9

Blut floss aus dem Steak, als Souza es anschnitt. Um das Fleisch bildete sich eine rosafarbene Pfütze, die sich schnell auf dem weißen Porzellanteller ausbreitete. Er schob sich ein dickes Stück Rinderlende in den Mund, kaute langsam, schluckte, wischte sich den Mund ab und nickte zustimmend.

»Als ich ihn heute Morgen besucht habe, war er genauso«, sagte er. »Völlig weggetreten.«

Wir waren allein im Esszimmer seines Bürohauses. Im Raum war es still und düster. Er sollte typisch englisch wirken. Ein ovaler viktorianischer Tisch, der wie ein Spiegel poliert war, füllte beinahe den ganzen Raum aus. Passende, mit blumengemustertem Brokatstoff gepolsterte Stühle standen darum. Eine riesige steinerne Kamineinfassung, die aus einem zugigen Herrenhaus in Hampshire hätte stammen können, beherrschte eine Wand. Darüber waren Stiche von Jagdszenen aufgehängt, die ein Familienwappen umrahmten. Seidene Perserteppiche bedeckten den dunklen Parkettboden. Die Wände waren mit geschnitztem, gemasertem Holz getäfelt und eingewachst. Überall hingen alte Karikaturen aus dem Punch und Jagdstiche. In jeder Ecke stand ein gerieftes Postament, das die Marmorbüste eines Poeten trug. Schwere Vorhänge, aus dem gleichen Brokatstoff wie die Stuhlpolster, waren über die hohen, bogigen Fenster gezogen. Ein Waterford-Kronleuchter mitten über dem Tisch war die einzige Lichtquelle.

»Ein Beamter sagte mir, dass er im Zustand heftigster Erregung ins Gefängnis eingeliefert wurde, seitdem aber zunehmend apathischer geworden ist«, antwortete ich.

»Das ist eine zutreffende Bewertung. Sein Zustand hat sich bisher ständig verschlechtert. In Canyon Oaks war er manchmal längere Zeit über bei klarem Bewusstsein. Mancher hätte sich bestimmt im Stillen gefragt, warum Jamey sich dort wohl aufhielt. Bevor er seine … Schwierigkeiten bekam, war er ein erstaunlicher Junge, vor allem seine sprachlichen Fähigkeiten konnten einem Respekt einjagen. Mithilfe seiner Intelligenz versuchte er andere zu überzeugen, dass er zu Unrecht eingesperrt sei. Manchmal wirkte er so überzeugend, dass selbst ich mich ein paar Mal gefragt habe, ob diese Maßnahme richtig war. Aber wenn man längere Zeit mit ihm verbrachte, setzte sich zunehmend die Psychose durch.«

»Auf welche Art geschah das?«

»Er verwandte falsche Wörter, seine Gedanken wurden wirr. Die Gesprächsthemen wechselten ständig. Er fing einen Satz an, verstummte dann oder redete zusammenhanglos. Wenn man ihn nach den Ursachen fragte, brauste er auf, wurde häufig hysterisch, sprang auf, stieß völlig haltlose Beschuldigungen aus und fing an zu schreien. Schließlich wurden seine wachen Phasen immer seltener, er wurde zunehmend verwirrter und unberechenbarer. Man konnte sich mit ihm nicht mehr unterhalten. Dr. Mainwaring bezeichnete seinen Zustand als schwere Paranoia.« Er schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Und jetzt hat sich sein Zustand offenbar noch weiter verschlimmert.«

»Meinten Sie mit ›unberechenbar‹, er sei gewalttätig?«

»Eigentlich nicht, eher unbeherrscht, vielleicht wäre er aber dazu fähig gewesen. Er fuchtelte wild herum, sprang auf, setzte sich wieder, verbarg sein Gesicht und zerrte an seinen Haaren. Er war ein- oder zweimal aggressiv, nicht bedeutend, vor seinem Ausbruch hat er jedenfalls nie jemanden verletzt. Keiner hat ihn für einen Mörder gehalten, wenn Sie mich danach fragen wollten.«

»Heute Morgen hat er gesabbert, gezittert und mit dem Mund saugende Bewegungen gemacht. Haben Sie das schon früher bemerkt?«

»Gestern habe ich das zum ersten Mal festgestellt. Natürlich habe ich ihn nicht häufig genug gesehen, um sicher zu sein, dass er das nicht schon früher gemacht hat. Was bedeuten diese Symptome?«

»Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Ich brauche genaue Aufzeichnungen über alle Behandlungen, die er erhalten hat, Medikamente, Elektroschocktherapie, Psychotherapie, über alles.«

Souza hob die Augenbrauen.

»Vermuten Sie eine Art Vergiftung?«

»Im Moment weiß ich nicht genug, um Vermutungen anzustellen.«

»Nun gut«, sagte er leicht enttäuscht, »ich werde für Sie ein Treffen mit Dr. Mainwaring vereinbaren, er kann Sie informieren. Denken Sie daran, mich zu benachrichtigen, wenn Sie irgendeinen Hirnschaden vermuten. Das wäre hilfreich.«

»Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

Er blickte auf mein unberührtes Essen.

»Haben Sie keinen Hunger?«

»Im Moment nicht.«

Er hob ein Glas Eiswasser an den Mund, trank und stellte es hin, bevor er weitersprach.

»Seine schlimme Verfassung hat mich nachdenklich gemacht, Doktor. Eigentlich war ich schon entschlossen, einen Antrag auf Verschiebung des Gerichtstermins wegen fehlender Verhandlungsfähigkeit zu stellen, habe mich jedoch anders entschieden, weil ich die Erfolgschancen für gering hielt. Er war zwar durcheinander, sprach aber noch, gelegentlich sogar eindrucksvoll. Ein Psychiater, der mit ihm auch in einer schlechten Phase geredet hätte, würde fälschlicherweise annehmen, dass Jamey simuliert. Wenn ein Fall so bekannt ist, neigen Richter dazu, kein Risiko einzugehen; wenige haben den Schneid, die Proteste und das Geschrei der Öffentlichkeit zu ertragen, womit sie rechnen müssen, wenn sie einem Antrag auf Terminverschiebung stattgeben. Im Moment jedoch bin ich mir nicht mehr so sicher. Wenn er derart desorientiert bleibt oder sein Zustand sich weiter verschlechtert, wird möglicherweise sogar der Psychiater der Staatsanwaltschaft seine Verhandlungsunfähigkeit einsehen. Was meinen Sie dazu?«

»Haben Sie schon einmal den Verdacht gehabt, dass er simuliert?«

Er schnitt sich gerade wieder ein Stück Fleisch ab, aber meine Frage veranlasste ihn, Messer und Gabel ruhen zu lassen und aufzublicken.

