9. KAPITEL
Noch eine ganz normale Sitzung der Lost Boys

 

14.

Martin Jeffers war wach und allein, auch wenn er von lebhaften Erinnerungen heimgesucht wurde. Als sie klein gewesen waren, hatte sein Bruder einen Falken mit einem gebrochenen Flügel gefunden. Der Sommer, als er den Falken hatte, der Sommer, als jemand ertrunken ist. Einen Augenblick wunderte er sich darüber, dass er an den Vogel denken musste, wo doch in diesem Sommer viel wichtigere Ereignisse folgten. Doch die Bilder stiegen ungefragt in ihm auf. Doug hatte auf einem Feldweg einen Vogel gefunden, der jämmerlich mit einem hängenden Flügel über den Boden hüpfte. Zwei Wochen lang, entsann sich Martin Jeffers, verbrachte sein Bruder jede freie Minute damit, durch den Wald zu streunen, verrottete Baumstämme umzudrehen oder moosbewachsene Steine aufzuheben, um Insekten, Käfer, kleine Schlangen und Schnecken einzusammeln, die er aufopferungsvoll dem Vogel brachte, der sie herunterschlang und krächzend nach mehr verlangte. Martin Jeffers lächelte. So nannten sie den Vogel: Krächz. In ihrer bescheidenen Freizeit hatten sie sich in der örtlichen Leihbibliothek Dutzende von Büchern über Vögel ausgeliehen, Abhandlungen über die Falknerei und Texte über Veterinärmedizin. Nach zwei Wochen machte es sich der Falke zum Fressen auf Dougs Schulter bequem, und Martin Jeffers erinnerte sich an den triumphierenden Gesichtsausdruck seines Bruders, als der Vogel sich auf den Lenker seines alten Fahrrads setzte und sich von ihm bis in die Stadt und zurück mitnehmen ließ.

Martin Jeffers legte die Hand auf die Stirn und schauderte.

Der alte Scheißkerl, dachte er. Doug hatte recht, wenn er ihn verachtete.

Ihr Vater hatte ihm befohlen, den Vogel loszuwerden.

Doug weigerte sich, ihn in einen Käfig zu sperren, und so war bald der Abstellraum, in dem er ihn hielt, von oben bis unten kotbedeckt. Das hatte den Drogisten erzürnt, und so hatte er den Jungen ein einfaches, schreckliches Ultimatum gestellt: »Sperrt ihn in einen Käfig oder setzt ihn aus, sonst …« Das »Sonst« war das Unheimliche an der Sache. »Wenn der Flügel nicht heilt«, hatte sein Bruder protestiert, »dann stirbt er, sobald wir ihn freilassen.« Sein Bruder war vor Wut rot angelaufen. »Und man kann ein wildes Tier nicht in einen Käfig sperren!«, hatte Douglas Jeffers gebrüllt. »Dann stirbt er. Er nagt fassungslos und verzweifelt an den Gitterstäben, bis er stirbt.« Doug war wild entschlossen. Das war er immer. Martin Jeffers entsann sich, wie er mit seinen kürzeren Beinen rennen musste, um mit seinem Bruder Schritt zu halten. Wenn er wütend war, ist mein Bruder immer schnell gelaufen, dachte Martin Jeffers. Immer beherrscht, aber schnell.

Und so blieb der Falke hartnäckig auf der Schulter seines Bruders sitzen, grub ihm die Krallen in Hemd und Muskeln, und reckte den Schnabel stolz in den Wind, während Douglas Jeffers über den Teich ruderte, der ihr Haus von dem Pfad zum Meeresstrand trennte. Er hatte das Ruderboot ans Ufer gezogen und einen Trampelpfad eingeschlagen. Sie waren auf eine weite Ebene mit sandigem Boden gekommen, auf der sie bis zu den Hüften in Seegras und Strandpflaumenbüschen standen. Das Meer lag direkt hinter einem hohen Dünenkamm etwa vierhundert Meter entfernt, und Martin Jeffers hatte das Gefühl, als hallten die Wellen tief in seiner Erinnerung wider. Das Gras wurde von einer kräftigen Brise zerzaust, und es kam ihm vor, als ob sein Bruder gegen eine starke Strömung anschwimmen würde. Die Nachmittagssonne schien ihnen sommerlich heiß auf den Kopf. Martin Jeffers sah, wie sein Bruder den Arm hob und den Vogel in die Höhe hielt, so wie er es in Bilderbüchern über die Falknerei im Mittelalter gesehen hatte. Dann versuchte er, das Tier in den Himmel zu werfen. Martin Jeffers sah, wie der Vogel in dem vergeblichen Versuch, sich in die Lüfte zu schwingen, wild mit den Flügeln schlug und wieder auf dem Arm seines Bruders landete. »Es geht nicht«, hatte sein älterer Bruder gesagt. »Der Flügel wird nicht wieder.«

Dann hatte er hinzugefügt: »Ich hab’s gewusst.«

Sonst sagte er nichts. Schweigend trotteten sie zu ihrem Boot zurück. Er ruderte schnell, mit dem Rücken zum Wind, als könnte er mit schierer Körperkraft an der Sachlage etwas ändern.

Plötzlich machten seine Gedanken einen Sprung zum darauffolgenden Morgen. Doug war vor ihm auf gewesen und hatte, mit zerzaustem Haar und aschfahlem, wutverzerrtem Gesicht plötzlich an seinem Bett gestanden. »Krächz ist tot«, hatte sein Bruder berichtet.

Der alte Scheißkerl hatte den Vogel getötet, während sie geschlafen hatten. Er war in die Abstellkammer gegangen, wo er sich das arme, treuherzige Ding geschnappt und ihm den Hals umgedreht hatte.

Martin Jeffers stieg angesichts der unabweislichen Kindheitserinnerung die blanke Wut hoch.

»Er war schlichtweg ein grausamer, herzloser Mann, und ich war heilfroh, als er bekam, was er verdiente. Ich wünschte mir nur, es hätte mehr wehgetan!«

Er entsann sich, wie er diese Worte seiner eigenen Therapeutin entgegengeschleudert hatte, die in einem provozierend ruhigen Ton nachgehakt hatte, ob das stimmte. Natürlich stimm te es! Er hat den Vogel getötet! Er hat uns gehasst! Von Anfang an. Das war das Einzige, worauf bei ihm Verlass gewesen war. Das und dass er seinen Willen durchsetzte. Am liebsten hätte er sich nachts in unser Zimmer geschlichen und uns den Hals umgedreht!

Martin Jeffers erinnerte sich, wie er auf den toten Vogel in der Hand seines Bruders gestarrt hatte.

Kein Wunder, dass er ihn so sehr hasste. Mit einem solchen Hass wird man nicht geboren. Den entwickelt man über einen langen Zeitraum hinweg durch Grausamkeit und Vernachlässigung. Zuerst stirbt jede Liebe und Zuneigung. Das hatte er zu seiner Therapeutin gesagt. Er hatte die Frau, die hinter seinem Kopf saß, so dass er sie nicht sehen konnte, gefragt: Wenn Sie so einen Vater gehabt hätten, würden Sie dann nicht auch einen Beruf ergreifen wollen, bei dem Sie sich um andere Leute kümmern? Anderen helfen können? Weshalb sonst bin ich wohl hier, verflucht noch mal?

Natürlich hatte die Therapeutin nichts gesagt.

Die Erinnerungen, die in Martin Jeffers brodelten, stiegen in ihm auf wie der Dampf in einem geschlossenen Kessel. Scheißkerl. Scheißkerl. Scheißkerl.

An dem Abend hatte niemand ein Wort gesprochen. Keiner hatte erwähnt, was geschehen war. Wir saßen alle am Esstisch und taten so, als wäre nichts gewesen.

Er entsann sich, wie ihre Mutter Doug ansah und sagte: »Es tut mir leid, dass der Vogel weggeflogen ist.« Beide Jungen hatten sie mit demselben ungläubigen Blick angestarrt, bis sie stumm den Kopf abwandte.

Sie hatte grundsätzlich von nichts eine Ahnung, hatte er zu seiner Therapeutin gesagt. Ihre Hauptbeschäf tigung bestand darin, sich herauszuputzen; und außerdem musste sie die Jungen ständig betatschen und ihnen diese nassen, nervtötenden Schmatzer aufdrücken. Sie hatte keine Ahnung von nichts, und wenn man versuchte, ihr etwas zu erklären, drehte sie sich einfach weg.

Ihr Vater hatte stumm das Essen in sich hineingeschaufelt.

Scheißkerl.

Martin Jeffers zuckte auf seinem Stuhl zurück. Erneut sah er vor sich, wie er an jenem Morgen unsanft aus dem Tiefschlaf gerissen wurde, als er die Stimme seines Bruders hörte und beim Erwachen den totenstarren Vogel in dessen Händen erblickte.

Dann sah er in seiner Erinnerung nur noch die Hände seines Bruders.

Und dann: O mein Gott!

Er sprach es laut aus, obwohl niemand da war, der ihn hätte hören können: »O mein Gott! Nein!«

Der Gedanke lastete wie ein zentnerschweres Gewicht auf ihm und begrub die Erinnerung unter sich.

»O nein. O nein, o nein«, wiederholte er.

Im selben Moment überschwemmte ihn blankes Entsetzen und düstere Trauer.

Und genau in dem Moment wurde ihm klar, wer den Vogel umgebracht hatte.

Ich bin ängstlich, dachte Martin Jeffers.

All diese Dinge sind uns beiden passiert, und ich bin still, introvertiert, einsam und passiv geworden, und er ist … Jeffers weigerte sich, den Gedanken in Worte zu fassen.

Er stellte sich seinen Bruder vor und sah sein gerötetes Gesicht mit dem lässigen Grinsen. Widerwillig führte er sich seinen Bruder vor Augen, wenn er zornig war, und er erinnerte sich an die Wucht seines Schweigens. Das hatte ihm immer Angst gemacht. Er wusste noch, wie er seinen Bruder angefleht hatte, mit ihm zu reden. Er dachte an die Frau von der Kripo und die Fotos vom Fundort der Leiche ihrer Nichte. Er versuchte, beide Erinnerungen miteinander in Einklang zu bringen.

Er schüttelte den Kopf.

Nicht Doug, dachte er.

Dann drängte sich ein hartnäckiger Zweifel auf: Wieso nicht? Er wusste keine Antwort darauf.

Martin Jeffers stand auf und wanderte in seiner Wohnung umher. Sie lag im Erdgeschoss eines alten Hauses in Pennington, New Jersey, einer winzigen Stadt, die zwischen Hopewell und Trentons Vororten eingezwängt war. Hopewell lag genau westlich von Princeton, und Martin Jeffers rief sich mit Unbehagen ins Gedächtnis, dass sein Bruder schon als Kind jedes Mal, wenn jemand Hopewell erwähnte – egal ob er es hören wollte oder nicht –, erzählt hatte, dass das verschlafene Kaff nur für eine einzige Sache berühmt sei: die Entführung des Lindbergh-Babys.

Ein Jahrhundertverbrechen, dachte Martin Jeffers.

Ihm war kalt, und er trat ans Fenster. Er legte die Hand an die Scheibe und spürte die spätsommerliche Wärme. Dennoch zitterte er und schob das Fenster energisch herunter, bis es nur noch einen Spaltbreit geöffnet war.

