey reden. Was wolltest du gerne wissen?«

»Wann hat er angefangen, krank zu werden?«

»Ungefähr vor einem Jahr.«

»Kam das plötzlich oder eher schleichend?«

»Schritt für Schritt, so richtig heimtückisch. Du kennst ihn ja, Alex. Du weißt, was für ein seltsames Kind er ist. Abhängig von Stimmungen, feindselig, verschlossen. Sein IQ ist immens hoch, aber er weigert sich, irgendetwas daraus zu machen. Alle anderen aus seiner Gruppe haben sich auf ihre Ausbildung nur so gestürzt. Sie erbringen fantastische Leistungen. Alles, was Jamey angefangen hatte, gab er nach kurzer Zeit wieder auf. Es gehörte, wie du weißt, bei dem Projekt zu den Abmachungen, dass man keine Arbeit unterbrechen oder einfach fallen lassen darf. Ich hätte ihn deshalb rauswerfen können, tat es aber nicht, weil ich Mitleid mit ihm hatte. Dieser traurige Junge ohne Eltern! Ich hoffte, er würde es irgendwann packen. Das Einzige, was ihn wirklich zu interessieren schien, waren Gedichte. Er schrieb nicht selbst welche, aber er las und las. Er war so besessen, dass ich dachte, er würde etwas Kreatives damit anfangen. Aber nichts dergleichen geschah. Eines Tages gab er die Poesie auf, eiskalt. Sein ganzes Interesse galt von da an dem Wirtschafts- und Geschäftsleben. Er las das Wall Street Journal und jede Menge finanzwissenschaftlicher Texte.«

»Wann war das?«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Ich würde sagen, so vor vierzehn Monaten etwa. Das war übrigens nicht die einzige Änderung, die mit ihm geschah. Seit ich ihn kannte, hatte er immer nur Fast Food gegessen. Alle redeten davon, dass Jamey nichts lieber aß als riesige Hamburger mit dickem Ketchup drüber. Und plötzlich wollte er nichts anderes mehr als Sojakeime, Tofu, Körner, frisch gepressten Saft.«

»Hast du eine Ahnung, wie es dazu kam?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn natürlich nach dem Grund gefragt, vor allem in Bezug auf sein Interesse für Wirtschaftsfragen. Ich hatte den Eindruck, er würde jetzt doch etwas Ernsthaftes tun. Seine einzige Antwort war ein Blick, der sagte: Lass mich gefälligst in Ruhe, dann ging er fort. Monate später hatte er sich immer noch nicht in einem Studiengang eingeschrieben, er ging zu keinen Veranstaltungen, sondern vergrub sich in der Bibliothek der Wirtschaftswissenschaften. Ich beschloss, ihn aus dem Projekt zu werfen, aber bevor ich es ihm sagen konnte, änderte sich sein Verhalten gravierend, es war äußerst seltsam. Zunächst war es dasselbe wie früher, nur in verstärkter Form. Noch launischer war er, noch depressiver und so sehr in sich gekehrt, dass er mit niemandem mehr sprach. Dann folgten Angstzustände: Sein Gesicht lief rot an, sein Mund war ganz trocken, er hatte Atemnot, Schwindelanfälle. Zweimal verlor er das Bewusstsein.«

»Wie oft hatte er solche Anfälle?«

»Ungefähr sechs während eines Monats. Danach war er argwöhnisch und misstrauisch gegenüber jedermann, bedachte alle mit vorwurfsvollen Blicken und schlich umher. Die anderen Kinder waren sehr bestürzt, aber sie versuchten, nett zu ihm zu sein. Da er sich in sich selbst zurückzog, war es vielleicht nicht ganz so schlimm.«

Sie schwieg, irgendetwas schien sie zu beunruhigen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Augen verengten sich, und ihr Kiefer war gespannt.

»Alex, Diagnosen waren nie meine starke Seite - auch in den höheren Semestern habe ich mich immer lieber mit Patienten befasst, die Verhaltensstörungen hatten, als mit Wahnsinnigen. Aber ich bin nicht blind. Und ich habe mich ernsthaft um ihn gekümmert. Es sah lange nicht so schlimm aus, wie es wirklich war. Gut, der Junge war anders als andere, heischte um Aufmerksamkeit. Ich dachte, das würde irgendwann vorbei sein. Dass es von selbst aufhören und er danach etwas anderes machen würde.«

»Er rief mich in der Nacht, in der er aus der Klinik floh, an. Er redete wie ein Wahnsinniger. Ich habe mir auch Vorwürfe gemacht. Ich habe mich gefragt, ob ich damals etwas übersehen habe. Aber weder du noch ich hätten etwas tun können. Kinder werden wahnsinnig, und niemand kann sie davor bewahren.«

Sie sah mich an und nickte.

»Danke, dass du mir vertraust.«

»Das tue ich immer.«

Sie seufzte.

