14. KAPITEL
Niemandsland
19.
Holt Overholser, dreiundsechzig Jahre alt, Chef der Polizei West Tisbury und der einzige ganzjährige Beamte dieser Dienststelle, wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und grollte innerlich über den alljährlichen Zustrom an Sommergästen, denen er zwar sein Gehalt verdankte, die sich aber nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hielten und ständig versuchten, ihre Abfälle auf die städtische Müllkippe zu werfen, und das auch noch an Tagen, an denen sie offiziell geschlossen war. Er hatte einen beträchtlichen Teil des Nachmittags damit zugebracht, mit Hilfe seines Radardetektors Strafzettel auszustellen. Der Stadtrat hatte eine halbe Meile vom Zentrum entfernt ein Schild mit einem Tempolimit dreißig aufgestellt, obwohl die Herren wussten, dass niemand den Fuß vom Gaspedal nehmen würde, bis er an der presbyterianischen Kirche vorbei war. Dort parkte Holt, um jeden zweiten Wagen herauszuwinken und dem Halter ein Knöllchen für zu schnelles Fahren in die Hand zu drücken und ein Bußgeld von fünfundzwanzig Dollar zu kassieren. Er war so umsichtig, die Formulare bereits vorher auszufüllen.
Dies war für die Stadt zu einer der wichtigsten Einnahmequellen geworden; der Stadtrat war’s zufrieden und Holt auch. Letztes Jahr hatte es sogar für einen neuen Ford Bronco mit Allradantrieb und Polizeiausrüstung gereicht. Dieses Jahr, so hoffte er, würden sie diese neuen Walkie-Talkies bekommen, die man sich an den Gürtel schnallte, mit einem Mikro auf der Schulter, so wie er es in Polizeirevier Hill Street gesehen hatte. Das war Holts Lieblingsserie, und er verdankte ein Gutteil seiner Ausbildung als Polizist dieser und weiteren Krimiserien, von denen er keine Folge ausließ. Sie reichten bis zu Polizeibericht zurück. Jedes Mal, wenn er eine Funkverbindung beendete, sagte er in genau dem mürrischen Ton, den Broderick Crawford berühmt gemacht hatte: »Roger.« Er fragte sich, ob es in der kommenden Fernsehsaison neue gute Polizeiserien geben würde. Er wagte, es zu bezweifeln. Cops schienen einmal wieder aus der Mode gekommen zu sein, und wahrscheinlich würde es ein paar Jahre dauern, bis das Fernsehen einmal wieder etwas Neues ausprobierte. Miami Vice ging für ihn nicht als Polizeiserie durch.
Holt blätterte seinen Strafzettelblock durch, um sicherzugehen, dass alles leserlich war, bevor er ihn ans Sekretariat der Stadtverwaltung schickte. Er hatte in vier Stunden siebenundvierzig Knöllchen ausgestellt und lag damit um drei unter seinem Rekord, dachte er enttäuscht. Bald war Labor Day, und er war zuversichtlich, seine Höchstleistung nicht nur zu wiederholen, sondern weit zu übertreffen.
Er räkelte sich und sah aus dem Fenster des kleinen Büros. Es war dunkel geworden an diesem warmen Spätsommerabend. Vom Tag blieb nur noch ein schnell verblassender roter Schimmer im Westen. Holt war in dieser Richtung nie weiter gereist als zu Thanksgiving nach Albany, wo seine Schwester wohnte, doch er war ein eifriger Leser, vor allem von Romanen und Reiseberichten, und er sehnte sich nach Tapetenwechsel. Er sah sich gerne als jemand, der eine Zeitreise in eine frühere Epoche unternimmt, am liebsten in den Wilden Westen. Zum Beispiel als Friedenswächter einer Kleinstadt – hart, aber herzlich, fair, aber jemand, dem man nicht auf die Füße treten sollte, ein Mann, den man im Ernstfall gern an seiner Seite hat. Zugegeben, in seinen dreiunddreißig Dienstjahren auf Martha’s Vineyard war es nie zum Ernstfall gekommen. Gelegentlich ein angriffslustiger Betrunkener – das war das Schlimmste gewesen, das ihm je untergekommen war.
Er schloss die Augen und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück. Zum Abendessen würde es frischen Blaubarsch geben, mit Gemüse aus seinem eigenen Garten. Holt beglückwünschte sich zu der guten Küche, die er genoss, was er der Passion seiner Frau verdankte.
Er schlug sich ans Herz. Dreiundsechzig und bei guter Gesundheit, dachte er. Der Stadtrat hatte vor drei Jahren versucht, ihn in Pension zu schicken, doch Holt hatte die amtsärztliche Untersuchung besser bestanden als ein halbes Dutzend Männer, die dreimal so jung waren wie er, und so hatten die Stadtväter beschlossen, ihn zu behalten. Außerdem fanden sie es amüsant, wie Holt zur Entlastung des Staatssäckels im Sommer für wenig Geld Jugendliche als Hilfspolizisten rekrutierte. Holt konnte sie beim Armdrücken alle mühelos niederringen, und zwar mit der linken Hand; vor vierzig Jahren hatte er vor Menemsha auf einem Hummerboot gearbeitet und beträchtliche Oberkörpermuskeln entwickelt, indem er die vollen Körbe Hand über Hand an Bord gehievt hatte. Als junger Mann hatte er außerdem Pokerspielen gelernt, womit er jetzt sein Einkommen um ein erkleckliches Sümmchen aufbesserte. Die Collegekids, dachte er, bilden sich immer ein, sie beherrschten das Spiel, dabei müssen sie es erst noch richtig lernen.
Er betrachtete das Bündel Strafmandate und kam zu dem Schluss, dass morgen auch noch ein Tag sei. Die meisten Dinge konnten warten, selbst in der Hochsaison. Er gähnte und nahm träge das Polizeifunkgerät auf der Ecke seines Schreibtischs zur Hand.
»Leitstelle, hier Eins-Alpha-Eins, West Tisbury, ich bin zehnsechsunddreißig von der Zentrale entfernt. Bitte stellen Sie mich auf Notfunkfrequenz durch, roger!«
»Hallo, Holt, wie geht’s, wie steht’s heute Abend?«
»Äh, gut, Leitstelle.«
»Hat Sylvia das Rezept bekommen, das ich ihr geschickt habe?«
»Ähm, roger, Leitstelle.«
Er hasste es, wenn Lizzie Barry die Spätschicht beim Notruf schob. Sie war älter als er und schon ein bisschen senil. Sie hielt sich nie an die korrekte Terminologie.
»Eins-Alpha-Eins, verstanden, roger.«
»Gute Nacht.«
Er hängte das Mikro ein und fing an, seine Sachen zusammenzusuchen, als er die Frau zur Tür hereinkommen sah. Er lächelte.
»Gerade dabei, dichtzumachen, Ma’am. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bräuchte eine Wegbeschreibung«, sagte Mercedes Barren.
»Ach so, sicher«, antwortete Holt und musterte die Frau. Trotz Jeans und Sportshirt wirkte sie nicht wie ein Feriengast. Sie verströmte Großstadtflair, und Holt hatte das dumpfe Gefühl, dass es um etwas Geschäftliches ging. Wahrscheinlich mal wieder ein Bauunternehmen, schätzte er.
»Ich bin auf der Suche nach einer Stelle, an der vor zwanzig Jahren ein Unfall passiert ist.«
»Ein Unfall?« Holt setzte sich und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. Seine Neugier war entfacht.
»Vor ungefähr zwanzig Jahren ist ein Geschäftsmann aus New Jersey, ein Drogeriebesitzer, vor South Beach ertrunken. Ich muss wissen, wo dieser Unfall passiert ist.«
»Oh, hah, South Beach ist fast dreißig Kilometer lang, und zwanzig Jahre sind eine Ewigkeit. Da bräuchte ich es schon ein bisschen genauer.«
»Erinnern Sie sich an den Unfall?«
»Ma’am, ich will ja nicht unhöflich sein, aber hier ertrinken jeden Sommer ein, zwei Leute. Nach einer Weile nivelliert sich das. Gehört sowieso in die Zuständigkeit der Küstenwache, ich hab nur ein bisschen mit dem Papierkram zu tun.«
»Ich habe den Zeitungsartikel dabei. Würde Ihnen das weiterhelfen?«
»Kann zumindest nicht schaden.«
Er beugte sich vor, während Mercedes Barren die alte Ausgabe der Vineyard Gazette aus ihrer Tasche zog. Holt erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Lauf der Automatik und platzte, ohne sich eine gescheite Frage zu überlegen, heraus: »Sie tragen eine Waffe bei sich, Ma’am?«
»Ja«, bestätigte sie und zog ihre Dienstmarke heraus. »Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin Detective Mercedes Barren, Kripo Miami.«
Holt war hocherfreut.
»Wir haben hier oben selten das Vergnügen mit Kollegen, ähm, Leuten aus der Großstadt. Arbeiten Sie hier an einem Fall?«
»Nein, nein, nur zu Besuch bei Freunden.«
»Ach so«, meinte er enttäuscht. »Wozu dann die Waffe?«
»Reine Gewohnheit, tut mir leid.«
»Hm, hm. Dann wollen Sie sie vielleicht bei mir lassen?«
»Chief, ich reise morgen früh ab, und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich sie lieber behalten. Können Sie nicht für eine Kollegin ein Auge zudrücken?«
Er beantwortete die Frage mit einem Lächeln und einer zustimmenden Handbewegung. »Bin nur nicht sonderlich scharf drauf, Handfeuerwaffen auf der Insel zu haben. Ist noch nie was Gutes dabei rausgekommen.«
»Chief, das ist in der Großstadt nicht anders.«
Sie schob ihm die Zeitung hin. Er überflog die Seite. »Ja, kann mich dunkel erinnern. Der Kerl ist, glaube ich, in eine Unterströmung geraten. Hatte keine Chance.« Er sah Mercedes Barren an. »In Miami Beach haben Sie bestimmt keine Brandungsrückströme, möchte ich wetten.«
»Nein, Chief.«
»Also, eine solche Strömung bildet sich, wenn die Wellenbewegung den Sand am Grund aufwühlt, so dass praktisch ein Loch entsteht. Das Wasser fließt rein, und plötzlich muss es wieder raus. Wie in einem Kanal wird es komprimiert und fließt unter der Oberfläche ein paar hundert Meter ins Meer hinaus. Das Dumme ist, dass die meisten Menschen wie wahnsinnig strampeln, wenn sie merken, dass diese Strömung sie nach draußen zieht. Sie wissen nicht, dass sie nichts weiter zu tun brauchen, als sich treiben zu lassen und danach zum Strand zurückzuschwimmen. Oder, wenn sie schon meinen, sie müssten was tun, dann sollten sie parallel zum Strand schwimmen. So’ne Strömung ist meist nur zwanzig, dreißig Meter breit. Aber nein, die Leute strampeln wie verrückt. Sie verausgaben sich, sind erschöpft – aus und vorbei! Ich hab den Papierkram am Hals, und die Jungs von der Küstenwache müssen nach der Leiche suchen. Passiert am South Beach ein-, zweimal pro Jahr.«
»In dem Artikel steht nur South Beach.«
Holt las weiter. »Da wird erwähnt, die Familie hätte in West Tisbury gewohnt, aber er verrät nicht, wo.«
»Ich weiß. Ich dachte, Sie erinnern sich vielleicht.«
Er schüttelte den Kopf. Er sah auf die Zeitung.
»Sagen Sie, was hat das mit einem Besuch bei Freunden zu tun?«
Mercedes Barren lachte. »Also, Chief, das ist wirklich eine lange Geschichte, aber ich will versuchen, es kurz zu machen. Meine Freunde haben das Haus gemietet, und dort sind sie auf diese alte Zeitung gestoßen. Sie wussten, dass ich zu Besuch raufkommen wollte, und dachten, das könnte mich interessieren, also haben sie sie mir nach Miami runtergeschickt, zusammen mit einer Wegbeschreibung. Das Blöde ist nun, ich hab den Zettel mit der Wegbeschreibung und der Telefonnummer verlegt und die Zeitung behalten. Und jetzt versuche ich, sie zu finden.«
»Hmmh.«
»Möchte wetten, dass Sie es hier draußen im Sommer mit einer Menge Verrückter zu tun bekommen.«
»Hmmh.«
»Na ja, dann packen Sie mich am besten in Ihren Ordner ›Ferientrottel‹ und helfen mir, dieses Haus zu finden.«
Holt brach in ein Grinsen aus.
»Würde ein ganzes Regal füllen, nicht nur einen Ordner.«
Er sah sich den Bericht noch einmal an. »Wir könnten vermutlich bei den Maklern ein bisschen rumtelefonieren und gucken, ob einer von denen die Hütte vermietet hat. Aber das kann dauern. Haben Sie es schon bei der Gazette versucht?«
»Ja, aber die haben schon Feierabend.«
Holt überlegte einen Moment.
»Also, ich hätte da eine Idee. Wär zumindest einen Versuch wert.«
Er griff nach dem Funkgerät und sagte: »Leitstelle, hier spricht Eins-Alpha-Eins, bitte kommen.«
»Hallo, Holt«, begrüßte ihn Lizzy Barry. »Du müsstest doch längst zu Hause sein. Da wird dein Essen kalt.«
»Leitstelle, ich hab hier eine Frau, die ihre Freunde sucht. Ist ’ne lange Geschichte, jedenfalls wohnen die in demselben Haus wie ein Kerl namens Allen in dem Sommer, als er ertrunken ist. Vor zwanzig Jahren. Erinnerst du dich an den Fall? Over.«
Einen Moment lang knisterte es im Funkgerät.