Man hatte das Baby im Wald gefunden. Verwest. Martin kam der seltsame Gedanke, ob vielleicht jeder Bundesstaat seine Geschichte anhand von Verbrechen ordnete. Es machte ihn betroffen, wenn er daran dachte, wie viel sein Bruder wusste. Ihm fiel wieder ein, wie Doug ihm vom Camden-Killer erzählt hatte, der an einem schönen Tag Anfang September 1949 das Haus verließ und mit einer Luger, einem Kriegssouvenir, in aller Seelenruhe dreizehn Menschen erschoss. Vor ein paar Jahren hatten diese Geschehnisse Doug fasziniert, als er erfuhr, dass sein Bruder den Mann, den die Zeitungen damals als einen tollwütigen Hund beschrieben hatten, regelmäßig in der Psychiatrischen Heilanstalt Trenton sah, wo dieser seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren durch die Flure wanderte, ein vorbildlicher Patient, der niemals einen Streit anfing, wenn die Pfleger mit der täglichen Dosis Thorazin, Mellaril oder Haldol zu ihm kamen. Vitamin H nannten es die Patienten. Der Camden-Killer nahm seine Medikamente stets ohne Murren. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Für so etwas hatte Doug immer etwas übrig.

Martin Jeffers schüttelte den Kopf.

Sicher, aber dieser Polizeireporter aus Philadelphia, der eigens gekommen war, um einen Artikel über die Anstalt zu schreiben, war genauso gewesen. Und du erzählst die Story bei jedem albernen Seminar und jedem Kongress, den du besuchst. Es gibt eine Menge Leute, die sich an das Verbrechen erinnern können.

Das war das Problem. Die Menschen sind immer von Verbrechen fasziniert, warum sollte das bei seinem Bruder anders sein? Verflucht noch mal – schließlich spielte er schon so lange mit der Kamera Räuber und Gendarm, dass sein Interesse wirklich nicht verwunderlich war.

Martin hielt inne.

Aber wie groß war sein Interesse?

Wieder schüttelte er den Kopf. Du willst es nicht wahrhaben, dachte er.

Lächerlich.

Du kennst deinen Bruder, sagte er sich.

Er legte den Kopf in die Hände.

Er konnte nicht weinen. Er empfand nichts weiter als Konfusion.

Kennst du ihn wirklich?, fragte er sich.

Er dachte an die Männer in seiner Therapiegruppe. Plötzlich stellte er sich vor, sein Bruder säße unter ihnen. Und ebenso plötzlich sah er sich selbst in ihrer Runde.

Er wandte sich vom Fenster ab, als könnte er dadurch den Bildern in seinem Kopf entkommen.

»Verdammt!«, fluchte er laut. »Gottverdammt!«

Er dachte an seinen Vater und seine Mutter.

»Wie hättest du sie lieben können?«

Er dachte an seine Therapeutin. An einer Wand ihrer Praxis hing ein Gemälde, ein Kandinsky-Druck – geometrische Formen und scharfe Konturen in leuchtenden Farben mit bunten Tupfen vor schneeweißem Grund. Gegenüber hatte ein Gemälde von Andrew Wyeth gehangen, eine Scheune im sanften Abendlicht, in gedämpften Farben von Grau bis Braun. Amerikanischer Realismus. Der Gegensatz der beiden Bilder hatte ihn immer verblüfft, doch er hatte es nie über sich gebracht, die Frau zu fragen, was sie zu der Wahl bewogen hatte und weshalb die Bilder dort hingen. »Also«, hatte sie gefragt, »glauben Sie denn, dass Sie Ihre leiblichen Eltern geliebt haben?«

»Sie haben im Zirkus gearbeitet! Ein Trinker und eine Hure!«, war er wütend herausgeplatzt. »Zuerst haben sie sich gegenseitig verlassen und dann uns! Ich war erst drei oder vier … ich kannte sie gar nicht. Wie soll man jemanden lieben, den man gar nicht kennt?«

Natürlich blieb sie ihm eine Antwort schuldig.

Außerdem kannte er sie selbst.

Es ist leicht. Man schafft sich aus der entferntesten Erinnerung an eine noch so zarte Berührung eine Phantasievorstellung, die man lieben kann.

In diesem Moment wurde ihm die logische Entsprechung bewusst.

Die Phantasie kann auch etwas hervorbringen, das man hasst.

Er ging zu dem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Raums, den man als Wohnzimmer bezeichnen konnte – ein Zimmer, das überfüllt war mit Papieren, einem ziemlichen Durcheinander von unterschiedlichsten Dingen sowie Romanen in Taschenbuch- und gebundenen Ausgaben sowie medizinischen Texten, Berichten und Zeitschriften; außerdem gab es ein paar Stühle und ein Sofa, einen Fernseher und ein Telefon, das war’s. Er betrachtete seine Sachen. Sie waren billig. Die dürftige Ausstattung eines dürftigen Lebens. Sein Blick fiel auf seine Schreibtischauflage und den Briefumschlag, der an einer Ecke darunter hervorlugte. Er hatte eigenhändig Dougs Wohnungsschlüssel draufgeschrieben. Er dachte daran, wie ihm sein Bruder die Schlüssel lässig hingeworfen hatte. Eine empfindsame Reise, hatte er gesagt.

Das ist alles kein Zufall.

Das gehört alles zu einem Plan. Ob bewusst oder unbewusst. Er nahm die Schlüssel aus dem Umschlag und hielt sie in der Hand. Er schüttelte den Kopf. Noch nicht, sagte er sich. Ich bin noch nicht überzeugt, nicht ganz. Ich werde nicht einfach dort eindringen. Noch nicht.

Er merkte, dass er sich etwas vormachte.

Dann ließ er den Umschlag mit den Schlüsseln wieder auf den Schreibtisch fallen und kehrte zu einem der Sessel zurück. Er sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Geh schlafen, mahnte er sich. Er ließ sich in den Sessel fallen, denn er wusste, dass er nicht schlafen konnte.

Er dachte an die Polizistin.

Martin Jeffers versuchte, sich in sie einzufühlen, um zu verstehen, was sie antrieb.

Ihm kam der Gedanke, dass sie sich von lauteren Motiven leiten ließ, dass sie nur an Gerechtigkeit interessiert war. Selbst wenn daraus ein Feldzug wurde, aus Rache oder Wut, war es immer noch ehrenhaft. Selbst Mord?, überlegte er. Auch wenn er sich vor einer klaren Antwort drückte, wusste er instinktiv: Ich würde niemandem trauen, der die andere Wange hinhält. Die moderne Psychiatrie ist gegenüber solch selbstlosem Altruismus skeptisch. Wieder drängte sich die Ermittlerin in sein Bewusstsein. Er sah ihre steinerne Miene ohne den Anflug eines Lächelns, zu allem entschlossen, das streng zurückgekämmte Haar. Das Beängstigende an der Frau war ausgerechnet, dass sie sich nicht benahm wie ein Mann. Eine Frau bei der Kripo. Sie sollte in Stein gemeißelt sein, irgendwo in mittlerem Alter, den Büromuff an den Kleidern, die Hände einer Bäuerin und auf dem menschlichen Auge blind. Detective Barren trägt Seide, dachte er, und ziemlich unpraktische Schuhe, und sie macht mir umso mehr Angst. Es kam nicht jeden Tag vor, dass eine Frau jemanden quer durch die Vereinigten Staaten jagt. Frauen lassen sich nicht von gekränkter Eitelkeit leiten wie ein Mann. Sie sind bodenständiger, pragmatischer.

Er grinste über seine fadenscheinigen Argumente.

Erste Lektion an der medizinischen Fakultät: Nie verallgemeinern! Nie charakterisieren.

Begriffe wie Obsession und Zwang drängten sich ihm auf, doch für einen Moment war er verwirrt. Er führte sich seinen Bruder, die Ermittlerin und sich selbst vor Augen.

Kein Wunder, dachte er, dass die alten Griechen die Furien erfunden haben, und zwar als Frauen. Eine kühne Mischung aus Mythos und Phantasie schwirrte ihm durch den Kopf. Die Scheuklappen nützen dir nichts, dachte er, du siehst trotzdem.

Martin Jeffers starrte auf die Uhr an der Wand gegenüber. Er hatte Angst vor der Nacht, er sehnte den Morgen, die vertraute Routine herbei: die morgendliche Dusche, die hastige Tasse Kaffee, die Fahrt zur Heilanstalt, die erste Visite, die Grup pensitzungen, das zaghafte Klopfen seiner Patienten an seiner Sprechzimmertür. Plötzlich wünschte er sich nichts sehn licher als die Rückkehr zur Normalität. So, wie es immer war, so wie es bis zum gestrigen Tag gewesen war. Ihm wurde bewusst, wie kindisch diese Wünsche waren, und musste schmunzeln: Ich wünschte, ich wäre wieder in Kansas, wieder in Kansas, in Kansas … Er schloss die Augen und lachte halbherzig über die Erinnerung an das Kinderbuch, wusste jedoch, dass es ihm nicht half. Es gibt keine magischen Schuhe, dachte er. Keine Absätze, die man dreimal zusammenschlagen muss. Ihm fiel ein, wie sein Bruder seine Arbeit beschrieben hatte: dem Bösen auf den Fersen.

Er stand auf, öffnete einen Schrank und zog eine Steppdecke heraus. Er wickelte sie sich um die Schultern und setzte sich wieder in den Sessel. Er schaltete das grelle Licht auf dem Couchtisch neben dem Sessel aus und blieb still in der Dunkelheit sitzen. Er wollte wach bleiben und er wollte schlafen. Er konnte sich nicht für eins von beiden entscheiden, denn beides machte ihm Angst.

Draußen im Wagen sah Detective Barren, wie das Licht ausging. Sie wartete eine Viertelstunde, bis sie sicher war, dass Martin Jeffers seine Wohnung nicht verließ. Dann senkte sie die Lehne bis zum Anschlag hinunter und wickelte sich in eine dünne Decke, die sie aus dem Hotel mitgenommen hatte. Sie überzeugte sich noch einmal davon, dass sie die Türen abgeschlossen und nur das Fenster einen Spaltbreit geöffnet hatte, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Pennington, dachte sie, ist ein Ort, an dem man sich absolut sicher fühlen kann, ein Ort für Familien mit guter Nachbarschaft und Grillpartys im Garten. Sie erinnerte sich daran, wie sie an Wochenenden durch diese Alleen gefahren war, um ein Footballspiel der Highschool zu besuchen. Er weiß es nicht, dachte sie. Er weiß nicht, dass auch ich hier zu Hause bin. Sie lockerte den Gürtel ihrer Jeans und entspannte sich mit einem letzten sehnsüchtigen Blick zum dunklen Fenster, während ihre Finger über den Griff der Neunmillimeter strichen, die sie unter der Decke auf dem Bauch liegen hatte. Ihr schieres Gewicht beruhigte sie auch jetzt. Sie war zuversichtlich. Sie wies den Gedanken zurück, der sie am Abend so lange gequält hatte. Sie war sich bewusst, dass etwas fürchterlich schief lief, wenn sie als Polizistin zur Kriminellen wurde.

Ist ja nur für kurze Zeit, sagte sie sich. Und notgedrungen.

Sie verbannte den Gedanken aus ihrem Kopf, dann schloss sie die Augen vor der Nacht.

Ihre Träume allerdings waren verworren und von Menschen bevölkert, die nichts miteinander zu schaffen hatten: ihr Mann und Sadegh Rhotzbadegh, die Jeffers-Brüder und ihre Vorgesetzten sowie ihr Vater. Als sie kurz vor dem Morgengrauen von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Autos geweckt wurde, war sie erleichtert. Sie sah den Rücklichtern hinterher, bis sie im angedeuteten Morgengrauen verschwanden. Sie konnte gerade noch die rotblaue Lampe auf dem Wagendach erkennen und fragte sich, wie verschlafen ein Cop wohl sein musste, wenn er jemanden übersah, der in einer Wohnstraße allein im Wagen übernachtete. Was nutzte die Streife, wenn der Polizist keinen Blick für das Ungewöhnliche hatte? Andererseits war sie froh, dass sie unentdeckt geblieben war, auch wenn ihre Dienstmarke und ihr selbstbewusstes Auftreten die Sache schnell aufgeklärt hätten.

