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Die Hochzeit zwischen Miss Antoinette Hawes Simpson aus Pasadena und Colonel John Jacob Cadmus aus Hancock Park nahm in der Ausgabe vom 5. Juli 1947 in der Rubrik »Gesellschaftliche Ereignisse« der Los Angeles Times einen breiten Raum ein. Neben einer begeisterten Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten, die im Rosengarten der von den Neuvermählten gebauten Prachtvilla stattgefunden hatten, war ein großes Foto zu sehen; es war darauf ein Bilderbuchpaar zu sehen, ein hoch gewachsener Bräutigam mit gepflegtem Schnurrbart und breiten Kinnladen, die Braut zehn Jahre jünger, tiefschwarzes Haar, sanft wie ein Renoir-Porträt und mit einem Strauß weißer Teerosen, den sie scheu gegen ihre Brust drückte. Zu ihren Begleitern gehörten ein Stadtrat, ein Senator und ein paar ausgewählte Nachkommen. Ein gewisser Major Horace Souza, Esq., hatte die Brautjungfer begleitet, die Schwester der Braut, Lucy, die er - so behauptete der Reporter - erst kürzlich auf dem Debütantinnenball in Las Flores kennen gelernt hatte.
Die Bekanntschaft zwischen Souza und der Cadmus-Familie ging also weit über das Berufliche hinaus, was allerdings nicht unüblich ist. Wohlhabende Familien pflegen durchaus auch solche Beziehungen zu Leuten, die für sie arbeiten. Bislang aber hatte ich keinerlei Anzeichen dafür entdeckt, dass eine Liebesaffäre mit im Spiel gewesen sein könnte. Souza war hochgefahren, als ich ihn danach gefragt hatte, und ich hatte überlegt, ob seine heftige Reaktion allein durch Verletzung der Privatsphäre hervorgerufen worden war. Vielleicht steckte noch mehr dahinter, möglicherweise unerwiderte Liebe.
Ich fand noch weitere Mikrofilmrollen und suchte darauf nach weiteren Belegen für eine Verbindung von Souza und Lucy. Zunächst war meine Suche vergeblich, keiner von beiden wurde erwähnt, aber in einer Zeitung vom Juni 1948 fand ich etwas, das meine Vermutung weiter bestätigte: Die Ankündigung der Hochzeit von Lucy mit Dr. John Arbutnot aus New York City in Newport, Rhode Island.
Einen Moment lang genoss ich meinen Erfolg als Schreibtisch-Detektiv, aber dann fiel mir ein, dass ich nicht wegen Souzas Liebesleben hergekommen war. Ich musste einen anderen Geist zum Leben erwecken, den einer anderen Simpson-Tochter, einer finsteren, gequälten Person. Nach Meinung des Anwalts die Spenderin eines schädlichen Erbfaktors, der Jameys Chromosomen geschädigt hatte.
Ich sah noch einmal alle Filme nach Hinweisen auf Antoinette durch. Nichts deutete auf eine psychische Krankheit hin, und ich war deshalb nicht weiter überrascht. Die Ankündigung ihrer Verlobung für den nächsten Frühling, in den Jahrgängen davor die übliche Prahlerei mit Comingout-Partys, Wohltätigkeitsbällen und dem karitativen Getue, das man von einer jungen Dame der Gesellschaft erwartet.
In einer Notiz vom September 1946 fand ich schließlich die Beschreibung einer nächtlichen Party auf einer Yacht, die von San Pedro bis Catalina gefahren war.
Die Fahrt war zugunsten verwundeter Kriegsveteranen veranstaltet worden. Die Gästeliste war aus dem Who is Who von Los Angeles abgeschrieben, und erwähnt wurde auch »die schöne Miss Antoinette Hawes Simpson, die die ganze Nacht hindurch mit ihrem Verehrer Major Horace A. Souza, Esq., tanzte, der gerade von der Front in Europa zurückgekehrt ist«.
Ich war zuerst verwirrt, dann suchte ich weiter und fand noch drei andere Artikel, in denen die spätere Mrs. Cadmus und Mr. Souza als das Paar der Zukunft beschrieben wurden. Alle waren im Sommer’46 erschienen, und nach dem Reporter zu urteilen, war es eine ernste Verbindung. Sie hielten Händchen auf einer Siegerehrung in Santa Anita, nahmen an einem Sektfrühstück in der Hollywood Bowl teil, aus der mit Klimaanlage gekühlten Halle des Albacore Club beobachteten sie gemeinsam das Herannahen der Flut an einem heißen Augusttag. Aber mit Ende des Sommers war offenbar auch ihre Romanze zu Ende gegangen, man hörte nichts mehr von Antoinette in männlicher Begleitung, bis zu der Ankündigung ihrer Verlobung mit Jack Cadmus einige Monate später.
