8. KAPITEL
Weitere dunkle Orte

 

13.

Sie fuhren parallel zum Mississippi Richtung Norden.

Douglas Jeffers nannte den Fluss »den mächtigen Miss-sah-sip« und erteilte Anne Hampton eine kurze Lektion über Mark Twain. Er war offensichtlich enttäuscht darüber, dass sie nur Tom Sawyer gelesen hatte, und auch das nur in der Oberstufe der Highschool. Sie sei ungebildet, empörte er sich. Was sie denn überhaupt wisse, wenn sie von Huck keine Ahnung habe, fragte er. In jedem Fall würde es ihr dann schwerfallen, ihn zu verstehen. »Huck ist Amerika«, rief Jeffers mit Nachdruck. »Ich bin Amerika.« Sie antwortete nicht, sondern hielt seine Worte auf ihrem Notizblock fest.

Er sprach zuerst leise, dann wechselte er in einen pedantischen Paukerton und klärte sie darüber auf, dass der Fluss einmal der wichtigste Handelsweg der Nation gewesen sei, der Wegweiser für den Sprung in den Westen, er führte durch das Herz Amerikas, eine Lebensader, die Politik, Kultur, Zivilisation und lebenswichtige Güter mit sich trug. Wer den Fluss erfasste, sagte er, der begriff auch, wie Amerika entstanden war. Er erklärte ihr, dasselbe gelte für Menschen; man müsse nur herausfinden, was für ein Strom durch einen Mann oder eine Frau fließe, und ihn dann bis zum Becken, in dem er sich sammelt, weiterverfolgen, um ihn zu ergründen. Als sie ihn verständnislos ansah, schrie er sie plötzlich an: »Die Rede ist von mir, verdammt! Kapierst du denn nicht, was ich sage? Ich versuche, dir Dinge beizubringen, die niemand, aber auch niemand auf der Welt versteht! Sitz nicht so dämlich da!« Sie machte sich klein und erwartete einen Schlag, doch er beherrschte sich, auch wenn er die Faust ballte. Er schwieg eine Weile, dann sinnierte er weiter über den Fluss.

Gelegentlich fuhren sie so nah ans Wasser heran, dass sie sehen konnte, wie das Tageslicht auf der weiten Fläche glitzerte – ein endloses, stetes Strömen Richtung Golf, der hinter ihnen lag. Er bestand darauf, dass sie seine weitschweifigen Monologe möglichst wortwörtlich mitschrieb, und begründete seine Forderung damit, dass irgendwann einmal jemand den Wert dieser Gedankengänge erkennen und sie dann froh und dankbar sein würde, sie anständig aufgeschrieben zu haben.

Sie konnte das zwar nicht nachvollziehen, doch in den letzten Tagen hatte sie es tröstlich gefunden, wenn er – wie vage auch immer – von der Zukunft sprach und sie daran erinnerte, dass jenseits dieser Autofenster, an denen die Landschaft vorüberglitt, noch ein Leben existierte, auf das Douglas Jeffers’ langer Arm keinen Zugriff hatte. Sie gehorchte und ließ den Stift so schnell sie konnte über den Schreibblock gleiten, auf dem sich die Buchstaben zu Worten, die Worte zu Sätzen aneinanderreihten.

Wenn er sie aufforderte, es ihm vorzulesen, gehorchte sie.

Er bat sie um eine kleine Korrektur, dann um einen Zusatz, und sie gehorchte.

Sie gehorchte in allem. Ihm irgendetwas zu verweigern, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.

Mehrere Nächte waren vergangen – sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie viele – seit er den Obdachlosen erschossen hatte. Seit ich den Obdachlosen erschossen habe, dachte sie. Nein: Seit wir den Obdachlosen erschossen haben. Die Nächte verbrachten sie in irgendeinem unscheinbaren Motel in der Nähe des Highways – Etablissements, die mit roten, blinkenden Neonlettern auf ihre freien Zimmer aufmerksam machten; wo man die Wassergläser in einer Papiertülle bekam und wo an den Toiletten Zettel mit dem Hinweis klebten, dass sie hygienisch sauber seien.

Als sie in einem dieser Motels zu ihrem Zimmer gingen, sah sie nicht weit von ihnen einen Mann an einem Getränkeautomaten stehen. Er trug einen billigen braunen Anzug. Sie musste unwillkürlich an Willy Loman aus Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden denken, als sie merkte, dass er tatsächlich Handelsvertreter war. Er verschlang sie mit Blicken, während er eine Vierteldollarmünze in den Automaten warf. Sie sah zu, wie er drei Flaschen Orangenlimonade kaufte, und registrierte, dass er eine Flasche Wodka in der Tasche hatte. Sie wand sich unter den eindeutigen, schamlosen Blicken des Mannes. Jeffers fauchte ihn an wie ein Tier, das den Eingang zu seiner Höhle bewacht, und der Mann schlurfte mit seinen Getränkedosen, dem Schnaps und der Aussicht auf dumpfes Vergessen davon. Jeffers hatte gesagt: »Kein Grund, den Kerl umzubringen, es sei denn, man wäre ein mieser kleiner Ganove auf der Jagd nach fünfzig Dollar. Was er trinkt, bringt ihn genauso sicher ins Grab wie eine Kugel, nur nicht ganz so schnell.«

Nachts im Bett schlief sie, wenn überhaupt, unruhig und warf sich, soweit sie es wagte, im Bett hin und her, während sie die meiste Zeit steif dalag und auf seinen gleichmäßigen Atem horchte, auch wenn sie nicht glaubte, dass er schlief. Er schläft nie, dachte sie. Er ist immer wach und auf der Lauer. Selbst wenn er einen Schnarcher von sich gab, weigerte sie sich, an seinen Schlaf zu glauben. Wenn sie auf seine Geräusche horchte, versuchte sie, vollkommen still zu bleiben, als könnte ihn selbst der Hauch ihres Atems wecken. Bei diesen Gelegenheiten hatte sie das Gefühl, an keiner Regung ihres eigenen Körpers ablesen zu können, ob er noch funktionierte. In regelmäßigen Abständen legte sie sich die Hand auf die Brust, um ihren Herzschlag zu spüren. Er schien schwach, undeutlich, als sei sie dem Tode nahe – lebensbedrohlich geschwächt.

Seit der Ermordung des Obdachlosen wurde ihr bewusst, dass sie vor allem und jedem Angst empfand: vor Fremden, vor Jeffers, vor sich selbst, vor jeder Minute bei Tage, vor jeder Sekunde bei Nacht; davor, was passieren konnte, wenn sie wach war, oder dann, wenn sie schlief. Wenn sie dann doch endlich eindöste, quälten sie Alpträume; sie hatte sich schnell daran gewöhnt, auf der Flucht vor einem Traumgesicht plötzlich aufzuschrecken und sich mit der unablässigen Furcht in der realen Welt konfrontiert zu sehen. Manchmal hatte sie große Schwierigkeiten, beides auseinanderzuhalten. Dann lag sie im Dunkeln und dachte an den Anblick des Obdachlosen auf der Straße von New Orleans. Sie sah, wie er nach alter Gewohnheit behaglich die Lippen um den vermeintlichen Flaschenhals legte. Nur dass er diesmal nicht das nasse Glas auf der Zunge fühlte, sondern den harten, trockenen, übelschmeckenden Lauf einer Pistole. Sie sah, wie die Verwirrung in seinen Augen aufflackerte, als sich ihre Blicke trafen. Seine Augen erinnerten an einen Hund, der ein ungewohntes Geräusch hört und neugierig den Kopf schief legt. Es war ein entsetzlicher Anblick – dieser offene Mund, die erwartungsvollen Augen, die sie ansahen, als hoffte der Mann auf einen Kuss.

Und manchmal kam es noch schlimmer. Dann war es umgekehrt. Sie sah den Obdachlosen, wie er eine Flasche an die Lippen hob, und wenn sie selbst vor Staunen die Kinnlade fallenließ und sich fragte, wo die Pistole geblieben war, da erschien die Waffe direkt vor ihrem Gesicht. Sie versuchte, die Lippen zusammenzupressen, doch der Lauf bewegte sich zu schnell, und sie schmeckte das tödliche Metall am eigenen Gaumen.