Sie sah den roten Rücklichtern hinterher; als der Polizist auf die Bremse trat, leuchteten sie einen Moment in einem helleren Rot auf, dann verschwanden sie um die Ecke. Sie streckte sich und sah sich um. Sie bog den Spiegel zu sich herunter und brachte so gut wie möglich ihr Äußeres in Ordnung. Dann bückte sie sich und tastete nach der Thermoskanne sowie dem angebissenen Blätterteigteilchen vom vergangenen Abend. Der Kaffee war lauwarm, aber besser als gar nichts. Sie schlürfte ihn langsam und redete sich ein, er sei heiß.

Langsam zeichneten sich die Bäume von der ersten Morgendämmerung ab. Ein einsamer Vogel zwitscherte laut, dann der nächste. Sowie der Morgen um sich griff, nahmen die Häuser nackt und schnörkellos Konturen an.

Sie fasste sich an den Bauch und tastete nach dem dicken Wulst der Einschussnarbe unter ihrer Bluse. Der vorbeifahrende Streifenwagen, die frühmorgendliche Ruhe brachten Erinnerungen zurück. Sie dachte daran, wie sie vom Schuss getroffen wurde; es war noch dunkel gewesen, doch kurz vor dem Ende der Nachtschicht. Bis heute blieben ihr einige Aspekte des Übergriffs ein Rätsel. Das ganze Ereignis schien sich in einem anderen Zeitfenster abgespielt zu haben; teilweise wirkte alles schwindelerregend beschleunigt, dann wieder auf Zeitlupe verlangsamt und wie in Nebel getaucht.

Sie hatte die beiden Jugendlichen entdeckt.

Sie waren so auffällig gehetzt und zielstrebig die andere Straßenseite heruntergekommen, dass bei jedem halbwegs erfahrenen Polizisten die Alarmglocken schrillen mussten.

»Mit den beiden stimmt was nicht«, hatte sie zu ihrem Partner gesagt. Die Teenager trugen hohe Turnschuhe. »Die haben knöchelhohe Schuhe an«, hatte sie hinzugefügt, »und wenn nicht gerade um fünf Uhr morgens irgendwo ein Basketballspiel läuft, von dem wir nichts wissen …« Ihr Partner hatte sich zu den beiden Jungen umgedreht und nach wenigen Sekunden genickt.

»Riecht mächtig nach ’nem Bruch«, hatte er lachend beigepflichtet. »Komm. Knöpfen wir uns die beiden vor.«

Sie hatte Meldung gemacht: »Zentrale, Einheit vierzehn-nulleins, wir sind Flagler sechsundfünfzig, Ecke Northwest einundzwanzig. Fordern Verstärkung an.«

Sie liebte es, wie ihr Ton Autorität ausstrahlte, sobald sie die besonderen Codes der Polizeistreife durchgab. Es hatte im Funk geknistert, und ihr Partner hatte bereits gewendet, um die beiden Jungen einzuholen. Die Leitstelle hatte ihren Funkspruch bestätigt und gemeldet, die Verstärkung sei unterwegs.

Sie waren nur noch wenige Schritte von den Teenagern entfernt, die sich noch nicht zu ihnen umgedreht hatten, als ihr Partner das Blaurotlicht anmachte. »Damit sie wach werden«, hatte er gesagt.

Und er sollte recht behalten. Sie waren zusammengezuckt und geradezu erstarrt. Sie hatte gesehen, dass sie beide zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt sein mussten.

»Kinder«, hatte ihr Partner gemurrt. »Verdammt.«

Sie waren ausgestiegen, um auf die Jugendlichen zuzugehen. »Frag mich, was sie geklaut haben«, hatte ihr Kollege spekuliert.

Sie musste oft an diese Worte denken: dein Leben.

Sie hatte die Waffe erst gesehen, als sie auf sie gerichtet war. Sie waren nur wenige Meter von ihnen entfernt. Sie entsann sich, wie sie versuchte, ihre Dienstwaffe zu ziehen, während ihr Partner die Hände vor sich hielt, als könnte er so einen Schuss abwehren. Es hatte aus dem Pistolenlauf geblitzt, und als er nach hinten fiel, stieß er sie mit dem Arm an. Sie erinnerte sich, wie die Waffe ihre Ausrichtung änderte, als schwebte sie schwerelos in der Luft, und nun auf sie zielte. Manchmal bildete sie sich ein, sie hätte auf dem kurzen Weg zwischen der Mündung und ihrem Körper die Kugel gesehen.

Das Nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie am Boden lag, hochsah und merkte, dass es bald Morgen und Dienstschluss sein musste, so dass sie nach Hause fahren konnte, um bei einem gemütlichen Frühstück die Zeitung zu lesen. Sie hatte sich vorgenommen, einkaufen zu gehen; auch wenn es kälter geworden war, hatte sie beschlossen, sich etwas Verführerisches zum Anziehen zu kaufen, selbst wenn sie es niemals tragen würde. Ihr waren die Namen der Kaufhäuser eingefallen. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sie nach ihrem Bauch getastet und gefühlt, wie klebriges, warmes Blut herausquoll.

Sie hatte sich auf den heller werdenden Himmel konzentriert; dabei war ihr Atem flacher geworden, und sie wusste noch, wie die beiden Teenager für einen Moment in ihr Gesichtsfeld traten. Sie hatten sich über sie gebeugt und ihr in die Augen gestarrt. Sie hatte gesehen, wie einer von ihnen die Waffe hob, und sie hatte an ihre Familie und Freunde gedacht. Doch statt abzudrücken, hatte der Junge unter Flüchen die Waffe fallengelassen und war weggerannt. Das rhythmische Trommeln der Turnschuhe auf dem Boden würde sie nie vergessen.

Schließlich war es in der Kakophonie der Sirenen untergegangen, die immer näher kamen und ihr die Chance auf ein Überleben versprachen.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab und sah einem Zeitungsjungen zu, der mit geübtem Schwung die Morgenausgabe auf den Rasen der Vorgärten warf. Er entdeckte Detective Barren und winkte ihr, nach dem ersten überraschten Blick, mit einem Lächeln zu. Sie kurbelte die Scheibe herunter und fragte: »Zufällig eine übrig?«

Er hielt mit dem Fahrrad an. »Ja, hab tatsächlich ausnahmsweise eine. Der alte Mr. Macy da vorne ist in Urlaub, und ich hab’s vergessen. Wollen Sie die kaufen?«

Sie fischte einen Dollarschein aus der Handtasche.

»Da«, meinte sie, »der Rest ist Trinkgeld.«

»Danke.«

Er radelte weiter und winkte noch einmal.

Die Hauptschlagzeile lautete Unruhen im Nahen Osten. Daneben war ein Bild von Rettungskräften, die Leichen aus einem zerstörten Gebäude bargen – Opfer der Autobombe eines Selbstmordattentäters. Darunter das wichtigste Thema aus der Innenpolitik: ein im Kongress verabschiedetes Steuergesetz. Auf der Titelseite fand sie zwei Verbrechensmeldungen – die Eröffnung des Prozesses gegen einen Bandenchef mit einem Foto, wie der Mann die Stufen im Gerichtssaal hochstieg, und eine lokale Meldung, die sie als Erstes las: Ein Hausbesitzer hatte einen Einbrecher in flagranti ertappt und den unbewaffneten Mann mit einer nicht registrierten und somit illegalen Pistole erschossen. Die Staatsanwaltschaft konnte sich nicht entscheiden, ob sie gegen den Mann Strafanzeige erstatten oder ihm einen Orden verleihen sollte.

Sie wandte sich dem Sportteil zu. Die Kämpfe der Regionalligameisterschaft kamen gerade so richtig in Fahrt, und das Training für die Auswahlentscheidungen lief auf Hochtouren. Sie blätterte zum Kleingedruckten auf den Innenseiten weiter, um zu sehen, ob sich die Dolphins von einem ihrer Lieblingsspieler getrennt hatten, was offenbar nicht der Fall war. Dagegen hatten die Patriots einen ihrer alten Linemen entlassen. Er war ein Fels in der Brandung, ein Bursche aus dem mittleren Westen, der gegen die Dolphins stets frustrierend gut seinen Mann gestanden hatte. Über die Jahre hatte sie ihn immer wieder für seine unverdrossene Knochenarbeit im Schatten der Stars bewundert. Sie wusste, dass er auch verletzt und unter Schmerzen spielen würde, und dafür respektierte sie ihn, vielleicht sogar mehr als die Fans. Die Nachricht, die an die Sterblichkeit und die Unbeständigkeit des Lebens mahnte, machte sie plötzlich traurig. Sie drückte dem Mann fest die Daumen, dass man keinen Ersatz für ihn fand.

Irgendwann ändert sich alles. Jeder schreitet zu neuen Ufern, dachte sie.

Sie wendete sich wieder zu Jeffers’ Wohnung um und saß kerzengerade, als sie entdeckte, dass dort Licht brannte. Sie sah eine Gestalt, die sich am Fenster bewegte, und machte sich unwillkürlich auf ihrem Sitz ganz klein, als könnte er sie sehen. Die Gefahr war gering, doch ihr Bedürfnis nach Deckung groß.

Na, komm schon, sagte sie in Gedanken. Komm schon, der Tag hat begonnen.

Vor Aufregung glühten ihre Wangen. Sie kurbelte das Fenster herunter und atmete die feuchte Morgenluft ein, als befürchtete sie, an ihren Gedanken zu ersticken.

 

Martin Jeffers lief im ersten schwachen Dämmerlicht in seiner Wohnung umher. Er hatte geschlafen, da war er sicher, doch wie lange, konnte er nicht sagen. Er fühlte sich nicht erfrischt, sondern emotional genauso erschöpft wie zu Beginn der Nacht. Er ging ins Bad und ließ die Sachen auf den Boden fallen. Er wollte seinen Kreislauf durch eine Schocktherapie ankurbeln. Er wollte bei klarem Verstand und geistesgegenwärtig sein. Also hielt er das Gesicht unter den kräftigen kalten Wasserstrahl und zitterte, fühlte jedoch zugleich, wie die Lebensgeister wiedererwachten.

Er trat aus der Dusche und rubbelte sich mit einem fadenscheinigen Handtuch trocken, bis seine Haut gerötet war. Immer noch nackt, rasierte er sich mit kaltem Wasser.

Er tappte ins Schlafzimmer und legte frische Unterwäsche, Hemd und Krawatte aufs Bett. Erst mal zwanzig, sagte er sich. Er ließ sich auf den Boden fallen und schaffte auf die Schnelle zehn Liegestütze. Er lachte laut. Das muss genügen. Er drehte sich auf den Rücken und absolvierte fünfundzwanzig Sit-ups mit angezogenen Knien, die Hände ohne zu mogeln hinter dem Kopf verschränkt. Sein Bruder hatte ihm einmal erklärt, nur so seien sie wirksam. Doug hatte keine Gymnastik nötig. Er war immer stark, immer in Form. Er konnte den ganzen Kühlschrank leeressen, ohne ein Gramm zuzunehmen. Martin Jeffers stand auf und betrachtete sich im Spiegel über der Frisierkommode. Eigentlich gar nicht mal übel, dachte er. Trotz der sitzenden Tätigkeit. Fang wieder mit dem Jogging an, oder such dir einen Tennispartner. In null Komma nichts wieder auf Draht. Er zog sich schnell an und sah auf die Uhr.

Er dachte an Detective Barren. Für ihr Treffen hatte er ihr keine bestimmte Uhrzeit genannt, doch er wusste, dass sie früh da sein würde. Er schüttelte den Kopf. Nein, dachte er, es ist nichts bewiesen. Ganz und gar nichts.

Es liegt in der Natur von Brüdern, immer zu übertreiben, im Guten wie im Schlechten. Das überdauert die Kindheit mit ihrer fortgesetzten Mischung aus Liebe, Eifersucht und ungezügelten Emotionen, die ganz natürlich dazugehören. Na schön, Doug hat einen Vogel getötet, während du immer gedacht, nein, vermutet hast, dass es dein Vater war. Du hast dich geirrt, aber das macht deinen Bruder noch lange nicht zum Mörder. Ganz und gar nicht.