»Klar kann ich mich erinnern, Holt. Der ist am Abend noch mal schwimmen gegangen. Das war in dem Sommer, wo wir die Hitzewelle hatten, als es das eine Mal über vierzig Grad ging, weißt du noch? Ich weiß es so genau, weil an dem Tag mein Hund gestorben ist. Hitzschlag. War’n braver alter Hund, Holt, weißt du noch?«
Holt erinnerte sich nicht mehr. »Sicher, sicher, ein Setter, nicht wahr?«
»Nein, ein Golden Retriever.«
»Ach so.« Holt wartete darauf, dass die Stimme weiterredete, doch am anderen Ende blieb es still. »Also, Leitzentrale … Lizzie, kannst du dich noch entsinnen, wo der Mann, der ertrunken ist, gewohnt hat? Over.«
»Glaub schon. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine, er wohnte am Great Pond in Tisbury. Am Finger Point. Könnte mich allerdings auch irren.«
»Danke, Lizzie, roger!«
»Gern geschehen, Holt. Over and out.«
Holt hängte das Mikrophon ein. »Na, wie finden Sie das?«, wandte er sich an Detective Barren. »Die alte Lizzie ist wie eine Enzyklopädie. Sie kann sich so ziemlich an alles erinnern, was hier in der Gegend mal passiert ist. Zumindest alles, was irgendwie aufregend ist. Hören Sie, es wird wohl trotzdem nicht leicht für Sie, bei Nacht da runterzufinden. Sie sollten sich für heute ein Hotel suchen und morgen früh hinfahren.«
»Klingt vernünftig. Könnten Sie es mir trotzdem kurz auf der Karte zeigen?«
Holt zuckte die Achseln. Er trat an die Wand und zeigte ihr die tiefsandige Einfahrt, nach der sich der holprige Feldweg erstreckte. Er wies sie auf die Weggabelung hin und erklärte ihr, welcher Pfad zum Finger Point hinunterführte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er selbst das letzte Mal dort gewesen war. Vermutlich in den ganzen zwanzig Jahren seit dem Badeunfall kein einziges Mal. Er schüttelte den Kopf.
»Denken Sie dran, da gibt es keine Lampen. Sieht alles gleich aus. Man kann sich ziemlich leicht verirren. Warten Sie bis morgen früh.«
»Ein guter Rat, Chief. Weiß ich zu schätzen. Wahrscheinlich fahr ich einfach nach Vineyard Haven rein und such mir ein Zimmer. War trotzdem nett, dass Sie es mir gezeigt haben.«
»Kein Problem.«
Holt Overholser begleitete Mercedes Barren in die Dunkelheit hinaus. »Ist richtig warm heute Abend«, meinte er. »Vor drei Nächten ist es auf sieben Grad runtergegangen, und außerdem sagen mir meine alten Knochen, dass wir trotzdem einen frühen Herbst und einen harten Winter bekommen. Wenn Sie erst mal mein Alter erreicht haben, sind natürlich alle Winter hart.«
Mercedes Barren lachte. »Chief, so wie Sie aussehen, kommen Sie spielend mit allem klar, was der Winter mit sich bringt.«
»Na, jedenfalls brauchen Sie sich da unten in Miami keine großen Gedanken über Kälte zu machen.«
»Da haben Sie recht.« Sie lächelte. »Wollen Sie mir ein Hotel empfehlen?«
»Die sind alle ziemlich gut.«
»Gern geschehen. Schauen Sie mal rein, und wir können ein bisschen fachsimpeln.«
»Das mach ich vielleicht«, sagte Mercedes Barren.
Er sah zu, wie sie in ihren Wagen stieg. Was er nicht sehen konnte, war ihr Gesicht, auf dem der umgängliche Ausdruck augenblicklich einer strengen, konzentrierten Miene wich. Sie fuhr aus der Einfahrt der kleinen Polizeistation. Holt dachte an den Blaubarsch, der auf ihn wartete, aber dennoch entging ihm nicht, dass Detective Barren die Straße genommen hatte, die keineswegs zum Stadtzentrum führte, sondern ins dunkle Herz der Insel. Er blieb einen Moment stehen und hatte ein unbehagliches Gefühl, bevor er sich auf den Heimweg machte.
Detective Barren fuhr langsam durch die schwarze Nacht und dachte: Das macht es zwar schwerer, das Haus zu finden, dafür ist es leichter, mich Douglas Jeffers unbemerkt zu nähern, was mir einen Vorteil verschafft.
Ihr Plan beschränkte sich darauf, ihm keine Chance zu geben. Wenn nötig, schieße ich ihm in den Rücken. Ich drücke ab, sobald ich die Gelegenheit habe. Nicht warten! Schieß, sobald du kannst. Ein Schuss, das muss reichen. Zu mehr wird’s vielleicht nicht kommen. Mehr wird auch nicht nötig sein.
Sie blickte angestrengt auf die Straße, in die Dunkelheit jenseits des kleinen Lichtkegels ihrer Scheinwerfer und suchte nach der Abzweigung Richtung Finger Point.
Die Bilder vom Tage schienen zwar fern, drängten sich ihr aber dennoch immer wieder auf und beeinträchtigten ihre Konzentration: Sie sah die Lost Boys, die einen Kreis um sie bildeten und sie scharf beobachteten, während sich das Gespräch im Grenzbereich ihrer Perversionen bewegte. Sie fand, dass sie gut mit den Kerlen fertiggeworden war. Für einen Moment staunte sie über die Macht der Intuition – wie die richtigen Worte, die im richtigen Kontext fielen, zu den entlegensten Schlüssen führen können! Als sie die Sitzung verlassen hatte, war sie vollkommen davon überzeugt gewesen, dass Martin Jeffers sich aufgemacht hatte, um seinen Bruder an der Stelle zu finden, an der ihr Adoptivvater gestorben war. Diese Überzeugung war auch nicht ins Wanken geraten, als sie mit einem Montierhebel an Martin Jeffers’ Fenster getreten und zum zweiten Mal in seine Wohnung gehechtet war, nur dass sie sich diesmal gar nicht erst die Mühe gab, leise und vorsichtig zu sein.
Sie war sofort ins Schlafzimmer gegangen und hatte die Zeitung hervorgesucht. Als sie den Artikel nach Einzelheiten überflog, hatte sie enttäuscht festgestellt, dass er weniger präzise war als gehofft.
Dafür war der alte Provinzpolizist perfekt gewesen.
Sie dachte daran, wie sie mit Vollgas New Jersey hinter sich gelassen hatte, wie sie sich durch den Nachmittagsverkehr in Manhattan gequält und aus Frust über all die Verzögerungen im Verkehr hätte schreien können.
Dann hatte sie eine Ewigkeit in Woods Hole warten müssen und war im Gebäude der Fährverwaltung hin und her marschiert, während sie die Hände geknetet hatte. Die Überfahrt selbst war ebenfalls mühsam gewesen, und für den Bilderbuchanblick der untergehenden Sonne mit den Segelbooten im grünen Wasser fehlte ihr jeder Sinn.
Dafür hatte sie ausgesprochenes Glück gehabt, als sie zum Autoverleih in der Nähe der Anlegestelle gegangen war. Sie dachte an den kleinen Mann, der ihre Kreditkarte entgegengenommen, ihr die Schlüssel ausgehändigt und ihr die Auskunft erteilt hatte, sie läge absolut richtig, ein Martin Jeffers sei mit der ersten Fähre am Morgen eingetroffen.
»Sagte, hätte geschäftlich auf der Insel zu tun. Freund von Ihnen?«
»Na ja, Konkurrenz, trifft es wohl besser.«
»Dann geht’s vermutlich um Immobilien. Ständig auf der Jagd, ständig dabei, euch gegenseitig auszustechen.«
Sie hatte ihn nicht korrigiert. »Na ja, ist ein hartes Geschäft.«
»Hier nicht. Hier verdienen sich alle eine goldene Nase.«
Er hatte sich ihren Führerschein angesehen. »Kommt nicht alle Tage jemand aus Florida her. Vor allem New York, Washington, Boston. Nicht Miami.«
»Ich arbeite für eine große Firma«, hatte sie gelogen. »Überall Zweigstellen.«
»Na ja«, hatte der Angestellte gesagt, »ich finde, hier wird sowieso viel zu viel gebaut.«
Sie hatte eine Spur Verärgerung herausgehört.
»Tatsächlich?«, hatte sie erwidert. »Ich arbeite bei einer Firma, die sich auf die Renovierung von alten Anwesen spezialisiert. Nicht wie mein Kumpel Jeffers. Er macht in Motels und Eigentumswohnungen.«
»Verdammt«, hatte der Mann geflucht. »Ich wünschte, ich hätte ihm den Wagen nicht gegeben.«
»Was war es denn für einer?«
»Ein weißer Chevy Celebrity. Kennzeichen acht-eins-sieben, dreimal J. Halten Sie die Augen offen.«
»Danke«, hatte sie gemeint. »Mach ich. Hat er gesagt, wohin genau er wollte?«
»Nee.«
»Na ja, ich werde ihn jagen, bis ich ihn hab.«
»Viel Glück. Und bringen Sie diesen Wagen bis morgen Abend um acht zurück, sonst kostet es extra.«
Sie schaltete das Fernlicht ein und durchfuhr eine kleine Senke. Alle hundert Meter zweigte rechts eine unbefestigte Straße ab, und sie fluchte wütend vor sich hin, weil sie alle gleich aussahen. Nur weiter. Immer weiter. Such nach der Sandsenke, wie der Chief gesagt hat. Ein entgegenkommendes Fahrzeug blinkte, damit sie ihr Fernlicht ausschaltete. Schließlich gab sie nach, und der andere Wagen rauschte auf der schmalen Straße mit einem leisen Zischen vorbei. Sie hatte für einen Moment das Gefühl gehabt, als würden sie sich streifen, und war kurz in Panik geraten. Sie sah den roten Rücklichtern hinterher und war plötzlich wieder in Dunkel gehüllt.
Sie starrte in die Nacht.
»Es ist hier irgendwo«, sagte sie laut vor sich hin und fand den Klang ihrer Stimme tröstlich. »Ich weiß es.«
Sie fuhr im Kriechtempo weiter.
»Kommt schon, kommt schon, wo seid ihr?«
Sie war allein und fühlte sich auf der pechschwarzen Insel wie auf hoher See. Sie starrte nach vorn und konnte kaum die Grenze zwischen Bäumen und Himmel erkennen. Es war, als baumelte sie hoch über dem Wasser und klammerte sich an die letzten Fasern eines reißenden Stricks. Sie merkte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte, und war machtlos dagegen. Ich bin nah dran, dachte sie, ich bin ganz nah dran. Sie bekam schwer Luft, als sei plötzlich nicht genügend Sauerstoff im Wagen. Er ist hier, ich weiß es. Aber wo? Wo? Sie knirschte mit den Zähnen. Sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie erhob die Stimme und schrie gegen die Einsamkeit der Nacht an: »Komm schon, komm schon!«
Und dann sah sie die Abzweigung.
Anne Hampton saß am Tisch und starrte auf das vor ihr aufgeschlagene Notizbuch. Sie las die Worte: Ich tue diese Dinge, weil ich nicht anders kann, weil ich es will. Weil wir alle etwas in uns haben, das uns sagt, was wir tun müssen. Wenn wir es nicht tun, bringt der Wunsch danach uns um den Verstand.
Die Antwort des jüngeren Bruders hatte sie daruntergeschrieben: Du kannst dir helfen lassen. Es muss nicht sein.
Sie schüttelte den Kopf.
So konnte er Douglas Jeffers nicht kommen, da tappte er völlig daneben. Sie betrachtete noch einmal ihre Notizen. Dieser Teil der Unterhaltung lag ein paar Stunden zurück. Vielleicht hat er sich ja inzwischen etwas Besseres einfallen lassen. Doch sie bezweifelte es.
In ihren Augen schien der Bruder ganz und gar hilflos zu sein, unfähig, etwas zu begreifen, auf Konfrontationskurs und kaum in der Lage, einen vernünftigen Satz zu artikulieren, geschweige denn, den älteren Bruder dazu zu bewegen, die Waffe wegzulegen.
Sie schloss die Augen. Das hätte ich ihm gleich sagen können, dachte sie. Ich hätte ihm sagen können, dass alles längst feststand, dass es keinen Ausweg gab, dass alles so ablaufen musste, wie Douglas Jeffers es schon vor geraumer Zeit ins Drehbuch geschrieben hatte, damals, in grauer Vorzeit, als sie noch Studentin war, die Tochter von ganz normalen Leuten, und nicht die Biographin eines Mörders.
Anne Hampton überlegte ohne Angst und Panik, was jetzt mit ihnen allen geschehen würde. Sie war innerlich losgelöst, fast so, als wäre sie gar nicht sie selbst, sondern stünde neben sich, für andere unsichtbar, und verfolgte von einer Loge aus das Geschehen auf der Bühne. Sie erinnerte sich, dass sie sich schon einmal so gefühlt hatte, und zwar während dieser Morde und in den ersten Augenblicken im Motel. Wie lange war das her? Sie hätte es nicht sagen können. Sie glaubte, dass das Gedächtnis immer so funktionierte – wie eine Aneinanderreihung unendlich vieler Momentaufnahmen, Filmausschnitte, die an den Rändern verschwammen und in ruckartigen Bewegungen an einem vorüberflimmerten.
Ich sehe noch vor mir, wie ich durch den Schnee renne. Ich sehe, wie mir vor Kälte das Gesicht brennt, aber ich weiß nicht mehr, wie es sich angefühlt hat. Ich hätte ihn nicht retten können, dachte sie. Sie sah den Obdachlosen und den Mann, der allein die Straße entlangging, und die beiden Frauen, die davongekommen waren – wie hießen sie noch gleich? –, und dann die Teenager im Wagen.
Ich kann überhaupt niemanden retten. Ich kann nicht, ich kann einfach nicht. Ich durfte es nicht. Ich wollte es, o mein Gott, ich wollte ihn retten, er war mein Bruder, aber ich konnte es nicht, ich konnte es nicht, ich konnte es nicht. Ich kann nicht.
Sie hätte am liebsten geweint, wusste aber, dass es nicht erlaubt war.
Beim Klang von Douglas Jeffers’ Stimme fuhr ihr Kopf hoch, und sie sprang vom Stuhl.