»Es ist nicht meine Art, Nabelschau zu betreiben, aber in letzter Zeit habe ich es öfter getan. Ich musste ziemlich hart kämpfen, damit das Projekt weiterlaufen konnte. Ich wollte einen Skandal wegen eines wahnsinnig gewordenen Genies verhindern, aber dann hab ich es dick abgekriegt. Ich wollte um jeden Preis Presseveröffentlichungen darüber vermeiden, darum habe ich Jamey länger hier behalten, als richtig war. Deshalb und aus blauäugigem Mitleid ist es dann passiert.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass ich zu lange weitergemacht habe mit ihm. Ich sagte doch schon, kurz bevor er krank wurde, hatte ich beschlossen, ihm zu sagen, dass er leider aus dem Projekt ausscheiden müsse. Aber dann war er so sensibel und empfindlich, und deshalb schob ich meine Entscheidung auf. Ich fürchtete, er könne sehr auffällig reagieren und die Finanzierung des Projekts wäre nicht mehr gesichert. Zwar waren meine Ergebnisse sehr zufrieden stellend, aber als die Forschungsgelder gekürzt wurden, war es bald auch ein politisches Problem: Warum soll man hoch begabte Kinder fördern, wenn für die behinderten kein Geld da ist? Warum sind denn nicht mehr Schwarze und Lateinamerikaner in der Gruppe? Solche Fragen wurden gestellt, und man behauptete sogar, das Ganze sei eine elitäre, ja rassistische Angelegenheit. Wenn Jamey jetzt auch noch ausgeflippt wäre und es in der Zeitung gestanden hätte, wäre das das Ende vom Lied gewesen. Und so versuchte ich, in Ruhe abzuwarten, in der stillen Hoffnung, dass alles von selbst vorbeigehen würde. Aber es kam anders.«

»Ist die Fortsetzung des Projekts genehmigt worden?«

»Nur für ein Jahr, was absoluter Quatsch ist. Solange ich nicht weiß, dass es auf länger genehmigt wird, kann ich nichts Vernünftiges anfangen.«

»Das tut mir Leid.«

»Ich werde schon damit fertig«, antwortete sie, allerdings nicht sehr überzeugt. »Ich gewinne dadurch Zeit, mich nach anderen Geldquellen umzusehen. Und es sah auch ganz gut aus, bis diese Sache passierte.« Sie lächelte bitter. »Geldgeber haben es nicht allzu gern, dass jemand, den sie fördern, acht Leute in Stücke säbelt.«

Ich wollte zum Ausgangspunkt meiner Frage zurückkommen.

»Was geschah, als sich Jameys Zustand verschlechterte?«

»Sein Argwohn wurde manisch. Auf ganz subtile, kaum merkliche Art. Möglicherweise hatte er Angst, dass ihn jemand vergiftet, denn manchmal stammelte er was von der Erde, die von Zombies vergiftet wird.«

»Weißt du noch mehr über seine Wahnvorstellungen? Erinnerst du dich an Sätze, die er äußerte?«

»Nein, sonst nichts. Es ging immer um Zombies und Gift.«

»Weiße Zombies?«

»Kann sein, ich erinnere mich nicht genau.«

»Wenn er davon sprach, dass er vergiftet wurde, hatte er jemand Bestimmten in Verdacht?«

»Er verdächtigte alle und jeden. Mich, die anderen Kinder, seine Tante und seinen Onkel, deren Kinder. Wir alle waren Zombies für ihn und waren alle gegen ihn. Als er dies gesagt hatte, rief ich seine Tante an und teilte ihr mit, dass er dringend eine richtige Behandlung brauche und nicht mehr bei uns bleiben könne. Sie schien nicht weiter überrascht. Sie dankte mir und versprach, etwas zu unternehmen. In der Woche darauf war er hier. Er war nervös, murmelte vor sich hin, war außer Atem. Niemand wollte ihm nahe kommen. Er nahm an der Gruppensitzung teil, zum ersten Mal in diesem Jahr. Die Hälfte der Zeit saß er ruhig da, aber mitten in der Diskussion sprang er auf und begann zu heulen. Man hatte das Gefühl, dass er Halluzinationen hatte - er hörte Stimmen, sah Gitter vor sich.«

»Was für Gitter denn?«

»Ich weiß es nicht. Er nannte es so. Er hielt die Hand vor die Augen, schielte und schrie etwas von blutigen Gittern. Es war ganz entsetzlich, Alex. Ich rannte nach draußen, um Hilfe zu holen. Dann brachten sie ihn in die Universitätsklinik. Ich verbrachte den Rest der Sitzung damit, die anderen Jugendlichen zu beruhigen. Wir machten aus, dass keiner von uns über die Sache reden sollte, um unser Projekt nicht zu gefährden. Ich sah Jamey nie wieder, und ich dachte, ich würde nie mehr von ihm hören. Aber dann passierte das.«