Martin Jeffers’ Hände hielten mitten in der Bewegung inne, als er sich gerade die Krawatte band. Das Gefühl von Selbstbetrug überwältigte ihn wie ein heftiger Schlag. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, als könnte er auf diese Weise den qualvollen Gedanken von sich weisen. Mit lauter, fester Stimme sagte er:

»Also, was immer Doug auch sein mag, und du hast verdammt noch mal keinen Beweis, keinen einzigen handfesten Beweis für irgendetwas, egal, was die gottverdammte Polizistin sagt, er ist immer noch dein gottverdammter Bruder, und das sollte wohl auch etwas zählen.«

Die lauten Worte in dem leeren Zimmer trösteten ihn für einen Moment, doch der nächste unabweisbare Gedanke kam gleich hinterher: Er war lange genug Arzt, um den klinischen Sachverhalt der Realitätsverleugnung zu erkennen. Sogar bei sich selbst.

Immer noch zwischen Ungläubigkeit und Erkenntnis hin und her geworfen, misstrauisch gegenüber seinen eigenen Erinnerungen und Gefühlen sowie der Erkenntnis, die über Jahre in ihm herangereift war, machte sich Martin Jeffers auf den Weg zur Klinik. Die Polizistin auf ihrem Beobachtungsposten gegenüber seines Hauses entdeckte er nicht.

 

Sie wartete zehn Minuten, um ganz sicher zu sein.

Doch der zügige Gang und der starre Blick sagten ihr, dass der Doktor unverzüglich zu ihrer Verabredung in der Anstalt fahren würde, nachdem er sich vermutlich die ganze Nacht gequält hatte.

Er bekommt seine Verabredung, dachte sie, nur nicht ganz so schnell, wie er es wohl erwartet. Wieder machte ihr das Vorhaben ein wenig zu schaffen. Die eine Stimme in ihr gab zu bedenken: Du weißt genug. Er wird sich überwinden und dir seine Hilfe anbieten. Doch die Pessimistin in ihr hielt da gegen, dass der Arzt sie nie darin unterstützen würde, den eigenen Bruder zu finden, solange sie ihm nicht klarmachen konnte, dass ihm gar nichts anderes übrigblieb. Du brauchst einen Trumpf im Ärmel, wieso also nicht in dieser Wohnung danach suchen. Außerdem war sie nicht sicher, was sie von Martin Jeffers halten sollte. Falls er es weiß, dachte sie, dann behält er sein Geheimnis vielleicht schon seit Jahren für sich. Sie dachte an den erstaunten Ausdruck, den er so schnell zu kaschieren verstand, nachdem sie mit ihrem Anliegen herausgeplatzt war. Vielleicht ist er ja selbst ein Killer. Vielleicht, vielleicht. Einerseits fühlte sie sich durch ihr Wissen gestärkt, andererseits durch ihre Mutmaßungen geschwächt, und ihr war klar, dass sie erst einmal mehr in Erfahrung bringen musste. Fakten, dachte sie. Die nackte Wahrheit. Beweise.

Sie beendete den Widerstreit und schlüpfte aus dem Wagen. Nach einem prüfenden Blick in alle Richtungen schlenderte sie über die Straße auf das Gebäude zu, doch statt den Haupteingang zu nehmen, beschleunigte sie ihre Schritte und lief um die nächste Ecke. Im Nu hatte sie das angelehnte Fenster entdeckt, mit dem er die Wohnung lüftete.

Kein Wenn und Aber, mahnte sie sich. Tu’s einfach.

Sie schnappte sich eine blecherne Mülltonne und stellte sie an die Wand. Dann kletterte sie auf den Deckel und stieß auch schon das Fenster auf. Mit einer einzigen Bewegung hatte sie das dürftige Fliegengitter weggedrückt und war hineingehechtet, wo sie wie ein ungeschickter Wasservogel unsanft auf dem Boden des Wohnzimmers landete.

Sie rappelte sich auf und schloss rasch das Fenster hinter sich.

Ihr kam der irritierende Gedanke, dass sie soeben ihren ersten Einbruch absolviert hatte, und gar nicht mal schlecht. Sie ließ ein paar Dutzend Einbrecher und Diebe unterschiedlichster Couleur Revue passieren, die sie im Lauf ihrer Dienstzeit verhaftet hatte. Vor ihrem geistigen Auge standen sie Spalier und applaudierten. Ab jetzt gehöre ich dazu, dachte sie.

Sie schaute sich um und empfand einen Augenblick Widerwillen gegen die verstreuten Kleider und die willkürliche Anordnung der Möbel. Doch das Gefühl verging so schnell, wie es gekommen war.

Es erinnerte sie an ihre Besuche bei John Barren in seinem ersten Studienjahr, bevor sie zusammenzogen. Sie grinste bei dem Gedanken an die Socken, die in der Ecke gammelten, die Unterwäsche, die in trauter Nachbarschaft mit Lektürelisten und Kursbeschreibungen in einem metallenen Aktenschrank verstaut war. Zumindest, hatte sie ihm gesagt, hast du sie unter »U« abgelegt. Auch John hatte in einem ziemlichen Durcheinander gehaust, als könnte er in einer chaotischen Umgebung besser den Kopf freihalten. Dann dachte sie, dass sie wohl nur die Erinnerung verklärte, dass er wohl in Wahrheit einfach einer von vielen Männern war, denen die Mutter alles hinterhergeräumt hatte; als ob die alte Dame wundersamerweise selbst am College regelmäßig erscheinen und ihm die Socken aus den Ecken holen würde, um sie ihm frisch gewaschen und ordentlich zusammengerollt wieder abzuliefern. Dabei lag er mit dieser Einstellung sogar richtig, dachte sie mit einem Lächeln: Das war beinah das Erste, was du gemacht hast. Seine verdammte Wäsche. Du hast dir, kaum dass seine anderen Kommilitonen draußen waren, den Wäschebeutel geschnappt, seine dreckigen Sachen eingesammelt und zum nächsten Waschsalon gebracht. Sie hätte am liebsten laut gelacht.

In diesem Moment hörte sie ein Geräusch im Flur und erstarrte vor Angst.

Blitzschnell versuchte sie, die Wahrnehmung einzuordnen: War es eine Stimme gewesen? Das Öffnen einer Tür? Schritte? Sie schluckte schwer und horchte angestrengt, während ihr Herz laut pochte.

Sie zog die Neunmillimeter aus dem Gürtel und wartete, ohne sich zu rühren. Ich muss verrückt sein, dachte sie. Steck die verdammte Waffe weg. Falls er das ist, rede einfach wie ein Wasserfall. Er wird sauer sein, aber wissen, wieso du hier bist.

Stattdessen richtete sie die Waffe auf die Tür und wartete.

Ihr kam der entsetzliche Gedanke: Es ist der Bruder!

Sie hatte das Gefühl, als bräche ein gewaltiges, unbeherrschbares Übel über sie herein und erfüllte den ganzen Raum wie der Rauch von Feuer. O Gott, er hält ihn hier versteckt! Die machen gemeinsame Sache! Er ist hier!

Sie kauerte sich hin und versuchte, ihr rasendes Herz und ihre zitternde Hand zur Ruhe zu bringen. Sie befahl sich, cool zu sein. Ihr Griff wurde fest, ihr Atem stetig. Sie zielte, so wie sie es schon Hunderte Male auf dem Schießplatz gemacht hatte.

Erwisch ihn mit dem ersten Schuss, wies sie sich an.

Ziel auf die Brust, das legt ihn lahm. Dann gib ihm mit einem zweiten Schuss in den Kopf den Rest.

Sie schloss ein Auge und wartete auf das nächste Geräusch.

Doch es blieb aus.

Sie blieb in Schießstellung. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt rühren und die Muskeln entspannen konnte. So vergingen dreißig Sekunden. Dann eine ganze Minute. Die Anspannung schien die Zeit in die Länge zu ziehen, auch wenn die Welt voreilig in Schweigen verfallen war.

Sie hielt die Luft an, bis es nicht mehr ging, dann atmete sie in einem langgezogenen Pfeifton aus.

Langsam ließ sie die Pistole sinken.

»Es ist niemand da«, flüsterte sie. Es war beruhigend, die eigene Stimme zu hören.

»Du bist völlig übergeschnappt«, fuhr sie im Flüsterton fort. »Und jetzt lungere hier nicht länger herum, sondern sieh zu, dass du etwas findest.«

Sie sah sich flüchtig im Badezimmer, dann im Schlafzimmer um. Sie merkte, dass sie nicht gerade systematisch vorging, wusste aber auch, dass Martin Jeffers irgendwelche Hinweise auf seinen Bruder nicht verstecken würde. Unter dem Bett fand sie zwei Aktenkartons mit persönlichen Unterlagen. Sie zog sie heraus, setzte sich auf den Boden und überflog sie, so schnell sie konnte. Größtenteils handelte es sich dabei um Steuererklärungsformulare, Darlehensanträge, Studiendokumente. Sie sah, dass seine Noten im Medizinstudium mittelmäßig waren, während er am College noch geglänzt hatte. Es schien, als hätte er, kaum dass er seine Zukunft erreicht hatte, in seinen Anstrengungen nachgelassen. Das erklärte vielleicht, wieso er an einer staatlichen Nervenheilanstalt gelandet war, statt eine private Praxis in bester Innenstadtlage zu eröffnen. Doch das warf nur zusätzlich Fragen auf, und sie legte die Dokumente wieder in die Schachtel zurück, um flüchtig ein paar weitere Papiere durchzublättern. Sie stieß auf ein Einschreiben vom bundesstaatlichen Verband der Catholic Charities, das ein halbes Dutzend Jahre zurücklag. Sie machte es auf und las:

… sehen wir uns außerstande, Ihnen mit Informationen über Ihre leibliche Mutter zu dienen. Obwohl es sich um eine Adoption innerhalb der Familie handelte, sind die Formalitäten über uns gelaufen. Leider sind dem Brand in der Pfarrei von St. Stephen’s 1972 zahlreiche alte Dokumente, die noch nicht auf Mikrofilm gespeichert waren, unwiederbringlich zum Opfer gefallen.

Detective Barren starrte auf den Brief und fand ihn interessant und aufschlussreich, auch wenn sie nicht sagen konnte, wieso. Sie legte ihn wieder zurück und ging die übrigen Papiere durch. Darunter war ein Brief in einer unverkennbar weiblichen Handschrift.

»Lieber Marty«, las sie. »Es tut mir leid, aber das mit uns beiden wird nicht funktionieren …«, der Rest war die tränenreiche Selbstanklage von einer Frau namens Joanne. Detective Barren erkannte die Masche: Nimm die Schuld auf dich, obwohl du weißt, dass das Gegenteil der Fall ist. Als Teenager hatte sie einem Dutzend Freundinnen dabei geholfen, diese Art von Brief zu schreiben. Ihr krampfte sich das Herz zusammen, als sie daran denken musste, wie ihre Nichte sie im Alter von sechzehn Jahren einmal mit derselben Bitte angerufen hatte.

Sie ließ den Brief wieder in die Kiste fallen und zog eine vergilbte, spröde Zeitung hervor. Es war die Vineyard Gazette aus Martha’s Vineyard, eine Ausgabe vom August vor fast zwanzig Jahren. Sie überflog die Titelseite. Die Hauptschlagzeile lautete: SCHIFFFAHRTSAMT SETZT NEUEN FÄHRANLEGEPLATZ DURCH. Es folgte ein Artikel mit Bild: REKORDFANG VON EINUNDZWANZIG SCHWERTFISCHEN. Daneben stand in kleinerer Schrift: Feriengast beim Schwimmen ertrunken.