»Bring unseren Gästen Wasser.«
Sie nickte und rannte in die Küche. Im Wandschrank über dem Herd fand sie einen Krug, den sie mit Wasser füllte. Zügig, aber darauf bedacht, nichts zu verschütten, durchquerte sie das Wohnzimmer, wo die beiden Brüder einander gegenübersaßen und, nachdem sie den ganzen Tag geredet hatten, in Schweigen verfallen waren.
Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer im Erdgeschoss und trat leise ein. Sie nahm an, dass sie vielleicht schliefen, und wollte niemanden wecken, doch beim Geräusch ihrer Schritte auf dem Holzboden sah sie, wie vier Augenbrauenpaare ängstlich in die Höhe schnellten.
Sie fühlte sich erbärmlich.
»Schon gut, schon gut«, versicherte sie und wusste, wie dumm das klang, wie albern es war, sie trösten zu wollen. Es war klar, dass sie sterben würden, und zwar bald. Das war von Anfang an der Plan gewesen.
Dass sie x-beliebige Leute waren, hatte für ihn nichts zu sagen. Das Entscheidende war, dass sie sich in diesem Moment an diesem Ort befanden, der offensichtlich für ihn von Bedeutung war.
Kurz bevor sie durch eine Schiebetür auf der Veranda, die praktischerweise offengestanden hatte, um die frische Sommerbrise hereinzulassen, in das Haus einbrachen, hatte er ihr zugeflüstert: »Ich muss dieses Haus mit Gespenstern füllen.«
Sie legte der Frau sanft die Hand auf den Arm, um sie zu beruhigen.
»Ich hab Ihnen Wasser gebracht«, sagte sie. »Nicken Sie einfach, wenn Sie etwas trinken wollen. Sie zuerst, Mrs. Simmons?«
Die Frau nickte, und Anne Hampton lockerte den Knebel. Sie hielt ihr den Krug an die Lippen. »Trinken Sie nicht zu viel«, mahnte sie. »Ich weiß nicht, ob er mir erlaubt, mit Ihnen zur Toilette zu gehen.«
Die Frau hielt mitten in einem großen Schluck inne und nickte wieder.
»Ich habe Angst«, flüsterte die Frau, die das Wasser hinuntergeschluckt hatte. »Können Sie uns nicht helfen? Sie scheinen ein so nettes Mädchen zu sein. Sie sind offenbar nicht viel älter als die Zwillinge, bitte, bitte …«
Anne Hampton wollte gerade etwas erwidern, als sie aus dem Wohnzimmer eine Stimme hörte.»Nicht reden. Nur einen Schluck Wasser. Ich muss mich an die Regeln halten.«
»Bitte«, flehte die Frau.
»Es tut mir leid«, wisperte Anne Hampton zurück. Sie band ihr den Knebel wieder um, zog ihn aber diesmal nicht so fest. Die Frau nickte dankbar.
Anne Hampton ging zuerst zu einer der Zwillingsschwestern weiter, dann zu der anderen. »Nicht reden«, bat sie die beiden im Flüsterton. Als sie zum Vater kam, zögerte sie. »Bitte«, beschwor sie ihn, »riskieren Sie nichts, fordern Sie ihn nicht heraus.« Der Mann nickte, und sie löste seinen Knebel. Er trank, und sie knebelte ihn erneut. Einen Moment lang versuchte er, sich aus dem Strick zu winden, mit dem sie alle zusammengebunden waren. Sie hörte, wie der Mann durch den Knebel flehte: »Bitte helfen Sie uns«, doch was sollte sie sagen?
»Es tut mir leid«, erwiderte sie nur.
Sie schloss die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Wie geht’s ihnen?«, fragte Douglas Jeffers.
»Sie haben Angst.«
»Dazu haben sie auch allen Grund.«
»Doug, bitte«, drängte Martin Jeffers. »Lass wenigstens die Familie gehen. Was haben sie denn getan …«
Der ältere Bruder fiel ihm abrupt ins Wort.
»Hast du denn den ganzen Tag nichts dazugelernt? Verdammt noch mal, Marty, ich hab es dir doch hundertmal erklärt. Es ist ja gerade wichtig, dass sie nichts getan haben. Das ist entscheidend. Siehst du das denn nicht? Die Schuldigen werden nie bestraft, nur die Unschuldigen. So läuft es nun mal auf der Welt. Die Unschuldigen und die Ohnmächtigen. Das sind die Opfer.«
Douglas Jeffers schüttelte den Kopf.
»Das kann doch nicht so schwer zu begreifen sein.«
»Ich versuch’s ja, Doug, glaub mir, ich versuch’s.«
Douglas Jeffers sah seinen Bruder unversöhnlich an.
»Dann streng dich noch mehr an.«
Sie verfielen in Schweigen. Douglas Jeffers spielte mit der Automatik herum, während Martin Jeffers ruhig dasaß. Anne Hampton nahm ihren Platz wieder ein und schlug ein neues Notizbuch auf.
»Schreib das alles auf, Boswell.«
Sie nickte und wartete. Es ist alles Wahnsinn, dachte sie. Es gibt keine Normalität mehr auf der Welt, nur Gewalt und Tod und Wahnsinn. Und ich bin ein Teil davon. Mit Haut und Haaren.
Sie nahm den Stift und schrieb: Niemand kommt hier lebendig raus.
Sie überraschte sich selbst. Es war das erste Mal, dass sie einen eigenen Gedanken in eines der Notizbücher geschrieben hatte.
Sie starrte den Satz an. Er machte ihr Angst. Die Worte auf den Seiten flirrten und waberten wie die Hitze über dem schwarzen Asphalt der Highways. Sie kämpfte gegen die Erschöpfung und den vernichtenden Gedanken an und ließ den Tag noch einmal Revue passieren, um die Angst mit Erinnerungen zu verdrängen.
Sie wusste nicht, wieso Douglas Jeffers die Ermordung der Simmons aufgeschoben hatte. Sie wusste nur, dass sie die Familie aus den Betten geholt, gefesselt, geknebelt, ihnen die Augen verbunden und sie anschließend ins Nebenzimmer gepfercht hatten. Dort hatte er sie zurückgelassen, während er selbst die Füße aufs Sofa gelegt und entspannt auf den Sonnenaufgang gewartet hatte. Danach hatte er ein ausgiebiges Frühstück gerichtet. Er hatte lediglich gesagt, das Spiel wäre umso spannender, wenn er sie einen Tag am Leben ließe. Das hatte sie erstaunt. Fast schien es ihr so, als nähme er sich absichtlich Zeit, um die Situation vollends auszukosten, statt zum nächsten Schritt überzugehen. Dass ihre Situation heikel war, schien ihn nicht anzufechten. Sie hatte keine Ahnung, was ihn dazu brachte, die Dinge in die Länge zu ziehen, doch es machte ihr Angst.
Wir haben das Ende erreicht, dachte sie.
Es ist die letzte Szene, und er will alles aus ihr herausholen.
In das Dickicht ihrer Angst waren zwei Gedanken eingedrungen:
Was wird er mit ihnen machen?
Was wird er mit mir machen?
Douglas Jeffers hatte Rührei und Schinken zum Frühstück zubereitet, doch sie hatte kaum einen Bissen herunterbekommen. Sie waren fast fertig gewesen, als der Wagen die Einfahrt herunterkam.
Die Vorstellung, dass jemand hier hereinstolperte und Douglas Jeffers in die Quere kam, hatte sie entsetzt. Als sie den Bruder sah, hatte sie sich kaum fassen können. Sie hatte augenblicklich angenommen, er sei genauso wie Douglas Jeffers. Als sie festgestellt hatte, dass sie sich irrte, verwirrte und beunruhigte sie das noch mehr.
Sie betrachtete erneut die beiden Männer.
Sie saßen nur über einen knappen Meter auseinander, doch Anne Hampton fragte sich, wie groß die innere Distanz zwischen ihnen sein mochte. Ihr drängte sich der Gedanke auf, das könnte wichtig für sie sein, doch sie wusste nicht, wieso.
Am liebsten hätte sie ihnen ins Gesicht geschrien: Ich will am Leben bleiben!
Doch stattdessen saß sie geduldig da und wartete stumm auf Anweisungen.
Bis jetzt hatten sie den Tag so verbracht, wie man es von einem Geschwisterpaar erwarten würde. Sie hatten von früher geredet, Erinnerungen ausgetauscht. Sie hatten ab und zu gelacht. Doch am frühen Nachmittag war die Unterhaltung ins Stocken geraten und unter dem unerbittlichen Druck der Situation allmählich versiegt, bis sie nur noch dasaßen und schwiegen.
Sie blätterte ein halbes Dutzend Seiten zurück und sah sich an, was sie geschrieben hatte. Martin Jeffers hatte gesagt: »Doug, ich kann einfach nicht glauben, wieso wir hier sind. Können wir darüber reden?«
Und Douglas Jeffers’ Antwort: »Glaub’s ruhig.«
Sie sah zu dem Geschwisterpaar auf und registrierte, dass Martin Jeffers unruhig wurde. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Wird er mich retten? Das schien ihr plötzlich mehr als fraglich.
»Doug, wieso tust du das?«
»Keine weiteren Fragen. Das sagen die Anwälte immer vor Gericht, wenn sie ihren Zeugen vor dem Kreuzverhör schützen wollen. Keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Die nächste Frage bitte.«
»Es gibt nur eine.«
»Das stimmt nicht, Marty. Natürlich stellt sich die Frage nach dem Warum, aber auch noch die nach dem Wie und Wann, und dann auch noch, was ich als Nächstes vorhabe. Das scheint mir das Entscheidende zu sein.«
»Meinetwegen«, räumte Martin Jeffers ein. »Was willst du jetzt machen?«
»Frag mich nicht.«
Douglas Jeffers brach in schallendes Gelächter aus. Der Laut wirkte in dem kleinen Zimmer fremd und deplaziert. Anne Hampton kannte dieses Lachen aus den schlimmsten Momenten. Sie hoffte, dass der jüngere Bruder so einsichtig war, einen Rückzieher zu machen.
War er. Er saß schweigend da. Nach einer Weile wedelte der Ältere mit der Hand durch die Luft, als müsse er zwischen ihnen Rauch oder Nebelschleier verscheuchen.
»Hör mal«, setzte Douglas Jeffers an. »Wie viel weißt du?«
»Ich weiß alles.«
Der Ältere schwieg einen Moment.
»Also, das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut.«
Er überlegte, bevor er weitersprach.
»Demnach warst du in meiner Wohnung. Ich hatte gedacht, du würdest warten, bis es vorbei ist. Du solltest damit warten.«
»Nein, genauer gesagt, war jemand anders da.«
»Wer?«
Martin Jeffers verstummte. Er wusste plötzlich nicht, was er sagen sollte. Er dachte an all die intensiven Gespräche mit dem einen oder anderen Kriminellen. Er hatte stets gewusst, wie er sich verhalten sollte. Diesmal war er vollkommen ratlos. Er starrte seinen Bruder an, dann die Pistole in dessen Händen. Doch er sah das Kind hinter dem Mann und begriff: Ich bin auch nichts weiter als ein Kind, ich bin der kleine Bruder. Ihn packte eine gewaltige, brennende Woge des Grolls, die mit jeder Sekunde weiter anschwoll. Ich bin immer der Letzte, der etwas erfährt. Der Letzte, der etwas bekommt. Er hat immer getan und gelassen, was er wollte, ganz egal, wie ich darüber dachte. Er hat nie auf mich gehört. Er hat mich immer wie ein lästiges Anhängsel behandelt. Er war immer der Boss. Er war immer wichtig. Ich zählte grundsätzlich nicht. Ich hatte das Nachsehen. Immer, immer. Plötzlich war ihm alles verhasst, und er wollte seinem Bruder schaden.
»Jemand von der Kripo.«
Kaum war das Wort heraus, bereute er es.
»Und der weiß es auch?«
Martin Jeffers sah, wie sein Bruder sich verspannte und um Fassung rang. Im selben Moment nahm sein einigermaßen entspannter Ton einen klirrend harten Klang an. Es war ein Tonfall, den Martin Jeffers von ihm noch nie gehört hatte, aber aus langjähriger Berufserfahrung nur allzu gut kannte. Er dachte: Ein mörderischer Ton.
»Ja«, bestätigte er. »Genauer gesagt, ist es eine Sie.«
Douglas Jeffers wartete, dann sagte er: »Nun, dann geht es ein bisschen früher ans Sterben.«
Detective Mercedes Barren hatte Mühe damit, den großen amerikanischen Wagen zu bändigen, der mit seiner weichen Federung auf dem holprigen Gelände auf und nieder hüpfte, sosehr sie sich auch bemühte, die Unebenheiten zu umschiffen. Als ein Zweig an der Seite den Lack der Karosserie ankratzte, gab es ein kreischendes Geräusch. Dann hörte sie, wie das Auspuffrohr aufschlug, doch sie fuhr unbeeindruckt weiter.
Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie sich verfahren hatte, auch wenn das Pechschwarz der Nacht und des Waldes, das sie von allen Seiten bedrängte, in ihr ein Gefühl der Verzweiflung auslöste, als ob Vernunft und verantwortungsvolles Handeln irgendwo auf der Strecke geblieben seien und sie langsam, aber sicher in eine Art Unterwelt hinabstieg, wo der Tod die Regeln diktierte. Schattengestalten schienen vor den Lichtkegeln wegzuspringen, und jede davon trug die Fratze eines gespenstischen Todesboten: die unverkennbaren Züge von Douglas Jeffers. Vor Angst schnappte sie nach Luft, fuhr jedoch weiter, die schwere Pistole nunmehr in der Rechten, aufs Lenkrad gestützt.
Als sie die Stelle erreichte, an der sich der Weg mehrfach gabelte, hielt sie an und stieg aus.
Sie stand da und betrachtete die vier Pfade.
Sie lehnte sich gegen die Ratlosigkeit auf. Sie erinnerte sich zwar an die Beschreibung des Polizeichefs und führte sich die Karte vor Augen, die sie in seinem Büro gesehen hatte. Doch die ließ sich auf die düstere Wahl, vor der sie jetzt stand, nicht übertragen. Sie dachte an das berühmte Rätsel um die Dame und den Tiger und wusste nur, dass sie die Tür zur Bestie öffnen wollte.