Unerfüllte Liebe auch hier.
Souzas Beziehung zur Familie Cadmus war also doch verworrener, als ich gedacht hatte. Wie war es gekommen, dass er vom Freier zum Zuschauer wurde? Hatten die beiden Männer als Rivalen um die Hand des Mädchens geworben, oder war Cadmus nur der Erblasser einer gestorbenen Liebe gewesen? Sicherlich war Souza einer der wichtigsten und besten Mitarbeiter von Cadmus, sonst hätte es wohl kaum eine weitere Verbindung zwischen ihnen gegeben. Aber ganz ohne Wettkampf konnte das nicht vor sich gegangen sein. Vielleicht war Souza der Sieg von Cadmus, den er verehrte, rechtens erschienen: Der Bessere hatte gewonnen. Eine solche Erklärung wäre logisch für jemanden, der keine hohe Meinung von sich selbst hat, Souza jedoch erschien mir alles andere als komplexbeladen. Man weiß natürlich nicht, welche Entwicklung ein Mensch in mehreren Jahrzehnten durchläuft, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass der Anwalt damals ein Riesenangeber gewesen war.
Er hatte nun Jack Cadmus zum Halbgott erhoben und Antoinette zu einer kränklichen Missgeburt erklärt, die aufgrund ihres Erbguts für die Krankheit ihres Enkels und indirekt auch für seine Verbrechen verantwortlich war. War dies die Folge einer nie verheilten Wunde, oder hatte Souza seinen Schmerz überwunden, sodass er die Dinge objektiv beurteilen konnte? Ich überlegte hin und her, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Diese Ereignisse lagen alle weit zurück, und ich hatte große Zweifel, dass sie etwas mit Jameys Notlage zu tun hatten.
Ich sah mir noch weitere Mikrofilme an. Ich fand nichts über eine Verbindung von Peter Cadmus mit Margaret Norton, genannt Margo Sunshine. Dwights Heirat mit Heather Palmer hingegen hatte einiges Aufsehen erregt, obwohl die Feier in Palo Alto stattgefunden hatte. Die Braut hatte einen ziemlich bedeutenden Stammbaum. Ihre Mutter war Mitglied der DAR{3} gewesen, ihr Vater war als Diplomat in Kolumbien, Brasilien und Panama gewesen, wo auch die spätere Mrs. Cadmus zur Welt gekommen war. Aber das wusste ich alles schon.
Ich gab die Filme zurück und verließ die Bibliothek um Viertel vor vier. Der Verkehr in die Innenstadt ist zu dieser Zeit immer zähflüssig, diesmal aber stockte er vollkommen. Straßenarbeiter in orangen Westen rissen den Asphalt auf - irgendein Unternehmer musste gute Beziehungen zum Rathaus haben -, überall waren in beinahe sadistischer Willkür Umleitungsschilder angebracht. Die halbe Meile bis zur Los Angeles Street kostete mich vierzig Minuten, und als ich dort ankam, war ich aggressiv und angespannt. Die richtige Haltung, um mir Kunst im New-Wave-Stil anzusehen.
Die Fassade von Voids will be Voids war ein Stockwerk hoch, mit einer dünnen Schicht Schwarz gestrichen, das eher wie schwarz geädertes Grau wirkte. Die Art, wie der Name geschrieben war, schien mir ein Beispiel für Antischrift zu sein, schwarze krakelige Buchstaben auf türkisfarbenen, die Fenster bedeckenden Sperrholzplatten, von Schmutz überkrustet. In den übrigen Gebäuden der Straße waren Kleidergroßhändler untergebracht, und vor ihrer Berufung zu künstlerischen Zwecken schien mir auch die Galerie als Discount-Shop gedient zu haben. Die meisten Läden waren zu oder schlossen gerade, düstere Fassaden hinter Metallgittern. Einige waren noch offen und hatten, um Geschäftemacher anzulocken, die Gehsteige mit Kleiderständern voller billiger Klamotten zugestellt. Ich stellte meinen Wagen auf einem u-förmigen Parkplatz ab und betrat die Galerie.