»Nein, wirklich nicht. Ich weiß, dass er sehr krank ist.«

»Aber doch nicht so krank, dass er nicht acht Morde begehen konnte, die eine sorgfältige Planung erforderten.«

Er legte sein Besteck nieder.

»Sie kommen zum Kern der Sache, Doktor. Ich schätze das. Ja, Sie haben Recht mit der Frage. Wir haben es nicht mit einem Mörder im Blutrausch zu tun; alle Taten wurden mit einer perversen Sorgfalt im Detail ausgeführt. Das erfordert Distanz und die Fähigkeit, analytisch zu denken, und macht deutlich, wie problematisch eine Verteidigung ist, die sich auf Unzurechnungsfähigkeit beruft. Ich glaube aber, dass ich einen Ausweg kenne, auf den ich noch zu sprechen komme. Was ist denn Ihre Meinung über den Erfolg eines Antrags auf Verhandlungsaufschub?«

»Was würde ein Aufschub denn praktisch erreichen?«

»Zwangseinweisung bis zu einem Zeitpunkt, an dem er wieder für verhandlungsfähig erklärt wird. In seinem Fall könnte das auch heißen: falls er je wieder verhandlungsfähig wird. Wird eine solche Taktik aber dem Jungen helfen? Er würde in eine staatliche Anstalt eingewiesen werden, und diese Häuser sind schrecklich. Landen würde er in einer Krankenstation, was sein Ende bedeuten würde. Wenn ich aber einen Prozess anstrebe und ihn erfolgreich wegen Unzurechnungsfähigkeit verteidige, habe ich größere Freiheit, seine künftige Unterbringung zu regeln.«

Ich konnte mir vorstellen, woran er dachte. An eine Privatklinik, in der das Geld der Familie einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung und später auf die Entlassung ausüben würde. Dort könnte Jamey lange genug im Hintergrund bleiben, bis sich der öffentliche Zorn gelegt hätte, um anschließend in aller Ruhe entlassen und zukünftig als Patient außer Haus gepflegt zu werden.

Eine erschreckende Vorstellung stand mir plötzlich vor Augen. Könnte er nicht, mit einem Rezept für Thorazin und einer Verabredung mit dem Therapeuten entlassen, zu einer weiteren psychologischen Zeitbombe werden, falls irgendein Experte Verhaltensänderungen als Zeichen der Besserung missdeuten würde? Und wenn das geschähe, wäre ein allmähliches Nachlassen der Aufmerksamkeit bei der Einnahme von Tabletten und der Einhaltung von Arztterminen vorhersehbar, und die Dämonen würden unerbittlich wieder die Oberhand gewinnen. Verwirrungszustände, Schmerzen, nächtliches Umherirren. Plötzliche paranoide Wutausbrüche. Blut.

Bisher war ich in Jameys Fall engagiert gewesen, weil ich ihm gegenübergesessen und Mitleid empfunden hatte. Dabei hatte ich die Verbrechen, die ihm vorgeworfen wurden, außer Acht gelassen und die Möglichkeit verworfen, dass er acht Menschen niedergemetzelt haben könnte. Aber sogar Souza schien seine Täterschaft zu vermuten. Unser Gespräch über Strategien der Verteidigung und Flexibilität bei der Auswahl von Pflegemöglichkeiten zwang mich, über die Konsequenzen meines Engagements nachzudenken.

Wenn Jamey getan hatte, was man ihm vorwarf, wünschte ich keine Flexibilität, sondern eine lebenslängliche Verwahrung.

Das machte mich nicht gerade zu einer Stütze der Verteidigung.

Mal Worthy hatte mir seine psychische Überlebensstrategie empfohlen, die auf der Trennung von Bewerten und Handeln beruhte. Ich war aber kein Anwalt und würde es auch nie sein können. Ich beobachtete, wie Souza sich wieder ein Stück vom Steak absäbelte, und fragte mich im Stillen, wie lange ich es wohl in seinem Team aushalten würde.

»Ich kann dazu nichts sagen«, antwortete ich. »Das ist eine schwierige Frage.«

»Schon gut, Doktor, das ist auch mein Problem, nicht Ihres«, sagte er lächelnd. Er schob seinen Teller beiseite, dann verschwand seine untere Gesichtshälfte hinter einer Wolke aus weißem Leinen.

»Ich kann Ihnen auch etwas anderes aus der Küche bringen lassen, möchten Sie Früchte oder Kaffee?«

»Nein, vielen Dank.«

Neben der Wasserkaraffe stand eine Messingschale, die mit Pfefferminzplätzchen gefüllt war. Er bot mir davon an und nahm sich ein Plätzchen, nachdem ich abgelehnt hatte. Mit einem Klingelknopf, der unter der Tischplatte angebracht war, rief er eine schwarz gekleidete Philippinerin herbei, die das Geschirr abräumte.

Als sie gegangen war, sagte er: »Also gut, was wollen Sie über die Familie Cadmus wissen?«

»Beginnen wir mit Jameys Bezugspersonen, den für ihn wichtigsten Verwandten und mit Einzelheiten über den Tod seiner Eltern.«

»Einverstanden«, erwiderte er nachdenklich. »Um das Ganze besser zu verstehen, empfiehlt es sich, eine Generation vorher anzufangen, nämlich bei seinem Großvater.«

»Fein.« Ich zückte Notizbuch und Kugelschreiber.

»John Jakob Cadmus lernte ich nach dem Krieg in Deutschland kennen. Ich war Offizier bei der Ermittlungsbehörde, die nach Kriegsverbrechern fahndete, er war Feldbeauftragter des Generalstabs und dafür verantwortlich, die Bastarde vor Gericht zu bringen. Im Krieg hatte er als einfacher Soldat angefangen, bewährte sich heldenhaft in mehreren großen Schlachten und war bei Kriegsende mit siebenundzwanzig Jahren Oberst. Wir wurden Freunde, und als ich nach Kalifornien zurückkehrte, entschloss sich Black Jack, so wurde er wegen seiner katholischen irischen Herkunft genannt, mich zu begleiten. Er stammte aus Baltimore, war dort aber nicht verwurzelt, und der Westen war das Land der Verheißung.

