3. KAPITEL
Boswell

 

5.

Sonnenschein drang durch die Fenster der Bibliothek. Er fiel auf das Notizbuch, das Anne Hampton auf ihrem Tisch aufgeschlagen hatte, so dass die blaue Linierung im blendenden Licht schmolz. Sie starrte so lange auf die Worte, die sie zu Papier gebracht hatte, dass die Buchstaben verschwammen und schließlich die ganze Seite nur noch ein helles Viereck war. Es erinnerte sie an Schneefelder im Winter daheim in Colorado. Sie sah sich im Geiste am oberen Ende einer langen Piste, die, von Skispuren noch unberührt, in der Sonne glitzerte. Es war früh am Morgen, die Sonne versprach keinerlei Wärme – nur ein kaltes Licht, das die weiße Fläche überflutete. Sie dachte daran, wie die schillernde Widerspiegelung in die Höhe zu wachsen schien und sich spürbar mit der eisigen Luft vereinte – eine Welt ohne Konturen, Tiefe oder Höhe, ein einsames, gähnendes weißes Loch. Es wartete nur darauf, dass sie ihr kurzes Zögern am Rande der Angst überwand und vorwärtsstürzte, dass sie eine Fontäne Pulverschnee aufpflügte, die wie spitze Nadeln auf ihr niederging.

Sie lachte auf. Als ihr schlagartig bewusst wurde, wo sie war, schlug sie in gespielter Verlegenheit die Hände vor den Mund, reckte sich auf ihrem Stuhl und blickte durchs Fenster über die quadratische Rasenfläche bis zu den Palmen hinunter, die unter ihren Augen leicht wogten. Die Palmen, dachte sie, finden selbst dort ein zartes Lüftchen, wo keines ist. Vom kleinsten Windhauch rascheln sie genüsslich mit ihren Wedeln, während sie selbst von der gnadenlosen Sommerhitze nicht die geringste Abkühlung fand.

Sie wandte sich wieder den Büchern zu, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Die Literaturstudenten erkennt man schon von weitem, dachte sie. Sie ordnete ihre Bücher in zwei Stapel: Conrad, Camus, Dostojewski und Melville auf der einen und ihr Notizbuch, Dickens nebst Twain auf der anderen Seite. Dunkelheit und Licht, dachte sie. Sie schüttelte den Kopf. Sie las nicht einmal die Hälfte dieser Bücher und verstand letztlich auch nicht, weshalb es so wichtig sein sollte, sie in ihrem Rucksack mitzuschleppen. Dennoch packte sie jeden Tag alle zusammen mit ihren Referaten ein, als könne das schiere Gewicht großer Worte auf ihrem Rücken sie zu neuen Einsichten beflügeln. Sie fragte sich, ob ihr wohl ihr Unterbewusstsein für die Bücher, die sie gelesen hatte, eine Art Bewertungssystem für Literatur diktierte: Bücher, die sie etwa einen Monat nach der Lektüre immer noch mit sich herumtrug, mussten wahre Klassiker sein. Drei Wochen sprachen für nachhaltige Bedeutung. Die zweiwöchigen überdauerten wohl nur wegen ihrer Thematik und nicht wegen ihrer künstlerischen Qualität. Eine Woche sagte etwas über eine große Figur in einem eher schwachen Buch. Unter einer Woche? Anwärter bestenfalls.

Manchmal fragte sie sich, ob Bücher lebendig waren, ob die Charaktere, Schauplätze und Handlungsstränge sich nicht neu arrangierten, sobald man den Deckel zuklappte, und nach einigem Hin und Her und Für und Wider ihre alte Stellung bezogen, sobald man sie das nächste Mal aufschlug. Das wäre nur angemessen. Sie betrachtete Camus, der zuoberst auf ihrem dunklen Stapel lag. Vielleicht ruht sich Sisyphus im geschlossenen Zustand aus. Er setzt sich hin und atmet einmal durch, lehnt sich erschöpft an den Felsen und fragt sich, ob der Stein das nächste Mal auf dem Gipfel kurz ruckelt und dann liegen bleibt. Doch sobald er merkt, dass die Seiten aufgeschlagen werden, rappelt er sich auf, legt die Schulter unter den Brocken, spannt unter der kühlen Berührung die Muskeln, nimmt alle Kraft zusammen und schiebt, so fest er kann.

Es juckte ihr in den Fingern, das Buch zu packen und ganz schnell aufzuschlagen, um zu sehen, ob sie Sisyphus beim Entspannen erwischte.

Sie schmunzelte.