»Der muss es sein«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf einen der schwarzen Wege. »Mit Sicherheit«, fügte sie hinzu, um ihrer Angst und tatsächlichen Unsicherheit zu trotzen. Der diffuse Gedanke, sie könnte, die Schusswaffe in der Hand, vor einem anderen Ferienhaus landen, geisterte ihr für Sekunden durch den Kopf. Dann schob sie ihn beiseite.
»Auf geht’s«, versuchte sie sich zu ermuntern, und ihre Stimme klang mitten im Wald kümmerlich und dünn. Sie stieg wieder in den Wagen und fuhr los.
Zweihundert Meter weiter gabelte sich die Straße erneut, und sie folgte ihrem Instinkt nach links. Sie wusste, dass sie nach dem Teich Ausschau halten musste und dass die Stelle, an der sie den Gesuchten finden würde, eine lange, schmale Landzunge war. Sie kurbelte die Scheibe herunter und versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, wo das Wasser war, doch es drang nur Nacht in den Wagen. Sie fuhr immer weiter, rollte durch einen offenen Holzzaun und passierte ein Schild mit der Aufschrift: ZUTRITT VERBOTEN! DAS GILT AUCH FÜR SIE. Sie ignorierte es und drang immer tiefer in Gestrüpp und Kiefern ein, bis der Wald sie zu verschlingen drohte. Panik kroch ihr den Nacken empor, und sie hyperventilierte.
Den Gedanken, dass sie vielleicht in eine völlig falsche Richtung fuhr, ließ sie nicht zu.
»Weiter«, trieb sie sich an.
Sie sah, dass sich vor ihr die Bäume lichteten, und trat dankbar aufs Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und sackte wie ein erschöpfter Athlet vor der Ziellinie knirschend zu Boden. Sie stieß einen kurzen Schrei aus. Sie hörte ein Knacken, dann ein ratschendes Geräusch.
Sie hielt an, um nachzusehen.
Beide Vorderräder steckten in einer kleinen, doch verhängnisvollen Mulde. Die Vorderachse hatte sich in den Sand gegraben.
Sie seufzte und schloss die Augen. Vorwärts, hämmerte sie sich ein. Sie öffnete die Augen und stieg wieder ein. Als sie versuchte, aus der Vertiefung herauszufahren, drehten lediglich die Hinterräder durch. Hilflos schlug sie mit der Faust aufs Lenkrad, dann schluckte sie einmal schwer und sah sich um. Sie machte den Motor und die Scheinwerfer aus. Na schön. Dann gehst du das übrige Stück eben zu Fuß. Ist kein Drama; du wolltest das Auto sowieso bald stehenlassen. Lauf einfach immer weiter.
Sie orientierte sich an der Lichtung vor sich und merkte, dass sich ihre Augen schnell an die Dunkelheit gewöhnten. Sie behielt die Pistole in der Hand und ging in Laufschritt über, wenn auch nicht zu schnell, um nicht ihren Knöcheln dasselbe wie der Achse des Leihwagens anzutun. Die zielstrebige Bewegung machte ihr immerhin Mut; sie drängte weiter voran und lauschte auf das dumpfe Geräusch ihrer Füße auf dem sandigen Boden.
Die Straße erschien ihr wie ein Tunnel, dessen Ende abzusehen war. Sie lief schneller und hatte plötzlich die überhängenden Zweige hinter sich gelassen, während sich vor ihr eine weite Grasfläche im Mondlicht öffnete. Wie benommen starrte sie in den Himmel und war überwältigt von den Tausenden von glitzernden Lichtern, die sich endlos über das Dunkel breiteten. Sie kam sich winzig vor und allein, doch zugleich war sie auch erleichtert, den Wald hinter sich gelassen zu haben. Einen Moment lang war ihr das Mondlicht zu hell, und sie blieb keuchend stehen, um sich zu orientieren.
Zu ihrer Linken sah sie einen schimmernden Widerschein. Sie starrte hinüber und entdeckte den Teich. Sie hielt die Luft an und hörte die rhythmischen Wellenschläge. Sie blickte über den Teich hinweg und konnte mühelos die schwarze Linie des South Beach in etwa einem Kilometer Entfernung erkennen.
Ich hab’s gefunden, dachte sie.
Ich bin da.
Sie hielt nach einem Haus Ausschau, konnte jedoch keines entdecken.
Sie drehte sich um und schaute nach rechts, wo sie auch Wasser erwartete, sah jedoch nur Wald, der sich zur Mitte der Insel erstreckte.
»Da stimmt was nicht«, erkannte sie, plötzlich beunruhigt. »Da ist entschieden was faul. Finger Point müsste schmal sein, beidseitig von Wasser umgeben.«
Sie ging drei, vier Meter weiter, als könne der Blickwinkel etwas an der Umgebung ändern.
»Da stimmt so ziemlich gar nichts«, murmelte sie.
Ein Dutzend widerstreitender Gefühle verwirrten ihren Kopf.
»Bitte«, flüsterte sie, »das darf nicht wahr sein.«
Sie ging zur Uferböschung hinunter und starrte über den Teich. Auf den Wellenkräuseln spiegelte sich der Mond. Sie starrte in das Dunkel am anderen Ufer.
Dann sank sie im Sand auf die Knie.
»Nein«, bat sie leise. »Nein, bitte, bloß das nicht.«
Vor ihr lag der kleine See, der sich bis zu der gewellten Dünenkette des South Beach erstreckte. Am anderen Ufer, direkt ihr gegenüber, konnte sie eine einzige, langgestreckte Landzunge ausmachen, mit der Spitze zur Mitte des Sees.
»Nein«, wiederholte sie im Flüsterton. »Das ist nicht fair.«
Sie sah das Haus am Ende der Spitze und wusste in diesem Moment, dass sie den Ort vor Augen hatte, an dem die Jeffers-Brüder warteten. Sie strengte die Augen an und sah, wie sich das Mondlicht in einem weißen Gegenstand fing, in dem sie den Leihwagen von Martin Jeffers vermutete.
Sie beugte sich nach vorn und hämmerte mit den Fäusten im Sand. »Nein, nein, nein, nein, nein«, stöhnte sie. Immer noch auf Knien, drehte sie sich um und blickte auf den Wald zurück. Der falsche Weg, dachte sie, verdammt noch mal der falsche Weg. Ich bin auf der falschen Seite des Teichs angekommen. Der ganze weite Weg und am Ende die falsche Abzweigung. Sie stürzte in ein tiefes Loch. Sie raste vor Wut auf sich selbst.
Immer noch keuchend, als hätte sie einen Wettlauf hinter sich statt vor sich, gewann sie irgendwann die Kontrolle wieder.
Sie rappelte sich hoch.
»So schnell gebe ich nicht auf«, sagte sie laut. Sie schüttelte die Faust in Richtung Haus. »Ich komme.«
Holt Overholser schob den Stuhl vom Tisch zurück und starrte auf die wenigen Reste seiner zweiten Portion Blaubarsch auf seinem Teller. »Verdammt, verdammt«, murmelte er.
»Was hast du, Schatz?«, erkundigte sich seine Frau. »Stimmt was nicht mit dem Fisch?«
Er schüttelte den Kopf. »Da ist nur was, das mir keine Ruhe lässt«, antwortete er.
»Dann behalte es nicht für dich«, riet seine Frau, während sie den Tisch abräumte. »Was macht dir denn zu schaffen? Sorgen schaden der Verdauung, weißt du.«
Einen Moment musste er denken, dass seine Frau die Welt ziemlich gut erfasst hatte: Alles war eine Sache der Verdauung. Wenn die Araber und die Juden mehr Getreide essen würden, dann lägen sie sich nicht dauernd in den Haaren. Wenn die Russen sich ausgewogener und weniger fett ernährten, dann würden sie nicht so auftrumpfen und den Weltfrieden bedrohen. Wenn Terroristen weniger rotes Fleisch und dafür mehr Fisch essen würden, dann bräuchten sie keine Flugzeuge zu entführen. Die Republikaner aßen zu viel Fett, was zu Herzschwäche und einer konservativen Weltanschauung führte, deshalb wählte sie grundsätzlich die Demokraten. Einmal hatte er sie gefragt, was denn mit den kräftig gebauten Kongressabgeordneten von Massachusetts wäre, wie etwa Tip und Teddy, aber sie wollte nichts davon hören.
»Na ja, als ich gerade gehen wollte, bekam ich Besuch von einer Frau von der Kripo, aus Miami.«
»Hat sie an einem Fall gearbeitet, Liebling? Das muss aufregend sein.«
»Sie sagt, nein.«
»Wieso hast du sie nicht zum Essen mitgebracht?«
»Aber sie war bewaffnet. Und sie hat mir eine seltsame Geschichte aufgetischt, die, je mehr ich drüber nachdenke, immer unglaubwürdiger klingt.«
»Und was willst du nun tun?«
Holt Overholser überlegte angestrengt. Er war vielleicht kein Sherlock Holmes, aber Mike Hammer konnte er allemal das Wasser reichen.
»Ich denke, eine kleine Spritztour kann nicht schaden«, meinte er. »Keine Sorge, zu Magnum bin ich wieder da.«
Er schlang sich den Sam-Browne-Gürtel über die Schulter und lief zu seinem Polizeiwagen hinaus.
Martin Jeffers saß reglos auf seinem Sessel und sah zu, wie sein Bruder wütend hin und her marschierte. Einmal versuchte er, einen Blick von Anne Hampton zu erhaschen, doch sie saß, den Stift in der Hand, am Tisch und rührte sich nicht. Er fragte sich, was sie durchgemacht haben musste; er konnte es sich kaum vorstellen und wusste nur, dass es schlimm gewesen sein musste, wenn es sie in diesen nahezu katatonischen Zustand versetzt hatte, in dem sie sich befand.
Seine Überlegungen erstaunten ihn. Es waren die ersten Gedanken seit seinem Eintreffen am Finger Point, die wenigstens von rudimentären psychologischen Kenntnissen zeugten. Er versuchte, sich Befehle zu erteilen. Greif auf dein Wissen zurück.
Doch dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und gestand sich ein, dass es hoffnungslos war. In diesem Moment, dachte er, bin ich nichts weiter als der kleine Bruder.
Er schaute zu Douglas Jeffers auf und dachte: Für ihn werde ich nie etwas anderes sein.
Er richtete den Blick auf seinen Bruder, der erregt zu sein schien und offenbar bei jedem Schritt durchs Zimmer die Situation abschätzte.
»Ist es nicht komisch«, sagte Douglas Jeffers in einem Ton, der nicht den leisesten Anflug von Humor erkennen ließ, »wie man in eine derart komplexe emotionale Situation geraten kann und sich trotzdem wenig, wenn überhaupt etwas zu sagen hat? Was willst du machen? Willst du mir erzählen, ich dürfte nicht so sein, wie ich bin?«
Die Bemerkung zog ein kurzes, trockenes Lachen nach sich.
»Also«, fuhr der ältere Bruder fort, »dann sprich mit mir über was Bedeutsames, Wichtiges. Berichte mir von dieser Polizistin.«
»Was willst du denn wissen?«
Sein Bruder blieb stehen und richtete die Waffe auf ihn.
»Glaubst du, ich würde auch nur einen Moment zögern? Meinst du, nur weil du mein Bruder bist, würde ich bei dir eine Ausnahme machen? Du bist hergekommen! Du hast es gewusst! Folglich hast du auch das Risiko gekannt …«
Er schwieg.
»Also komm mir bloß nicht dumm.«
Martin Jeffers nickte.
»Sie ist aus Miami. Sie glaubt, dass du ihre Nichte ermordet hast …« Er brachte es nicht über sich zu sagen, woran er nicht im Geringsten mehr zweifelte: Du hast ihre Nichte ermordet! Du hast sie alle ermordet! »Sie ist in deine Wohnung eingebrochen und hat die Fotos gefunden.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Ich hab sie in New Jersey zurückgelassen.«
»Und wieso?«
»Weil sie dich umbringen will.«
Douglas Jeffers lachte.
»Na ja, aus ihrer Sicht klingt das plausibel.«
»Doug, bitte, können wir nicht …«
»Können wir was? Marty, du warst schon immer ein Traumtänzer. Erinnerst du dich nicht? All die Bücher, die ich dir vorgelesen habe, als wir klein waren. Immer Fantasy-Geschichten, Abenteuerromane, voller Helden, die für die gute Sache mit unüberwindlichen Hindernissen zu kämpfen hatten. Du konntest nie genug kriegen von Soldaten, die einen verzweifelten Kampf ausfochten, von Rittern, die es mit Drachen aufnahmen. Du hast immer die Bücher geliebt, in denen das Gute siegte …
Und soll ich dir was sagen? Das tut es nie. Niemals. Denn selbst wenn es einmal siegen sollte, dann macht es sich die Hände schmutzig, um das Böse mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Und das, mein lieber Bruder, ist eine viel schlimmere Niederlage.«
»Das stimmt nicht.«
Douglas Jeffers zuckte die Achseln. »Glaub, was du willst, Marty. Ist auch egal.« Er schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte: »Erzähl mir mehr von ihr. Ist sie eine gute Polizistin? Wie heißt sie?«
»Mercedes Barren. Ich denke schon, dass sie gut ist. Sie hat mich gefunden …«
»Und du glaubst, sie findet mich auch?«, fauchte Douglas Jeffers.
Martin Jeffers nickte.
Sein Bruder lachte heiser und wütend.
»Keine Chance, nicht die geringste. Es sei denn, du hättest ihr verraten, wo sie hinkommen soll. Hast du doch nicht, oder, Bruderherz?«
Martin Jeffers schüttelte den Kopf.