Er war sehr vorausschauend, sah den Babyboom nach dem Krieg kommen und dadurch bedingt den Wohnungsmangel. Zu dieser Zeit war das Tal von San Fernando noch unentwickelt, es gab nur ein paar Bauernhöfe, Obstplantagen und ein großes Grundstück, auf dem der Staat eine Militärbasis plante, sonst nur Staub und Gestrüpp. Jack fing an, so viel Land zu kaufen, wie er bekommen konnte. Er machte riesige Schulden, und es gelang ihm, seine Gläubiger so lange zu beruhigen, bis er alles über Architektur gelernt und sich Baukolonnen besorgt hatte. Als dann der Babyboom kam, hatte er Dutzende riesiger Wohnsiedlungen gebaut mit mehreren tausend Bungalows, die meisten hatten ein Grundstück von zwölf mal vierundzwanzig Metern und fünf Zimmer. Er warb mit einem Obstbaum auf jedem Grundstück, Orangen, Zitronen oder Aprikosen und inserierte das Ganze bundesweit als kalifornischen Traum. Die Häuser verkauften sich schneller, als er sie bauen konnte, mit dreißig Jahren war er mehrfacher Millionär. Schließlich beteiligte er sich an Handels- und Industrieprojekten, und 1960 war Cadmus Construction die drittgrößte Baufirma in den Staaten. Als er im Jahr siebenundsechzig starb, betrieb die Firma große Bauprojekte in Saudi-Arabien, Panama und fast überall in Europa. Er war ein berühmter Mann, Doktor.«

Ich war mir nicht sicher, was er mit diesem Lobgesang auf einen Toten beabsichtigte.

»Wie war er als Gatte und Vater?«, fragte ich.

Souza verdross diese Frage.

»Er liebte seine Söhne und war freundlich zu seiner Frau.«

Eine eigenartige Antwort. Mein Gesicht musste meine Verwunderung widerspiegeln.

»Antoinette war eine schwierige Frau«, erklärte er. »Sie stammte aus einer bekannten Familie in Pasadena, die verarmt war, es aber trotzdem schaffte, ihr Gesicht zu wahren und ihre soziale Stellung zu halten. Jack traf sie auf einem Wohltätigkeitsball und verliebte sich augenblicklich in sie. Sie war eine Schönheit, schlank, blass, zerbrechlich, mit großen traurigen blauen Augen. Jamey hat die gleichen Augen, aber ich fand sie immer sehr fremdartig. Distanziert, sehr verletzlich. Ich vermute, dass gerade diese Verletzlichkeit ihn anzog. Schon bald nach der Hochzeit fingen ihre Probleme an.«

»Welche Probleme hatte sie?«

»Das fällt in Ihr Fach, Doktor. Anfangs schien sie extrem schüchtern zu sein, zog sich von der Gesellschaft zurück. Dann fiel auf, dass sie Angst hatte, das Haus zu verlassen, sie fürchtete sich vor dem Leben. Es gibt dafür bestimmt einen Fachausdruck.«

»Agoraphobie.«

»Agoraphobie«, wiederholte er. »Das war ihr Problem. Damals dachte man natürlich zuerst, sie wäre körperlich krank. Schwache Konstitution. Jack hatte ihr zur Hochzeit einen berühmten spanischen Herrensitz in Muirfield geschenkt, oberhalb des Gesellschaftsclubs, nicht weit von hier entfernt. Er gehört jetzt einem pakistanischen Chirurgen. Nachdem sie sich eingerichtet hatte, verließ sie das Haus nicht mehr, sie ging noch nicht einmal im Garten spazieren. Tatsächlich verließ sie auch selten ihr Zimmer, lag den ganzen Tag im Bett, kritzelte Verse auf Papierfetzen, nippte dünnen Tee und beklagte sich ständig über jede Art von Schmerzen und Beschwerden. Jack beschäftigte fast die Hälfte aller Ärzte der Stadt, die ihr Pillen und Stärkungsmittel verschrieben, aber nicht helfen konnten. Schließlich gab er auf, nahm ihren Zustand hin und ließ sie in Ruhe.«

»Sie war aber kräftig genug, um Kinder zu gebären«, sagte ich.

»Das ist wirklich erstaunlich, nicht wahr? Peter, Jameys Vater, kam zehn Monate nach der Hochzeit zur Welt, im Jahr 1948. Dwight folgte ein Jahr darauf. Jack hoffte, dass die Mutterschaft sie von ihrer Depression befreien würde, aber es ging ihr immer schlechter. Während der Schwangerschaften musste man ihr ständig Beruhigungsmittel geben. Nach der Geburt von Dwight zog sie sich völlig zurück, wies das Baby ab und wollte es weder in den Arm nehmen noch stillen. Schließlich wurde es so schlimm, dass sie ihre Tür zusperrte und weder Jack noch Peter sehen wollte. Die nächsten zwei Jahre blieb sie in ihrem Zimmer, trank ihre Säftchen, schluckte Pillen und schrieb Gedichte. Im Schlaf schrie sie, als ob sie schreckliche Albträume hätte. Dann begann sie, jeden zu beschuldigen, dass er sie umbringen wolle, Jack, das Personal, sogar die Kinder, das übliche paranoide Verhalten. Als sie dann aufhörte zu essen und zum Skelett abmagerte, wurde Jack klar, dass er sie in einer Heilanstalt unterbringen musste. Er dachte an eine Klinik in der Schweiz. Alles geschah im Geheimen, aber sie musste Wind von der Sache bekommen haben, denn eine Woche später war sie tot, durch eine Überdosis ihrer Medizin. Diese enthielt ein Opiat, und sie schluckte genug, um ihr Herz zum Stillstand zu bringen.«

»Wer kümmerte sich in der ganzen Zeit um die Kinder?«

»Jack stellte Kindermädchen ein. Als sie älter waren, kamen sie in Internate. Er tat das Beste, was er in seiner Lage tun konnte, Doktor, deshalb habe ich vorhin Ihre Frage nach dem Charakter des Vaters so positiv beantwortet.«

Ich nickte zustimmend.

»Schizophrenie hält man heute für vererblich, nicht?«, fragte er.

»Das kommt in vielen Familien vor. Vermutlich handelt es sich um eine Kombination aus Erbanlage und Umwelteinflüssen.«

»Ich halte Jamey für erblich belastet. Seine überdurchschnittliche Intelligenz hat er bestimmt von Jack. Alles andere kommt von der Mutter: Kontaktarmut, Paranoia, die morbide Vorliebe für Luftschlösser und Lyrik. Wie konnte er sich mit so einer genetischen Belastung normal entwickeln?«

Souza bemühte sich, Eindruck auf mich zu machen. Doch seine Erklärungen wirkten einstudiert. Anstatt seine Frage zu beantworten, stellte ich eine Gegenfrage:

»Wie haben Peter und Dwight die mangelnde Zuwendung durch die Mutter verkraftet?«

»Sie entwickelten sich unterschiedlich, deshalb kann man nicht auf die gleiche Ursache schließen. Dwight war immer ein braver Junge, der gefallen wollte, ein Egozentriker. Er wählte sehr früh den Mittelweg und blieb dabei. Peter war ganz anders. Er sah gut aus, war ein wilder Junge, der ständig Widerstand suchte. Er war ein heller Kopf, hatte aber keine Ausdauer in der Schule. Jack musste ein Haus stiften, um ihn im College unterzubringen. Er trödelte aber dort weiter herum und wurde schließlich nach drei Semestern gefeuert. Jack hätte strenger zu ihm sein müssen, aber Peter war sein Liebling, und deshalb verwöhnte er ihn. Er bekam Sportwagen, Kreditkarten und schon in jungen Jahren Zugang zu Wertpapieren. Das hat dem Jungen kein Rückgrat gegeben. Diese Toleranz zusammen mit der Haltlosigkeit der Sechzigerjahre zerstörte seine Persönlichkeit.«