Sie sah dies alles und schrie; das heißt, noch häufiger dachte sie nur, sie hätte geschrien, und merkte wenig später, dass sie in Wahrheit keinen Ton von sich gegeben hatte. Sie hatte den Mund geöffnet und sich befohlen, einen Laut herauszubringen, war aber stumm geblieben.

Auch das machte ihr Angst.

 

Kurz vor Vicksburg, Mississippi, drosselte Jeffers das Tempo und fuhr rechts heran. Er zeigte mit dem Finger an ihr vorbei aus dem Beifahrerfenster. »Siehst du das?« Anne Hampton drehte sich um und blickte über ein weites grünes Feld mit einer grasbewachsenen Erhebung in der Mitte. Auf der Kuppe stand eine verwitterte Eiche, ein uralter Baum mit knorrigen, dichtbelaubten Zweigen, die sich über die Ebene reckten und mit dem Pflichtgefühl des Alters ihren Schatten warfen.

»Ich sehe einen Baum«, sagte sie.

»Falsch«, wies er sie zurecht. »Was du da vor dir hast, ist die Vergangenheit.«

Er schaltete den Motor aus. »Komm mit«, forderte er sie auf.

»Kleine Lektion in Geschichte.«

Er half ihr über einen baufälligen Holzzaun und lief mit ihr zu dem kleinen Hügel. Die ganze Zeit blickte Jeffers zu Boden, als nähme er Maß. »Es ist zugewachsen«, stellte er fest. »Ich war mir nicht sicher, aber es ist immerhin acht Jahre her.« Er sah nachdenklich aus. »Ich dachte immer, wenn Benzin den Boden abfackelt, würde es Jahrzehnte dauern, bis da wieder was wächst. Erinnerst du dich an die Fotos, die deutsche Fotografen im Zweiten Weltkrieg gemacht haben? Von der Ukraine? Das waren sehr eindringliche Aufnahmen. In der Ferne sah man riesige Felder, auf denen Weizen wogte, rund um eine mächtige schwarze Rauchsäule. Das Bild brachte die Ohnmacht zum Ausdruck – genau dadurch waren diese Fotos alle so verdammt gut. Man wusste genau, dass man absolut nichts dagegen tun konnte, wenn die Russen auf ihrem Rückzug erst mal diese Brände gelegt hatten. Benzin und Weizen, eine explosive Mischung. Verbrannte Erde. Auf die Zukunft scheißen, um die Gegenwart zu retten.« Er blieb stehen und zeigte auf eine Stelle. »Schau genau hin! Da! Siehst du, wie das Gras die Farbe wechselt?«

»Sieht wie eine geometrische Form aus.«

»Allerdings. Ein Kreuz.«

»Sie waren schon mal hier?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig; sie sah den Baum und dachte an den anderen Baum, den sie in Regen und Wind entlang der Küste von Louisiana nicht gefunden hatten.

»Stand genau da.« Er deutete ein Stück den Hügel hinunter. »Es war ein großartiger Schnappschuss«, meinte er. »Das brennende Kreuz tauchte all diese Männer in ihren lächerlichen weißen Kapuzen und Kitteln in gelbes Licht. Aber nicht deshalb war er so gut«, fuhr er fort, »sondern wegen dieses Massenauflaufs der Schwarzen – Schaulustige, vermute ich, weiß auch nicht, weshalb sie rausgekommen sind –, jedenfalls haben sie äußerst schweigsam zugesehen. Sämtliche Gesichter, aller Augen wendeten sich dem Hügel da zu. Der Lichtschein vom Feuer erfasste sie alle, und so bekam ich sie ebenfalls mit drauf. Weißt du, wieso sie sich diesen Baum ausgesucht hatten? Weil der alte Klan fünfzig Jahre davor drei Männer an diesem einzigen langen Ast aufgehängt hatte, da drüben, der Ast, der sich so tief nach unten neigt. Es geht um die Symmetrie«, fuhr er fort. »Die Geschichte. Wir sind eine Nation der Erinnerungen. Der alte Klan erhängte drei Männer an einem Baum, also will der neue denselben Schrecken verbreiten.

Also marschieren sie alle da raus, in ihren Roben, all die Kleagles und Klaxxons und Großdrachen in Seide, und dann auch noch ein paar bescheidenere Drachen, die das Sternenbanner schwenkten. Im Grunde nicht allzu viele, aber ich hab mir sagen lassen, dass ihre Mitgliederzahlen inzwischen wieder wachsen. Jedenfalls waren diesmal fast ebenso viele Reporter und Fotografen wie Klanmitglieder da. Und doppelt so viele Schwarze.

Das hat mich einigermaßen überrascht, weißt du, ich meine, man würde vermuten, dass die einen großen Bogen um die Kerle machten. Den ganzen Zauber ignorierten. Ich meine, wer ist schon scharf darauf, sich eine Menge idiotische, beleidigende Rhetorik anzuhören? Aber da lag ich falsch. Sie kamen, und zwar scharenweise. Und weißt du, was ich am kuriosesten fand? Das waren keine gebildeten Menschen. Und sie waren nicht organisiert. Das waren Farmer und kleine Pächter mit Frauen und Kindern. Die kamen auf alten Pick-ups und in klapprigen Autos, und ein paar sogar mit dem Maultierkarren.

Ich konnte nicht fassen, wie still sie waren. Je provokanter die Reden, je unverschämter die Beleidigungen, desto schweigsamer standen sie da. Das war wirklich höchst eigenartig: Man sollte meinen, mehr als Stille geht nicht, wenn jemand keinen Laut von sich gibt, dann gibt es keine Steigerung. Aber in der Nacht war das anders. Diese Leute standen da und gaben keinen Mucks von sich, und je länger sie sich nicht vom Fleck rührten, desto tiefer ihr Schweigen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das nenne ich Stärke. Sie zeigten damit, dass ihre Erinnerungen genauso weit zurückreichten und dass sie genauso tief empfanden. Eine seltene Entschlossenheit.«

Er sah Anne Hampton an.

»Überaus würdevoll«, sagte er und verstummte.

»Du musst verstehen, wie sehr ich wahre Stärke bewundere. Denn das, was ich tue, erfordert äußerste Hingabe. Solidarität mit der eigenen Psyche.« Er lächelte und brach in ein breites Grinsen aus. »Das gefällt mir«, fügte er hinzu. »Solidarität.« Er ballte eine Faust.

Er sah sie an. »Das, was ich tue«, wiederholte er.

Er lachte. Sie sah, dass er eine Kamera in der Hand hielt. Er hob sie ans Auge, drehte kurz am Objektiv und fotografierte sie. Er beugte sich vor, um den Winkel zu verändern, und drückte noch einmal ab. »Ich rede natürlich vom Fotografieren.«

Wieder lachte er, und sie stand wie erstarrt vor ihm und erwartete in militärischer Bereitschaft seinen Befehl.

»Komm mit«, forderte er sie auf, »ich erklär dir noch ein paar Dinge.«

Sie folgte ihm den Hang hinunter.

 

Im Auto fragte er: »Was ist das Wichtigste an Amerika?«

Sie ließ sich mit der Antwort Zeit, in ihrem Kopf arbeitete es auf Hochtouren. Sie stellte sich die Fotos vor, die Douglas Jeffers in jener Nacht von der Versammlung mitgebracht hatte – die Kapuzen, unter denen sich die rüpelhaften Klansmitglieder versteckten, und die Bauern mit ihrem vorwurfsvollen Schweigen, alles in körnigen Grautönen und mit starken Schatten. »Die freie Rede«, antwortete sie, »der erste Zusatzartikel, stimmt’s?«

Er wandte den Blick vom Highway ab und sah in ihre Richtung. »Boswell lernt dazu!«, lobte er mit einem Lächeln. »Korrekt.«

Sie nickte und nahm das Notizbuch zur Hand, während sie stolz darauf war, einmal eine seiner rätselhaften Fragen richtig beantwortet zu haben.