Douglas Jeffers machte eine finstere Miene. »Ich glaub dir nicht, verflucht.« Er überlegte. »Wahrscheinlich ist dir nur nicht klar, dass du es ihr verraten hast, aber du hast es trotzdem. Ich kenne dich, Marty. Ich kenne dich so gut wie mich selbst. Das ist nun mal so, wenn man der Ältere ist: Der Ältere ist dazu verdammt, mehr zu verstehen, der Jüngere ist nur zu gleichen Teilen Ehrfurcht und Eifersucht verdammt. Deshalb sage ich dir auf den Kopf zu, dass du vielleicht denkst, du hättest sie abgehängt, aber in Wirklichkeit hast du es wahrscheinlich nicht. Du hast irgendetwas gesagt, weißt wahrscheinlich selbst nicht mal, was. Aber du hast es gesagt, und jetzt ist sie auf dem Weg hierher. Besonders, wenn sie clever genug war, es bis zu dir zu schaffen. Aber wie weit ist sie schon gekommen? Da, Bruderherz, das ist die eigentliche Frage. Steht sie schon vor der Tür?«
Unwillkürlich huschte Martin Jeffers’ Blick zu der Glasschiebetür. Sein Bruder lachte wieder bedrohlich.
»Oder ist sie noch ein bisschen entfernt? Vielleicht ein paar Stunden.«
Er lächelte, aber ohne die Spur von Freude.
»Weißt du«, fuhr Douglas Jeffers fort, »nach dem heutigen Abend verschwinde ich. Ich fand, dass Finger Point perfekt dazu geeignet ist, wiedergeboren zu werden. Und das nicht etwa in irgendeinem albernen fundamentalistisch religiösen Sinne. Uns verbinden, wenn ich mal so sagen darf, eine Menge Erinnerungen mit diesem Ort, nicht wahr? Das war ein Witz. Na, jedenfalls mache ich hier einen neuen Anfang. Und zwar ganz radikal. Zurück zum Ausgangspunkt, vogelfrei, wie man so sagt.«
»Wie willst du das machen?«
Douglas Jeffers deutete auf die Fotografentasche. »Halten wir uns nicht mit den Details auf. Sagen wir einfach, in dieser Tasche steckt mein neues Ich.«
»Verstehe ich immer noch nicht«, sagte Martin Jeffers.
»Du brauchst nur eins zu verstehen«, fuhr ihm Douglas Jeffers schroff über den Mund. »Mein neues Ich hat keinen Bruder.«
Die Worte trafen Martin Jeffers bis ins Mark. Er hatte Angst, dass er sich übergeben müsste, und versuchte, an den Armlehnen Halt zu finden.
»Das kannst du nicht«, widersprach er. »Das könntest du nie.«
»Mach dich nicht lächerlich«, gab Douglas Jeffers gereizt zurück. »Boswell kann dir bestätigen, dass ich noch nie die geringsten Skrupel hatte, jemanden zu töten, stimmt’s, Boswell?«
Sie drehten sich beide zu Anne Hampton um. Sie schüttelte den Kopf.
»Wieso sollte ich also zögern, meinen Bruder zu töten? Komm schon! Kain erschlug Abel, nicht wahr? Ist das nicht das abgründigste Geheimnis, das alle Brüder teilen? Wir wollen uns doch alle an die Gurgel. Das solltest du doch am besten wissen. Du bist der Seelenklempner. Jedenfalls, gibt es einen idealeren Weg zu vollkommener Freiheit? Solange du am Leben wärst, wüsste ich immer, dass du irgendwo da draußen rumläufst, ein handfestes, unabweisliches Verbindungsglied zur Vergangenheit. Stell dir vor, wir würden uns eines Tages auf der Straße über den Weg laufen! Oder du würdest mein Foto irgendwo entdecken. Ich könnte mir nie sicher sein, weißt du, nie wirklich sicher. Und soll ich dir sagen, was daran so komisch ist? Ich war bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen. Bis zu dem Moment, als du hier aufgekreuzt bist. Aber in dem Augenblick, als ich dich sah, wusste ich, wie falsch ich damit lag. Wenn ich weiterleben will, nun ja … ich glaube, du verstehst mich, oder? Wenn du aber nicht mehr bist, na ja …« Er zuckte die Achseln. »Erscheint mir nur logisch.«
»Doug, du wirst doch nicht … sei kein … was willst du …« Martin Jeffers fand keine Worte. Er war verwirrt und erstaunt. Er musste nur immer wieder denken: Aber ich bin doch hergekommen, um ihn zu retten!
Mit einem einzigen, furchterregenden Satz durchquerte Douglas Jeffers den Raum und hielt seinem Bruder den Lauf der Automatik an die Kehle. »Kannst du den Tod spüren? Kannst du ihn riechen? Kannst du ihn auf den Lippen schmecken? Konnten sie alle, ausnahmslos, vielleicht nur für einen Augenblick, aber trotzdem.«
Douglas Jeffers trat zurück. »Schwäche ist widerwärtig.« Er sah seinen Bruder an. »Ich hätte dich nicht zurückhalten sollen, dann wärst du auch gestorben.«
Martin Jeffers schüttelte den Kopf. Er wusste sofort, wovon die Rede war. »Ich war ein guter Schwimmer. So gut wie du. Viel besser als er. Ich hätte ihn gerettet.«
»Er hatte es nicht verdient, dass ihn jemand rettete.«
Sie starrten einander an, während sie denselben Erinnerungen nachhingen.
»Es war so wie heute Abend«, entsann sich Martin Jeffers.
»Ich weiß«, stimmte sein Bruder ein, und unter dem Eindruck der Erinnerung verlor seine Stimme etwas von ihrer Bedrohlichkeit.
»Es war heiß, und er wollte schwimmen. Er hat uns mit an den Strand genommen, aber du hast gesagt, es wäre besser, nicht ins Wasser zu gehen. Du hast diese unruhigen Kräusel gesehen. Ich entsinne mich.«
»Ein paar Tage davor hatten wir ein Gewitter, weißt du noch? Gewitter bringen den Strand immer völlig durcheinander. Deshalb. Ich dachte, es könnte eine Unterströmung geben, und abends konnte man so was nicht sehen …«
»Deshalb wolltest du mich nicht ins Wasser lassen.«
Douglas Jeffers nickte. »Aber der alte Mistkerl hat gesagt, wir wären Memmen. Er hat bekommen, was er verdiente.«
Martin Jeffers zögerte.
»Wir hätten ihn retten können, Doug. Die Unterströmung war nicht schlimm, aber er hat dagegen angekämpft. Wir waren viel stärker als er. Viel stärker. Wir hätten ihn gerettet, aber du wolltest es nicht. Du hast mich am Strand festgehalten und gesagt, er ist selbst schuld, lass ihn verrecken, ich erinnere mich genau. Du hast mich festgehalten, und ich hab gehört, wie er um Hilfe geschrien hat. Du hast mich so lange festgehalten, bis wir nichts mehr von ihm hörten.«
Douglas Jeffers lächelte.
»Das war wohl mein erster Mord. Gott, war das einfach.«
Er sah seinen Bruder an.
»Im Grunde war es jedes Mal leicht.«
»Hat dich das dazu gebracht?«, wollte Martin Jeffers wissen.
Douglas Jeffers zuckte die Achseln. »Frag Boswell. Steht alles in ihren Notizen.«
»Sag du’s mir!«
»Wieso?«
»Weil ich es wissen muss.«
»Musst du nicht.«
Martin Jeffers schwieg. Das stimmte.
Nach einer Weile fragte er: »Was hast du also vor?«
Douglas Jeffers trat zurück und richtete sich auf. »Hab ich dir doch gesagt, Marty. Ich hätte dich an dem Abend loslassen sollen. Dann wärt ihr beide ertrunken. So wäre es am besten gewesen. Das war das letzte Mal, dass ich Mitleid mit jemandem hatte, weißt du das? Nein, das weißt du natürlich nicht. An dem Abend hab ich mich um dich gekümmert. Es war egal, wie sehr du gestrampelt hast und wie sehr er geschrien hat. Ich hab dich nicht ins Wasser gelassen, um den Mistkerl zu retten. Ich hab dir an dem Abend das Leben gerettet. Ich hab dir all diese guten, schlechten, traurigen Jahre beschert. Du bist abgeschlagen, die Zeit ist um. Alles wird rauskommen, das Versteckspiel ist vorbei. Ich tue im Grunde nur, was ich vor Jahren hätte tun sollen: Ich lass dich in dein eigenes Verderben rennen.« Er schwieg. »Mag sein, dass du ihn gerettet hättest. Er hatte es nicht verdient. Du vielleicht schon. Es wäre schön für dich gewesen, etwas Tapferes zu tun … Aber du hattest keine Chance.« Douglas Jeffers holte tief Luft.
»Du wirst auch keine mehr bekommen.«
Er hob die Waffe und zielte auf seinen Bruder.
»Wahrscheinlich hegst du die irrige romantische Vorstellung, das wäre schwierig«, sagte Douglas Jeffers trocken. »Ist es nicht.«
Er drückte ab.
Das Echo des Schusses breitete sich über das schwarze Wasser aus und erhob sich in den Sternenhimmel. Detective Mercedes Barren rannte zum Ufer zurück und starrte in die tintenschwarze Nacht, zu dem Haus direkt ihr gegenüber, aus dem der Schuss gekommen war. Sie spürte, wie die kleinen Wellen ihr durch die Turnschuhe hindurch an den Zehen leckten. Ihr drehten sich sämtliche Eingeweide um, und es schrie in ihrem Kopf: Keine Zeit! Keine Zeit! Es passiert in diesem Moment! Ich weiß es!
Beim Anblick des Wassers stieg ohnmächtige Wut in ihr auf. Ich kann nicht schwimmen! O mein Gott, ich kann nicht schwimmen.
Vielleicht ist es ja nicht tief, versuchte sie sich einzureden.
Sie wusste, dass es gelogen war.
Sie machte einen zögerlichen Schritt ins Wasser. Augenblicklich wurde ihr eiskalt in der Brust; sie fühlte, wie sich eine schwarze Zentnerlast über sie legte und ihr die Luft wegblieb. Sie drehte sich um und blickte auf den langen Weg durch den Wald.
Keine Zeit.
Ich bin hundert Meter vom Ziel entfernt, dachte sie. Es hätten ebenso gut Millionen Meilen sein können.
Die Mischung aus Entschlossenheit und Panik erfüllte sie mit Verzweiflung und dem glühenden Wunsch, es doch noch zu Ende zu bringen.
Ich komme da rüber, beschwor sie sich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Koste es, was es wolle.
Aber sie wusste nicht, wie.
Sie drehte sich erneut um und suchte das Ufer ab. Der Mond spiegelte sich in der sich kräuselnden Fläche und strich mit seinem fahlen Licht über bizarre Formen und Gestalten. Sie entdeckte etwa fünfzig Meter von ihr entfernt unmittelbar am Wasser etwas Langes, Schmales. Sie machte einen zögerlichen Schritt, dann einen zweiten. Sie wagte nicht, der Hoffnung einen Namen zu geben: ein Boot. Gleichzeitig feuerte sie bereits Befehle ab und ehe sie wusste, was sie tat, rannte sie schon hinüber. Mit jedem Schritt wurde dieses Etwas größer, bis sie ganz sicher war, dass sie eine Jolle vor Augen hatte.
Ich komme, dachte sie. Danke! Danke!
Sie hastete hinüber und packte das Boot an der Seite.
Dann hielt sie jäh inne.
Es gab keinen Motor. Keine Ruder. Nur einen einzigen Mast ohne Segel.
Sie weigerte sich, der Enttäuschung, die in ihr aufschoss, Raum zu geben, und huschte an die Spitze des Bootes. Es war mit einer Kette an einem Pfosten im Sand festgemacht. An der Kette befand sich ein Vorhängeschloss.
Sie sackte auf den Sand und konnte die Tränen nicht länger unterdrücken. Sie glaubte nicht, dass sie mit den Launen des Schicksals noch länger fertigwurde. Alles geht schief, stellte sie fest. Alles. Von Anfang an ist alles gründlich schiefgegangen.
Es tut mir leid, es tut mir so leid. Gott, ich hab’s wirklich versucht. Ich hab alles darangesetzt.
Sie starrte erneut auf die Lichter jenseits des Wassers.
Er wird entwischen. Noch nie bin ich so nah an ihn herangekommen wie heute. Aber auch diesmal habe ich verloren.
Sie legte den Kopf auf die Arme und lehnte sich gegen das Dollbord des Bootes.
Es tut mir leid, sagte sie erneut. Das Boot schimmerte im weißen Licht, und sie sah, wie in der Ecke des Rumpfs die Kante von etwas Weißem leuchtete.
Neugierig richtete sie sich auf. Mit einem leisen Hoffnungsschimmer griff sie nach dem Gegenstand und sah, dass es sich um ein Plastikkissen handelte. Es hatte beidseitig eine Schlaufe. Ihre Hände zuckten: ein Schwimmkissen!
Sie blickte zum Haus hinüber, wo Douglas Jeffers zweifellos im Aufbruch begriffen war, um sich für immer ihrem Zugriff zu entziehen. Und das wäre es dann, stellte sie fest. Das hier ist deine letzte Chance. Sie starrte auf das Wasser, das sich bodenlos und in kleinen Wellenkräuseln vor ihr erstreckte. Sie dachte an ihre Nichte und daran, wie anmutig und furchtlos sie sich im blauen Wasser ihres Pools bewegt hatte. »O Gott«, stöhnte sie. Sie dachte an die grünen, aufgewühlten Massen, die rings um sie tobten, sie niederdrückten und die Luft aus ihrer Kinderlunge drückten. Sie dachte an den Schwur des kleinen Mädchens, den die Erwachsene bis jetzt gehalten hatte. Jeder Alptraum ihres Lebens stürzte über sie herein. Ihr ganzer Körper wehrte sich und brach in heftiges Zittern aus.