Mir fiel sofort die hässliche, völlig unausgewogene Einrichtung auf. Der Boden war mit schmutzigem Linoleum ausgelegt, überall lagen Zigarettenstummel, ein Geruch von alten Kleidern lag in der Luft. Die Decke war niedrig und mit einer Farbe gestrichen, die an verschimmelten Hüttenkäse erinnerte. Die angeblichen Kunstwerke hingen hier und da von unverputzten Wänden herab, von oben fiel aus Beleuchtungsröhren fluoreszierendes Licht darauf, manche Objekte waren hell, andere lagen im Dunkeln. Aus primitiven Stereoboxen drangen Klänge, die sich wie Paarungstänze von Robotern anhörten, Quietschen und Gewinsele von Synthesizern, dazu unregelmäßiges Schlagen einer Metalltrommel. In der hinteren rechten Ecke saß ein Mann hinter einem Pult, der vor sich hin träumte und Zeitungsartikel ausschnitt. Er hatte mich gar nicht bemerkt.
Das Zeug an der Wand war grob und hässlich, es fehlte jede höhere Inspiration. Sicher würden ein paar Kunstkritiker darin eine urtümliche, bedeutungsvolle Rohheit und pulsierende jugendliche Feindseligkeit erkennen, mein ungeübtes Auge erkannte nichts als das, was David Krohnglass schon vermutet hatte: Kunst in der Art von »Des Kaisers neue Kleider«.
Von einem gewissen Scroto hing eine Serie von Bleistiftzeichnungen an der Wand, Strichmännchen und grobe Linien. Die Bilder waren auf dem Entwicklungsstand eines vierjährigen Kindes, allerdings hatte ich noch kein Kind dieses Alters getroffen, das munter und fröhlich Raub und Körperverletzung von Straßengangs gemalt hätte. Die Zeichnungen waren auf weichem, billigem Papier angefertigt, so dünn, dass es an manchen Stellen gerissen war. Vielleicht war es künstlerische Absicht, wer weiß. Die Rahmen waren prächtig - vergoldet und verziert, wie im richtigen Museum.
Eine zweite Serie waren Porträts von Männern mit Kegelköpfen in Acrylfarben. Ihr Gesichtsausdruck war idiotisch, und sie besaßen alle einen riesigen Penis in Salamiform. Der Künstler nannte sich Sally Vador Deli und hatte das L mit einer kleinen grünen Gurke dargestellt. Neben den Salamimännern stand eine Skulptur aus einer Aluminiumstange, die offenbar von einem Schiffsmast stammte. Sie war mit Papierschnitzeln und Drahtstücken verziert und hieß Arbeitsmoral. Darüber hing eine riesige mit Schellack überzogene Collage aus Zeitungsschnipseln, vor allem Pornoausschnitte aus dem Hustler.
Gary Yamaguchis Werke befanden sich im hinteren Raum. Er nannte sich als Künstler Garish, und seine Bilder waren zumeist Szenerien mit Barbie- und Ken-Puppen sowie bestimmten Gegenständen, die vor einem Hintergrund aus durchsichtigem Plastik arrangiert waren. Auf einem war ein amerikanisches Durchschnittsehepaar dargestellt, das in der Bauchhöhle eines verfaulten Fisches sitzt, in dem es von Maden wimmelt. Untertitelt war es Heute gehen wir in Japtown essen: Sashimi Trashimi. Ein weiteres Bild zeigte zwei Puppenpärchen, die ohne Kopf in einem roten Cabriolet saßen, die vier Köpfe waren sorgfältig auf der Motorhaube aufgereiht, eine große pilzförmige Wolke färbte den Hintergrund schwarz: Doppelrendezvous mit fröhlichem Petting. Hiroshima-Nagasaki. In einem dritten Bild war Barbie als Asiatin gekleidet - mit einer schwarzen Geisha-Perücke, schwarzen Schrägstrichen um die Augen, in einem Kimono aus Alufolie. Breitbeinig saß sie auf einer Bettkante, rauchte und las in einem Buch, Ken, der heiß bemüht war, ihre Plastikschenkel zu küssen, schenkte sie keinerlei Beachtung. Oh, Lookie-Lookie! Kabookie Nookie! hieß das Bild.
Aufmerksam wurde ich bei Garys größtem Kunstwerk, einem Würfel aus Kunststoff, fünfzig Zentimeter in Länge, Breite und Höhe. Darin hatte Gary das Schlafzimmer eines Jugendlichen aus den Sechzigerjahren dargestellt: Liebesbriefe in Form kleiner mit Lippenstift bemalter Papierstücke, Fußballwimpel aus kleinen dreieckigen Filzstückchen, eine Beatles-Briefmarke als Poster. Auf dem Fußboden lagen fingerhutgroße Pillendöschen, winzige Fotos von Barbie und ein überdimensional großes Buch mit Ledereinband, auf dem mit lavendelfarbener Tinte DIARY geschrieben stand.