Sie starrte auf den Artikel: »Feriengast Robert Allen ertrank am frühen Dienstagabend, als er vor South Beach vom Sog einer Unterströmung erfasst wurde. Polizei und Küstenwache gehen davon aus, dass der Geschäftsmann aus New Jersey gegen die Flut ankämpfte und zu erschöpft war, um wieder an den Strand zu schwimmen, nachdem ihn die Strömung eine halbe Meile hinausgetrieben hatte.« Die Tatsache, dass der Mann aus New Jersey stammte, fiel ihr ins Auge, doch er hatte einen anderen Namen, und so ging sie zum nächsten Beitrag über. Direkt daneben fand sich ein Artikel mit der Überschrift: STADTRAT VON TISBURY LEHNT ÄNDERUNGSVORSCHLAG ZU SONNTAGSGESETZEN AB.

Sie starrte einen Moment auf die Seite und dachte: Vielleicht findet sich was auf einer Innenseite, und sie machte sich daran, die ganze Zeitung durchzublättern. Es gab nichts, was ihr ins Auge gesprungen wäre. Das übliche Einerlei aus Alltagsneuigkeiten im Stil der Kleinstadtreportage füllte die Zeitung. Ein paar Hochzeiten. Landwirtschaftsberichte, wer wen besucht hat; vorsichtige Schätzungen der Zeckenpopulation in den Wäldern. Warnungen vor Muschelvergiftungen. Fotoberichte über prämierte Apfeltorten auf der Kirmes von Tisbury. Geschichten, die das Leben schreibt. Sie wandte sich noch einmal der Titelseite zu und betrachtete das Bild mit den Schwertfischfängern. Es war keine Quellenangabe darunter. Sie starrte eine Weile auf die Komposition und fragte sich: Ist das von ihm? Die Augen der Fischer schienen auf dem Papier zu brennen, während das tote Auge eines ihrer Opfer in unheimlichem Kontrast dazu stand. Es wäre sein Stil, dachte sie. Doch sie war ungeduldig, eine miserable Voraussetzung für eine unspezifische Durchsuchung. Sie ignorierte die Erkenntnis und warf die Zeitung zu den übrigen Sachen. Dann schob sie die beiden Schachteln genau dahin zurück, wo sie sie vorgefunden hatte.

Bis jetzt nichts.

Sie ging ins Wohnzimmer und sah eine Steppdecke auf einem Sessel. Da hat er letzte Nacht geschlafen, dachte sie. Falls er schlafen konnte.

Sie registrierte, dass rund um den Sessel Zeitschriften über den Boden verstreut waren. Er hat also versucht, auf andere Gedanken zu kommen. Na ja, hat sicher nicht geklappt. Sie wollte gerade weitergehen, als sie merkte, dass irgendetwas mit dem Zeitschriftenstapel nicht stimmte. Sie drehte sich noch einmal um.

»Was ist los?«, flüsterte sie. »Was?«

Sie blickte genauer hin, dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf: Alte Nummern. Pass doch auf, verdammt!

Sie ging noch einmal hin und kniete sich neben den Haufen. Sie nahm eine sechs Monate alte Ausgabe von Life in die Hand. Sie wusste, was sie auf den Innenseiten erwartete. Sie ließ das Magazin wie einen Fächer aufflattern und sah augenblicklich, worum es ging – die Urheberangabe sprang ihr entgegen: FOTOS VON DOUGLAS JEFFERS. Sie betrachtete die Seite und sah das körnige Grau des Bildes. Es stammte aus einer Notaufnahme und zeigte einen Arzt, der dem Be trachter erschöpft entgegenstarrte. Die Kameralinse war dem Mann so nah herangerückt, dass Detective Barren das Blatt unwillkürlich weiter von sich streckte.

Ich weiß, wonach er gesucht hat, dachte sie. Im Geist sah sie den Doktor im Sessel vor sich, wie er Seite um Seite betrachtet, um herauszufinden, was die Bilder ihm sagten.

Rasch breitete sie die Zeitschriften um sich aus und blätterte jede einzelne nach Fotos durch. Menschen und Gegenstände sprangen ihr geradezu entgegen.

Doch neue Erkenntnisse blieben aus.

Er ist gut, dachte sie. Aber das ist ja nicht neu. Wir wussten schon, dass er zu den Besten gehört.

Aber was verraten die Bilder noch?

Einen Moment lang war sie genauso frustriert wie zweifellos der Bruder ein paar Stunden zuvor. Es ist so viel auf ihnen zu sehen, dachte sie, aber sie geben so wenig preis.

Sie klappte das letzte Heft zu und arrangierte die Magazine ungefähr so, wie sie vorher gelegen hatten.

Finde endlich etwas!, befahl sie sich vorwurfsvoll.

Sie ging zum Schreibtisch, warf einen Blick darauf und sah die Worte: Dougs Wohnungsschlüssel. Der Umschlag lag so offen vor ihr, dass sie einen Moment brauchte, um zu begreifen, womit sie es zu tun hatte. Dann schoss ihre Hand wie von selbst hervor und schnappte sich ohne einen bewussten Willensakt den Umschlag. Sie fühlte den Schlüssel durchs Papier, legte den Kopf zurück und konnte nur mühsam einen Jubelschrei unterdrücken. Sie stopfte den Brief in ihre Tasche und streckte wie ein Athlet im Siegestaumel die geballten Fäuste in die Höhe. Der Jubel wich schnell dem Gebot der Selbstdisziplin. Reiß dich zusammen, dachte sie wütend. Dann durchzuckte sie in Panik der Gedanke: Die Adresse, ich brauche die Adresse. Sie sah sich im Zimmer um und entdeckte neben dem Telefon ein schwarzes Büchlein. Sie sprang hin und schlug es auf. Die Upper-Westside-Adresse des Bruders in Manhattan starrte ihr in schwarzer Tinte entgegen. Sie sah sich nach einem Stift und einem Fetzen Papier um, fand aber weder das eine noch das andere. Sie riss die Seite aus dem Buch.

Vor Aufregung war ihr heiß. Sie ging zur Haustür, öffnete sie, drehte sich noch einmal um und verließ das Gebäude.

Sie konnte an nichts anderes denken als an das elektrisierende Gefühl, das von dem Schlüssel in ihrer Tasche ausging.

Auf der Straße vor dem Wohnhaus kam sie an einer älteren Dame vorbei, die ihren Hund ausführte und sich mit einem altmodischen Schirm gegen die aufgehende Sonne schützte.

»Guten Morgen«, grüßte die Frau beschwingt.

»Wird ein prächtiger Tag«, erwiderte Detective Barren.

»Aber heiß«, vermutete die Dame. Ihr Blick fiel auf den Sheltie am Ende ihrer Hundeleine. »Hundstage«, meinte sie. »Im Sommer einfach zu heiß. Und im Winter zu kalt. Ist es nicht immer so im Leben?«

Das war als Witz gemeint, und beide Frauen schmunzelten. Detective Barren nickte ihr zum Abschied noch einmal zu und überquerte die Straße. Einen Moment lang war sie von der wohligen Wärme des spätsommerlichen Morgens und der alltäglichen Unterhaltung mit der Frau überwältigt. Alles ist normal, dachte sie. Alles ist einfach und gewöhnlich und genau so, wie es sein soll. Die Vögel zwitschern. Die Kinder spielen. Es weht eine leichte Brise. Die Temperaturen steigen. Die Frau führt ihren Hund spazieren. Das Amerika von Norman Rockwell. Schlichte, eingängige Rhythmen und Melodien.

Sie schüttelte den Kopf und dachte an die Dissonanz der Schlüssel in ihrer Tasche. Ich bin dir auf den Fersen.

Pennington verblasste, als sie bereits an die Straßenschluchten der City dachte, zu denen sie ihr Weg als Nächstes führte.

Sie stieg wieder in den Wagen und war in wenigen Sekunden auf dem Weg nach New York.

 

Martin Jeffers rührte sich nicht, während Rede und Widerrede wie Ebbe und Flut um ihn wogten.

Er hatte die Sitzung mit einer simplen Frage an die Lost Boys begonnen: »Sie haben alle Familienangehörige. Was, glauben Sie, halten die von dem, was Sie getan haben? Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen und Ihren Verbrechen?« Einen Moment lang hatte unbehagliches Schweigen geherrscht, und Jeffers hatte gewusst, dass er einen neuralgischen Punkt getroffen hatte. Ihm war außerdem sehr bewusst, dass seine Frage weit weniger harmlos war, als sie klang, und dass sie ihm aus tiefstem Herzen kam. Augenblicklich hatte ihm sein Bruder vor Augen gestanden, doch er hatte das Bild aus seinem Kopf verbannt, während er sich darauf konzentrierte, wie die Männer in ihren Erinnerungen kramten. Zunächst hatten sie sein Anliegen fast unisono weit von sich gewiesen, eine Reaktion, die für ihn grundsätzlich das Gegenteil von dem bewies, was sie sagten. Es war eine einfache Formel: Was die Lost Boys am vehementesten leugneten, kam der Wahrheit am nächsten.

Jetzt wartete er, dass sich das Stimmengewirr legte und er einen Kommentar einfließen lassen konnte, den sie aufgreifen und an dem sich ihre Gemüter womöglich noch mehr erhitzen würden. Dabei war er mit seiner Aufmerksamkeit nicht durchgehend bei der Sache, und es fiel ihm schwer, sich dem Fortschritt der Gruppe zu widmen. Glücklicherweise waren die Lost Boys in aktiver Stimmung; sie brauchten wenig Unterstützung von ihm. Er ertappte sich dabei, wie er nervös auf seine Armbanduhr linste und auf das Ende der Sitzung hoffte. Wo bleibt sie?, fragte er sich.

»Wisst ihr, was komisch ist?« Es war Meriwether mit seiner piepsigen Stimme. »Als sie mich hopgenommen und in diesen Countryclub geschickt haben, hat sich meine Frau mehr aufgeregt als ich. Also« – er schnaubte amüsiert durch die Nase – »ich hätte eigentlich gedacht, dass sie sich von mir scheiden lässt, was sag ich, ich dachte, die erschießt mich auf der Stelle. Verflucht noch mal, die ist sowieso doppelt so groß wie ich, die hätte mir locker eins überbraten können …«

Alle Männer mussten lachen.

Worauf ist sie aus?, fragte sich Jeffers. Will sie mich verhaften? Er dachte an den eisigen Ausdruck in ihrem Blick.

»Hat sie aber nicht. Sie hat geflennt und die Hände gerungen. Und als ich ausgepackt habe, da hat sie trotzdem alles bestritten. Es war, als ob sie denkt, die Kleine aus der Nachbarschaft, die ich mir vorgenommen hab, als ob die mich, weiß auch nicht, irgendwie verführt haben müsste. Sie wollte das einfach glauben.«

Meriwether zögerte.

»Verdammt, die Kleine war elf …«

In der kurzen Pause, die eintrat, arbeitete Jeffers’ Gehirn auf Hochtouren: Er hat mich immer mit einbezogen! Ich habe bei allem, was er gemacht hat, eine Rolle gespielt. Immer am Rande, an der Peripherie, aber trotzdem in irgendeiner Form dabei. Er hat es immer so gewollt. Und das, was er wollte, hat er bekommen. Das Privileg des älteren Bruders. Welcher jün gere Bruder kann dem älteren etwas abschlagen?

»Versteh ein anderer diese Frau, verflucht noch mal. Jetzt besucht sie mich zweimal die Woche und geht der Kommission für Haftentlassung auf den Keks.«

Er warf einen Blick in die Runde.

»Kann mir das vielleicht einer von euch erklären?«

Jeffers konnte nur an drei Worte denken: eine empfindsame Reise.

Eine Woge der Frustration und des blanken Zorns rollte über ihn hinweg. Was zum Teufel sollte das heißen?, fragte er sich wütend. Wo ist er hin? Welche Empfindungen spielen in unserem Leben eine Rolle? Hat er das Haus unserer Kindheit besucht? Dazu hätte er nur in Princeton die verdammte Straße runterzugehen brauchen. Er hätte sich die Drogerie ihres Alten anschauen können. Gehört jetzt einer Kette. Dazu hätte er nicht mal Urlaub nehmen müssen! Wo wollte er also hin? Was will er besuchen? Er hat mir nie etwas gesagt!