»Aber fällt dir eine andere Freiheit ein, die ähnlich skrupellos missbraucht worden ist?«

Sie erkannte, dass dies nicht wirklich eine Frage war, die er an sie richtete, sondern der Auftakt zu einer Rede. »Denk an das Böse, das von diesem Hügel ausgegangen ist. Denke an das Unrecht, für das er steht. Wodurch geschützt? Unsere wichtigste Freiheit. Denk an den Film Kreuz der Gewalt. Die Nazis wollen in Skokie aufmarschieren, und wer erscheint auf dem Plan und verteidigt ihr Demonstrationsrecht? Die American Civil Liberties Union. Im Wesentlichen jüdische Rechtsanwälte. Es geht ums Prinzip, sagen sie. Und sie haben recht. Das Prinzip ist wichtiger als ein einzelner Akt. Das ist lächerlich. Wir sind eine Nation von Scheinheiligen, weil wir uns so streng an rigide Regeln halten. Richtig. Falsch. Freie Rede. Manifest Destiny. Das gehört zum amerikanischen Selbstverständnis. Was hat Superman verteidigt? Die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die amerikanische Lebensweise. Ein Pfadfinder ist vertrauenswürdig, loyal, hilfsbereit, freundlich, höflich, gehorsam, frohgemut, sparsam, tapfer, reinlich und ehrerbietig. Der Gruppenführer, der gerne kurze Hosen trägt, am Lagerfeuer Gespenstergeschichten erzählt und die Jungs in ihren Schlafsäcken begrapscht, wird geflissentlich verschwiegen …«

Er holte tief Luft, überlegte und fügte dann hinzu: »Willst du dieses Land wirklich verstehen? Es ist im Grunde ganz einfach. Du musst nur begreifen, dass wir gelegentlich unsere größten Stärken benutzen, um die größten Übel zu bewirken. Nicht immer. Nur manchmal. Aber doch so oft, dass es Kreise zieht.«

Er sprach jetzt schnell, nicht wütend, aber angespannt. Sie schrieb so schnell sie konnte.

Er schwieg.

Er kicherte.

»Vom ersten Verfassungszusatz bis zu den schwulen Pfadfinderführern …« Er warf den Kopf zurück, schüttelte ihn energisch und stieß ein trockenes Lachen aus.

Er sah Anne Hampton an.

»Ich muss verrückt sein«, stellte er grinsend fest.

»Nein, nein, ich glaube, ich verstehe …«

»Du irrst«, unterbrach er sie. Schlagartig wechselte sein Ton. Er klang jetzt hart und unwirsch, und im selben Moment verflog sein Lächeln. »Ich bin verrückt. Ich bin ganz fürchterlich verrückt. Sind wir alle, jeder auf seine Weise. Das ist unser nationaler Zeitvertreib, nur dass der Fall bei mir zufällig schlimmer liegt als bei anderen …« Er sah sie an. »Schlimmer als bei den meisten.«

Er wandte sich wieder nach vorne und starrte auf die Straße.

»Sag«, fing Douglas Jeffers nach einer Weile an, »was weißt du über den Tod?«

Sie dachte an eine Begebenheit in ihrer Kindheit, als sie ihre Großeltern auf der Farm besuchten. Das war vor Tommys Tod: Es war Sommer, und sie wollten im Teich schwimmen gehen. Doch als sie ans Ufer kamen, lagen überall schwarze und graue Gänsefedern verstreut. Ihr Großvater hatte genickt und gesagt: »Da hat eine Schildkröte zugeschnappt. Eine ziemlich große, möchte ich wetten, wenn die den ganzen Vogel auseinandergenommen hat.« Aus dem Baden wurde nichts. Ihr Großvater war ins Haus zurückgekehrt, wo er eine Schrotflinte aus dem Waffenschrank holte. Sie durfte bei ihm bleiben, während Tommy drinnen warten musste. Ihr Großvater legte einen Rest Hühnchenfleisch neben den Teich, lief mit ihr ein Stück gegen den Wind und wartete.

Die Schildkröte war über zwanzig Pfund schwer gewesen. Anne Hampton erinnerte sich an den ohrenbetäubenden Knall aus dem Gewehr. Ihr Großvater spreizte mit einem Stock den blutigen Kiefer und sagte: »Eine Schildkröte von der Größe kann dir mühelos ein Bein brechen.« Die Schildkröte starb, und dann starb Tommy und zwei Jahre später ihr Großvater. Sie dachte an den Nachbarn von gegenüber, der eines schwülen Sommermorgens an Herzversagen starb, als er versuchte, jahrelange Trägheit wiedergutzumachen, indem er anfing zu joggen. In der strahlenden Sonne schienen die Lampen des Krankenwagens nicht hell genug zu leuchten, als sei der Fall nicht allzu dringlich. Sie wusste noch, wie der Mann aschfahl und reglos auf dem Rasen lag. Ein Schnürsenkel war offen, und ihr war der seltsame Gedanke gekommen, dass er von Glück sagen konnte, weil ihn etwas aufgehalten hatte, bevor er stolperte und hinfiel. Außerdem hatte sie bemerkt, dass er zwei ungleiche Socken trug, eine mit einem grünen und die andere mit einem blauen Streifen. Das hatte sie schrecklich gefunden. Zu sterben war schlimm genug, aber sich dabei auch noch zu blamieren, war doppelt schlimm.

Sie dachte daran, wie ihren Eltern eine kleine weiße Urne mit Tommys Asche ausgehändigt wurde, wie ihrer Mutter die Hände zitterten, als sie danach griff. Immer noch hörte sie die gedämpften Stimmen der Gäste: Ihr müsst jetzt tapfer sein. Wieso eigentlich? Wieso nicht einfach hemmungslos schluchzen? Das schien jedenfalls viel vernünftiger zu sein. Doch sie hatte gesehen, wie ihre Mutter einen Schleier über ihre Trauer gelegt hatte und stoisch gefasst gewesen war. Im nächsten Moment war die Urne für immer verschwunden. Sie fragte sich, ob man Tommys Kleider mit verbrannt hatte. Wahrscheinlich wäre es ihm am liebsten gewesen, wenn der eng sitzende blaue Anzug, den sie ihm für den Kirchgang gekauft hatten, in Rauch aufgegangen wäre. Alle kleinen Jungs liebten und hassten ihre guten Sachen. Es gab diesen wundervollen Augenblick, in dem sie sich zum ersten Mal darin sahen und sich so erwachsen und würdevoll, so adrett und vornehm fanden; früher oder später gewannen Dreck und Grasflecken, zerfranste Hemdschöße und zerrissene Knie die Oberhand, und der erste Glanz war dahin. Bei der Schildkröte hatte es sich um ein Weibchen gehandelt, und Anne Hampton hatte ihrem Großvater geholfen, die Jungen zu finden. Er hatte sie in einen Sack gesteckt, ihr aber nicht verraten, was er damit vorhatte.

Das ist der Tod, dachte sie, wenn es einem verschwiegen wird, man es aber trotzdem weiß.

»Nicht viel«, antwortete sie nach einer Weile. »Mein Großvater ist gestorben. Dann ein Nachbar, beim Joggen. Ich war dabei. Ich hab’s mit angesehen.« Sie überlegte, ob sie ihren Bruder erwähnen sollte.

Nein, dachte sie, das muss genügen.

Aber sie konnte nicht an sich halten.

»Mein Bruder ist gestorben. Beim Schlittschuhlaufen. Er ist ertrunken.«

Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Er war noch ein kleiner Junge.«

Jeffers schwieg, bevor er antwortete.

»Mein Bruder ist auch kurz davor zu ertrinken. Er weiß es nur nicht.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, doch sie speicherte die Information ab. Er hat einen Bruder.

»Er weiß es einfach noch nicht«, wiederholte Jeffers. »Aber lange kann es nicht mehr dauern.«

Mindestens eine Viertelstunde lang fuhr er weiter, ohne etwas zu sagen. Sie hatte sich zum Fenster umgedreht und blickte den Autos nach, an denen sie vorbeikamen, sah sich die Familien, die jungen Männer oder jungen Frauen an und versuchte, sich vorzustellen, wer sie waren und wohin sie wollten. Gelegentlich trafen sich ihre Blicke, wenn auch nur für Sekunden. Wie würden diese Leute staunen, wenn sie wüssten, was sie hierherbrachte.