Mittelpunkt der Szenerie bildete eine Ken-Puppe, die an einem Dachsparren aufgehängt war, um den Hals eine Schlinge. Überall war als Blut rote Farbe verspritzt. Es schien, als hätte der Künstler ein bloßes Erhängen zu harmlos gefunden, und deshalb stak im Bauch der Puppe ein Spielzeugmesser. Falls der Zuschauer immer noch nicht begriffen hatte, hing ein Schwärm blutigen Gedärms bis zu den Füßen des Toten herunter. Es bestand aus Klebe, die aus einer Tube gepresst worden war, und war mit Lack bestrichen, der wie Schleim wirkte. Die Wirkung war erschreckend echt.
Der Titel, den dieses ausdrucksvolle Objekt trug, lautete: Oh, Deary, Runde-Augen-Harakiri: Die verwerfliche Tat. Preis: hundert Dollar.
Ich ging zu dem Mann am Pult hinüber. Er hatte kurzes schwarzes Haar mit hellbraunen Strähnen oben und grellem Blau auf den Seiten. In den Ohren steckten Sicherheitsnadeln, an denen elfenbeinerne Ohrringe hingen. Sein Gesicht war hager und hatte etwas Raubtierhaftes, seine Augen waren klein und leblos. Er war ungefähr Ende zwanzig, eigentlich zu alt für solchen Teenager-Protest. Ich fragte mich, was er wohl gemacht hatte, bevor er in dieser Galerie Arbeit gefunden hatte.
Er zeichnete gerade Dreiecke, schnitt sie aus und ignorierte mich.
»Ich interessiere mich für einen Ihrer Künstler«, sagte ich.
»Hmm.«
»Garish.«
Ein kurzes Schnauben.
»Da müssen Sie mit dem Besitzer sprechen. Ich sitze nur hier, um aufzupassen.«
Ich erkannte die Stimme vom Telefon wieder.
»Wer ist der Besitzer?«
»Ein Arzt aus Encino.«
»Wann kommt er her?«
Er zuckte lässig die Schultern und gähnte dazu.
»Niemals.«
»Was, er kommt überhaupt nicht in seine Galerie?«
»Nein, das ist nur so’ne Art Hobby für ihn.«
Oder eine Möglichkeit, Steuern zu sparen.
»Ich komme nicht so oft in diese Gegend«, sagte ich, »könnten Sie ihn vielleicht anrufen und ihm sagen, dass ich mich für eines von Garishs Bildern interessiere?«
Er blickte auf, starrte mich an und reckte sich. Ich erkannte Nadeleinstiche auf seinen Armen.
»Das mit der Selbstmordszene«, fuhr ich fort. »Die verwerfliche Tat. Auch würde ich gerne mit dem Künstler sprechen.«
»Bilder.« Er grinste. Sein Mund war in schlimmem Zustand. Er hatte kaum noch Zähne, und die restlichen waren angefressen und braun. »Das ist Leben, Mann. Abfall. Aber keine Bilder.«
»Ist ja egal. Würden Sie bitte jetzt telefonieren?«
»Ich soll das nicht. Er operiert fast immer, ich darf nicht stören.«
»Wie wäre es mit einem Hunderter, tun Sie es dann?« Ich zog meine Brieftasche hervor.
Jetzt wurde er erst recht störrisch.
»Ach so, die Masche, Portemonnaie auf - Klappe auf.« Er tat gleichgültig, aber seine Augen waren schon ganz gierig, und er hielt mir seine ungewaschene Hand hin. »Wenn Sie schon mit solchen Tricks rangehen, will ich aber zweihundertfünfzig haben.«
»Es gehört zur Abmachung, dass ich mit Garish reden kann. Machen Sie ihn ausfindig, und die Sache ist klar.«
»Hier ist die Galerie Voids und kein zwielichtiges Detektivbüro für verschwundene Flippies.«
»Wenn er um sechs hier ist, steigt der Preis auf hundertfünfzig.«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und klopfte mit dem Bleistift auf den Pultdeckel.
»Sie glauben wohl, Sie können mich kaufen, was?«
»Sicherlich.«
»Ich soll wohl in Ihrem Stück mitspielen, was?«
Ich tat, als hätte ich nichts gehört, und gab mich gelassen.
»Ich kann ihn auch ohne Sie finden«, sagte ich, »aber ich will ihn heute treffen. Wenn Sie das hinkriegen, gehören die hundertfünfzig Ihnen.«
Er wiegte seinen bunt gestreiften Kopf hin und her. »Woher soll ich wissen, wo der Kerl ist?«
»Sie haben doch seine Sachen hier in Kommission. Wenn ich das Objekt kaufe, muss ich ihm doch seinen Anteil geben. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie ihn ab und zu sehen.«
Er zog die Stirn in tiefe Falten. Ich fragte mich, ob er schon je etwas verkauft hatte.