»Ich kann nicht.«
Sie erinnerte sich, wie ihr Vater durch das dunkle Haus an ihr Bett getappt war, um sie zu trösten, wenn sie von einem Alptraum aufgeschreckt worden war. Er hatte ihr mit seinen großen Händen die Schläfen massiert und versichert, er würde die bösen Träume schon aus ihrem Kopf vertreiben. Nach einer Weile hatte er dann mit einer Hand hoch über ihren Kopf gegriffen, als hätte er den Übeltäter fest gepackt. Auf Nimmerwiedersehen, schlechte Träume; weg mit euch, hatte er leise gerufen, tief Luft geholt und die beängstigenden Kindergedanken fortgeblasen. Sie erinnerte sich, wie sie ihrer Nichte genau auf die gleiche Art die Stirn gestreichelt hatte, damit sie unbeschwert schlafen konnte. Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Weg mit dir, Alptraum!, befahl sie.
Sie trat näher ans Wasser.
»Ich kann nicht«, wiederholte sie.
Trotzdem steckte sie die Arme in die Schlaufen des Kissens und schob die Pistole in den Gürtel.
»Ich kann nicht schwimmen.«
Sie spürte, wie das Wasser um ihre Knöchel schwappte.
Während der ersten zwanzig Meter berührten ihre Zehen den Grund, und sie fasste Vertrauen. Beim einundzwanzigsten Meter stießen ihre Beine plötzlich ins Leere, und Panik erfasste sie. Weiter, brüllte sie sich an, immer weiter.
Sie paddelte sacht mit den Armen und trat gleichmäßig mit den Beinen.
Du kannst es schaffen, versicherte sie sich.
Eine Welle schlug ihr ins Gesicht.
Sie verlor das Gleichgewicht und schwankte heftig. Sie zuckte, schlug wild mit den Armen um sich und versuchte die Kontrolle wiederzuerlangen. Erneut traf sie eine Welle. Sie kam ins Rutschen und hatte das Gefühl, von ihrem Kissen zu gleiten. Blanke Panik wollte sie ergreifen, und sie setzte alles daran, die Oberhand zu gewinnen, doch jede noch so kleine Bewegung machte es nur noch schlimmer, und sie tanzte haltlos auf dem schwarzen Wasser. Sie krampfte sich in das Kissen, doch es bäumte sich auf und drohte, sie abzuwerfen.
Sie wollte schreien und brachte keinen Laut hervor.
Eine kleine Welle schwappte über sie hinweg, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr alles entglitte.
Nein! Nein! Nein!, schrie es in ihr.
In diesem Moment drehte sie sich wie eine Schildkröte auf den Rücken und sank unter Wasser.
O mein Gott, ich sterbe!
Es war, als zerrten die Massen sie nach unten, und sie kämpfte dagegen an.
Wie ein heimtückischer Liebhaber schloss das Wasser sie in die Arme, presste ihr die Luft aus der Brust, drehte und wendete sie, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war.
Wo ist Luft?
Hilfe! Hilfe! O Gott, Bitte! Lass mich nicht ertrinken!
Allein in der Dunkelheit schlug sie um sich und kämpfte wie eine Löwin gegen den drohenden Tod.
Nein, ich lass es nicht dazu kommen, nicht so! Susan! Gott! Hilf mir! Susan, nein!
Plötzlich kam ihr der seltsame Gedanke, dass es vollkommen absurd wäre, so kurz vor dem Sieg zu sterben, und in dem Bruchteil einer Sekunde, in dem ihr Verstand über die Panik siegte, dachte sie: Gib nicht auf!
Und sie gab nicht auf.
Im Vakuum der Angst schaffte sie es, sich an das Schwimmkissen zu klammern. Mit letzter Kraft und dem verzweifelten Wunsch zu leben, stemmte sie sich darauf. Sie kämpfte damit und merkte, wie es unter ihrer Brust festen Halt fand. Das Kissen drückte sie hoch, und im nächsten Moment stieß ihr Kopf durch die Wasseroberfläche.
Sie begriff nicht recht, wie es passiert war, schnappte nur dankbar nach Luft und ruhte sich kurz aus.
Ihr Blick war auf das Haus gerichtet. Es war näher als zuvor. »Ich komme nach wie vor«, drohte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Während sie sich voranarbeitete, bot sich ihr ein außergewöhnlicher Anblick: Sechs gespenstisch weiße Schwäne flogen kaum mehr als einen Meter über dem Wasser, direkt über ihren Kopf hinweg, als wollten sie ihr die Richtung weisen. Sie beobachtete, wie die Vögel in die Höhe stiegen und mit schimmernden Flügeln über dem Haus abdrehten, um im nächtlichen Himmel zu verschwinden. »Susan«, murmelte sie wie von Sinnen. »Ich komme.«
In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren.
Vielleicht bin ich ja schon tot, dachte sie. Vielleicht träume ich das alles bloß. In Wahrheit bin ich tot, irgendwo unter Wasser, und das hier ist die letzte Wahnvorstellung vor dem Eintritt ins Nichts.
Sie paddelte weiter und reckte sich mit jeder Muskelfaser dem rettenden, gefahrvollen Ufer entgegen.
»Nun«, knurrte Douglas Jeffers schroff, »das ist dir wohl eine Lehre.«
Martin Jeffers starrte in höchster Panik mit aufgerissenen Augen geradeaus. Es roch nach Kordit und Pulver, und der Schuss hallte ihm noch in den Ohren. Er wagte nicht, sich umzudrehen und die Wand zu inspizieren, in die vielleicht dreißig, vierzig Zentimeter über seinem Kopf das Geschoss eingeschlagen war.
»Jetzt weißt du es«, sagte Douglas Jeffers. »Jetzt weißt du es.«
Weiß ich was?, dachte Martin Jeffers. Er erwiderte nichts.
Douglas Jeffers drehte sich um und trat an die Schiebeglastür, von wo aus er übers Wasser blickte. Er rührte sich nicht und schien die Nacht mit allen Sinnen aufzusaugen.
Martin Jeffers blinzelte und holte tief Luft, als wollte er jeden Zweifel ausräumen, dass er noch am Leben war. Er betrachtete seinen Bruder. Er hat recht. Er hat keine Wahl.
»Ich würde dich nie verraten«, beteuerte Martin Jeffers.
»Doch, würdest du.« Douglas Jeffers gab ein trockenes, schnaubendes Lachen von sich. »Dir bliebe gar nichts anderes übrig, Marty. Sie würden dich zwingen. Du würdest dich zwingen.«
»Ich kann etwas für mich behalten. In meinem Beruf …«
Der ältere Bruder fiel ihm ins Wort. »Das hier ist nicht beruflich.«
»Aber es gibt eine Menge Familien mit einem großen, dunklen Geheimnis, das sie streng hüten. Die Literatur ist voll davon. In Dutzenden Romanen und Theaterstücken. Wieso sollte ich …«
Douglas Jeffers ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen. »Ich bitte dich, Marty«, seufzte er mit einem gequälten Lächeln.
Er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach.
»Außerdem würde es sowieso dein Leben ruinieren. Denk drüber nach. Niemand könnte ein solches Wissen über den eigenen Bruder ewig mit sich herumschleppen. Es würde dir wie eine fiese Ratte an den Eingeweiden nagen. Nein, du würdest es jemandem sagen. Und dann würde sie mich finden.«
»Wie denn?«
»Das fiele ihr ziemlich leicht. Man sollte nie unterschätzen, wozu Wahnsinn und Rache einen Menschen treiben können.«
Martin Jeffers sagte nichts. Er wusste, dass es stimmte.
Schweigen legte sich über den Raum.
»Und?«, fragte Martin Jeffers nach einer Weile. Er war vollkommen verwirrt. Er hörte seine eigene Stimme, doch es kam ihm so vor, als hätte jemand anders den Befehl erteilt zu sprechen. Was redest du da?, fragte er sich. Was soll das eigentlich? Verflucht noch mal, Schluss damit! Doch seine Stimme fuhr ungerührt fort: »Dann wirst du mich wohl oder übel töten müssen.«
Douglas Jeffers wandte den Blick nicht von der Tür. Sein Schweigen war seine Antwort.
»Was ist mit Boswell?«, wollte Martin Jeffers wissen.
Wieder reagierte sein Bruder nicht.
Anne Hampton starrte die beiden Brüder an und dachte: Das ist das Ende. Er braucht keinen mehr. Er hat die Notizbücher. Er hat ein neues Leben.
Sie versuchte, ihren Körper mit aller Willenskraft in Bewegung zu setzen.
Lauf weg!, dachte sie. Versuch zu fliehen! Doch sie konnte es nicht. Ich weiß, dass ich es kann, beschwor sie sich in Gedanken. Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie senkte den Blick und sah, dass sich ihre Knöchel über dem Stift weiß verfärbten. Sie stieß ihn in die andere Hand. Eine Woge der Qual spülte über sie hinweg. Noch bist du am Leben!, schrie sie sich an. Es tut weh, und du lebst. Sie warf einen Blick zu jedem der Brüder, und langsam sagte sie in Gedanken: Ich heiße Anne Hampton. Anne mit einem E am Ende. Ich bin zwanzig Jahre alt und besuche die Florida State University. Ich habe meinen ersten Wohnsitz in Colorado und studiere Anglistik im Hauptfach, weil ich Bücher liebe. Ich bin ich.
Sie wiederholte das ein ums andere Mal.
Ich bin ich. Du bist du. Wir sind wir. Ich bin ich.
Martin Jeffers betrachtete seinen Bruder und merkte, wie in ihm bei dem Gedanken an das, was er möglicherweise gleich tun würde, die blanke Angst aufstieg, und bei dem Gedanken an das, was aus ihm geworden war, die blanke Verzweiflung.
»Doug, wieso bist du so geworden? Und wieso ich nicht?«
Douglas Jeffers zuckte die Achseln.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht war es der Altersunterschied. Ein paar Monate können bedeuten, dass man die Dinge anders sieht. Es ist, als wenn du zehn Leute auffordern würdest, dieselben Ereignisse wiederzugeben, die sie alle miterlebt haben. Jeder wartet mit einer leicht verzerrten Fassung auf. Wieso sollte das bei Brüdern anders sein?« Er lachte. »Ich bin eben eine leicht verzerrte Fassung.«
»Das tut mir leid«, sagte Martin Jeffers.
»Du kannst mich mal, kleiner Bruder«, entgegnete Douglas Jeffers. »Meinst du denn, ich wollte nicht so sein, wie ich bin?«
Er drehte sich um und blickte seinen Bruder an.
»Ich gehöre zu den Größten aller Zeiten.« Er deutete auf Anne Hampton. »Sie kann es dir bestätigen.«
Douglas Jeffers wandte sich wieder seinem Bruder zu.
»Dich wird man vergessen. Mich? Niemals.«
In Douglas Jeffers tobte es. Sein Bruder sollte nicht sehen, dass er hin und her gerissen war, und deshalb kaschierte er den inneren Widerstreit mit den gemeinsten Worten, die er sich denken konnte.
Es ist alles verdorben, dachte er, dabei lief bis zu dem Moment, als er vor der Tür stand, alles so gut. Er sollte es erst erfahren, nachdem ich verschwunden wäre! Verdammt! Diese verdammte Polizistin! Er kehrte seinem Bruder den Rücken, damit der Jüngere nicht die Unsicherheit in seinen Augen sah.
Ihn bestürmten plötzlich Hunderte von Bildern aus ihrer Kindheit. Er dachte an die Nacht in New Hampshire. Er dachte an all die Nächte, in denen er zu seinem Bruder ins Bett gekrochen war, um den weinenden Jungen so gut wie möglich zu trösten. Ob er es noch weiß?, fragte sich Douglas Jeffers. Erinnert er sich an all die Wiegenlieder und Gutenachtgeschichten und daran, wie ich ihn in den Schlaf geschaukelt habe? Weiß er nicht, dass ich ihn im Sand festgehalten habe, damit er nicht ins Wasser läuft und stirbt? Der Mann hätte uns beide umgebracht, wenn es nach ihm gegangen wäre. Aber ich habe ihn beschützt. Ich habe ihn immer beschützt. Selbst wenn ich ihn aufgezogen oder mich lustig gemacht habe. Auch dann noch, als ich wusste, was für ein Mensch aus mir wird. Ich hab mich immer um ihn gekümmert, weil er immer der gute Teil von mir gewesen ist. Er musste innerlich lachen: Da irren die Gelehrten, dachte er. Selbst Psychopathen haben noch ein paar Gefühle übrig, wenn man nur tief genug gräbt.
Sein nächster Gedanke war: Oder auch nicht.
Er legte für einen Moment das Leben seines Bruders und sein eigenes auf eine innere Waage.
Einer von uns fängt heute Nacht neu an.
Einer von uns stirbt.
Eine andere Möglichkeit sah er nicht.
Er starrte wieder hinaus über den dunklen Teich.
»Weißt du, immer wenn wir im Sommer hier draußen waren, hab ich es geliebt«, erzählte er. »Es war immer so verdammt wild und schön.«
Er sah plötzlich etwas Weißes aufblitzen und einen Schwarm Schwäne über die Wasserfläche huschen.
»Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte er. »Alles ist wie damals. Sogar die Schwanenfamilie auf dem Teich.«
»Nichts ist so wie damals«, widersprach Martin Jeffers.
Doch sein Bruder hörte ihn nicht, da seine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas anderem in Anspruch genommen war.
Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand einen glühend heißen Pflock durch den Leib gejagt.
Douglas Jeffers erstarrte, als sein Blick sich in die Gestalt einbrannte, die sich dort in der Dunkelheit aus dem Wasser kämpfte. Eine Sekunde lang war er verwirrt. Was zum Teufel ist das?, fragte er sich.
Im nächsten Moment wusste er es.
Sie ist da!
Er wirbelte herum und richtete die Automatik auf seinen Bruder.
»Boswell! Den Strick und das Klebeband!«
Anne Hampton war nicht in der Lage, sich dem Befehl zu widersetzen. Sie packte die Tasche mit der Ausrüstung und brachte sie so schnell sie konnte zu Douglas Jeffers.