 

Douglas Jeffers konzentrierte sich nur halb aufs Fahren, der größte Teil seiner Aufmerksamkeit beschäftigte sich mit der Analyse von Gefühlen. Die Landschaft, durch die sie kamen, war unspektakulär, Farmen, Gemüsefelder und kleine Städte zwischen grünbraunen Hügeln eingesprengt. Er kehrte, immer noch Richtung Norden, auf die Interstate zurück und achtete nur wenig auf Tempo, Entfernung, Reiseziel und Verkehr. Er dachte eine Weile an seinen Bruder, dann an Anne Hampton, dann wieder an seinen Bruder.

Marty besaß keine Leidenschaft, musste er feststellen. Er würde nie etwas unternehmen. Wie diese Schwarzen auf dem Hügel saugte er alles schweigend auf.

Komisch, dass sie sich nie geprügelt hatten. Alle Brüder prügeln sich, wenn auch vielleicht nicht regelmäßig, so doch zumindest häufig, überlegte er. Sie kämpfen um alles und jedes, versuchen, ihren Machtbereich in der Familie abzustecken. Die Bindung zwischen Geschwistern beruht auf dieser Spannung, glaubte er. War erst genug Herzblut geflossen, blieb die gegenseitige Zuneigung bestehen.

Bei sämtlichen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, mit ihrem falschen Vater, war Marty auf Distanz geblieben. Jeffers verzog das Gesicht und biss sich auf die Lippe, während langsam eine diffuse Wut in ihm aufstieg, die sich auf den Mann, auf den Jungen, auf sich selbst richtete.

»Ich hasse Neutralität«, brach es aus ihm heraus. »Ich verachte sie.« Aus dem Augenwinkel sah er, dass Anne Hampton zusammenschreckte.

Na ja, dachte Jeffers, mit dieser verdammten Abgeklärtheit ist es bald vorbei.

Er blickte kurz zu Anne Hampton hinüber, dann wandte er sich wieder dem Highway zu. Er stellte sich ihre Glieder, ihren Körper vor, doch seine Gedanken wanderten schnell wieder in die Vergangenheit, und statt seiner Reisegefährtin sah er die Frau des Drogisten vor sich. Wenn sie sich morgens, nachdem ihr Mann zur Arbeit gegangen war und bevor die Jungen sich auf den Schulweg machten, ankleidete, blieb die Tür angelehnt. Sie ließ sich sehr viel Zeit. Sie wusste, dass er ihr zu sah. Er wusste, dass sie es wusste. Als er Marty zu überreden versuchte, ebenfalls zuzuschauen, hatte sein Bruder sich umgedreht und war wortlos gegangen.

»Hast du deinen Bruder geliebt?«, fragte er Anne Hampton.

»Ja«, antwortete sie. »Auch wenn ich ihn, weiß auch nicht, seltsam fand. Irgendwie rätselhaft.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, ich war nur drei Jahre älter als er, und wir hatten, ich weiß nicht, wir hatten nicht viel gemeinsam. Ist das nachvollziehbar? Er war ein kleiner Junge, also machte er Sachen, die eben kleine Jungen machen, und ich war ein kleines Mädchen, und so spielte ich wie ein kleines Mädchen. Aber ich habe ihn geliebt.«

»Das ist durchaus nachvollziehbar. Im Grunde hat man mit seinen Geschwistern ziemlich wenig gemein. Ein gewisses Maß an Erinnerungen, weil man dieselbe Vergangenheit hat. Aber das ist streng genommen ein Trugschluss, weil jeder dieselben Ereignisse anders im Gedächtnis behält. Folglich haben sie für verschiedene Menschen nicht dieselbe Bedeutung.«

»Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.«

Er nickte.

Sie schwiegen.

»Siehst du«, meinte er. »Wir führen ein fast normales Gespräch. War doch gar nicht so schlimm, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

Nach einer Weile fragte sie: »Wie ist Ihr Bruder so?«

»Er ist Arzt«, antwortete Jeffers. »Seelendoktor. Und er ist ungefähr so unglücklich wie die Leute, die er behandelt. Er ist alleinstehend und weiß selbst nicht, warum.«

Sie nickte. Er registrierte, dass sie sich Notizen machte.

»Gut«, lobte er. Sie antwortete nicht.

Doch er beantwortete ihre unausgesprochene Frage: »Nein, ich glaube nicht, dass ich ihn liebe«, sagte er, »jedenfalls nicht mehr als irgendjemand oder irgendetwas sonst.«

Er schüttelte den Kopf. »Liebe ist etwas, das ich mir längst aus dem Kopf geschlagen habe. Glück genauso.«

Er lachte bitter. »Ich klinge wie eine Figur in einer dieser Soaps im Nachmittagsprogramm. Guckst du die manchmal?«

»Nein. An der Schule gab’s ’ne Menge Leute, die keine Folge ausließen, die waren süchtig danach. Aber ich konnte nichts daran finden.«

»Hätte mich auch gewundert.«

Sie zögerte, dann fragte sie: »Aber Sie lieben Ihre Arbeit?«

Er lächelte.

»Ich liebe meine Arbeit.«

Das Grinsen, das sich in seinem Gesicht breit machte, schien darauf hinzudeuten, dass er etwas komisch fand, und sie hatte einen heftigen Anflug von Panik.

Was hält er selbst von seiner Arbeit?, fragte sie sich. Der Gedanke trieb sie um.

»Ich meine«, fuhr sie fort, »Sie sprechen sehr respektvoll von diesen Bildern. Sowohl von Ihren eigenen als auch von denen anderer, die Sie gesehen haben.«

»Ich hab eine Menge Fotos gemacht. Mit völlig verschiedenen Sujets.«

Sie nickte, und sie fuhren weiter, ohne etwas zu sagen.

Douglas Jeffers dachte an seine Fotos.

»Immer der Tod«, erklärte er. »Na ja, nicht immer. Aber in letzter Zeit immer öfter. Ich mache Schnappschüsse vom Tod. Ich hab eine Serie gemacht, für einen Essay in Life, erst vor kurzem. Über eine Vierundzwanzig-Stunden-Schicht in einer großstädtischen Notaufnahme …«

»Ach«, unterbrach ihn Anne Hampton. »Die hab ich gesehen. Die waren gut.«

»Sie handelten vom Tod. Selbst die Aufnahmen von den Ärzten und Schwestern und den Krankenwagenfahrern – weißt du, es ging darum, einzufangen, wie all die Gewalt und die zertrümmerten und zerrissenen Körper diese Leute fertigmachten. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Weißt du, wenn man sich zu lange an etwas Schrecklichem wundreibt, wird es ein Teil von einem. Es bleibt immer etwas davon haften.«

Er legte eine kurze Pause ein, bevor er sagte: »Genau das ist mir passiert.«

Sie nickte und empfand einen Moment lang so etwas wie Mitleid.

Dann dachte sie an den Regen und Wind, die falsche Straße, und plötzlich hatte sie eine Horrorvision davon, wie es wohl sein musste, in der Erde begraben zu sein. Sie merkte, wie sie einen Kloß im Hals bekam, und sie schnappte nach Luft.

»Ich habe die Übersicht verloren«, stellte Jeffers in sachlichem Ton fest.

Ihr wurde eng um die Brust, und ihr Atem kam wie bei einem heftigen Asthmaanfall mit lautem Pfeifen.

»Worüber?«, stöhnte sie.

»Wie viele Tote ich gesehen habe. Ich habe es mal gewusst. Ich habe sie gezählt. Aber heute nicht mehr. Sie gehen nahtlos ineinander über. Als ich in dieser Notaufnahme war, haben sie einen Teenager reingebracht, er war gerade mal ein paar Jahre jünger als du. Er hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, während ein anderer Junge betrunken Auto gefahren war. Der andere Junge, der Fahrer, hatte, ob du’s glaubst oder nicht, nur ein paar Blutergüsse und einen gebrochenen Unterarm. Aber dieser Junge würde ins Gras beißen, und das Schrecklichste war, dass er nicht ohnmächtig wurde. Er wusste es. Er wusste, dass all diese Leute mit ihren Apparaturen und Nadeln ihm nicht helfen konnten. Ich hab seine Augen fotografiert, unmittelbar, bevor es mit ihm zu Ende ging. Aber das Bild wurde nicht genommen. War nicht scharf genug, weil mich irgend so ein Vollidiot geschubst hat, als ich gerade auf den Auslöser drückte …«

Er zuckte die Achseln.