»Nahm er Rauschgift?«

»Rauschgift, Alkohol und Sex, diese Signale der Unkultur fügten sich nahtlos in Peters natürliche Lebenslust. Mit neunzehn Jahren hatte er einen Ferrari. Damit paradierte er auf dem Sunset Boulevard und gabelte Mädchen auf. Im Jahre 1968 besuchte er eines Nachts eine Oben-ohne-Bar, hatte Gefallen an einer der Tänzerinnen, setzte sein Verführerlächeln auf, zückte seine Brieftasche und entführte sie nach San Francisco. Dort stand die Hippie-Szene in voller Blüte, und die beiden schlossen sich ihr an. Sie lebten in einer verkommenen Haight-Ashbury-Kommune, schluckten jede Art von Drogen, derer sie habhaft werden konnten, und trieben Gott weiß was sonst. Die Taugenichtse, mit denen sie sich zusammengetan hatten, lebten mit ihnen vergnügt in Saus und Braus, bis langsam das Kapital ausging.«

Er runzelte missbilligend die Stirn.

»Und setzte der Vater dem kein Ende?«

»Natürlich tat er das. Ich musste für ihn Privatdetektive besorgen, die nach einiger Zeit ihre Spur fanden. Als Jack hinflog, um mit Peter zu sprechen, bekam er den Schock seines Lebens. Der Sohn, den er kannte, war eine stattliche Erscheinung gewesen, die peinlich genau auf Kleidung und Aussehen wert gelegt hatte. In San Francisco traf er eine Kreatur an, die er kaum wiedererkannt hätte. Ich erinnere mich noch an seine Worte: Er sah wie der tote Jesus Christus aus, den man gerade vom Kreuz genommen hat. Wie er mir erzählte, war Peter schmutzig, ausgemergelt und stank. Seine Augen waren glasig, er redete wirr. Die Haare trug er lang wie ein Mädchen, in einem Ponyschwanz zusammengebunden, und er hatte einen langen, zottigen, ungepflegten Bart. Jack forderte ihn wiederholt auf, nach Hause zu kommen. Als er sich weigerte, drohte Jack damit, ihm den Geldhahn zuzudrehen. Peter sagte ihm nur, er solle sich um seine eigenen Sachen kümmern. Er drückte sich dabei recht obszön aus, sie wurden handgreiflich, die Leute aus der Wohngemeinschaft mischten sich ein, und Jack wurde verprügelt. Er kam ziemlich angeschlagen nach Los Angeles zurück.

Schließlich wurde das Mädchen schwanger. Sie trug das Kind ohne Fürsorge und medizinische Betreuung, hielt sich nur an eine Art Wildreisdiät und machte Umschläge mit selbst zusammengemixten Kräuteressenzen. Die Geburt war schwierig, die Mutter starb anschließend an Blutungen. Das Baby überlebte irgendwie, weil Peter noch genug Verstand hatte, um es in ein Krankenhaus zu bringen. Es hatte Bronchitis, Hautausschlag und andere Infektionen, kam aber schließlich durch.«

Bei dieser Erinnerung schüttelte er den Kopf.

»Und auf diese Weise wurde unser James in die Welt gesetzt, Dr. Delaware. Kein hoffnungsvoller Anfang, nicht wahr?«

»Wie hieß seine Mutter?«

»Margaret Norton«, erwiderte er abwesend, als ob der Name und die Person belanglos seien. »Sie nannte sich Margo Sonnenschein. Wir haben einige Auskünfte über sie eingeholt. Sie ist von zu Hause in New Jersey weggelaufen. Einzige Verwandte war ihre Mutter, sie starb an Alkoholvergiftung. Als Peter Margo als Nackttänzerin aufgabelte, war sie siebzehn Jahre alt. Eine dieser ziellosen Existenzen, die sich treiben lassen. Zur richtigen Zeit war sie aber am richtigen Ort und wurde eine Cadmus.«

Und starb, dachte ich, ohne es auszusprechen.

Souza prüfte den Sitz seiner Manschettenknöpfe und erzählte weiter.

»Sie können sich sicher vorstellen, dass eine solche Familiengeschichte sehr hilfreich für die Begründung seiner Unzurechnungsfähigkeit sein könnte. Bedenken Sie: Schlimme Erbanlagen, keine Betreuung während der Schwangerschaft, Drogenmissbrauch bei den Eltern, könnten diese Faktoren nicht einen leichten Hirnschaden verursacht haben? Dazu kommen eine schwierige Geburt, frühe Infektionskrankheiten, Mangel an mütterlicher Zuwendung, ein Missgeschick nach dem anderen.«

»Wer hat Jamey erzogen?«, fragte ich, ohne Souzas Überlegungen zu berücksichtigen.

»Peter. Nicht dass er für diese Aufgabe wie geschaffen gewesen wäre. Eine Zeit lang schien er über sich hinauszuwachsen und Verantwortung übernehmen zu wollen. Wenn Jack auch anfangs einige Zweifel an der Vaterschaft hatte, war letztlich doch die Ähnlichkeit mit dem Vater entscheidend. Er empfing beide mit offenen Armen, holte die besten Ärzte, Kinderschwestern, Kindermädchen heran und richtete ein wunderbares Kinderzimmer ein. Zunächst sah es so aus, als ob das Baby Jack und Peter einander näher bringen würde. Beide gaben sich große Mühe, es zu unterhalten. Das war nicht leicht, denn Jamey hatte ständig Koliken und schrie andauernd. Wenn Peter die Geduld ausging, war Jack zur Stelle. Sie waren sich näher als je zuvor. Dann erkrankte Jack plötzlich im November 1969 an Krebs. Bauchspeicheldrüse. Er starb innerhalb weniger Wochen.

Wir waren alle wie versteinert, am meisten war jedoch Peter betroffen. Angesichts der riesigen Verantwortung, mit der er so plötzlich konfrontiert wurde, war er völlig verstört. Einundzwanzig Jahre lang hatte sein Vater ihm alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, jetzt sollte er auf eigenen Füßen stehen. Neben der Erziehung seines Kindes musste er sich um die Geschäfte kümmern. Jack war der typische charismatische Chef gewesen; unfähig zu delegieren, hatte er alle wichtigen Dinge im Kopf oder auf Notizzetteln aufbewahrt. So waren seine zahlreichen laufenden Geschäfte völlig unbekannt, und Peter musste sich erst daranmachen, Klarheit in die Sache zu bringen.