»Sehen Sie zu, dass er um sechs hier ist«, sagte ich, »richten Sie ihm aus, dass Alex Delaware Die verwerfliche Tat kaufen und mit ihm reden will.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich gebe keine Nachrichten weiter. Wie soll ich mir denn das alles merken?«
»Delaware«, sagte ich langsam, »wie der Bundesstaat. Er kennt mich.«
Er zuckte die Schultern, als gäbe er sich geschlagen, und ich verließ die Galerie mit der Gewissheit, dass er für das Geld einiges in Bewegung setzen würde.
Am Parkplatz fand ich eine Telefonzelle, aus der man die Tür herausgerissen hatte. Verkehrslärm übertönte den Signalton fast. Ich hielt mir ein Ohr zu und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Milo hatte mir eine Nummer durchgegeben, unter der ich ihn erreichen konnte.
Ich erwischte ihn noch gerade, bevor er das Bezirkskrankenhaus verließ.
»Wie ich höre, hat sich dein Knabe ganz schön zugerichtet«, sagte er.
»Es war grässlich. Er muss sehr verzweifelt gewesen sein.«
»Schuld könnte auch ein Motiv sein«, sagte er prompt, aber seine Grobheit war nicht echt, und seine Stimme wurde freundlicher. »Was hast du auf dem Herzen, Alex?«
Ich erzählte ihm, dass zwei Rocker in Garys Wohnung eingebrochen waren.
»Aha, interessant, und das weißt du alles von dem Clochard?«
»Er war schlauer, als er aussah.«
»Ich sage ja gar nichts dagegen, ich habe hervorragende Informanten unter Säufern.« Nach einer Pause sagte er: »Du siehst also einen Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und dem, was ich dir erzählt habe über Verbindungen zwischen den Opfern des Lavendelschlächters und Rockern.«
»Eigentlich sieht es nach Zufall aus.«
»Alex, ist Gary Yamaguchi eigentlich Punker?«
»Ja.«
»Das heißt, dass er mit ziemlicher Sicherheit Drogen nimmt, Schnüffelstoff und Speed. Rocker sind bei uns in Kalifornien die Hauptquelle für illegalen Speed. Sie nennen das Zeug Crank. Man braucht keinen hohen IQ, um es aufzubereiten.
Yamaguchi hat wahrscheinlich bei ihnen gekauft und nicht rechtzeitig gezahlt.«
»Er hat als Dealer gearbeitet«, sagte ich.
»Noch besser. Dann war es ein Geschäft unter Dealern, das schief gegangen ist. Die Lederjungs rechnen solche Sachen nicht nach Verdienst oder Verlust, sondern lieber mit Gewalt ab.«
»Ja«, sagte ich, »ich wollte nur, dass du es weißt.«
»Danke, dass du angerufen hast. Wenn du wieder etwas erfährst, hab keine Hemmungen, bei mir anzuklingeln, allerdings nur, wenn Souza nicht herauskriegt, dass du mit dem Feind fraternisierst.«
Ich überlegte, ob ich ihm von dem Kunstwerk Die verwerfliche Tat erzählen sollte, aber ich wusste, dass er es als das Machwerk eines Pseudokünstlers bezeichnen würde, der seine Vorstellungen von Mord aus der Zeitung entlehnt. Deshalb sagte ich lieber:
»Souza hat mich heute Morgen gefeuert.«
»Hat wohl keine Verwendung mehr für dich?«
»Sieht so aus.«
»Leuchtet ein. Dem Jungen geht es seit seiner Inhaftierung zunehmend schlechter, und durch den Selbstmordversuch gibt es wohl genügend Argumente, die für Verhandlungsunfähigkeit sprechen. Mit der richtigen Verzögerungstaktik wird Souza vielleicht erreichen, dass es nie zur Verhandlung kommt.«
»Was für eine Verzögerungstaktik?«
»Papierkram. Ein Aufschub nach dem anderen.«
»Wie lange kann so ein Spiel gehen?«
»Ein Mann wie Souza wird, wenn man ihn gut genug bezahlt, sogar Aufschub für den Sonnenaufgang erreichen. Ist der Junge erst mal lange genug aus den Schlagzeilen raus, interessiert sich kein Mensch mehr für den Fall. Gute Methode, findest du nicht?«
»Wunderbar.«
»Mach dir nichts draus, Kumpel. Rauslassen werden sie Cadmus auf keinen Fall. Aber er wird in eine Zelle mit Gummiwänden verlegt werden.«
»Das nehme ich auch an.«
»Jetzt, wo wir nicht mehr zu feindlichen Gruppierungen gehören, könnten wir eigentlich mal zusammen essen gehen und ein wenig plaudern.«
Seine Stimme klang munter, deshalb fragte ich:
»Zu zweit oder zu viert?«
»Zu viert. Er hat angerufen, und morgen kommt er zurück.«
»Das freut mich für dich, Milo.«
»Ja, das weiß ich. Danke, dass du mir geholfen hast, als es mir dreckig ging.«
»War doch selbstverständlich.«
Kurz vor Anbruch der Dunkelheit kehrte ich zu Voids will be Voids zurück. Als der Buntgestreifte mich sah, sprang er auf und wackelte nervös mit dem Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Er zeigte auf die weiße Fläche an der Wand, wo Die verwerfliche Tat gehangen hatte.