Sie sah auf, und für einen Moment traf sich ihr Blick mit dem eines Mannes auf der anderen Seite des Saals. Er hatte gelesen; sie konnte den Titel nicht erkennen. Er lächelte. Sie lächelte zurück. Ein junger Dozent, vermutete sie. Eine Weile schaute sie aus dem Fenster, dann wanderte ihr Blick zurück zu dem Mann. Er hatte sich in seine Lektüre vertieft.

Sie sah auf ihre Bücher. Sie betrachtete ihre Notizen. Sie schaute noch einmal aus dem Fenster. Sie linste zu dem Mann hinüber, doch der war verschwunden. Sie musste an die Klage ihrer Mutter denken: »Aber in Florida kennst du keine Menschenseele!«

Und ihre Antwort: »Brauche ich auch nicht.«

»Aber du wirst uns fehlen … und Florida ist so weit weg.«

»Ihr werdet mir genauso fehlen. Aber ich brauche ein bisschen Abstand.«

»Aber da ist es immer heiß.«

»Mutter.«

»Schon gut, wenn du es unbedingt willst.«

»Ja, es ist genau das, was ich will.«

Es war gar nicht immer heiß, musste sie denken. In diesem Punkt hatte sich ihre Mutter geirrt. Im Winter gab es unweigerlich Kälteeinbrüche, irgendeine eigensinnige Luftmasse aus Kanada, die Massachusetts aus den Augen verloren hatte, über der Landesmitte ins Trudeln geraten war und am südlichen Zipfel eine Bauchlandung machte. Dann war es unangenehm kalt, ohne die atemberaubende Schönheit und Stille der Berge von Colorado. Es war einfach nur kalt – man ballte die Finger zur Faust, und die eisigen Temperaturen nisteten sich in den kaum isolierten Häusern ein. Man zog Pullover und Mantel an und blickte in einen Himmel, der normalerweise nur von Strand und Sonne kündete. Schon komisch, dass sie an einem Januartag in Tallahassee schon weitaus mehr gefroren hatte als jemals zu Hause.

Sie sah in den Lichtstrahl, der auf ihren Tisch fiel. Zum Glück herrscht Sommerhitze, dachte sie. In diesem Moment kam ihr der seltsame Gedanke, dass sie in den letzten dreieinhalb Jahren trotz der Wärme, die schnelle Kontakte begünstigte, keine engen Freundschaften geschlossen hatte.

Pizza-Freunde, dachte sie. Strandfreunde. Was-hast-du-füreine-Note-Freunde. Hast-du-die-zusätzliche-Hausaufgabege macht-Freunde. Gehst-du-mit-mir-ins-Bett-Freunde.

Aber auch von dieser Sorte nicht allzu viele, gestand sie sich lachend ein.

Allerdings nicht aus Mangel an Bewerbern.

Sie zog ihren Block heran und kritzelte auf den Rand: »Mach dir nichts vor, du bist ein kalter Fisch.« Das gefiel ihr. Kalter Fisch und Camus passten gut zusammen.

Sie machte es sich wieder auf dem Stuhl bequem und las.

Der Abend dämmerte, als Anne Hampton die Bibliothek verließ und sich langsam auf den Heimweg quer über den Campus machte. Im Westen hatte die untergehende Sonne den Himmel in ein unglaubliches Purpurrot getaucht, in dem auch die majestätischen Wolkenformationen über dem Golf von Mexiko glühten. Sie liebte es, um diese Zeit unterwegs zu sein. Das restliche Tageslicht hielt sich zäh und verlieh den Formen und Gestalten ein letztes Mal Kontur, bevor es sich in die Übermacht der Dunkelheit fügte.

Sterbenszeit, dachte sie.

Sie erinnerte sich daran, wie sich die letzten Splitter Sonnenlicht im Atemregler des Tauchers gespiegelt hatten, als er wieder im Loch in dem vereisten Teich ihres Großvaters erschien, die Gestalt ihres Bruders in den Armen. Von der leuchtenden Aluminiumvorrichtung dieser seltsamen Wasserkreatur war das Licht schimmernd auf die Züge des kleinen Jungen gefallen. Dann hatte sie ihn nicht mehr sehen können; Tommy war augenblicklich von Feuerwehrleuten und Rettungshelfern umringt gewesen, und das Einzige, was sie noch zu sehen bekam, war eine dunkle Masse, die hastig den Hang hinauf zu einem pulsierenden Rotlicht gefahren wurde. Sie entdeckte seine Schlittschuhe mit den zerschnittenen Schnürsenkeln, löste sich aus der verzweifelten Umarmung ihres Großvaters und holte sie.