»Kann passieren. Gehört zum Geschäft.«

Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: »In der Nacht bin ich nach Hause gegangen und habe mich gefragt, der wievielte dieser Junge war. Der Tausendste? Oder Zehntausendste? Ich kannte mal einen Polizeireporter, der Buch führte, also habe ich es auch getan. Aber irgendwann kam ich durcheinander. In Vietnam? In Beirut? Ich war ein paarmal da. Und wenn wir schon mal dabei sind, wie wenig ein Menschenleben wert ist … Als diese Chartermaschine bei New Orleans abstürzte, ist sie in zwei Teile zerbrochen, und die Menschen hat es in alle Richtungen geschleudert. Die Rettungsmannschaften haben Körperteile wie verfaulte Früchte von den Bäumen gepflückt …«

»Es ist eben passiert«, sagte Anne Hampton, »solche Dinge passieren eben.«

»Nein, tun sie nicht«, entgegnete Jeffers wütend. »Der Junge stirbt, weil sein Kumpel zu viel säuft. Der Flieger stürzt ab, weil der Pilot auf die Idee verfällt, seinem Kopiloten mal eben den Start zu überlassen, obwohl der Tower vor starkem Rückenwind gewarnt hat. Die kleinen Kinder in Beirut sterben, weil sie draußen spielen und diese Granaten, die abgefeuert werden, die unheimliche Gabe besitzen, spielende Kinder auf der Straße anzusteuern … Das hat mit Ursache und Wirkung zu tun. Der Tod ist nur einfach die häufigste Folge.«

Er sah sie an.

»Weißt du, wenn ich jemanden töte, dann tue ich es, weil ich es will. Nur so kann ich mir bewusstmachen, dass ich noch lebe.«

Ihre Hand zitterte, als sie seine Worte niederschrieb.

Er wartete.

Es herrschte Stille, doch sie wusste, dass er sie füllen würde.

»Mehr als …« Er unterbrach sich, bevor er eine Zahl nennen konnte.

Sie schloss die Augen und versuchte, langsam zu atmen. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass er grinste.

Sie wollte lieber nicht so genau wissen, weshalb.

 

Stundenlang fuhr er wortlos und in gleichmäßigem Tempo. Als sie tanken mussten, scherte er zu einer Autobahntankstelle aus und forderte den Tankwart mürrisch auf, vollzutanken. Er bezahlte bar und setzte ein nonchalantes Lächeln auf, als er Gas gab und die Tankstelle verließ, so dass jeder denken musste, sie seien ein ganz normales Paar – ohne besondere Eile, auf einer ganz normalen Fahrt zu einem vertrauten Reiseziel, zu einem klar umrissenen Zweck.

Nach einer Weile sagte er: »Boswell, wundert dich das alles nicht maßlos? Gehen dir nicht tausend Fragen durch den Kopf?«

Anne Hamptons einziger Gedanke war, dass nichts als Angst ihren Kopf beherrschte.

»Ich hatte das Gefühl, ich sollte besser nicht fragen«, antwortete sie. »Ich dachte, Sie würden mir schon erzählen, was Sie mir erzählen wollen.«

Er nickte. »Das klingt vernünftig.«

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Boswell, fragst du dich nicht, was das Ganze hier soll?«

Sie nickte.

»Ich weiß, dass Sie einen Plan haben …«

»Ja«, bestätigte er. »Und zwar einen ziemlich genauen.«

Mehr verriet er ihr nicht. Stattdessen fragte er: »Sehe ich alt aus, Boswell? Kannst du in meinem Gesicht Falten entdecken? Wirke ich frustriert oder müde? Streitsüchtig, reizbar, alt? Ich fühle mich nämlich sehr alt, Boswell. Uralt.«

Sein Ton wechselte schlagartig, und er fragte streng: »An welchem Tag haben wir uns getroffen?«

Augenblicklich schnürte es ihr die Kehle zu.

Sie konnte sich nicht erinnern. Eine Stimme in ihr sagte, sie sei schon seit einer Ewigkeit in diesem Wagen, sie sei schon immer bei ihm. Eine andere Stimme erwachte in einem tiefen Winkel ihres Bewusstseins und führte ihr Bilder von ihrer Wohnung, von verwelkten Blumen in einer Vase auf der Fensterbank vor Augen, von ihren Bücherregalen, dem Schreibtisch, dem kleinen Bett und Nachtschrank. Sie sah Bilder von ihren Eltern und ein Aquarell an der Wand, mit Booten in einem Hafen, das sie vor ein paar Jahren auf einer Reise an die Ostküste entdeckt hatte. Es war eigentlich zu teuer gewesen, doch es lag etwas in diesem Bild, das sie faszinierte – vielleicht der Frieden, die Ordnung, die Ruhe der Boote, die in der Spätnachmittagssonne vor Anker lagen. Sie dachte an ihre Seminare, daran, wie sie morgens die Sommerhitze weckte, oder wie sie am ganzen Körper schwitzte, wenn sie über den Campus lief. Ebenso kurz stieg in ihr das Bild ihrer Eltern in Colorado auf, wie sie im Haus saßen und ihr beschauliches Leben führten. Wenn sie wüssten, was passiert ist, wären sie in Panik und würden weinen. Sie wären verzweifelt. In diesem Moment schienen sie ihr wie Wesen aus einem Traum.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.

»Niemand weiß es, verstehst du?«

Sie nickte.

»Niemand sucht nach dir.«

Wieder nickte sie.

»Selbst wenn jemand neugierig wäre, hätte er keine Ahnung, wo er suchen sollte. Verstehst du? Du hast keine Spur hinterlassen.«

Sie nickte zum dritten Mal.

»Das passiert ständig – Menschen verschwinden, zack, und sie sind weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Eben noch sind sie da, dann sind sie weg.«

Trübsinnig ließ sie zur Bestätigung den Kopf hängen.

»Genau das ist mit dir passiert.«

Er sah sie unfreundlich an.

»Ich bin jetzt deine Vergangenheit. Ich bin deine Zukunft.« Sie wollte weinen, wagte es aber nicht. Sie dachte an die Stimmen der Trauergäste – du musst jetzt tapfer sein. Bei der Erinnerung wurde sie wütend.

Jeffers redete weiter.

»Das ist wie bei diesen idiotischen Milchpackungen mit den Fotos von den verschwundenen Kindern und den Kontaktdaten der ermittelnden Behörden drauf. Deprimierend. Die Kinder sind verschwunden. Für immer entführt. Wir sind eine Nation von Rattenfängern, verstehst du? Spielen ständig auf der Pfeife, nach der die anderen tanzen sollen. Wir entführen andauernd Menschen, und sie sind wie vom Erdboden verschluckt.«

Er schwieg.

»Genau sowar es auch bei sämtlichen anderen.«

Wie viele noch?, dachte sie.

O mein Gott, ich bin die Nächste. Ich bin immer noch die Nächste. War ich von Anfang an. Doch sie konnte es sich nicht leisten, der Angst so weit nachzugeben, dass sie in Panik geriet und schrie. Vielmehr machte sie sich bewusst, dass dies dieselbe Angst war, die sie vom ersten Moment an gelähmt hatte; als sie ihr erst einmal vertraut zu sein schien, war sie weniger erschreckend.

Einen Moment lang fragte sie sich, ob das eine Art Todesgewissheit war, so ähnlich wie bei den Passagieren in einem Flugzeug, das in die Tiefe stürzt. Sie hatte gelesen, dass den kurzen Schreien eine stumme Schicksalsergebenheit folgte, Sekunden des Friedens und des stillen Gebets. Wie der Moment vor dem Erschießungskommando. Willst du eine Zigarette? Eine Augenbinde?, fragt der Kommandeur. Nein, nur einen letzten Blick auf den Morgen.

Sie starrte aus dem Fenster und legte zum Schutz gegen die blendende Sonne die Hand über die Augen. Sie wusste nicht, wieso, doch sie empfand eine seltsame, ungewohnte Leichtigkeit.