»Nachdem Sie gegangen waren, kam einer und machte ein höheres Angebot.«
»Ich dachte, wir hätten ein Abkommen.«
»Na ja, ich bin ein freier Unternehmer.«
»Wer hat es gekauft?«
»Ein Herr mit Anzug.«
»Beschreiben Sie ihn genauer.«
»Mehr weiß ich nicht, ich sehe mir nie Gesichter an.«
»Wie viel hat er gezahlt?«
»Wozu wollen Sie das wissen? Wenn Sie solches Zeug mögen, kaufen Sie sich doch ein anderes Bild.«
Ich hätte ein Drama aus der Sache machen können, aber eigentlich war der Kauf der Skulptur ja nur ein Mittel gewesen, um an Gary heranzukommen. Außerdem war der Buntstreifenkopf mein einziges Verbindungsglied zu ihm. Deshalb sagte ich:
»In Ordnung, und wegen der anderen Sache sind wir uns doch einig, oder?«
»Klar, für zweihundert«, sagte er und streckte die Hand aus.
»Hundertfünfzig auf den Preis der Skulptur. Aber da Sie mich ausgebootet haben, sinkt die Prämie auf hundertfünfundzwanzig.«
Er verzog das Gesicht, steckte die Hände in die Hosentaschen und wägte ab. Die Aussicht, wieder flüssig zu sein, hatte seinen Appetit auf Drogen aufleben lassen.
»Nein, verdammt noch mal. Hundertfünfzig.«
Ich nahm drei Fünfzigdollarscheine aus der Brieftasche, gab ihm einen, die zwei übrigen behielt ich.
»Sobald ich Gary gegenüberstehe, bekommen Sie den Rest.«
Er fluchte, nahm dann mit einer brüsken Geste den Schein und ging zu seinem Pult zurück.
»Warten Sie hier, ich sage Bescheid, wenn es so weit ist.«
Er machte sich wieder an sein Gekritzel, und ich schaute mir zehn Minuten lang erneut die Kunstwerke an. Nichts sah auch nur im Geringsten besser aus als vorher. Schließlich stand er auf, winkte mich herbei und führte mich durch eine kleine Tür durch einen Lagerraum und schließlich in einen düsteren Hinterhof. Er putzte sich die Nase an seinem Hemdsärmel, dann streckte er mir die Hand entgegen.
»Her damit.«
»Wo ist Gary?«
»Er wird schon gleich kommen.«
»Dann werden Sie auch schon gleich bezahlt werden.«
»Eins zu null für Sie«, zischte er. Dann trat er zurück und verschwand in der Dunkelheit. Ich versuchte, mich zu orientieren. Der Fußboden war asphaltiert, aber voller Risse und Löcher, überfüllte Mülleimer standen ungeordnet herum, am Boden lagen Müll und Lumpen, und Eimer mit verfaultem Wasser glitzerten in der Dunkelheit. Es roch entsetzlich. Ich dachte an Jameys Worte und fragte mich, welche Fäulnis seine Visionen genährt hatte.
Ich sah, wie sich nur für Sekunden hinter einer der Mülltonnen ein Schatten bewegte, dann hörte ich ein Geräusch wie ein Nagen und Kratzen.
Zwei Schatten schlichen an den Häuserwänden entlang, dann traten sie in den schwachen Lichtschein, der durch eine oberhalb des Hinterausgangs befindliche Luke fiel und dem Asphalt einen kalten Glanz verlieh.
In der größeren der beiden Gestalten erkannte ich Gary. Sein aquamarinblau gefärbtes Haar trug er als Irokesenschnitt. In das Haar waren Dachdeckernägel geklebt, die zusammen mit dem steif gegelten Haar einen hoch aufgerichteten Hahnenkamm bildeten. Über der bloßen Haut trug er eine Art Kettenhemd, dazu schwarze, verdreckte, mit Löchern übersäte Jeans, die in schwarzen, glänzenden Gummistiefeln steckten. An einer Stahlkette hing eine rostige Rasierklinge um seinen Hals, an einem Ohrläppchen baumelte ein Ohrring aus Federn. Als Gürtel trug er ein Seil, an dem ein Klappmesser befestigt war. Gary war stark kurzsichtig und hatte immer eine Brille getragen, aber jetzt hatte er keine auf. Ich fragte mich, ob er Kontaktlinsen trug oder ob es vielleicht seiner neuen Lebensauffassung widersprach, körperliche Mängel künstlich zu beheben.