Als sein Vater begraben wurde, kam Peter buchstäblich schlotternd vor Angst zu mir, weil er nicht wusste, wie er die Firma leiten und ein Kind erziehen sollte, wo er schon solche Schwierigkeiten hatte, sein eigenes Leben zu bewältigen. Die schlimme Wahrheit war, dass er Recht hatte. Er war kein Geschäftsmann. Zwar hatte Dwight in dieser Hinsicht Fähigkeiten, er studierte Wirtschaftswissenschaften in Stanford, war aber kaum zwanzig Jahre alt, und ich riet ihm damals, erst sein Studium abzuschließen.

Ich machte mich daran, Spitzenmanager aufzutreiben, die die Firma reorganisieren und auf eine konventionelle Grundlage stellen sollten. Das dauerte ein ganzes Jahr. Während dieser Zeit wusste Peter nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er versuchte, sich in Geschäfte einzuschalten, hielt aber nicht durch. Mein Rat, wieder aufs College zu gehen, wurde mit einem Achselzucken abgetan. Er fand keinen Sinn im Leben, wurde zunehmend depressiv und kümmerte sich immer weniger um seinen Sohn. Die Schatten der Vergangenheit holten ihn wieder ein, deshalb drängte ich ihn, die Hilfe eines Psychiaters in Anspruch zu nehmen. Da er sich jedoch weigerte, ging es weiter abwärts mit ihm. Ich glaube, er nahm wieder Rauschgift zu sich, denn seine Blicke wurden aggressiv, und er magerte stark ab. Den ganzen Tag saß er dumpf vor sich hin brütend in seinem Zimmer, um plötzlich aufzuspringen, in einen seiner Wagen zu steigen und für mehrere Tage zu verschwinden.«

»Wie reagierte Jamey auf die Veränderungen bei seinem Vater?«

»Er schien sich völlig unbeeinflusst von den Hochs und Tiefs seines Vaters zu entwickeln. Schon früh war augenfällig, dass er ein außergewöhnlich gescheiter Junge war. Als er kaum laufen konnte, versuchte er, mit altklugen Bemerkungen die Aufmerksamkeit seines Vaters auf sich zu ziehen. Aber anstatt sich darüber zu freuen, war Peter über die Frühreife erschrocken und wies Jamey ab, stieß ihn sogar zurück.

Ich habe keine Kinder, kann mir aber vorstellen, was man ihnen damit antun kann. Als ich mit Peter darüber sprach, wurde er wütend, nannte Jamey ein Monster und behauptete, er sei gespenstisch. Das Gespräch brachte ihn so in Rage, dass ich mich zurückzog; ich hatte auch keine Angst um die Sicherheit des Kindes.«

»War Peter immer so launisch?«

»Bis zu dieser Zeit noch nicht. Er war jähzornig wie sein Vater, das war nicht weiter ernst zu nehmen. Aber er konnte sich immer weniger beherrschen. Schon Kleinigkeiten brachten ihn auf, die Unordnung, die kleine Kinder anrichten; gelassenere Naturen hätten sich darüber amüsiert. Mehr als einmal musste er zurückgehalten werden, damit er nicht mit geballter Faust auf Jamey einschlug. Die Kindermädchen wurden angewiesen, ständig aufzupassen. Als er dann jedes väterliche Interesse verlor, versuchte keiner, darüber mit ihm zu reden.«

»Sind körperliche Misshandlungen vorgekommen?«

»Nein. Nachdem Peter sich als Vater zurückgezogen hatte, war die Trennung endgültig. Wie seine Mutter schloss er die Tür zum Leben und wurde Eremit. Wie sie beendete er sein Elend, indem er sich umbrachte.«

»Wie hat er das getan?«

»Er erhängte sich. Im Haus gab es einen Festsaal mit hoher gewölbter Decke und schweren Balken aus Eiche. Peter stellte sich auf einen Stuhl, warf ein Seil über einen Balken, legte sich eine Schlinge um den Hals und stieß den Stuhl unter sich weg.«

»Wie alt war Jamey, als das passierte?«

»Es geschah 1972, er muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein. Wir haben ihm nichts gesagt. Meinen Sie, dass er sich so weit zurückerinnern könnte?«

»Das halte ich für möglich. Hat er jemals davon gesprochen?«

»Nur ganz allgemein, über Vaterlosigkeit und philosophische Probleme des Selbstmords. Ich habe darüber mit Dwight und Heather gesprochen; soweit sie sich erinnern können, hat er niemals nach den schrecklichen Einzelheiten gefragt und hat auch nichts darüber erfahren. Hat er Ihnen gegenüber irgendetwas über Aufhängen erwähnt?«

»Nein. In persönlichen Dingen war er sehr verschlossen. Warum sollte das eine Rolle spielen?«

»Das könnte für die Verteidigungsstrategie sehr bedeutsam sein. Die Umstände, unter denen die Morde geschahen, vor allem der Chancellor-Mord, haben mich bewegt, über den Einfluss früher Kindheitserinnerungen auf das Verhalten von Jugendlichen nachzudenken. Alle Opfer wurden zuerst stranguliert, bevor man sie aufschnitt, und Dig Chancellor fand man an einem Deckenbalken erhängt vor. Ich glaube nicht sehr an Zufälle.«

»Sie glauben also, dass die Morde symbolisch als Vatermord zu verstehen sind?«

»Sie sind der Psychologe, Doktor. Ich füge mich Ihrem Urteil.«

»Könnte sich das Prozessrisiko nicht vergrößern, wenn man die Tatmotive offen legen würde? Muss man dann nicht Vorsatz unterstellen?«

»Nicht, wenn man die Motive als unlogisch und psychotisch darstellt. Richter verabscheuen Unsicherheiten. Gibt man ihnen keine Motive, produzieren sie selbst welche. Wenn ich erklären kann, dass der Junge seit langem einen Tötungstrieb in sich trägt, werde ich sie in die Hand bekommen. Grundsätzlich gilt: Je mehr Psychologisches ich in dem Prozess zur Sprache bringen kann, desto besser sind seine Erfolgschancen.«

Er dachte immer strategisch. Um nicht in die Rolle von Freud gedrängt zu werden, fragte ich ihn, wer sich nach dem Selbstmord seines Vaters um Jamey gekümmert hatte.