Natürlich, dachte sie, während sie weiterging, ist er nicht da gestorben; erst zwei Stunden später war er innerhalb des Piepens und Summens moderner medizinischer Geräte im klinischen Sinne tot. Die Intensivstation des Krankenhauses war ein Wunder an Licht; wohin ihr Blick auch fiel, fand sie immer neue Lampen, die in jeden Winkel leuchteten. Es war, als könnte man den Tod abwehren, indem man keine Dunkelheit zuließ.

Sie hatte das Krankenblatt eines Arztes entdeckt. Darauf war ein Feld für den Zeitpunkt des Todeseintritts, und die Schwester hatte 18:42 geschrieben. Ihrer Meinung nach war das nicht korrekt. Wann starb Tommy tatsächlich? Er war schon tot, als ich hörte, wie sich unter meinen Füßen im Eis diese kleinen Spinnweben ausbreiteten. Er starb, als ich ihn rief und er mir in der Verwirrung und dem allzu großen Vertrauen eines kleinen Jungen entgegenwinkte. Er starb, als er ins Wasser tauchte. Sie wusste noch, wie undramatisch es ausgesehen hatte: Eben noch glitt er mit ausholenden Armbewegungen voran, und im nächsten Moment gähnte unter ihm dieses schwarze Loch, das ihn verschluckte. Sein Kopf tauchte nicht noch einmal auf. Sie erinnerte sich an das Brennen und die Taubheit in den Füßen, als sie die eigenen Schlittschuhe ausgezogen hatte und zum Haus ihres Großvaters rannte. Jeder Schritt im tiefen, tückischen Schnee war ihr kälter und mühsamer vorgekommen. Ein halbes Dutzend Mal war sie schluchzend hingefallen. Ich war noch ein kleines Mädchen, dachte sie, und da war er schon tot.

Eine warme Brise erfasste ihre Bluse, und sie strich sich mit der Hand durchs Haar. Die Sonne war schon fast untergegangen; mit dem Licht wich auch die Zielstrebigkeit und Energie, und sie fühlte sich von der abendlichen Hitze abgeschlagen.

Kein dünnes Eis in Florida, dachte sie.

Niemals.

Quer über den Campus kam sie an Trauben von Studenten vorbei, die zum Essen, zu Partys oder zum Lernen verabredet waren, und bog in die Raymond Street in Richtung ihrer Wohnung ein. Sie dachte an so profane Dinge wie ihren Vorrat an Joghurt, Cottagecheese sowie Obst in ihrem Kühlschrank und überlegte, ob sie sich einen Cheeseburger gönnen sollte, verwarf den Gedanken aber. Iss Nüsse und Beeren, mahnte sie sich im Spaß. Sie dachte an ihre Eltern, die beide zur Leibesfülle neigten. Sie hasste die Berge an Kartoffelbrei und Steaks, die sie bei ihren seltenen Besuchen auffuhren. Die müssen mich für appetitlos halten. Bin ich aber nicht. Ich bin nur wählerisch.

Als sie unter den Quecksilberdampflampen Ecke Raymond und Bond Street weiterlief, staunte sie wie jedes Mal über das fluoreszierende Violett, in das ihre Haut und Kleider getaucht wurden. Für einen Augenblick sah sie sich als den Star in einem Horrorstreifen der fünfziger Jahre; nachdem sie zufällig einer Überdosis Strahlung ausgesetzt war, würde sie sich jetzt in … ja, was? … verwandeln. Das unglaubliche Mauerblümchen? Die phantastische Streberin? Die phänomenale Superstudentin? Plötzlich drang kreischendes Gelächter aus einem offenen Fenster, in das sich die rhythmischen Akkorde einer voll aufgedrehten Stereoanlage mischten. Das Sommersemester, dachte sie, wird am wenigsten ernst genommen. Ihr war es das liebste Semester, vielleicht weil sie dann die anderen Studenten, die sich die eine oder andere nicht bestandene Prüfung leisteten, deutlich überragte.

Sie lief weiter und summte eine Melodie, die sie aus der dröhnenden Musik aufgeschnappt hatte, vor sich hin, bis sie in die Francis Street einbog. Sie war nur zwei Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt und sah den Mann erst, als sie buchstäblich über ihn stolperte.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Können Sie mir helfen? Ich glaube, ich habe mich verfahren.«

Sie zuckte zusammen. Der Mann stand im Schatten neben der geöffneten Autotür.