Tausend düstere Gedanken plagten Jeffers.

Wasserman reagierte prompt auf Meriwethers Frage:

»Meine Mom ist genauso. Ich krieg jede Woche ein Päckchen von ihr. Sie hat nichts geglaubt. Ich hätte ein Mädel direkt unter ihrer Nase umbringen können, und sie hätte gesagt: ›Hör mal, Schätzchen, wie’s aussieht, hast du sie zu hart rangenommen, und jetzt hat sie einen Herzinfarkt und ist in den Himmel gekommen …‹«

Jeffers registrierte, dass Wasserman für einen kurzen Moment nicht gestottert hatte. Mein Bruder, dachte er, war immer direkt und ausweichend zugleich. Er hat mir stets nur so viel gesagt, wie ich seiner Meinung nach wissen musste. Seiner Meinung nach! Und wenn ich jetzt etwas wissen muss, stoße ich in ein Loch. Leere! Nichts!

Doch dann sagte er sich: Du weißt es sehr wohl.

Er schüttelte den Kopf. Was denn bitte schön?

Die Männer rings um ihn schnaubten und johlten.

»M-m-m-manchmal hab ich gedacht, M-M-M-Mom ist verrückter als ich.«

Die Lost Boys nickten zustimmend. Jeffers registrierte, wie das Stottern wiederkehrte.

Pope schaltete sich im sonoren Ton des altgedienten Knastbruders ein: »Sie wollen es nie wahrhaben. Die wollen nicht mal glauben, dass du es fertigbringst, einen Schokoriegel aus einem Regal zu klauen. Je schlimmer unsere kriminellen Handlungen, desto stärker leugnen sie. Und wenn man dich fürs Vögeln einbuchtet, so wie uns, dann weisen sie alles weit von sich. Es ist leichter für sie, was anderes zu glauben. Viel leichter.«

»Nicht immer«, warf Miller ein.

Die Männer wandten sich dem hartgesottenen Berufskriminellen zu.

Miller sah sich im Zimmer um, als begutachtete er ein gestohlenes Juwel. »Überlegt mal. Bei jedem von uns hat es einen gegeben – wahrscheinlich einen Vater, vielleicht eine Mut ter –, der gewusst hat, was wir sind, und der uns dafür gehasst hat. Jemand, der sich nichts vormachen ließ. Jemand, der dich vielleicht verprügelt hat oder der dich verlassen hat, wenn er dich nicht schlagen konnte. Jemand, der sich aus dem Staub gemacht hat, solange es noch ging …«

Über diese Bemerkung musste Miller lachen, doch die anderen Männer waren verstummt und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

»Vielleicht jemand, den ihr loswerden wolltet. Vielleicht jemand, den ihr tatsächlich losgeworden seid, auch wenn es der gute Onkel Doktor hier und die entsprechenden Behörden« – das Übrige schnaubte er heraus – »nicht so genau wissen.«

Er schwieg, und Jeffers sah, dass er an seiner Meinungsäußerung Gefallen fand, während die gedrückte Stimmung der anderen nicht zu übersehen war.

»Es gibt immer jemanden, der genau erkennen kann, was wir im Grunde unseres Wesens sind. Ist eigentlich keine große Sache. Musst denjenigen nur ein bisschen anders anpacken, stimmt’s? Aber es gibt ihn irgendwo da draußen. Das wissen wir doch alle.«

Es kam Gemurmel auf, das wieder verstummte.

Jeffers wollte die Frage, die ihm unter den Nägeln brannte, herunterschlucken, doch vergeblich: Seine Gedanken hatten ein Eigenleben entwickelt und waren nicht mehr im Zaum zu halten.

Das machte ihm Angst, doch es ging mit ihm durch, und so spuckte er seine Frage aus: »Also gut, dann betrachten wir es doch einmal von der anderen Seite: Was würden Sie machen, wenn Sie plötzlich erführen, dass jemand, den Sie lieben, sagen wir, ein Familienmitglied, Verbrechen begeht? Wie würden Sie reagieren?«

Es herrschte eine kurze Pause, als hätten die Lost Boys alle gleichzeitig tief Luft geholt. Dann ertönte mit einem Schlag eine Kakophonie der unterschiedlichsten Meinungen.

 

Detective Mercedes Barren fuhr Richtung Norden, an der Ausfahrt des New Jersey Turnpike zum Holland Tunnel vorbei, der die direktere Route darstellte. Sie steuerte die George Washington Bridge an, die sich mit ihrer grauen Masse über den Hudson spannte. Trotz der Aufregung und trotz des erdrückenden Gefühls, dass ihr die Zeit davonlief, entschied sie sich bewusst dafür, den Tunnel zu meiden. Um Tunnel machte sie grundsätzlich einen großen Bogen, wenn sie konnte. Seit ihrer Kindheit machte ihr das Gewicht der Wassermassen, das auf den Zement und die Kacheln über ihrem Kopf drückte, Angst. Bis heute sah sie mit der lebhaften Phantasie eines Kindes vor sich, wie es knackte und einbrach und wie sich plötzlich das dunkle Wasser über sie ergoss. In der Enge des Tunnels wurde ihr Atem flach, und ihre Hände fühlten sich unangenehm feucht an. Es ist wie ein harmloser Anfall von Klaustrophobie, dachte sie. Was soll’s, musst du dir schließlich nicht antun.

Während sie aufs Gas trat und über die Brücke fuhr, warf sie einen kurzen Blick über die Schulter, die Palisades hinauf. Sie sah, wie die Kliffs steil ins Wasser hinabstürzten. Auf der Wasseroberfläche glitzerte die Sonne, und sie erhaschte einen Blick auf weiße Segel, die in beide Richtungen dahinglitten. Besonders an strahlenden Tagen wie diesem hatte sie immer gut verstehen können, wieso Henry Hudson, als er das erste Mal den großen Strom entlangtrieb, davon überzeugt gewesen war, er hätte die Nordwestpassage entdeckt. Wenn man sich die Gebäude und die Boote wegdachte und nur den unverfälschten Fluss mit den Kliffs vor Augen führte, schien es vollkommen logisch, dass jemand hinter einer der nächsten Biegungen China vermutete.

Sie starrte auf die Stadt mit ihrer gewaltigen Phalanx von Wolkenkratzern, die wie Soldaten einer großen Armee strammstanden und sich in den Himmel reckten. Sie nahm den Zettel mit der Adresse und schlängelte sich aggressiv durch den Verkehr. Sie blickte starr geradeaus, als sie in Manhattan eintraf, und weigerte sich sogar, in den Rückspiegel zu schauen, so stark waren ihre Gedanken auf ihr Ziel fokussiert.

Zu ihrer Überraschung entdeckte sie kaum einen Häuserblock von der Wohnung entfernt eine ganz legale Parkmöglichkeit. Doch bevor sie das letzte Stück zu der Adresse zu Fuß ging, machte sie in einem lokalen Delikatessengeschäft halt und kaufte eine wild zusammengewürfelte Auswahl an Lebensmitteln. Die Tüte zusammen mit dem Schlüssel in der Hand, begab sie sich auf den Weg zu Douglas Jeffers’ Wohnung.

Diese lag in einem älteren Klinkerbau von mittlerer Größe an der West End Avenue. Ein ältlicher Türsteher hielt ihr die Tür auf, während sie hereinmarschierte.

»Sie wollen zu wem?«, fragte er mit kratziger Raucherstimme.

»Wohne bei meinem Cousin, während ich mir die Stadt ansehe. Er ist verreist«, erzählte sie beschwingt. »Doug Jeffers. Er ist der beste Fotograf …«

Der Türhüter lächelte.

»4 F«, sagte er.

»Ich weiß«, erwiderte sie und warf ihm ein Lächeln zu. »Bis dann.«

Sie stieg in einen alten Fahrstuhl, schloss die Tür fest hinter sich und drückte die Vier. Sie sah, dass sich der Wachmann schon wieder umgedreht hatte. Der Fahrstuhl quietschte bei seinem langsamen Aufstieg. Er schien am Ende einen Satz zu machen, und sie trat vorsichtig in den Flur.

Zu ihrer großen Erleichterung begegnete sie keinem Menschen.

Sie fand 4-F sofort und stellte die Lebensmitteltüte ab. Sie wechselte den Schlüssel in die linke Hand und zog die Neunmillimeter aus der Tasche. Einen Moment lang horchte sie, konnte aber durch die dicke schwarze Tür nichts wahrnehmen.

Sie holte tief Luft und befahl sich: Geh schon!

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Sie hörte, wie der Schließriegel nachgab, und drückte fest zu.

Die Tür ging auf, und sie sprang geduckt hinein.

Immer noch vorgebeugt, schwang sie die Pistole hoch und drehte sich zusammen mit dem Lauf in alle Richtungen. Rechts, links, geradeaus war niemand zu sehen. Sie wartete. Kein Laut zu hören. Sie richtete sich auf und ließ die Waffe sinken. Dann holte sie die Lebensmitteltüte und stellte sie in der Wohnung auf den Boden. Sie machte die Tür zu und schloss hinter sich ab. Sie legte auch die Kette vor.

Dann drehte sie sich um und betrachtete, immer noch die Pistole im Anschlag, zum ersten Mal Douglas Jeffers’ Wohnung.

»Ich spüre es förmlich«, sagte sie. Plötzlich brach eine Flut von Bildern über sie herein – all die Fundorte mit blutverschmierten, verwesenden Leichen, die sie im Lauf der Jahre zu Gesicht bekommen hatte. Sie stiegen vor ihrem geistigen Auge auf wie eine Parade des Grand Guignol. Der makabre Anblick und der stickige, schreckliche Geruch ließen sich nicht verdrängen, und sie glaubte für einen Moment, sie müsse hier in der Wohnung auf eine Leiche stoßen.

Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und sprach mit sich selbst: »Na schön, sehen wir uns mal um.«

Immer noch die Pistole in der Hand, lief sie von einem Zimmer zum nächsten. Als sie sich endlich davon überzeugt hatte, dass sie tatsächlich alleine war, machte sie sich an eine erste Bestandsaufnahme. Zunächst fiel ihr auf, wie sauber und ordentlich es war. Alles schien an Ort und Stelle. Nicht so durchorganisiert, dass es schon wieder ungemütlich war, doch tipptopp. Der Kontrast zu Martin Jeffers’ Domizil war beachtlich.

Die Wohnung war nicht groß. Sie verfügte über ein einziges Schlafzimmer und ein Bad, eine kleine Küche mit Essnische sowie einen großzügigen, rechtwinklig geschnittenen Wohnbereich. Eine Gästetoilette, die ans Wohnzimmer grenzte, war zu einer Dunkelkammer umfunktioniert worden. Die Möbel waren bequem und stilvoll, aber nicht so sehr, dass man einen Designer dahinter vermutet hätte. Vielmehr spiegelte die Einrichtung einen Menschen wider, der etwas von Qualität verstand und sich hier und da ein schönes Stück gönnte. Es gab ein paar Antiquitäten, und in jedem Zimmer schmückten Souvenirs Regale und Kommoden. Detective Barren nahm einen Patronenmantel in die Hand, der, wie sie vermutete, aus einem Granatwerfer stammte. Es gab kleine kunsthandwerkliche Gegenstände wie eine Statuette aus Zentralamerika und eine Fruchtbarkeitsgöttin aus Afrika. Sie sah einen großen Haifischzahn in Plastik eingeschlossen und einen ebenfalls eingeschlossenen alten Stein, unter dem die Aufschrift angebracht war: OLDUVAI-SCHLUCHT, 1977. ZWEI MILLIONEN JAHRE ALT.