»Marty, jetzt mach keine Dummheiten. Strecke deine Hände aus, damit ich sie fesseln kann.«
Martin Jeffers ahnte Schlimmes und fügte sich unwillkürlich wie jeder andere jüngere Bruder. Er spürte, wie ihm die Stricke in die Gelenke schnitten. Er wollte sich beschweren, doch bevor er ein Wort herausbekam, hatte ihm sein Bruder mit Klebeband den Mund verschlossen. Er sah auf und wollte ihm sagen, ich will nicht wie ein Tier in Fesseln sterben, doch sein Bruder war zu schnell, und er konnte keinen Blickkontakt herstellen.
»Boswell! Bleib da stehen. Rühr dich nicht vom Fleck. Egal, was passiert, rühr dich nicht vom Fleck.«
Anne Hampton erstarrte und wartete.
Douglas Jeffers sah sich noch einmal kurz um und schlüpfte zur Gartentür hinaus in die Dunkelheit, die in das Licht des Wohnzimmers drängte.
Eine Sekunde lang blieb er auf der Veranda stehen und blickte zum Wasser hinunter, wo er die Gestalt gesehen hatte. Dann schaute er blitzschnell in alle Richtungen. Ihm kam eine Idee, und er brachte sich in Position.
Als sie mit den Zehen wieder Boden berührte, schoss eine Woge der Erleichterung durch ihren ganzen Körper.
Sobald Detective Mercedes Barren begriff, dass sie das seichte Ufer erreicht hatte, drängte sie voran. Sie richtete sich auf und verweilte einen Moment, den Blick dankbar nach oben gerichtet, während die Tropfen wie nach einer Tränenflut von ihrem Körper perlten. Sie watete durchs Wasser und versuchte, so wenig Lärm zu machen wie möglich, dann warf sie sich in den Sand. Sie grub die Hände hinein und genoss es, dass die feste Materie ihr wie ein kostbares Gut durch die Finger rieselte. Sie gönnte sich einen kurzen Moment der ungezügelten Freude und Erleichterung.
Dann holte sie einmal Luft und flüsterte: »Das war der leichte Teil.«
Sie kniete sich hin und orientierte sich.
Dann stand sie auf und lief geduckt bis an den Rand des Gebüschs, wo sie sich hinter dem dichten, knorrigen Geäst des Ufergestrüpps versteckte. Sie sah zwar Lichter im Haus, konnte aber von ihrer Position aus niemanden erkennen. Sie zog die Waffe aus dem Gürtel und machte sich auf den Weg.
Sie kroch durchs Gebüsch.
Die Nacht ringsum schien voller Leben. Sie hörte ein kleines Tier weghuschen, vielleicht ein Stinktier oder eine Bisamratte, übertönt vom unablässigen, ohrenbetäubenden Zirpen der Zikaden. Trotzdem musste sie leise sein, um unbemerkt zu bleiben.
Sie pirschte sich langsam und weiterhin halb geduckt an das Haus heran. Sie blieb einmal stehen, um zu überprüfen, ob ihre Pistole einsatzbereit, also entsichert und voll geladen war. Nicht zögern, befahl sie sich zum abertausendsten Mal. Schieß, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Sie sehnte sich nach irgendeinem Geräusch vom Haus, doch es blieb still. Sie schlich geduldig und stetig weiter. Der Tod hat keine Eile. Er bewegt sich im eigenen Takt.
Sie erreichte den äußeren Rand der Holzveranda und hob den Blick langsam über die Kante. An den Gartenstühlen vorbei konnte sie ins Wohnzimmer blicken. Sie sah, dass die Schiebetür einladend weit geöffnet war. Also gut, sagte sie sich, dann wollen wir mal.
Sie hievte sich auf die Veranda hoch und hatte dabei das Gefühl, als müsste jedes noch so kleine Knarren wie Alarmglocken durch die Dunkelheit schrillen. Immer noch in der Hocke, kam sie behutsam auf die Füße. Jetzt allerdings legte sie die Hände auf die Pistole und konzentrierte sich. Sie staunte selbst darüber, dass sie so wenig Angst empfand. Ich bin ruhig. Ich bin totenstill.
Sie huschte neben die Gartentür.
Sie holte tief Luft.
Dann spähte sie langsam um die Ecke.
Sie war augenblicklich verwirrt. Sie sah Martin Jeffers, gefesselt und geknebelt, direkt gegenüber der Tür sitzen. Sie sah eine junge Frau, die nicht weit von ihm dastand und sich nicht rührte. Den Bruder sah sie nirgends. Sie machte einen zögerlichen Schritt auf die Öffnung zu.
Und dann hörte sie die Stimme.
»Hinter Ihnen, Detective.«
Ihr blieb nicht einmal mehr die Zeit, in Panik zu geraten.
Ich bin tot, dachte sie.
Dennoch wirbelte sie herum und zielte mit der Waffe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf eine Gestalt, die auf einer der Liegen im Gar ten ausgestreckt war. Dann explodierte alles vor ihren Augen, als Douglas Jeffers schoss.
Der Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper.
Die Wucht, mit der der Schuss sie ins rechte Knie traf, ließ sie wie einen Kinderkreisel herumwirbeln und schleuderte sie rücklings ins Wohnzimmer, wo sie sich verzweifelt voller Qual am Boden wälzte. Ihre eigene Waffe war ihr aus den Fingern gerutscht und quer durch den Raum über den Boden geschlittert, während sie sich hilflos krümmte.
Sie kniff die Augen zu und dachte: Ich habe versagt.
Sie öffnete sie wieder, als sie die Stimme über sich hörte.
»Ist sie das, Marty? Boswell, nimm meinem Bruderherz das Klebeband vom Mund, damit er antworten kann.«
Douglas Jeffers stand über Mercedes Barren.
»Ich ziehe den Hut vor Ihnen, Detective. Würde ich zumindest, wenn ich einen besäße.«
Holt Overholser fluchte, als der große Ford den Feldweg hinunterholperte. Als er die Weggabelung erreichte, blieb er stehen und war drauf und dran, aufzugeben.
Verdammt, dachte er. Welcher ist noch gleich dieser verfluchte Weg? Muss der blaue Pfeil sein. Er nahm sich vor, alle Hausbesitzer am Great Pond von Tisbury davon in Kenntnis zu setzen, dass sie sämtliche Zufahrtswege klar und deutlich mit Namen und Adressen markieren müssten. Verdammt!, fluchte er wieder.
Alle zehn Meter änderte er seine Meinung.
»Was zum Teufel soll das werden, Holt?«, knurrte er. »Nenne mir einen vernünftigen Grund, wieso du mitten in der Nacht hier draußen im Paradies der Reichen herumkutschierst? Jesses, Maria und Josef, kann nur hoffen, dass der Stadtrat nichts von diesem kleinen Ausflug erfährt. Du solltest schleunigst umkehren und nichts wie nach Hause, bevor du dich vollends zum Narren machst.«
Seine kleine Standpauke tat ihm gut. Er fuhr weiter.
Als er den Wald hinter sich gelassen hatte und ins Freie kam, fühlte er sich noch ein bisschen besser.
»Na ja, so spät ist es ja auch wieder nicht, und selbst wenn nichts ist, wird sie deine Sorge wahrscheinlich zu schätzen wissen. Verdammt, schließlich ist sie Polizistin, sie wird es verstehen.«
Er lachte. »Vielleicht.«
Er blieb stehen, stieg aus und blickte in die sternenübersäte Nacht.
»Hoffen wir mal, dass du hier richtig bist, Holt, alter Knabe, sonst siehst du ganz schön alt aus.«
Er wollte gerade wieder in den Wagen steigen, da hörte er einen Schuss.
»Was war das denn?«, fragte er sich. »Was zum Teufel war das?«
Er beantwortete seine Frage selbst: »Das klang mir nach einer Handfeuerwaffe. Verdammt. Verdammt. Was zum Teufel geht hier vor?«
Er stieg wieder ein und fuhr so schnell wie möglich weiter.
Martin Jeffers fragte nicht, wie sie sie gefunden hatte. Er sagte nur: »Es tut mir leid, Merce.« Er merkte, dass er sie zum ersten Mal beim Vornamen nannte. »Es tut mir leid, dass Sie uns gefunden haben …«
»Aber schlau, sehr schlau. Verraten Sie mir doch, wie. Was war es? Wie sind Sie draufgekommen?«, warf Douglas Jeffers ein.
»Es war etwas, das einer von ihnen gesagt hat«, stöhnte sie.
»Einer von wem?«
Martin Jeffers beantwortete die Frage für sie. »Sie muss mit meiner Gruppe gesprochen haben. Denen verdanke ich selbst die Idee, hierherzukommen.«
Douglas Jeffers sah seinen Bruder an. »Wir sind alle Lost Boys«, meinte er. Dann wandte er sich der Polizistin zu. »Schlau, wirklich schlau.«
Vor Schmerz wand sie sich auf dem Boden. Sie wünschte sich, sie könnte ihn trotzig ansehen, doch die Schmerzen, die ihr wie eine endlose Reihe von Stromschlägen durch den Körper fuhren, ließen tapfere Blicke nicht zu. Sie merkte, dass ihr Tränen in den Augen standen, und sie dachte wieder: Ich hab’s versucht. Es tut mir leid. Ich hab mein Bestes gegeben.
Douglas Jeffers richtete seine Automatik auf ihren Kopf.
»Das ist, als ob man ein Pferd mit einem gebrochenen Bein erschießt.«
Er zögerte.
»Ich geb Ihnen noch ein paar Sekunden, Detective. Heißen Sie den Tod willkommen.«
Sie schloss die Augen und dachte an Susan, an ihren Vater, an John Barren. Es tut mir leid, sagte sie, es tut mir so unendlich leid. Ich würde mich gerne von euch allen verabschieden, aber mir bleibt nicht genügend Zeit. Sie hoffte plötzlich, dass es einen Himmel gab und dass die Schmerzen sie direkt hinaufkatapultierten. Sie spannte die Muskeln an und sagte stumm: Ich bin bereit.
Der Knall erfüllte sie ganz.
Ihr kreiste es rot und schwarz im Kopf, und sie verlor jede Kontrolle. Ich sterbe, dachte sie.
Dann merkte sie, dass sie sich irrte.
Sie öffnete die Augen und sah, dass Douglas Jeffers, die Pistole im Anschlag, aber nicht abgefeuert, immer noch über sie gebeugt stand.
Während sie zu ihm hinaufstarrte, schien er in Zeitlupe zurückzutreten.
Wie im Fieberwahn ließ sie den Blick durchs Zimmer rasen.
Die junge Frau stand nur wenige Meter entfernt. In den hochgestreckten Händen hielt sie Detective Barrens große Pistole.
»Boswell.« Douglas Jeffers’ Stimme klang aufrichtig erstaunt.
»Ich fass es nicht.«
Er sah an sich herunter und entdeckte den roten Streifen an seinem Hemd.
Der Schuss hatte ihn in der Seite getroffen und an seiner Taille das Fleisch zerfetzt, bevor die Kugel irgendwo draußen in der Nacht ins Leere flog. Er wusste sofort, dass es keine tödliche Wunde war, schmerzhaft, ja, aber nicht lebensbedrohlich.
Und im selben Moment wusste er, dass er ihn getötet hatte.
Er wurde von einer Woge widerstreitender Gefühle erfasst. Ich kann nicht ins Krankenhaus, dachte er. Ich kann wohl kaum in die nächstbeste Notaufnahme hineinspazieren und sagen: Hört mal, flickt mir mal eben diese Schusswunde, aber stellt keine Fragen.
Wie der Blitz traf ihn die schlichte, beinahe lächerliche Erkenntnis: Es ist vorbei. Durch einen schlecht gezielten Schuss von einem verwirrten Kind.
»Boswell«, sagte er freundlich. »Du hast mich umgebracht.«
Er hob die eigene Waffe und zielte auf Anne Hampton.
Sie schnappte nach Luft und ließ Detective Barrens Waffe aus den Fingern gleiten, so dass sie scheppernd zu Boden fiel.
Ich hab’s versucht, dachte sie. Ich hab’s versucht.
Detective Barren sah, wie die junge Frau die Hände sinken ließ und sich wie gelähmt in ihr Schicksal fügte. Sie sah, wie Douglas Jeffers zielte und jeden Moment abdrücken würde. Es war, als braute sich alles, was ihr widerfahren war, in dieser einen Sekunde zusammen und verbündete sich mit ihren letzten Kräften, um die Schmerzen zu überwinden.
»Nein! Nein! Nein! Susan! Lauf weg! Ich rette dich!« Und sie wusste, dass sie es diesmal konnte.
Sie konnte es, sie konnte es.
Sie robbte so schnell wie möglich und mit jeder Spur von Muskelkraft, die ihr geblieben war, über den Boden. Sie griff nach dem Bein des Mörders, um ihn zu Fall zu bringen. »Lauf weg!«, schrie sie wieder und war jetzt für alles unempfindlich, sie spürte nur noch die Qualen, die ihr monatelang keine Ruhe gelassen hatten. »Susan«, stöhnte sie, als sie die Hände nach vorne warf und mit den Fingernägeln auf den Mann losging, dem sie so lange auf den Fersen gewesen war.
Martin Jeffers warf sich, obwohl immer noch gefesselt, aus dem Sessel. Er schrie: »Nein, nein, nein!«, während er vorwärtstaumelte, auf die Knie fiel, sich aufrappelte und wieder nach vorne stürzte, als sein Bruder mitten in seiner tödlichen Handlung so seltsam innehielt. Martin Jeffers warf sich vor die junge Frau.
Dann drehte er sich zu seinem Bruder um.
»Nein, Doug«, sagte er. »Es ist genug.«
Die beiden Brüder blickten sich an. Martin Jeffers sah, wie die Augen seines Bruders vor Zorn aufflackerten und dann plötzlich erloschen.
»Bitte.«
Douglas Jeffers trat, die Waffe immer noch auf Anne Hampton und damit ebenso auf seinen Bruder gerichtet, zurück. Er sah zu der Polizistin hinunter, die am Boden lag.