»Hab ich Sie erschreckt?«, fragte er.

»Nein, nein, überhaupt nicht …«

»Falls doch, tut es mir leid …«

»Nein, keine Sorge. Ich war nur in Gedanken.«

»Sie waren in Gedanken?«

»Ja.«

»Das kenne ich«, seufzte er und kam auf sie zu. »Sie müssen an irgendetwas denken, und das erinnert Sie wieder an etwas anderes, und bevor Sie sich versehen, sind Sie vollkommen abwesend. Ich wollte Sie nicht stören.«

»Die Realität«, meinte sie, »stört immer.«

Er lachte.

Im schwachen Licht, das eine Lampe ein paar Häuser weiter spendete, schaute sie ihn sich genauer an. »Hab ich Sie heute nicht schon einmal gesehen? In der Bibliothek?«, fragte sie ihn. Er lächelte.

»Ja, ich war da, überfällige Lektüre …«

Sie sah, wie er ihr Gesicht eingehend musterte.

»Und Sie sind das Mädchen – Entschuldigung – die Frau mit den vielen Büchern? Ich dachte, wenn Sie die alle lesen müssen, kommen Sie nie da raus.«

Sie lächelte. »Ein paar. Nicht alle. Einige habe ich schon gelesen.«

»Sie müssen Anglistik im Hauptfach studieren.«

»Getroffen.«

»Eigentlich nicht schwer zu raten.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, pflichtete sie bei. »Komisch, der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«

»Sehen Sie«, frotzelte er, »guter Riecher.«

Sie lächelte ihn an, und er grinste.

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Der Mann sah gut aus. Er war groß, gut gebaut, ein bisschen ungepflegt vielleicht. Liegt wohl nur an dem Baumwolljackett, dachte sie, damit wirkt jeder ein wenig angeknittert.

»Sind Sie Professor?«

»So etwas in der Art«, antwortete der Mann.

»Aber nicht von hier?«

»Nein, bin zum ersten Mal hier. Und wie’s aussieht, kann ich die Garden Street nicht finden. Ich habe überall gesucht …« Der Mann drehte sich um, zeigte zuerst in die eine Richtung und schaute dann in die andere. Einen Moment hatte sie das Gefühl, er suchte die Straße nach etwas ab, bevor er sich wieder zu ihr umwandte.

»Die Garden Street ist wirklich nicht schwer zu finden«, sagte sie. »Zwei Straßen weiter. An der Ecke links, dann die zweite rechts. Die kreuzt ein paar Straßen weiter die Garden Street. Ich weiß nicht mehr, wie sie heißt, aber es ist nicht mehr weit.«

»Ich hab eine kleine Karte, keine besonders gute. Würden Sie mir vielleicht zeigen, wo genau ich stehe?« Er lächelte. »An sich ist das eine philosophische Frage, aber diesmal reicht mir eine topographische Auskunft.«

Sie lachte. »Sicher«, antwortete sie.

Sie trat neben ihn, während er die Karte auf dem Autodach ausbreitete. Er griff in die Tasche, vermutlich um einen Stift herauszuholen, und sagte, mehr zu sich selbst: »Also, ich schätze, ich bin hier …« Und dann: »Verdammt! Nicht bewegen!«

»Was ist?«

»Mir ist mein Zimmerschlüssel runtergefallen.«

Er bückte sich. »Muss hier irgendwo sein …« Sie wollte ebenfalls in die Hocke gehen, um ihm suchen zu helfen, doch er winkte ab. »Sie zeigen mir am besten, wo ich bin.« Sie trat ans Auto und warf einen Blick auf die Karte. Einen Moment war sie verwirrt: Das war nicht Tallahassee, sondern Trenton in New Jersey.

»Das ist die falsche Karte …«

Weiter kam sie nicht.

Eine Sekunde lang blickte sie nach unten und erkannte, dass der Mann einen kleinen, rechtwinkligen Gegenstand in der Hand hielt.

»Gute Nacht, Miss Hampton«, sagte er.

Bevor sie flüchten konnte, packte er ihr Bein und stieß ihr das Ding in den Oberschenkel. Sie hörte ein Knacken. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper. Es fühlte sich an, als hätte jemand in sie hineingegriffen, ihr Herz gepackt und brutal verdreht. Woher weiß er, wie ich heiße?, fragte sie sich. Dann merkte sie, wie sich ihre Augen verdrehten und es dunkel um sie wurde. Das Knacken verstummte, und sie dachte: Das Eis ist eingebrochen.

Dann tauchte sie in das Dunkel ein.