Jeffers hatte einen Arbeitstisch – genauer gesagt, einen Zeichentisch an die Fensterreihe gerückt, die den Raum mit Licht erfüllte. Das Zubehör des Fotografen war nicht zu übersehen: Negative, Vergrößerungsapparate, Fotopapier, das säuberlich auf der Arbeitsfläche gestapelt war.

Im Wohnzimmer nahm ein Bücherregal eine ganze Wand ein.

Die Wände waren weiß, von zwei gerahmten Postern geschmückt: »Die Kunst der Fotografie«, eine Ausstellung im Museum of Modern Art und ein Exponat von Ansel Adams aus der Horn Gallery.

Alles andere stammte von Douglas Jeffers.

Zumindest nahm sie das an.

Dutzende Fotos hingen an den Wänden, und zwar in den unterschiedlichsten Größen und in verschiedensten Stilrichtungen gerahmt. Sie warf einen Blick darauf und dachte: Die sind so wie diejenigen, die ich in den Zeitschriften gesehen habe. Sie sagen einem alles und nichts zugleich.

Ein kleiner Abzug in der Ecke fiel ihr allerdings ins Auge. Sie ging hinüber und starrte auf das Bild. Darauf zu sehen war ein Mann in mittlerem Alter, doch mit unverkennbar jugendlicher Vitalität. Er trug eine olivfarbene Drillichhose, dazu ein blaues Arbeitshemd und war mit Kameras und Linsen behängt. Das verworrene Geäst einer Unmenge von Bäumen in seiner Umgebung war dicht mit Ranken und Kletterpflanzen bewachsen. Er saß auf einem Stapel Kisten, die mit Munitionsnummern versehen waren; der Mann schenkte dem Betrachter ein strahlendes Grinsen und formte mit der Hand eine Pistole, mit der er zum Schein in die Kamera schoss. In einer Ecke des Rahmens war ein getipptes weißes Papierschildchen mit der Aufschrift angebracht: SELBSTPORTRÄT 1984, NICARAGUA.

»Hallo, Mr. Jeffers«, begrüßte sie ihn.

Sie nahm das Bild von der Wand und hielt es vor sich hin.

»Ich bin Ihr Untergang«, fügte sie hinzu.

Sie hängte das Bild zurück und befahl sich, mit der Arbeit zu beginnen. Sie mahnte sich zu Sorgfalt und Vorsicht und zu einer systematischen Vorgehensweise. Sie drehte sich zu dem Schreibtisch um und sah, genau in der Mitte, einen großen weißen Briefumschlag. Darauf stand in großen Druckbuchstaben: FÜR MARTY.

Ihre Hand schoss nach vorn und griff nach dem Brief.

 

Unter den Lost Boys hatte einiges an Unstimmigkeiten geherrscht. Die Meinungen hatten gereicht von Weingartens Gejammer: »Himmel, was soll man denn machen? Ich meine, willst du ihm vielleicht sagen, hör endlich damit auf? Jeder macht nun mal, was er will. Du kannst niemanden zu etwas zwingen. Ich meine, ich hab das jedenfalls noch nie gekonnt, und mich hat auch noch keiner von was abbringen können, was ich wollte …«, bis zu Popes unmissverständlichen Worten: »Wenn ich wüsste, dass jemand in meiner Familie tut, was ich tue, dann würde ich den Mistkerl wegpusten, und zwar zack, zack. Seinem Elend ein Ende setzen«, worauf Steele einwarf: »Fühlst du dich denn so elend? Du liebe Güte, kommst mir aber gar nicht so vor …«

Pope hatte gekontert: »Nimm dich in Acht, Schwuchtel, bevor ich dir ein Ende setze.« Was alle zum Lachen gebracht hatte, egal, wie ernst die Drohung klang. Einen Mann wie Steele zu töten, war in den Augen der gesamten Runde die reinste Zeitvergeudung.

Martin Jeffers kam zu dem Schluss, dass diese Männer, die eigentlich hätten Experten sein müssen, nicht besser wussten, was zu tun war, als irgendjemand sonst.

Als ich zum Beispiel, dachte er.

Und war der Verzweiflung nahe.

Er saß allein in seinem dunklen Büro. Draußen hatte sich der Abend über das Klinikgelände gesenkt und lange Schatten über die prächtigen Rasenflächen gebreitet. Er hörte ein gelegentliches Brüllen, einen vereinzelten Schrei, die normalen Schlafgeräusche in der Heilanstalt. Bei Nacht erwachen unsere Ängste, dachte er, so wie der Tag sie beschwichtigt.

Er ließ all die Äußerungen der Lost Boys Revue passieren.

»Also, wisst ihr was?«, war Parker mitten in dem Streit herausgeplatzt. »Man muss das Richtige tun. Aber was ist das Richtige? Was für ein paar Cops das Richtige ist, muss es noch lange nicht für deine Familie sein: Wenn du zur Polizei gehst, dann ziehen die dir alles aus der Nase, und die sind ganz sicher nicht dein Freund und Helfer. Die sind nur darauf versessen, jemanden einzubuchten. Und, Junge, Junge, in null Komma nichts lieferst du ihnen deine Mutter, deinen Bruder, deinen Vater, deine Schwester oder sonst wen ans Messer. Scheiß drauf, sogar deinen Cousin. Blut ist dicker, weißt du …«

Woraufhin Knight ihn unterbrochen hatte: »Also machst du dich lieber zum Komplizen, oder was? Genau das tust du nämlich. Wirst du, wenn du die Klappe hältst, nicht genauso schuldig wie derjenige, der die Verbrechen begangen hat?«

Zustimmung und Widerspruch waren durch den Raum geschwirrt.

Jeffers erinnerte sich, wie jemand gesagt hatte: »Wenn du es weißt und die Klappe hältst, machst du dich genauso schuldig. Für solche Leute sollte es spezielle Gefängnisse geben!«

Gibt es auch, dachte er trübselig.

Stille Mitwisserschaft ist fast so schlimm wie das Verbrechen selbst. Er dachte an den Holocaust und an die besonderen Herausforderungen beim Nürnberger Prozess, als es um die Leute ging, die angesichts abgründiger Verbrechen einfach nur geschwiegen hatten. Es war leicht, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und sie zu bestrafen. Aber was ist mit denen, die einfach nur weggesehen haben? Politiker, Anwälte, Ärzte, Geschäftsleute …

Was war aus denen geworden?

Jeffers dachte darüber nach, mit welcher Begeisterung die Gruppe das Thema aufgegriffen hatte. Er konnte nicht begreifen, wieso er die Frage nicht viel früher gestellt hatte. Es war beachtlich, dass praktisch jeder in der Gruppe offenbar bereits darüber nachgedacht hatte, welche Probleme er seiner eigenen Familie bereitete. Wie wurden die damit fertig? Das konnten sie allerdings nicht sagen.

Er dachte an die erhobenen Stimmen im sonnendurchfluteten Tagesraum. Sie hatten die reguläre Zeit der Sitzung um etwa zwanzig Minuten überschritten. Am Ende hatte er die Hand gehoben.

»Wir setzen das morgen fort. Denken Sie alle noch einmal über Ihre Reaktionen nach, und wir reden morgen weiter.«

Die Männer waren aufgestanden und hatten wie üblich kleine Trauben gebildet, als Miller, der Mann, den Jeffers für den wahrscheinlich verstocktesten von allen hielt, sich umgedreht und gefragt hatte: »Wieso haben Sie danach gefragt? Haben Sie einen besonderen Grund?«

Die Männer waren stehen geblieben und hatten Jeffers angesehen.

Er hatte den Kopf geschüttelt und seine gewohnte Fassade von milde amüsierter, intellektueller Neugier aufgesetzt, und die Lost Boys waren ohne jeden weiteren Kommentar hinausgetrottet. Er dachte: Das hat mir keiner abgekauft. Keine Sekunde lang.

Er blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

Ich werde nicht glauben, sagte er sich wütend, dass mein Bruder ein Mörder ist! Schließlich haben sie für den Mord, dessentwegen die Polizistin hinter mir her ist, einen Mann festgenommen. Was will sie also? Wieso ist sie hier?

Ist sie gar nicht, meldete sich eine Stimme in ihm.

Wo ist sie?

Als Detective Barren sich bis mittags noch nicht gemeldet hatte, rief er in ihrem Hotel an. In ihrem Zimmer hatte niemand abgehoben. Er hatte ein zweites Mal am Empfang angerufen und die Bestätigung eingeholt, dass sie noch nicht abgereist war.

Er versuchte, sich innerlich zu wappnen. Die weitere Entwicklung abzuwarten. Sie war ihm einige Erklärungen schuldig. Bin neugierig, was sie mir zu sagen hat. Dann dachte er: Sie ist nicht die Einzige, die mir eine Erklärung schuldig ist.

Er zerknüllte ein Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch lag, und warf es auf den Boden. Er nahm einen Bleistift und brach ihn in der Mitte entzwei. Er sah sich nach einem Gegenstand um, auf den er mit Fäusten einschlagen konnte, fand aber nichts Passendes. Er drehte sich zur Wand um und schlug mit der flachen Hand so lange gegen die weißgetünchte Fläche, bis seine Handfläche gerötet war; der Schmerz tat gut, solange er wenigstens für Sekunden seine Frustration überlagerte. Er dachte an die Polizistin und kochte innerlich vor Wut. Er hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschrien: Ich will es wissen!

Wo zum Teufel steckt die Frau?, dachte er aufgebracht.

Irgendwann verflog der Zorn und machte dem schrecklichen Gedanken Platz: Wo zum Teufel steckt er?

 

Detective Barren hatte sich im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden niedergelassen und die Früchte ihrer Durchsuchung um sich ausgebreitet. Sie hatte sämtliche Lichter in der Wohnung eingeschaltet, als wollte sie auf keinen Fall zulassen, dass die nächtliche Dunkelheit sich neben ihr einnistete. Es war spät, und sie war müde. Sie hatte das ganze Apartment systematisch abgesucht; von der Toilette im Badezimmer bis zu den Stapeln von Negativen in der Dunkelkammer. Sie hatte das Sofa und das Bettzeug, wenn auch vergeblich, nach Waffen gefilzt. In der Küche hatte sie alles aus den Regalen geholt. Jeder Schrank war leergeräumt. Die Kleider durchwühlt. Schubladen ausgekippt, Zeitungen überflogen und abgelegt. Nicht einmal ein Ticket von dem Besuch in Miami hatte sie gefunden. Nicht einmal eine Postkarte. Die Zeugen ihrer Suche lagen stapelweise ringsum auf dem Boden.

Sinnlos, dachte sie.

Sie merkte, wie Tränen der ohnmächtigen Wut und Verzweiflung in ihre Augen stiegen.

»Nichts, nichts, nichts«, rief sie laut.

Sie wusste, dass er irgendwo ein Schließfach haben musste, vielleicht auch einen Spind oder ein Zimmer. Irgendeinen Ort, an dem er den Bodensatz des Verbrechens aufbewahrte. Irgendetwas irgendwo, das ihn mit ihrer Nichte in Verbindung brachte.

Die Spannung, die sie in dieser Umgebung empfand, war nur schwer zu ertragen. Dass sie dem Beweis für den Mord dicht auf den Fersen war, wusste sie. Sie konnte es förmlich riechen; es drang ihr bis in die letzte Pore, bis ins Blut. Sie kannte das Gefühl von hundert Tatortdurchsuchungen, an denen sie teilgenommen hatte.

Dass er ein Mörder war, daran gab es keinen Zweifel. Das hatte ihr schon ein einziger Blick auf das Bücherregal gesagt. Fast sämtliche Titel hatten mit irgendeinem Aspekt von Verbrechen zu tun. Romane, Lehrbücher, Sachtexte, alle säuberlich aufgereiht. Viele davon kannte sie, andere nicht. Das hatte sie tief beeindruckt. Er ist ein Mann, der sein Geschäft versteht, dachte sie.