»Bitte.«
Er hörte die Stimme und dachte an all die hilflosen Momente in ihrer Kindheit, wenn Marty ihn rief und ihn neben sich brauchte.
Douglas Jeffers zögerte wieder.
Er legte die Hand an seine Seite und hielt sie sich blutverschmiert vor die Augen. Er hörte das Wort »Bitte« noch ein letztes Mal.
Dann drehte er sich um und verschwand durch die Tür.
Holt Overholser kam die Einfahrt zum Haus am Finger Point heruntergeschossen und sah den Mann, der aus der Eingangstür stürmte. Er schaltete das Signallicht auf dem Wagendach an. Als Holt heftig auf die Bremse trat, sah er, wie der Mann sich umdrehte und gezielt in Schusshaltung überging.
»Jesses, Maria!«, brüllte Holt und duckte sich, als die Windschutzscheibe explodierte. »Heilige Mutter Gottes!«
Er kramte nach dem eigenen Dienstrevolver, als ihm der schreckliche Gedanke kam, dass er dieses Jahr vergessen haben könnte, das verdammte Ding zu laden.
Er hielt sich nicht damit auf, nachzusehen, sondern sprang, die Waffe bedrohlich in der Hand, aus dem Wagen und gab vier Schuss auf den Flüchtigen ab. Der erste streifte die Motorhaube des alten Ford und machte dabei ein Geräusch wie eine rollige Katze. Der zweite schlug drei Meter vor dem Wagen in den Boden ein. Der dritte krachte in das Haus mit den Menschen, die er, ohne es zu wissen, zu schützen versuchte, und der vierte flog in die Leere der Nacht.
»Du lieber Himmel«, fluchte Holt. Er versuchte mit aller Macht, sich ins Gedächtnis zu rufen, was man ihm in der Ausbildung beigebracht hatte, und endlich fiel es ihm ein. Er grätschte die Beine, ging ein wenig in die Knie, fasste die Waffe mit beiden Händen, bereit, in Aktion zu treten.
Doch dafür gab es keine Notwendigkeit mehr.
Vor ihm lag nur endlose Nacht.
»Gütiger Himmel«, rief Holt. Er rannte zum Haus. Falls die Polizei Tisbury für derartige Vorkommnisse irgendwelche Ver fahrensregeln kannte, so stammten sie mit Sicherheit aus Holts eigener Feder. Doch sie hatte keine, und so stürmte er, die Waffe schussbereit, beherzt ins Haus.
Was ihn dort erwartete, verwirrte ihn noch mehr.
Anne Hampton hatte Martin Jeffers Hände befreit, und zusammen halfen sie Detective Barren auf die Couch.
»Pimmel, Arsch und Zwirn«, entfuhr es Holt laut.
Anne Hampton deutete auf das Zimmer hinter ihnen: »Da drinnen ist die Familie Simmons. Helfen Sie denen.«
Holt stürzte zur Tür und sah die Familie gefesselt und geknebelt. Er beugte sich zu Mrs. Simmons herunter und band sie los. »Befreien Sie Ihre Familie«, befahl er. Dann lief er wieder ins Wohnzimmer zurück. Anne Hampton und Martin Jeffers versuchten, Detective Barrens blutendes Bein zu verarzten.
Holt sah das Telefon und griff hastig danach. Er wählte den Notruf und wartete, bis er Lizzie Barrys Stimme hörte. Sie erschien ihm nervtötend ruhig.
»Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst«, sagte sie.
»Jesses, Lizzie, Holt am Apparat. Hier ist was los, ich sag dir, Gott, ich meine, er hat auf mich geschossen!«
»Holt«, erwiderte Lizzie äußerst beherrscht, »wo genau befindest du dich?«
»Gott! Ich meine, richtige Schüsse! Ich könnte tot sein. Ich bin unten am Finger Point, verdammt!«
»In Ordnung, Holt, ganz ruhig. Ist das ein Notfall?«
»Pimmel, Arsch und Zwirn«, verhaspelte sich Holt erneut.
»Das kann man wohl sagen!«
»In Ordnung«, meinte sie. »Die Staatspolizei ist in wenigen Minuten da. Brauchst du einen Krankenwagen?«
»Gott, im Himmel, natürlich brauchen wir einen Krankenwagen, wir brauchen alles! Die Küstenwache, die Staats-Cops, Gott, wir brauchen die Marines!«
»In Ordnung, Holt, die sind gleich unterwegs.«
Lizzie Barry machte sich an die nötigen Telefonate, und bald heulten Sirenen durch die Nacht.
Martin Jeffers und Anne Hampton saßen links und rechts von Detective Barren. »Halten Sie’s noch aus?«, fragte Anne Hamp ton. »Hilfe ist unterwegs.«
Detective Mercedes Barren lehnte den Kopf an die Schulter der jungen Frau. Sie nickte. Martin Jeffers wirkte einen Moment verwirrt. »Haben Sie das gehört, Boswell?«, wollte er wissen. »Haben Sie gehört, was er gesagt hat? Er hat gesagt: ›Pimmel, Arsch …‹«
Anne Hampton lächelte. »Ja, hab ich gehört«, antwortete sie. Martin Jeffers lachte und legte den Arm um beide Frauen.
Sie sahen sich alle drei an. »Ich nehme an, es ist vorbei«, sagte Anne Hampton. Die anderen beiden nickten, und alle drei rückten die Köpfe zusammen. Martin Jeffers liefen Tränen über das Gesicht; und im nächsten Moment weinten auch Detective Barren und Anne Hampton, und keine von beiden vor Schmerz, sondern vor unendlicher Erleichterung, die sie alle zugleich erfasste.
Als Holt Overholser die drei Menschen auf dem Sofa sah, war sein erster Verdacht, sie seien übergeschnappt; sein zweiter Gedanke war, dass die Kollegin von der Kripo mit einer solchen Wunde für den Rest ihres Lebens ein Krüppel sein würde. Dass dies auf alle drei zutraf, entging dem Chief.
Douglas Jeffers ignorierte die Schüsse des Polizisten, der ihm den Weg zum Wagen abschnitt, und rannte über die Landzunge zu der Stelle, an der ein zum Haus gehöriges Boot liegen musste. Er entdeckte zwei Sailfish-Boote, die auf den Sand heraufgezogen waren, und ein dunkles Schlauchboot mit einem kleinen Außenbordmotor daneben. Er packte die Ankerleine, und binnen Sekunden zeigte das Boot mit dem Bug Richtung Meer. Er bediente die kleine Handpumpe an der Spritleitung und zog dann am Startkabel. Der kleine Motor stotterte zweimal und sprang an, so dass er den Gang einlegen konnte.
Ihm war bewusst, dass der Motorenlärm die Stille der Nacht empfindlich störte, doch das war nicht zu ändern.
Er steuerte das Boot blind aus dem Gedächtnis zu der Stelle, an der nur etwa fünfzig Meter flacher Sandstrand das stille Gewässer des Teichs von der tosenden Meeresbrandung trennten. Ich hätte sie alle töten können.
Er lächelte. Das ist ihnen klar.
Unterwegs überprüfte er den Ladestreifen in seiner Pistole. Er hatte noch sieben Schuss in der Neunmillimeter. Sie hatte dieselbe Waffe, dachte er für einen Moment. Vermutlich kein Zufall.
Vor sich sah er einen matthell schimmernden Streifen, der sich quer durch die endlose Nacht zog. Das Brausen der Wellen auf der Meeresseite war jetzt doppelt so laut. Er ließ das Schlauchboot auf den Strand auflaufen und spürte, wie der Sandboden an der Unterseite des dicken Gummis kratzte.
Er stellte den Motor aus, damit die Schraube sich nicht in den Sand wühlte. Er stand auf und kletterte aus dem Boot an den Strand.
Es ist so, wie es immer war.
Vom unablässigen Krachen der Wellen am sandigen Ufer wie in Trance versetzt, stand er eine Weile reglos da. Es ist so stetig, so mächtig, dachte er. Wir sind dagegen so klein.
Er bückte sich und packte das Schlauchboot am Bug, um es aus dem Wasser zu ziehen. Von der Anstrengung tat ihm plötzlich die Schusswunde in der Seite weh, die er Anne Hampton verdankte.
Er nahm es gleichmütig hin.
Mit Mühe zog er das Boot etwa drei Meter über den Sand.
Ich hätte nie gedacht, dass sie dazu fähig ist. Absurderweise war er irgendwie stolz auf sie. Ich hab immer gewusst, dass sie eine Menge Kraft besitzt. Sie musste nur noch lernen, sie zu gebrauchen.
Er zerrte das Boot über den Strand. Es machte ein schabendes Geräusch.
Ihn bestürmten Bilder von all den Orten, an denen er gewesen war, und von seinen Fotos. Keiner konnte mir das Wasser reichen, dachte er.
Weit zurückgelehnt, zog er das Schlauchboot unerbittlich auf die Brandung zu.
Meine Bilder waren immer die besten. Ob in Farbe oder in Schwarzweiß. Machte keinen Unterschied.
Ich hab immer den entscheidenden Moment getroffen. Sie sagten einem etwas. Sie schrien einem ins Gesicht. Sie erzählten Geschichten.
Als er das Meer erreicht hatte, sank er im seichten Wasser auf die Knie und hielt sich die Seite, während sich ihm im Kopf alles drehte.
Es tut weh, Marty, es tut weh.
Er riss sich zusammen und stand auf. Weiter.
Dann begann er zu singen: »Row, row, row your boat, gently down the stream …«
Mit jedem Wort wuchtete er sich vorwärts und zog das Boot weiter in den schwachen Sog vom Strand weg in den Ozean. Sobald das Boot auf dem flachen Wasser schwamm, ließ er den Bug los und hielt sich nur noch an der Seite fest. Er sah einen großen Brecher langsam, aber sicher auf den Strand zurollen und eilte voran, um seine Schubkraft zu nutzen.
Weißgrünes Wasser wirbelte ihm schäumend um die Hüfte, als er das Boot in die Wellen stieß.
Er packte die Seite und schwang ein Bein hinüber. Mit dem anderen verschaffte er sich Halt, während er den Bug nach vorne richtete; dann stieß er sich vom weichen Sand ab und sprang bei der nächsten Woge hinein.
Bei seinem Ritt den Wellenkamm hinauf erhaschte er einen Blick auf den Mond, der so tief über dem Wasser hing, dass er zum Greifen nah schien. Im nächsten Moment tauchte er ins Wellental hinunter und merkte, wie das schäumende Wasser ins Schlauchboot schwappte. Er wirbelte herum und warf den Motor an, indem er am Startkabel zog. Er sprang augenblicklich an, und Douglas Jeffers gab Gas, so dass er im richtigen Moment die nächste Welle erwischte, die sich vor ihm erhob und ihn an den Strand zurückzuwerfen drohte. Das Schlauchboot machte einen Satz nach vorn und ließ die brodelnd weiße Masse hinter sich.
Er stellte den Handgashebel fest, und das Schlauchboot schoss unaufhaltsam voran.
Wie von Geisterhand glitt er von einer Sekunde zur anderen jenseits der Brandung über das tiefe, schwarze Wasser und entfernte sich unaufhaltsam immer weiter vom Strand.
No Man’s Land. Niemandsland, dachte er.
Ich wollte schon immer mal nach No Man’s Land hinüber.
Er ließ den dunklen Streifen der Insel hinter sich und lenkte das Boot hinaus ins offene Meer. Er taxierte das ungefähre Zielgebiet und hielt den Bug in diese Richtung.
Er blickte wieder in den Mond und fühlte sich getröstet.
»Die Eule und das Kätzchen, juchhe, fuhren zusammen auf hoher See …«
Mit einem seligen Lächeln übersprang er ein paar Zeilen und sang weiter: »Und so tanzten sie Hand in Hand auf dem strahlend weißen Sand und la-li-lu schien der gute Mond dazu …«
Er dachte an seinen Bruder. Marty hatte Reime geliebt. Er dachte an seine Mutter und fragte sich, was aus ihr geworden war. Ihm wurde bewusst, dass sie damals, als sie wegfuhr, in die Nacht hinausgeblickt hatte wie er jetzt. Und die Nacht hatte sie für immer verschluckt.
Auf einmal hatte er seinen Adoptivvater vor Augen. »Ich komme, du Bastard!«, brüllte er. »Ich komme!« Die Worte hallten über die Wellen und wurden von der Nacht geschluckt. Er dachte an das Ende von dessen Kampf mit der Unterströmung, die so beängstigend an ihm gezogen haben musste. Er muss vor Erschöpfung aufgegeben haben. Es war vermutlich so, als fiele er in einen tiefen, schmerzlosen Schlaf.
Douglas Jeffers fühlte wieder das Blut und das zerfetzte Fleisch.
»Es tut weh«, sagte er.
Dann tröstete er sich. »Ist bald vorbei.«
Er hatte den Küstenstreifen weit hinter sich gelassen und schloss die Augen. Das Motorengeräusch lullte ihn ein, und das Schaukeln auf den Wellen erinnerte ihn daran, wie man ein Baby wiegt, damit es schlafen kann. Ich bin müde, dachte er. Furchtbar müde.
Es war überaus friedlich, und ihm kam eine Zeile aus einem anderen Kinderreim in den Sinn: »Du bist ja schon müd’, deine Flossen tun weh …« Er ließ den Kopf nach hinten sinken und merkte, wie ihn eine große, letzte Erschöpfung übermannte. »… Schlaf ein in den schützenden Armen der See«, summte er leise.
Ihm kam ein Gedanke, der ihn mit trotziger Befriedigung erfüllte.
»Sie haben mich nie geschnappt«, stellte er fest. »Konnten sie nicht.«
So sollte es sein.
Er schaltete den Motor aus und lauschte dem Rauschen des Ozeans. Dann nahm er seine Pistole und zielte zwischen seine Füße. Er feuerte siebenmal.
Das Schlauchboot erzitterte.
Schwarzes Wasser sprudelte hoch.
Es ist warm, dachte er in kindlicher Freude. Es ist warm.
Er breitete die Arme aus und hieß die kohlschwarze Nacht willkommen.