Jeffers summte eine Melodie. »Ich wüsste zu gerne, was der Rattenfänger auf seiner Flöte gespielt hat. Ein und dasselbe Lied für die Ratten und die Kinder?«

Er schien einen Moment zu überlegen.

»Schon als kleiner Junge habe ich mich immer gefragt, wieso die Eltern von Hameln nichts unternommen haben. Ich meine, die standen einfach wie ein Haufen Vollidioten herum. Ich hätte …«

Er beendete den Satz nicht.

»Hör mal«, sagte Jeffers. »Was weißt du über Mord?«

Sie dachte an den Obdachlosen und antwortete: »Nur, was ich neulich in der Nacht erlebt habe.«

Jeffers lächelte.

»Gute Antwort«, freute er sich. »Das zeigt, dass du Mumm in den Knochen hast, he? Boswell ist nicht ganz so ängstlich, wie sie manchmal tut.«

Er gab Gas, und der Wagen machte einen Satz nach vorne. Ebenso schnell nahm er den Fuß vom Pedal und kehrte zu dem alten, bescheidenen Tempo zurück.

»Mord ist, wie du gesehen hast, unglaublich einfach. Nur in Hollywood starren die Leute auf den Lauf einer Waffe und wagen vor Skrupeln und Schuldgefühlen nicht, abzudrücken. In Wirklichkeit geht es ganz schnell. Ein Streit und paff! Im Grunde ist es kein so großer Unterschied zwischen einer Auseinandersetzung im Ghetto in der Nacht, nachdem die Stütze ausgezahlt wurde, und einer Militäroperation, die wochen- und monatelange Vorbereitung erfordert. In beiden Fällen geht es letztlich um einen idiotischen Streit. Selbst in meinem Fall könnte ich vermutlich, wenn ich entsprechend in mich gehen würde, die Ursache für die Dinge finden, die ich tue. Aufgestaute Wut. Außer Kontrolle geratenen Hass. So würde es mein Bruder ausdrücken. Aber was ist aufgestaute Wut? Nichts weiter als ein Streit zwischen den verschiedenen Teilen der eigenen Persönlichkeit. Das Leben ist sowieso der Widerstreit zwischen deiner guten und deiner schlechten Seite. Die schlechte Seite will sich den übriggebliebenen Nachtisch unter den Nagel reißen, stimmt’s? Genau wie bei diesen Cartoons, die samstagmorgens im Kinderfernsehen laufen, wo ein kleiner Teufel aus der Schachtel springt und Foghorn Leghorn oder Donald Duck oder Goofy oder sonst ein niedliches, haariges Tierchen beschwatzt, etwas Unrechtes zu tun, und dann springt ein kleiner Engel aus der Box und besteht darauf, dass er sich für den rechten Pfad entscheidet …«

Jeffers lachte trocken auf, bevor er weitersprach.

»Wie auch immer, weißt du, weshalb wir dieses Verbrechen ungestraft begehen konnten? Weil es reine Willkür war. Schau uns an – sehen wir etwa wie Leute aus, die betrunkenen Obdachlosen das Hirn wegpusten? Leute auf der Suche nach dem Kick? Leopold und Loeb? Was? Ein Berufsfotograf doch nicht. Schon gar nicht ein preisgekrönter. Eine Spitzenstudentin doch nicht. Siehst du, kein Mensch kann uns mit dem Verbrechen in Verbindung bringen. Niemand hat uns gesehen. Niemand hat uns in Verdacht. Es war Zufall, Willkür, widrige Umstände, so zumindest wird es die Polizei einstufen.

Strenggenommen ist es gar nicht richtig passiert. Oder was meinst du, wie viel Zeit ein unterbezahlter, überarbeiteter Ermittler bei der Mordkommission an einen toten Obdachlosen verschwenden wird, dessen Identität er wahrscheinlich nicht einmal feststellen kann? Zehn Minuten? Eine Stunde? Einen Tag? Mehr nicht. Gerade so viel Zeit, wie er benötigt, um ein Formular auszufüllen und an seinen Vorgesetzten weiterzureichen, um sich dem nächsten Fall zuzuwenden. Vielleicht was Pikanteres. Etwas, das Schlagzeilen macht. Etwas, das unserer Gesellschaft was bedeutet. Ein Prominentenmord oder ein Mord in einer Dreiecksbeziehung. Und wer wollte es ihm verübeln? Siehst du, es war ja wirklich belanglos. Rätselhafter Tod eines unbekannten Stadtstreichers. Ein Memo an alle Dienststellen. Kurze Überprüfung, ob sie irgendwelche anderen ungelösten Morde an Obdachlosen haben, die vergleichbar sein könnten. Das war’s. Das ist zumindest die offizielle Version. Die politische Version …

Dabei wissen wir es natürlich besser, nicht wahr? Zu blöd aber auch, was? So ein armer Cop könnte eine steile Karriere machen, wenn er nur die geringste Ahnung hätte, was tatsächlich vorgefallen ist. Denn es war gar nicht unwichtig. Jedenfalls nicht für uns, stimmt’s?«

Nach einer ganzen Weile brachte sie eine Antwort heraus.

»Aber es kann doch nicht immer so, ich weiß nicht, so leicht sein …«

Sie hasste das Wort. Für ihn, das hatte sie begriffen, war es eine unumstößliche Wahrheit. Für sie eine komplette Lüge. Ich mach da nicht mit, sagte sie plötzlich in Gedanken, ich weigere mich, er zu sein.

Sie war von ihrer Entschlossenheit selbst überrascht.

»Selbstverständlich nicht. Sonst wäre es ja keine Herausforderung. Kein Abenteuer. Hast du zufällig The Most Dangerous Game von Richard Connell gelesen?«

»Ich glaube nicht.«

Er schnaubte. »Also wirklich, Boswell, wo bleibt deine Bildung?«

»Ich hab eine Menge gelesen«, erwiderte sie zu ihrer Verteidigung. »Ich habe eine Menge Bücher gelesen, von denen Sie wahrscheinlich keine Ahnung haben. Was wissen Sie über Middlemarch?« Noch während sie ihre eigene Stimme hörte, hätte sie sich am liebsten den Mund zugehalten. Sie schloss die Augen und rechnete mit einer Ohrfeige.

Stattdessen lachte er.

»Der Punkt geht an dich«, gestand er ihr zu. »Aber zurück zu meiner Frage: Welches ist das gefährlichste Spiel?«

»Mord ist kein Spiel.«

»Nicht?«

Sie schwiegen.

»Na schön«, lenkte er nach einer Weile ein. »Ich werde mich bemühen, weniger frivol zu sein. Natürlich ist Mord kein Spiel. Aber auch kein Hobby. Es ist eine Lebensweise. Meine Lebensweise.«

»Ich verstehe nur nicht, wie …«, fing sie an, doch er unterbrach sie.

Er lachte.

»Na endlich! Sie fragt, warum! Wurde langsam Zeit.«

Sein Ton verdüsterte sich.

»Und jetzt werde ich es dir sagen.«

In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in etwas hineingestolpert zu sein, das für ihre Augen nicht bestimmt war. Sie erinnerte sich, wie sie eines Nachts nicht hatte schlafen können und durch einen Spalt in der Tür ins Schlafzimmer ihrer Eltern gespäht und sie eng umschlungen entdeckt hatte, während sie versuchten, bei der Liebe nicht zu laut zu sein. Wie damals wurde sie vor Angst und Scham rot. Sie ließ den Bleistift fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. Die Erkenntnis, dass Wissen gefährlich sein konnte, traf sie wie ein Schlag: Je mehr sie wusste, desto tiefer verstrickte sie sich, desto geringer war ihre Chance, dem Alptraum zu entkommen. Die düsteren Überlegungen waren erdrückend, und sie hätte am liebsten in aller Stille geweint, so wie damals, als sie durch einen einzigen Blick für immer ihre Unschuld verlor, ins Kissen schluchzte und vor Seelenqual nicht ein noch aus wusste.

Zuversichtlich und ein wenig übermütig beschwingt, wartete er, bis er sicher war, dass seine Fragen sie, wie geplant, ins Mark getroffen hatten und mit einer bösen Vorahnung erfüllten. Endlich, dachte er. Die Worte sprudelten enthusiastisch aus ihm heraus.