Doch ein literarisches Interesse an Verbrechen ist kein Beweis.

Selbst wenn sie es seinem Bruder zeigte, würde er jede Schlussfolgerung von sich weisen und behaupten, das sei nur eine etwas morbide Neigung und sicher nichts Außergewöhnliches für einen Menschen, der so viel Gewalt und Tod fotografiert hat. Von ihrem Sitz auf dem Boden aus sah sie zu den Fotos an der Wand empor und fragte sich, wie es jemand aushalten konnte, sich mit so vielen verstörenden Bildern von Gewalt zu umgeben.

Sie hatte nichts in der Hand. Sie trommelte mit den Fäusten auf den Boden.

Dann nahm sie den Brief von einem Bruder an den anderen und las ihn zum hundertsten Mal:

Lieber Marty,

wenn du diese Zeilen in Händen hältst, ist eins von einer Reihe möglicher Szenarien eingetreten. Ich vermute, du erwartest eine Art Erklärung.

Du brauchst keine.

Du kennst sie bereits.

Dennoch tut es mir leid, dir Kummer zu bereiten.

Doch es war unvermeidlich.

Zwangsläufig vielleicht.

Wir sehen uns in der Hölle wieder.

In Liebe,
dein Bruder Doug

 

P. S.: Was hältst du von den Fotos? Ausdrucksvoll, oder?

Detective Barren ließ das Blatt auf den Schoß sinken. Die Worte sagten ihr nichts. In ihr tobte ein gewaltiger, brodelnder Hass. Ihr Herz schien in ihrer Brust zu brennen. Sie schmeckte bittere Galle auf der Zunge. Sie wollte dem Mörder ins Gesicht spucken. Sie wollte ihm eigenhändig den Hals umdrehen, so wie er es mit ihrer Nichte getan hatte.

Sie wollte etwas laut sagen, doch stattdessen drang ihr nur ein böses, animalisches Knurren aus der Kehle.

Endlich fand sie Worte: »Es ist nicht vorbei«, sagte sie. »Ich bin noch nicht fertig mit dir. Ich kriege dich. Ich kriege dich.«

Sie dachte an ihre Nichte.

»Ach, Susan«, stöhnte sie. Doch es klang weniger traurig als wütend.

Vor Zorn hatte sie alle Glieder verspannt, und sie kniete sich mitten im Zimmer nieder. Plötzlich fiel ihr Blick auf das Selbstporträt in der Ecke. Dieses spöttische Grinsen, als machte er sich über ihre vergebliche Mühe lustig. Es zuckte ihr in der Hand, und sie griff nach dem in Plastik gehüllten Stein aus der Olduvai-Schlucht. Ohne nachzudenken, ohne dass die blanke Wut, die in ihr tobte, einen klaren Gedanken zugelassen hätte, schleuderte sie, immer noch kniend, das Ding gegen das Foto an der Wand.

Durch das Klirren von gesplittertem Glas kam sie augenblicklich zu sich.

Sie schloss die Augen, holte ein paarmal tief Luft und blickte zur Wand. Der prähistorische Stein hatte das Konterfei von Douglas Jeffers, der immer noch aus sicherer Entfernung von der Wand heruntergrinste, verfehlt. Dafür hatte er ein anderes gerahmtes Bild getroffen, das heruntergefallen und zerbrochen war.

Sie seufzte tief und stand auf.

Und? Fühlst du dich jetzt besser?, fragte sie sich ironisch.

Sie tappte zu dem zersplitterten Bilderrahmen.

»Na schön, setz das auf die Rechnung«, meinte sie. Sie hatte nicht die Absicht, sauberzumachen. Sie stieß mit dem Fuß dagegen. Es war eine Farbaufnahme von einem Straßenaufstand. Ganz in der Ferne waren Rauch und Feuer zu sehen und im Vordergrund ein wildes Durcheinander von Polizisten, Feuerwehrleuten und ihren Fahrzeugen. Die Lichter schienen hypnotisierend ineinanderzufließen. Sie trat dagegen. »Guter Schnappschuss«, sagte sie. »Nicht unbedingt einer deiner besten, aber trotzdem verdammt gut.« Als sie sich gerade abwenden wollte, merkte sie, dass eine Ecke des Fotos weggeknickt war, weil sich nach dem Fall der Rahmen gelockert hatte.

Sie blieb stehen und sah genauer hin.

Sie konnte nicht genau sagen, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht war es der Kontrast zwischen den lebhaften Farben des Fotos und dem gedämpften Grau des Papiers dahinter. Sie war sich nicht sicher, was sie vor sich hatte, doch irgendetwas stimmte daran nicht. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie schon einmal davon gehört hatte, dass jemand ein Foto über einem anderen rahmte, so wie manche Maler ein Bild auf Leinwand übermalen. Sie konnte sich nicht entsinnen, je von so etwas gehört zu haben.

Sie dämpfte ihre Hoffnung auf irgendeine Entdeckung und bückte sich, um den zerbrochenen Rahmen und das Foto aufzuheben. Sie ging zum Schreibtisch hinüber und legte es unters Licht. Sie überprüfte die weggeknickte Ecke. Sie tastete das Papier ab und stellte fest, dass es doppelt so dick war. Sie nahm das obere Foto zwischen die Finger und zog es vorsichtig zurück. Es gab etwas nach, so dass darunter ein schwarzgrauer Hintergrund zum Vorschein kam.

Sie strich über dieses untere Papier und fühlte die glänzende Oberfläche einer Fotografie.

Sie schnappte nach Luft.

Geh behutsam damit um, sagte sie sich.

Sie zupfte wieder an dem Foto, und es ließ sich langsam abziehen wie die Schale einer Orange.

Zentimeter für Zentimeter. Die beiden Lagen Fotopapier waren nicht fest miteinander verklebt. Sie bearbeitete sie vorsichtig mit den Fingern und achtete darauf, nichts zu zerreißen. Wenn es irgendwo festklebte, befeuchtete sie den Finger mit Spucke und löste das obere Bild sachte.

Erst als sie das ganze Foto abgelöst hatte, wagte sie einen Blick auf das andere darunter. Sie musste an das Gefühl denken, das ein Kind empfindet, wenn es den Schorf von einer Wunde löst – schmerzhaft, aber doch eine große Erleichterung.

Sie senkte den Blick und sah, dass unter dem Foto tatsächlich ein zweites steckte.

Sie ließ die Aufnahme von der Straßenschlacht fallen und starr te auf die zweite. Sie war schwarzweiß.

Als sie erkannte, was sie anblickte, entwich mit einem Schlag alle Luft aus ihrer Lunge.

Es war eine fast nackte Leiche.

Eine junge Frau.

Detective Barrens Hände zitterten. Augenblicklich merkte sie, wie ihr Schweiß auf die Stirn trat.

»Susan«, brachte sie heraus.

Doch dann sah sie genauer hin.

Die junge Frau hatte stämmigere Beine. Kürzeres Haar. Sie lag in einer anderen Stellung als die, in der ihre Nichte gefunden worden war. Und das Unterholz, das der Blitz aus der Dunkelheit schnitt, unterschied sich von den Palmwedeln in Florida. Das Mädchen auf dem Foto schien im Laub eines nördlichen Waldes zu liegen. Detective Barren hatte das Gefühl, als drehte sich alles in ihrem Kopf, und von der Anstrengung, ihre Vorstellungskraft im Zaum zu halten, wurde ihr beinahe schwindelig. Die Züge der jungen Frau waren vollkommen anders als die ihrer Nichte.

»Das ist nicht Susan«, stellte sie fest.

Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich geschlagen. Das ist nur eins von vielen seiner verdammten Bilder.

Doch dann erkannte sie: Das hier war ein Schnappschuss. Da fehlte die sorgfältige Komposition, das intellektuelle Kalkül, das Douglas Jeffers’ Arbeit auszeichnete. Das hier war ein Bild, das hastig, unter Zwang entstanden war. Unter Feuer.

Sie hielt es hoch.

»Du bist nicht Susan«, sagte sie zu dem Bild.

»Aber wer bist du dann?«, fragte sie.

Sie sah noch einmal hin und erkannte einen großen, dunklen Fleck auf der Brust der jungen Frau. Blut, dachte sie.

Sie überprüfte das Foto mit geübtem Blick auf Anzeichen von Polizeipräsenz, auf eine amtliche Untersuchung.

Nichts.

Und dann schlich sich ungefragt ein Gedanke ein, den sie nicht zu Ende zu führen wagte. Sie ließ das Bild auf den Tisch fallen und sah entgeistert auf. Sie war von Dutzenden von Fotos umgeben, Jeffers’ Heimgalerie. Sie sprang auf und riss ein großes Bild von zwei fernöstlichen Bauern mit ihren Wasserbüffeln vor der Abenddämmerung herunter. Mit aller Kraft warf sie das gerahmte Bild zu Boden.

Sie nahm das Foto vorsichtig aus dem Scherbenhaufen. Sie spürte die doppelte Stärke des Papiers. Sie versuchte, das obere Foto herunterzuschälen, doch diesmal schien es fest verklebt zu sein. Sie verbog es, bearbeitete es mit den Fingern und zog am Ende ein kleines Schablonenmesser aus dem Schreibtisch, mit dessen Hilfe sie einen Teil des oberen Bildes herunterschälen konnte.

Darunter kam ein weiteres Schwarzweißbild zum Vorschein. Zuerst sah sie ein nacktes Bein. Dann einen nackten Arm. Er war dunkel verschmiert. Sie hatte an zu vielen Tatorten zu viel Blut gesehen, um nicht zu wissen, was es war.

Sie hielt inne und sah in Panik auf die Wände.

»Susan«, rief sie wieder, und aus ihrer Stimme klang reine Qual. »Susan, o mein Gott, Susan. Du bist hier irgendwo.«

Wieder glitt ihr Blick über die Fotogalerie. Plötzlich kam sie sich dumm vor, geradezu peinlich dumm.

»O mein Gott, Susan, du bist hier nicht allein!«

Es war so offensichtlich, dass es sie nur umso mehr ent setzte. »O Gott, ihr seid alle hier«, sagte sie zu sämtlichen Augen auf sämtlichen Bildern, die ihr entgegenstarrten. »Ihr alle.«

Ihr wurde übel. Sie stellte sich vor, wie Douglas Jeffers entspannt in seinem Wohnzimmer saß und zu dem Foto hinaufblickte, das sie in Händen hielt, das mit den Männern und den Wasserbüffeln. Nur dass er nicht dieses Bild, sondern das darunter sehen würde.

Sie sackte wieder auf den Boden und konnte die Gesichter, die von der Wand auf sie herunterstarrten, nicht mehr ertragen. Was sie empfand, trieb die Verzweiflung noch einen Schritt weiter in eine tiefe Qual.

Sie dachte: Ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich bediene mich der Logik, der Präzision, der Wissenschaft. Ich führe ein geordnetes, routiniertes Leben. Ich lasse mich von Fakten zu logischen Schlussfolgerungen leiten. Ich verrichte meine Arbeit effizient und mit Hingabe an die Sache. Für alles gibt es eine Erklärung.

Sie schüttelte den Kopf.

Und ich bin eine lausige Lügnerin. Besonders, wenn ich mir selbst etwas vormache.

In diesem Moment sprach sie laut aus, was sie dachte, und hoffte, dass der Klang ihrer Stimme den plötzlichen Drang, schnell wegzulaufen, verbannen konnte.

»O mein Gott, ihr seid alle hier. Ich weiß nicht, wer ihr seid oder wie viele ihr seid, aber ich weiß, ihr seid hier alle zusammen. Alle. Alle. O mein Gott. Ihr alle. Mein Gott, mein Gott, mein Gott. Ihr seid alle hier. Oh, oh, o nein.«

Und dann ein Gedanke, der noch schlimmer war:

Jetzt hängt alles an mir.