»Das tat Dwight. Er hatte gerade sein Abschlussexamen gemacht und war als Praktikant bei Cadmus Construction beschäftigt. Natürlich erzogen ihn weiterhin Gouvernanten und Kindermädchen, aber Dwight kümmerte sich auch um ihn, nahm ihn mit zu Ausflügen und spielte mit ihm Fangen. Er schenkte ihm weit mehr Aufmerksamkeit, als Peter das je getan hatte.«

»Sie erwähnten Gouvernanten. Wie viele waren es denn?«

»Eine ganze Menge. Sie kamen und gingen. Keine blieb mehr als einige Monate. Jamey war ein schwieriges Kind, reizbar und launisch. Seine Intelligenz verschlimmerte den Zustand noch, denn er gebrauchte seine schnelle Zunge als Waffe zur Einschüchterung. Einige Frauen verschwanden in Tränen aufgelöst.«

»Wo hat er in dieser Zeit gewohnt?«

»In ihrem Haus in Muirfield. Dwight war nach seinem Examen kurz vor Peters Tod wieder dorthin gezogen. Als er und Heather heirateten, verkauften sie es und kauften sich in der Nähe ein kleineres Objekt.«

»Wie stellte sich Jamey zu der Heirat?«

Zum ersten Mal während unserer Unterhaltung zögerte er, wenn auch nur eine Sekunde.

»Ich vermute, es gab Schwierigkeiten - das war zu erwarten -, aber äußerlich war ihm nichts anzumerken.«

»Wie kamen Jamey und Heather miteinander aus?«

Wieder ein Zögern.

»Meiner Meinung nach gut. Heather ist ein nettes Mädchen.«

Während unserer bisherigen Unterhaltung war er selbstsicher gewesen, jetzt plötzlich schien er vorsichtig zu werden. Ich teilte ihm meinen Eindruck mit.

»Sie haben Recht«, antwortete er. »Ich hatte zu Dwight Vertrauen, und seitdem er Jamey zu sich nahm, habe ich mich persönlich nicht mehr um sie gekümmert. Er und Heather können Ihnen sicher bessere Auskünfte über die letzten Jahre geben.«

»In Ordnung.«

Er schellte nach dem schwarz gekleideten Mädchen und bestellte Tee. Sie verschwand und erschien gleich wieder mit einem Servierwagen, auf dem das Teeservice für das Büro stand. Dieses Mal ließ ich mir eine Tasse einschenken.

»Sie scheinen für die Familie weit mehr als ein Rechtsanwalt zu sein«, sagte ich nach ein paar Schlucken Tee.

Er stellte seine Tasse hin und leckte sich mit einer schnellen, reptilhaften Zungenbewegung die Lippen. Seine Gesichtsfarbe wirkte im schwachen Lichtschein gerötet, und seine Antwort klang ärgerlich.

»Black Jack Cadmus war der beste Freund, den ich jemals hatte. Wir haben uns beide hochgearbeitet. Als er anfing, Land aufzukaufen, bot er mir eine fünfzigprozentige Beteiligung an. Ich war jedoch vorsichtig, glaubte nicht, dass wirklich all das Volk in die Wüste ziehen würde, und fürchtete, dass die Sache schief gehen würde. Hätte ich damals eingeschlagen, wäre ich jetzt einer der reichsten Männer in Kalifornien. Als das Geld hereinströmte, bestand Jack darauf, dass ich beträchtliche Summen davon bekam, weil ich ihm seiner Meinung nach mit juristischen Ratschlägen sehr geholfen hatte. Natürlich hatte ich ihn in Grundstücksgeschäften und Grundbuchsachen unterstützt, aber er bezahlte mir weitaus mehr, als meine Dienste wert waren. Mit diesem Geld habe ich meine Praxis aufgebaut, das Grundstück bezahlt und - ich schäme mich nicht, das zu sagen - alles, was ich an Vermögen besitze.«

Er beugte sich nach vorn, der Leuchter warf Licht auf seinen nackten Schädel.

»Jack Cadmus ist der Urheber für alles, was ich bin und erreicht habe, Doktor. So etwas vergisst man nie.«

»Bestimmt nicht.«

Es dauerte einige Sekunden, bis sich die Erregung auf seinem breiten Gesicht legte. Mein Kommentar war völlig harmlos gemeint gewesen, ich hatte mich nur über sein ungewöhnliches Engagement für einen Klienten gewundert. Doch hatte ihn meine Äußerung stark erregt. Vielleicht glaubte er, dass der Kommentar eines Psychologen niemals harmlos gemeint sein konnte. Möglicherweise war er auch verärgert, weil er ihn als Indiskretion empfunden hatte. Offenbar handelte es sich um eine Überreaktion, aber Leute, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, im Seelenmüll anderer herumzukramen, stoßen häufig auf eine Barriere, wenn es um persönliche Dinge geht.

»Möchten Sie noch mehr wissen?«, unterbrach er, inzwischen wieder friedlich, meine Gedankenflüge.

»Ja, ich möchte mehr über Ivar Digby Chancellor wissen. In den Zeitungen stand, dass er ein bekannter Bankier und außerdem schwul gewesen sei, das sagt mir aber nicht viel. Dwight Cadmus nannte ihn neulich einen verdammten Perversling. Hatte er Liebesbeziehungen zu Jamey?«

»Wir sind wieder bei einem Zeitraum angelangt, über den Dwight und Heather Sie besser informieren können, ich will mich aber bemühen, die Dinge in groben Zügen zu schildern. Es gab wohl eine Art intimer Beziehungen, ich glaube aber nicht, dass man das Liebe nennen kann.«

Angewidert schürzte er seine Lippen. »Eher Päderastie.«

»Weil Jamey minderjährig war?«

»Weil er ausgenutzt wurde.« Seine Stimme klang wütend. »Dig Chancellor hätte etwas Besseres zu tun gehabt, als einen leicht beeinflussbaren, verwirrten Jungen zu verführen. Mein Gott, Doktor, der Mann war alt genug, um sein Vater zu sein. Chancellor und Peter waren auf der Militärschule in der gleichen Klasse.«

»Die Familien kannten sich also schon seit längerem?«

»Sie waren Nachbarn, lebten in Hudson ganz in der Nähe, verkehrten in der gleichen Gesellschaft. Die Chancellors waren herausragende Wirtschaftsprüfer und Bankiers. Große, stämmige Personen, auch ihre Frauen wirkten robust. Dig war der Größte, fast zwei Meter, mit Schultern wie ein Schrank, er spielte gern Football, Squash und Polo. Heiratete eine reiche Erbin aus Philadelphia. Ein Mann wie aus dem Bilderbuch, so dachte jeder. Niemand hätte vermutet, dass er schwul war. Nach seiner Scheidung kamen dann die Gerüchte auf, hinter vorgehaltenen Händen tratschte man auf den Partys über widerwärtige Dinge. Das hätte sich vermutlich nach einer gewissen Zeit wieder gelegt, wenn Dig sich dazu nicht in aller Öffentlichkeit bekannt hätte. Er wurde auf einem Protestmarsch von Homosexuellen Hand in Hand mit zwei schwulen Friseuren gesehen. Die Angelegenheit machte ihre Runde auf den Titelseiten der Lokalpresse und wurde sogar im Rundfunk verbreitet.«

An die Fotos erinnerte ich mich plötzlich: Ein riesiger, imponierender Mann mit energischem Kinn, randloser Brille, in grauem Anzug marschierte mitten auf dem Santa Monica Boulevard, die beiden schlanken, schnurrbärtigen Herren wirkten neben ihm wie Zwerge. Im Hintergrund sah man Spruchbänder. Der Hauptartikel zum Bild kommentierte ironisch das Zusammentreffen von altem Geld und neuer Moral.