»Sarita, hat er, soweit du weißt, je Drogen genommen?«

»Nein. Er hatte bestimmte Prinzipien und war Drogen gegenüber äußerst zurückhaltend.«

»Aber die Halluzination mit dem Gitter, das wäre typisch für einen LSD-Trip.«

»Da hab ich ernste Zweifel, Alex. Er war äußerst konservativ und sehr vorsichtig. Und gegen Ende der Zeit, als er so auf seinen Körper achtete und nur noch Körner und anderes gesundes Zeug aß, hätte er sicher niemals Trips eingeworfen.«

»Vielleicht hast du es auch nur nicht gewusst«, antwortete ich, »über solche Dinge reden Jugendliche kaum mit Erwachsenen.«

Sie runzelte die Stirn.

»Schon, aber ich glaube trotzdem nicht, dass er LSD oder andere Drogen nahm. Es spielt auch gar keine Rolle, denn wie hätte er davon wahnsinnig werden sollen?«

»Das nicht, aber sie könnten ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht haben.«

»Und wenn schon.«

»Sarita, er war vielleicht ein gestörtes Kind, aber er wurde zum Mörder aus Wahnsinn. Das ist ein Riesensprung, und es ist meine Aufgabe, herauszufinden, wie es dazu gekommen ist. Ich würde gerne mit den anderen Jugendlichen aus dem Projekt reden, vielleicht wissen sie etwas darüber.«

»Mir wäre lieber, das tätest du nicht. Sie haben genug erlebt.«

»Ich will es ihnen nicht schwerer machen, im Gegenteil, es könnte sie erleichtern, darüber zu sprechen. Außerdem kennen sie mich doch noch, ich habe mit ihnen allen damals Gespräche geführt.«

»Glaub mir«, sagte sie, »das ist nicht der Mühe wert. Sie wissen auch nicht mehr, als ich dir erzählt habe.«

»Du hast sicher Recht. Aber ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich nicht alle Leute befragte, mit denen er in den letzten fünf Jahren befreundet war.«

Als ich von Pflichtverletzung sprach, verdrehte sie die Augen. Ihre Stimme klang gereizt, aber sie bemühte sich zu lächeln. »Alex, er hatte keine Freunde. Nicht im Geringsten. Er war immer allein, und niemand kam an ihn heran.«

Ich sagte nichts darauf, und sie zuckte die Schultern.

»Du brauchst das Einverständnis von allen fünfen. Zwei oder drei sind noch minderjährig, also musst du auch noch die Eltern fragen. Und ich kann dir nicht versprechen, dass sie ihre Zustimmung geben. Es wäre ein großer Aufwand, und es käme am Ende wenig dabei heraus.«

»Ich versuche es trotzdem, Sarita. Den Papierkram macht Jameys Anwalt für mich, ein Typ mit Namen Horace Souza.«

Sie fuhr ein paar Zentimeter rückwärts, legte die Arme über die Brust und sagte: »Mit Mr. Souza habe ich bereits gesprochen. Das ist einer, der sich durchsetzt, und wenn er dafür noch so tricksen muss. Wenn ich mich weigerte, würde er mich unter Druck setzen.«

»Aber Sarita, so weit muss es doch gar nicht erst kommen.«

Sie holte tief Luft und fuhr in ihrem Rollstuhl hin und her. Die Räder quietschten wie Vogelzwitschern.

»Seit die Schlagzeilen von der Sache voll sind, habe ich gekämpft, nicht an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Aber die Schlacht habe ich wohl verloren. Es ist schon hart, da habe ich mich wie wild bemüht, das Projekt am Leben zu erhalten, und jetzt muss es so enden.«

»Wer sagt denn, dass es zu Ende ist?«

»Es ist aus und vorbei, das Projekt ist genauso tot wie die Jungen, die Jamey umgebracht hat.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich zweifle nicht daran, dass die Presse großen Wirbel macht wegen seines IQ. Aber es gibt einen ärgeren Feind, nämlich Unwissenheit. Lauter Geschwätz über Genies. Wenn du schweigst und keine Tatsachen an die Öffentlichkeit gelangen, werden die Leute sich immer nach diesen Ammenmärchen richten. Je offener du darüber redest, desto stärker bist du gegenüber den Medien, umso besser kommst du mit deinen Zielen durch.«

Einen Moment lang schwieg sie.

»Also gut«, sagte sie kurz angebunden, »ich kümmere mich drum. Aber jetzt habe ich wirklich zu tun und bitte dich, mich zu entschuldigen.«

»Danke, dass du Zeit für mich geopfert hast«, sagte ich.

Sie gab mir die Hand, lächelte, aber ohne wirkliche Herzlichkeit. Als ich aus dem Zimmer gegangen war, schloss sie schnell die Tür hinter mir. Ich hörte einen schleifenden, ächzenden Lärm, Gummi auf Vinylboden. Es hörte gar nicht mehr auf.