Neben ihm stand ein zierliches Mädchen, das nicht älter als fünfzehn sein konnte. Sie hatte ein mürrisches Kindergesicht voller Akne, eine Stupsnase und einen dunkelvioletten, wirren Haarmop auf dem Kopf. Ihr Gesicht war weiß gepudert, schwarze Striche waren um die Augen gezogen, aber sie hatte ohnehin hohle Wangen und tiefe Schatten unter den Augen. Ihre Vorderzähne standen vor, sodass sie ihren Mund nicht ganz geschlossen hatte, die Lippen waren schwarz geschminkt. Man sah eine silberne Zahnspange mitten in dem Schwarz. Ich fragte mich, ob derjenige, der ihr die Zahnregulierung bezahlt hatte, sich immer noch um sie kümmerte.
Trotz ihrer Aufmachung und ihrer einstudierten zornigen Haltung wirkten die beiden sanft und unschuldig, wie Hänsel und Gretel, von der bösen Hexe verzaubert.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«, fragte Buntstreifenkopf.
Ich gab ihm die zwei Fünzigerscheine, und er hastete zurück ins Haus.
»Gary?«
»Ja.« Seine Stimme war sanft und leise, genauso emotionslos wie die Synthesizermusik in der Galerie.
Mit jedem anderen hätte ich durch Reden über belanglose Dinge Kontakt aufzunehmen versucht, hätte über alte Zeiten gesprochen, Erinnerungen wachgerufen. Aber der Gary von früher und ich hatten nie viel miteinander zu tun gehabt, und das Wesen, das jetzt vor mir stand, war alles andere als eine Plaudertasche.
»Danke, dass du gekommen bist. Ich möchte mit dir über Jamey reden.«
Er kreuzte seine Arme über der Brust, und sein Kettenhemd klingelte leise.
Ich ging ihm einen Schritt entgegen, er wich daraufhin zurück, aber nur so lange, bis er in eine Furche geriet und nach hinten zu fallen drohte. Das Mädchen packte ihn am Arm und bewahrte ihn vor dem Sturz. Als er wieder sicher dastand, hielt sie ihn weiter fest, als wolle sie ihn beschützen. Aus der Nähe sah ich, dass seine Augen vage in die Gegend schauten; es gelang mir nicht, seinem Blick zu begegnen.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Du weißt sicher, in welcher Situation er steckt.«
»Ja«, antwortete er teilnahmslos.
»Sein Anwalt hat mich beauftragt, seinen Geisteszustand zu begutachten. Aber ich versuche aus persönlichem Interesse herauszufinden, was eigentlich passiert ist.«
Schweigend und ohne Gefühlsregung sah er mich an. Seine Bewegungen waren mechanisch, als wäre er kein Wesen, sondern ein Art Synthesizer. Es war noch nie einfach gewesen, mit ihm zu reden, aber jetzt, in dieser Punkerverkleidung, war noch viel schwerer an ihn ranzukommen. Ich versuchte mein Glück weiter, ohne viel Hoffnung allerdings.
»Die anderen Jugendlichen aus dem Projekt haben mir gesagt, dass ihr befreundet wart, dass er mit dir mehr redete als mit allen anderen zusammen. Kannst du dich erinnern, dass er Dinge geäußert hat, die irgendetwas mit dem zu tun haben, was sich ereignet hat?«
»Nein.«
»Aber es stimmt, dass ihr miteinander geredet habt.«
»Ja.«
»Worüber?«
Er zuckte die Achseln.
»Weißt du es nicht mehr?«
»Das gehört der Vergangenheit an, und die ist ausgelöscht.«
Jetzt versuchte ich es auf dem direkten Weg.
»Du hast eine Skulptur geschaffen, die sowohl den Selbstmord seines Vaters als auch die Lavendelmorde darstellt.«
»Die Kunst ahmt Leben nach«, sagte er feierlich.
»Du hast es Die verwerfliche Tat genannt, Gary. Diesen Ausdruck verwendete Jamey, wenn er von Selbstmord sprach.«
»Ja.«
»Warum? Was bedeutet all das?«
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen.
»Kunst spricht für sich selbst.«
Das Mädchen nickte und drückte ihn fester an sich.