»Als es schließlich alle wussten, fing er an, damit zu renommieren«, sagte Souza angewidert.

»Seine Familie war entsetzt, deshalb ging er weg und gründete eine eigene Bank, die Beverly Hills Trust. Seine Kunden waren wohlhabende homosexuelle Geschäftsleute. Er nutzte seine Chancen und finanzierte ebenso veranlagte Politiker. Von einem der Dinosaurier aus der Filmbranche nördlich von Sunset kaufte er ein riesiges Grundstück und stellte es für wohltätige Zwecke zur Verfügung - für Bohemiens, Go-go-Tänzer und ähnliches Dilettantenvolk.«

»Sie konnten ihn nicht leiden.«

Souza seufzte.

»Jahrelang hatte ich eine Loge im Stadion von Hollywood. Die von Dig lag im gleichen Rang. Es war unvermeidlich, dass wir uns ständig bei Konzerten, Gesprächsrunden, Arbeitsessen und Weinproben trafen. Damals trug er die elegantesten Abendanzüge und hatte stets eine hübsche junge Frau am Arm, zu der er sehr galant war. Eines Tages erschien er plötzlich mit wasserstoffblonden, gelockten Haaren, trug Wimperntusche und eine Robe wie ein römischer Diktator. Anstatt einer Frau begleitete ihn eine Schar gackernder, aufgemachter Jünglinge, wie auf einem Foto von Maxfield Parrish. Er begrüßte mich herzlich wie immer und wollte mir die Hand geben, als wenn nichts geschehen wäre. Widerlich.«

Er rührte mit gerunzelter Stirn seinen Tee um.

»Verstehen Sie mich bitte recht, ich habe nichts gegen Homosexuelle, obwohl sie meiner Meinung nach nicht normal sind. Sie sollten sich jedoch zurückhalten und sich um ihre eigenen Sachen kümmern. Dig Chancellor hielt sich nicht an die Regeln. Er machte keinen Hehl aus seiner Abartigkeit und verführte Unschuldige, ein gottverdammter Lüstling.«

Er war wieder rot angelaufen und schien erregt, ich hatte dieses Mal für ihn Verständnis.

»Das passt vorzüglich in Ihre Verteidigungsstrategie«, sagte ich.

Er rührte schneller in seinem Tee und sah mich durchdringend an. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, lag ich mit meiner Einschätzung voll auf seiner Linie.

»Wie bitte?«

»Sie erwähnten vorhin die Unvereinbarkeit zwischen einem Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit einerseits und der planvollen Ausführung der Morde andererseits. Wenn Sie Chancellor als Hauptverantwortlichen für die Morde und Jamey als seinen willenlosen Helfer darstellen würden, könnten Sie damit vorzüglich beide Aspekte vereinbaren. Sie könnten behaupten, dass Chancellor der wirkliche Mörder war und Jamey ihm dabei nur zusah. Damit würde die Hauptschuld einem Toten zufallen, und die Tötung Chancellors, die man Jamey als einzige Tat anlasten könnte, wäre verständlich als Notwehr gegen einen sadistischen Verführer.«

Souza lächelte breit.

»Sehr eindrucksvoll, Doktor. So habe ich mir das ungefähr vorgestellt. Es steht fest, dass alle Opfer an einem unbekannten Ort umgebracht und irgendwo in der Stadt deponiert wurden. Ich werde behaupten, dass die Morde auf Chancellors Grundstück begangen wurden und Jamey nur als Beobachter dabei war, der sich in der Gewalt eines älteren Verführers und in psychotischer Verwirrung befand. Der Junge hatte schließlich einige Monate solche Zustände. Zweifellos war seine Anwesenheit bei den schrecklichen Morden die Ursache für den Zusammenbruch, und die Notwendigkeit, ihn in einer Anstalt unterzubringen.«

»Aber während seiner Unterbringung haben die Morde aufgehört.«

Er wehrte dieses Argument mit einer Handbewegung ab.

»Chancellor war, wie wir wissen, ein kranker Mann. Wenn er nun nicht bloß schwul, sondern auch exhibitionistisch veranlagt war? Viele sind das. Ich behaupte, dass er bei seinen Untaten einen Augenzeugen brauchte und Jamey dafür aussuchte. Sicher hatten die beiden etwas miteinander. Ich würde nie vortragen, dass Jamey ein Unschuldslamm ist. Entscheidend ist aber, wer der Hauptverantwortliche war. Wer ordnete alles an, wer bereitete es vor? Ein selbstbewusster, dominierender Erwachsener oder ein psychotischer Teenager? Auch die Flucht aus der Klinik spricht nicht dagegen. Ich habe Detektive auf Zeugen angesetzt, die Jamey in dieser Nacht gesehen haben. Wenn wir nachweisen könnten, dass Chancellor Jamey aus Canyon Oaks entführt hat, wäre darstellbar, dass er ihn für die nächste Blutorgie als Augenzeugen brauchte. Er nahm ihn mit zu sich nach Hause und ermordete Richard Ford. Dieses Mal aber ertrug Jamey das Abschlachten nicht; sie stritten sich, kämpften miteinander, dabei tötete der Junge den Mörder.«

Als er mich für die Verteidigung Jameys gewinnen wollte, hatte Souza den Fall als ziemlich hoffnungslos dargestellt. Und jetzt, kaum zwei Tage später, führte er mir ein Psychodrama vor, das aus einem Monster einen abhängigen Sklaven und schließlich sogar einen Drachentöter machte. Dabei fragte ich mich, wie stark er auf diese Strategie vertraute. Meiner Meinung nach hatte sie viele Schwachstellen.

»Sie haben Chancellor als einen kräftigen Mann geschildert. Jamey ist dagegen ein Nichts. Wie konnte er den Mann überwältigen und ihn an einem Balken aufhängen?«

»Dig war überrascht«, antwortete er wenig beeindruckt, »und Jamey wurde durch die Freisetzung aufgestauter Emotionen hochgeputscht. Sie kennen ja die Wirkung von Adrenalin. Es ist erstaunlich, was eine schwache Person mit einer passenden Vorrichtung anheben kann. Ich kenne einen bedeutenden Physiker, der das bestätigen wird.«

Sein Gesichtsausdruck forderte mich heraus, weitere Fragen zu stellen.