»Nach dem ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich unglaubliches Glück gehabt hatte. Immerhin hatte ich eine Prostituierte auf der Straße aufgelesen, und zwar in einem Leihwagen, den man nur allzu leicht bis zu mir zurückverfolgen konnte. Ich hatte sie im Auto geschlagen, so dass man ihre Blutgruppe anhand der Flecken im Polster bestimmen konnte. Und ich hatte sie in einer Gegend abgeladen, mit der ich nicht vertraut war. Außerdem hätte mich jederzeit jemand sehen können. Ein Passant. Ihr Zuhälter. Ein Trucker, der aus seinem drei, vier Meter hohen Führerhaus heruntersieht. Ich habe genügend Fuß- und Fingerabdrücke hinterlassen, dass jedes beliebige Forensik-Labor mich hätte überführen können. Gewebefasern, Schmutzpartikel, Haare. Verflucht, ich hab die Schaufel, mit der ich sie begraben habe, sogar mit der Kreditkarte bezahlt. Ich hab so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Unglaublich dämlich, weißt du …«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, erwartete aber keinen Kommentar.

»Und weißt du, wie es mir hinterher ergangen ist? Ein unglaublicher Nervenkitzel. Eine Angst, wie sie in Alpträumen auftritt. Ich bin in einer Art Schwebezustand herumgelaufen und hab mir ernste Sorgen gemacht, paranoid zu werden. Ich dachte, meine sämtlichen Jugendsünden würden jeden Moment einen Kripobeamten mit Haftbefehl auf den Plan rufen. Was natürlich nie passierte, aber es war ein Gefühl, als stünde ich die ganze Zeit unter Strom.

Dasselbe galt für meine Bilder. Sie wurden prägnanter. Besser. Leidenschaftlicher. Schon seltsam, was? Aus der Angst wurde Kunst. Ich war vom Erfolg wie besessen. Ich weiß noch, dass ich ein paar Nächte lang nicht schlafen konnte, weil ich so aufgeregt war. Es hatte vollkommen von mir Besitz ergriffen. Also beschloss ich, umherzufahren, um mir einfach nur das Lichtermeer der Stadt anzusehen. Vielleicht würde das meine Gefühle beruhigen. Ich hörte Polizeifunk. Alle Fotografen schleppen ständig Radios mit sich herum, das war also nichts Ungewöhnliches. Man hört ständig Funk, man kann ja nie wissen. Und das war nun eine von diesen Nächten.

Ich hörte auf einmal diese Stimme, auf einem Sender mit gutem Empfang, und sie klang aufgeregt, fast in Panik: Hilfe, Hilfe, schicken Sie einen Beamten, schnell … und dann wurde die Adresse durchgegeben. Ich war nur ein paar Häuserblocks entfernt. Ein Staatspolizist, weißt du, hatte bei einem Wagen, bei dem ein Rücklicht nicht funktionierte, eine gewöhnliche Verkehrskontrolle durchgeführt. Er muss wohl auf Ärger aus gewesen sein, denn er bekam eine volle Ladung aus einer Achtunddreißiger in die Brust. Er war vier Jungs zu nahe getreten, die gerade einen Spirituosenladen ausgenommen hatten. Und ich war als Erster da – vor den anderen Cops, vor dem Rettungswagen. Nur ich und meine Kamera und der Junge, der den Schuss von der anderen Straßenseite aus beobachtet hatte, weil er einen Reifen gewechselt hatte. Er hatte den Notruf gemacht. Der Junge hielt den Kopf des Polizisten im Schoß. Klick! Klick! Helfen Sie mir, bat der Junge. Klick! Helfen Sie uns!, bat er. Was machen Sie da? Klick! Bitte … Klick! Vielleicht dreißig Sekunden. Dann habe ich ihm geholfen. Ich nahm die Hand des Polizisten und fühlte nach dem Puls. Zuerst war er da, aber bald wurde er wie das Licht in der Abenddämmerung schwächer und verschwand. Und dann alles auf einmal, die Scheinwerfer, die Sirenen. Gott! Das waren phantastische Aufnahmen!«

Jeffers hielt inne. Er sprach nun langsamer, bedachter.

»Und so kam ich dazu, Mord zu studieren.«

Schweigen.

»Ich konnte nicht anders.«

Der Stift schwebte über dem Notizbuch, während sie versuchte, die Angst abzuschütteln und sich nur auf seine Worte zu konzentrieren.

Sie schärfte sich ein, so zu denken wie im Seminarraum, wie bei einer Vorlesung. Sie merkte, dass der Versuch lächerlich war.

Douglas Jeffers’ Kopf war voller Bilder, und er überlegte, ob er vielleicht anekdotisch vorgehen sollte. Er warf einen Seitenblick auf Anne Hampton und sah, dass sie wartete; sie war blass und mitgenommen, am Rande einer Angstattacke, aber dennoch wartete sie. Mit Genugtuung stellte er fest: Jetzt gehört sie mir.

Dann machte er weiter.

»Ich hatte also unglaubliches Glück gehabt, dabei verlasse ich mich nicht gerne auf mein Glück. In meiner Freizeit ging ich immer öfter in die Bibliothek und las. Ich interessierte mich ebenso für Belletristik wie für wissenschaftliche Bücher. Ich las juristische Fallstudien und medizinische Abhandlungen. Ich las die Geständnisse von Mördern ebenso wie Gefängnisberichte. Ich las die Memoiren von Kripobeamten, von Pathologen, von Strafverteidigern, von Staatsanwälten und Auftragskillern. Ich kaufte Bücher über Waffenkunde. Ich studierte Physiologie. Ich zog mir einen weißen Laborkittel über und besuchte an der Columbia Medical School Anatomievorlesungen. Ich musste einfach wissen, wie genau Menschen starben.

Ich las Zeitungen und Zeitschriften. Ich abonnierte True Detective und Police. Ich brachte Stunden mit den Schriften prominenter forensischer Psychiater zu. Ich lernte viel über Sexualmörder, Massenmörder, Berufsmörder, Mörder beim Mili tär. Ich studierte Massaker und Mordkomplotte. Ich machte mich mit de Sade, Blaubart, Albert DeSalvo und Charles Whitman vertraut, außerdem mit dem Massaker von My Lai sowie den Angriffen auf die Flüchtlingslager von Shatila. Ich kannte Raskolnikow, Mengele, Kurtz, Idi Amin und William Bonney, den du vermutlich unter dem Namen Billy the Kid kennst. Ich weiß eine Menge über die PLO und die Roten Brigaden. Ich kann dir alles über Charles Manson oder Elmer Wayne Henley erzählen oder über Wayne Gacy, Richard Speck, Jack Abbott, Lucky Luciano oder Al Capone. Vom Valentinstagmassaker bis zu den Freeway-Morden. Von der Salemer Hexenjagd bis zu den Drogenkriegen in Miami oder dem Zodiac-Killer von San Francisco. Ich kenne mich mit 007 ebenso gut aus wie mit dem echten MI-5. Ich könnte dir erklären, wieso Bruno Richard Hauptmann wahrscheinlich kein Mörder war, auch wenn sie ihn hingerichtet haben, oder wieso Gary Gilmore in Wahrheit ein Loser war, der zufällig gemordet hat, der aber ebenfalls hingerichtet wurde. Ich hab alles gelesen von Camus’ Essay über die Todesstrafe bis zu McLendons Roman Deathwork, und dann habe ich mich auf den Bericht der Warren-Kommission gestürzt und auf die Kongressanhörungen, die das Phoenix-Programm in Vietnam ans Licht gebracht haben …

Wusstest du«, fuhr Douglas Jeffers fort, »dass in manchen Bundesstaaten die Gerichtsakten und Polizeiberichte öffentlich sind? Zum Beispiel war ich vor nicht allzu langer Zeit in Nord-Florida und hab die Akten zu dem Fall eines Gerald Stano gelesen. Interessanter Bursche. Intelligent. Freundlich. Extravertiert. Ganz und gar kein Eigenbrötler. Hatte eine feste Anstellung als Mechaniker, war angesehen, beliebt, sogar bei den Ermittlern von der Mordkommission. Er hatte nur einen kleinen Fehler …«

Jeffers legte eine Kunstpause ein.