»Er ist ein Genie«, sagte sie. Erst jetzt bemerkte ich, wie dünn die beiden waren.
»Manchmal«, sagte ich, »werden Genies zu Lebzeiten nicht anerkannt. Wie viel Prozent vom Verkaufserlös bekommst du von Voids für deine Sachen?«
Er tat, als hätte er meine Frage nicht gehört, aber in den Augen des Mädchens erkannte ich so etwas wie den Wunsch nach etwas zu essen.
Zwar fühlte ich mich wie ein Wohltätigkeitsverein, aber ich zog meine Brieftasche heraus und gab ihnen ein paar Geldscheine. Ich weiß nicht, ob Gary das Geld sah, jedenfalls tat er, als sei nichts geschehen. Das Mädchen nahm das Geld, untersuchte es und steckte es sich in den Gürtel. Ich wusste, dass ich sie damit nicht kaufen konnte, aber vielleicht würden sie sich davon etwas zu essen besorgen.
»Gary«, fragte ich, »hat Jamey Drogen genommen?«
»Ja.«
Die Antwort kam so beiläufig, dass ich erschrak.
»Woher weißt du das?«
»Er warf Trips ein.«
»LSD?«
»Ja.«
»Hast du ihn je dabei beobachtet?«
»Nein.«
»Also schließt du es nur aus seinem Verhalten.«
Er berührte die Feder an seinem Ohrring.
»Ich kenne mich mit Trips aus«, sagte er.
»Dr. Flowers und die anderen waren sicher, dass er keine Drogen nahm.«
»Die sind primitive Automaten.«
»Kannst du mir sonst noch etwas über Jamey und seinen Drogenkonsum sagen?«
»Nein.«
»Hast du ihn je etwas anderes als LSD nehmen sehen?«
»Nein.«
»Glaubst du, er nahm auch andere Sachen?«
»Ja.«
»Und was?«
»Speed, Beruhigungs- und Aufputschmittel.«
»Auch PCP?«
»Ja.«
»Und glaubst du, er nahm all diese Drogen, weil er über sich selbst unglücklich war?«
»Ja«, sagte Gary gelangweilt.
»Gary, glaubst du, dass er fähig wäre, all diese Menschen umzubringen?«
Er brach in raues, wildes Gelächter aus, plötzlich und schauerlich wie ein Dolchstoß in der Nacht. Das Mädchen sah ihn verwundert an, dann stimmte sie in sein Lachen ein.
»Was ist daran komisch, Gary?«
»Das war eine alberne Frage.«
»Und warum?«
»Ist er in der Lage zu morden?« Wieder lachte er. »Ist er überhaupt fähig zu atmen?«
»Ist das das Gleiche?«
»Klar. Eins kann so einfach sein wie das andere, gehört alles zur Existenz des Menschentiers.«
Das Mädchen nickte beifällig.
»Kannst du mir sonst noch etwas erzählen?«
»Nein.«
Er nickte dem Mädchen zu, und sie wandten sich zum Gehen. Ich probierte es noch einmal.
»Ich war vorhin in deiner Wohnung. Mir hat jemand erzählt, dass die Einbrecher zwei Motorradrocker waren, einer sehr dick, einer schlank.«
Ich wartete auf Antwort, erhielt aber keine.
»Keine Vorstellung, wer das sein könnte?«
»Nein.«
»Und du?«, fragte ich das Mädchen.
Sie schüttelte den Kopf und verzog ärgerlich den Mund. Dennoch glaubte ich, eine Spur von Furcht in ihrem Gesicht zu sehen.
»Hast du Kummer?«
»Das Leben des Menschentiers«, plapperte sie Gary nach, »wir entwickeln uns alle zum Urschleim zurück.«
Sie hatten sich umgewandt, und ich sah nur noch ihre Rücken.
»Wo geht ihr hin?«, rief ich. »Wo finde ich euch, wenn ich euch noch was fragen muss?«
Gary blieb stehen und drehte sich um, sehr langsam, damit man nicht glaubte, er taumele. In dem schwachen Licht des Hinterhofs sah ich sein konturloses, bleiches und verkniffenes Gesicht.
»Wir ziehen nach Middleville, USA«, sagte er feierlich, »ich kriege einen Job am Fließband bei Ford. Da baue ich Türen in Lieferwagen ein. Slit tritt der PTA bei. Wir werden drei Blagen kriegen, und jeden Tag macht mir Slit mein Essen und gibt mir eine Thermoskanne und ein Kuchenpaket mit. Wir werden fernsehen und im Schlaf sterben.«
Er stand da wie versteinert inmitten des Mülls. Dann nahm er mit einer brüsken Bewegung das Mädchen beim Arm und verschwand mit ihr außer Sichtweite.