»Chancellor hatte einen großen Besitz, dafür braucht man Bedienstete. Die Morde hatten grauenhafte Begleitumstände. Wie konnte er das vor ihnen verheimlichen?«

»Er hatte sie nur tagsüber angestellt, Gärtner, Putzfrau, Koch. Nur einer lebte ständig im Haus, eine Mischung aus Leibwächter und Verwalter mit Namen Erno Radovic. Radovic ist ein unsteter Typ, er war Polizist, bis man ihn hinauswarf. Ein- oder zweimal habe ich ihn mit Nachforschungen beauftragt, bis ich gemerkt habe, welch ein Störenfried er ist. Es hätte mich wirklich nicht überrascht, wenn er an allen Taten beteiligt gewesen wäre, aber er hat ein sauberes Alibi für die Mordnacht. Donnerstags hatte er anscheinend immer seinen freien Tag. Er fuhr dann morgens weg und kam erst Freitagmittag zurück. Er schlief auf einem Schiff, das er im Hafen liegen hatte. Er gab eine Frau als Zeugin an, die bestätigte, dass sie am letzten Donnerstag ständig mit ihm zusammen gewesen ist. All das bestärkt mich in meiner Theorie, denn alle Opfer wurden freitags, in den frühen Morgenstunden, weggebracht, nachdem sie, wie der Untersuchungsbefund des Gerichtsmediziners ausweist, einige Stunden vorher getötet worden waren. Donnerstagnacht. Wir kennen jetzt den Grund. Wenn Radovic weg war, gab es keinen Zeugen mehr.«

»Haben die kriminaltechnischen Untersuchungen ergeben, dass Chancellor das Messer benutzte?«

»Meines Wissens nicht. Es ist aber auch nicht beweisbar, dass Jamey es in der Hand hatte. Das Heft war blutverschmiert, es gab keine klaren Fingerabdrücke. Jedenfalls ist das, was im Einzelnen geschah oder nicht geschah, für den Fall unwichtig. Man muss nur erreichen, dass die Geschworenen darüber in Zweifel geraten. Und das wird geschehen, wenn man ihnen einen von der Anklage abweichenden Tathergang präsentiert.«

In Erwartung einer weiteren Frage sah er mich konzentriert an. Als ich schwieg, wandte er sich ab und fuhr mit einem Finger über den Rand der Untertasse.

»Sie haben eine gute Art zu fragen, Doktor. Das bringt mich auf gute Ideen. Möchten Sie noch etwas wissen?«

Ich schloss mein Notizbuch. »Wenn ich an Jameys bisheriges Leben denke, mache ich mir Sorgen, dass er Selbstmord begeht.«

»Ich sehe das genauso. Deshalb habe ich von Anfang an verlangt, ihn bis zum Prozess entsprechend unterzubringen. Die Staatsanwaltschaft trug vor, dass der Hochsicherheitstrakt eine ständige Überwachung garantiere und deshalb das Sicherste sei. Der Richter stimmte dem zu.«

»Stimmt das wirklich?«

»In den meisten Fällen. Größere Sicherheit könnte man woanders auch nicht gewährleisten. Doch kann man Selbstmord letztlich verhindern?«

»Nein«, stimmte ich zu. »Wenn jemand dazu entschlossen ist, wird er irgendwann einmal Erfolg haben.«

Souza nickte.

»Zurzeit ist er zu schwach, um sich etwas anzutun. Trotzdem sollten Sie mich sofort informieren, wenn sich Anzeichen für eine solche Gefahr ergeben. Noch etwas?«

»Für heute nicht. Wann kann ich mit Dwight und Heather Cadmus sprechen?«

»Sie haben sich zu Freunden in Montecito zurückgezogen, um der Presse zu entkommen. Dwight wird in ein paar Tagen zurückkommen. Heather will noch etwas dort bleiben. Wollen Sie mit beiden gleichzeitig sprechen?«

»Nein, besser wäre es, ich könnte mit jedem allein reden.«

»Gut. Ich werde das arrangieren und Sie benachrichtigen. Mit Mainwaring werde ich auch telefonieren und einen Termin für die nächsten Tage vereinbaren, damit sie zusammen anhand seiner Aufzeichnungen sprechen können.«

»Danke.«

Wir standen gleichzeitig auf. Souza knöpfte sein Jackett zu und begleitete mich aus dem Esszimmer den Flur hinunter zum Gebäudeeingang. Es war später Nachmittag, die Dämmerung hatte begonnen, die Empfangshalle war voller gut gekleideter junger Männer und Frauen, Sozietätspartner und Mitarbeiter, die, dezent nach Eau de Cologne oder Parfüm duftend, über den gesprenkelten Marmorfußboden ihre Arbeitsstätte verließen. Souzas Erscheinen veranlasste beflissenes Lächeln und servile Verbeugungen. Er kümmerte sich nicht darum, sondern führte mich lächelnd, die Hand auf meiner Schulter, an ihnen vorbei.

»Wie Sie meiner Chancellor-Strategie auf die Schliche gekommen sind, war eine ausgezeichnete Leistung, Doktor, und auch Ihr kleines Verhör. Vielleicht haben Sie den falschen Beruf.«

Ich entwand mich seinem Griff und ging auf den Ausgang zu.

»Das glaube ich nicht«, antwortete ich und verließ das Gebäude.

Auf dem Nachhauseweg hielt ich an einem Delikatessengeschäft in der Nähe von Robertson und kaufte Lebensmittel ein: ein Pfund Corned Beef, Gewürzgurken, Salat und ein in dicke Scheiben geschnittenes Kümmelbrot. Der Abendverkehr stand Stoßstange an Stoßstange, trotzdem schaffte ich es in einer guten halben Stunde bis zum Valley. Zu Hause fütterte ich erst die Zierkarpfen, warf dann einen Blick auf die Post, ging in die Küche, belegte ein paar Sandwiches und stellte sie auf einem Teller in den Kühlschrank. Als Robins Wagen sich geräuschvoll ankündigte, wartete ich schon mit einem Glas Grolsch auf der Terrasse. Robin hatte fast den ganzen Nachmittag gesägt und geschliffen und sah müde aus. Als sie das Essen sah, jubelte sie.

Nach dem Abendessen saßen wir im Wohnzimmer, die Füße hochgelegt, und lasen die Times. Auf Seite drei sah mich Jamey an.

Das Bild war ein Passfoto in üblicher Pose, das vermutlich einige Jahre alt war. Das Schwarzweißfoto gab seine Augen nur verschwommen wieder. In anderem Zusammenhang hätten seine nach unten gezogenen Lippen ihn eher traurig erscheinen lassen, unter den gegenwärtigen Umständen wirkte er jedoch bedrohlich. Der unter dem Foto stehende Artikel beschrieb ihn als »Nachkomme einer prominenten Familie aus der Bauindustrie« und setzte sich mit seinen »ernsten psychischen Schwierigkeiten« auseinander. Eine Mitteilung am Ende wies auf Nachforschungen der Polizei in Digby Chancellors Vergangenheit hin. Souza arbeitete schnell.