»Wenn er mit einer Frau ein Date hatte, dann ließ er es nicht bei einem keuschen Handschlag oder einem Küsschen auf die Wange bewenden.«

Jeffers lachte.

»Nein, Mr. Stano brachte seine Damenbekanntschaften um.«

Er warf Anne Hampton einen Blick zu und versuchte, den schmerzlichen Ausdruck in ihrem Gesicht zu taxieren.

»Indem er sie zerstückelte …«

Wieder eine Pause.

»Könnten so um die vierzig gewesen sein.«

Und noch einmal pausierte Jeffers, bevor er fortfuhr.

»Man kann ihn nur für seine Konsequenz bewundern, wenn auch vielleicht für nichts sonst. Er behandelte alle gleich, das heißt, alle Frauen …«

Anne Hampton schwieg beharrlich und wartete, dass Jeffers weitersprach. Sie sah, wie er tief Luft holte.

»Du siehst also, was aus mir geworden ist.« Jeffers senkte die Stimme. »Ich wurde zum Experten.

Und dann«, sagte er, nachdem er noch einmal Luft geholt hatte, »war ich so weit, ein Mörder zu werden. Nicht so ein Volltrottel, der wahllos eine Prostituierte umbringt und einfach nur Schwein gehabt hat, dass er davongekommen ist. Nein, ich wurde zu einer perfekt geölten, gut austarierten, mörderischen Präzisionsmaschine. Kein Auftragskiller, der sich von einem Gangster aus der Gosse oder einem kolumbianischen Drogendealer bezahlen lässt. Sondern freischaffend, ganz und gar mein eigener Herr.

Und damit weißt du, was ich bin.«

Mehrere Stunden lang fuhr er ohne ein weiteres Wort.

Jeffers ließ es bei diesen Auskünften bewenden. Er dachte: Das muss sie erst mal verdauen.

Außerdem würde das, was er als Nächstes plante, die Schraube noch einmal anziehen.

Anne Hampton war dankbar für die Stille. Sie versuchte nach Kräften, an einfache Dinge zu denken – an den Geruch von Apfelkuchen im Ofen oder das wohlige Gefühl, wenn man in eine Seidenbluse schlüpft –, doch es funktionierte nicht.

Als sie in Memphis den Fluss überquerten, war es tiefe Nacht. Sie sah, wie sich die Lichter im stillen schwarzen Wasser spiegelten, während Jeffers ihr erzählte, wie der Cuyahoga in Cleveland einmal gebrannt hatte. Der Giftmüll, den man einfach ins Wasser geworfen hatten, fing Feuer, erzählte er. Wie aber löscht man brennendes Wasser? Er beschrieb, wie er mitten in der Nacht die Feuerwehrleute vor den hochaufragenden Flam men fotografierte. Sie kamen an einem Schild vorbei, dessen heiterer Gruß zu den Geschehnissen in Widerspruch stand: SIE VERLASSEN MEMPHIS – KOMMEN SIE BALD WIEDER!

Jeffers stimmte einen Bob-Dylan-Song an: »Ohhh, momma, can this really be the end? To be stuck inside of Mobile with the Memphis Blues again …«

Er sah zur Seite und merkte, dass sie die Melodie nicht erkannte. Er zuckte die Achseln. »Meine Generation«, meinte er und lachte. »Erinnere mich nicht daran, wie alt ich bin.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

In Arkansas blieben sie auf der Interstate. Es war schon weit nach Mitternacht, als sie an einem Howard Johnson’s anhielten. Ihr erschien der scharfe Kontrast zwischen Orange und Aquamarin so spät in der Nacht zu schrill, sie hätte es angemessener gefunden, wenn man die Dekoration jeden Abend mit dem Aufziehen der Dunkelheit gegen ein gedämpfteres Farbschema hätte tauschen können.

Am nächsten Tag waren sie wieder mit dem Morgengrauen auf der Straße, und als sie zum Frühstück anhielten, hatten sie bereits zwei Stunden Fahrt hinter sich. Jeffers langte ordentlich zu und zwang sie, ebenfalls reichlich zu essen: Eier, Pfannkuchen, Toast, Würstchen, mehrere Tassen Kaffee und Saft.

»Warum so viel?«, fragte sie ihn.

»Großer Tag«, antwortete er zwischen zwei Happen. »Und großer Abend. Baseballspiel in St. Louis. Fängt um acht an. Danach gibt’s ein paar Überraschungen. Iss auf.«

Sie gehorchte.

Nach der Mahlzeit fuhr er allerdings nicht gleich wieder auf die Interstate zurück, sondern hielt auf dem Parkplatz einer großen Shopping Mall. Anne Hampton sah ihn an.

»Wieso machen wir halt?«

Mit einer blitzschnellen Bewegung beugte er sich zu ihr herüber und packte ihr Gesicht, indem er Zeigefinger und Daumen in ihre Wangen bohrte.

»Bleib einfach dicht bei mir, sag nichts und lerne dazu.«

Sie nickte, und er ließ sie los.

»Beobachte, höre zu und versuch zu begreifen«, schärfte er ihr noch einmal ein.

Er lief zügig durch die immer dichter werdende Menschenmenge, die in das Einkaufszentrum strömte, und sie musste sich beeilen, um Schritt zu halten. Die Läden flogen an ihr vorüber, und sie sah sich im Spiegel einer Boutique. Ringsum stürmte Stimmengewirr auf sie ein – schreiende Kinder, die mit einem Schlachtruf von ihren Eltern davonliefen, und Eltern, die Jennifer, Joseph oder Joshua ermahnten, augenblicklich mit dem Blödsinn aufzuhören. Was sie nie taten. Sie hörte Paare, die sich über Einkäufe unterhielten, und Teenager, die über Jungen, Mädchen und Musiktitel sprachen. Die Fetzen von normalem Leben, die sie aufschnappte, schienen seltsam fremd, als gehörten sie in eine andere Zeit. Sie beschleunigte ihre Schritte an Douglas Jeffers’ Seite. Er schien die Menge nicht wahrzunehmen, sondern zielstrebig geradeaus zu laufen.

Schließlich betrat er mit ihr ein Sportgeschäft, wo er ein Paar rote St.-Louis-Cardinals-Baseballmützen herauspickte. Er zeigte auf ein schnauzenhaftes, hutartiges Gebilde und lachte spöttisch. »Diese Schweinskappen tragen sie bei den Spielen der University of Arkansas. Wildschweine. Da kann ich nur sagen, seht zu, dass ihr gewinnt, wenn eure Fans die Dinger für euch tragen.«

Er bezahlte die beiden Kappen bar und kehrte in die Mall zurück. »Noch eine Station«, sagte er.

In dem großen Sears-Kaufhaus steuerte er die Abteilung für Büroartikel an. An der Theke kaufte er einen kleinen Stapel Schreibmaschinenpapier und ein Päckchen Briefumschläge. Damit ging er zu einer Reihe Vorführ-Schreibmaschinen. Er drehte sich zu ihr um und sagte: »Sieh genau hin. Bleib dicht an mir dran.«

Mit einer schnellen Bewegung zog er ein Paar OP-Handschuhe aus der Tasche. Er schlüpfte hinein und öffnete den Pappkarton des Schreibmaschinenpapiers. Ohne zu zögern, reichte er Anne Hampton die Verpackung und legte ein Blatt in eine der Vorführmaschinen ein.

Er zögerte einen Moment und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war oder auf sie achtete. Dann beugte er sich vor und tippte:

 

Ihr seit ja so dämlig, pakt ein, gute Nacht,
hab nämmich grad nochn Schwuln alle gemacht.
Hertsliche Grüse,
ir wist schon wer

 

Er zog das Blatt aus der Maschine, faltete es dreimal und steckte es in einen Umschlag. Immer noch mit Handschuhen schob er das Kuvert in die Tasche. Dann zog er die Handschuhe aus, sah sich um, prüfte noch einmal, dass niemand sie beachtet hatte, und begab sich zügig Richtung Ausgang.

Ihr gingen tausend Gedanken durch den Kopf, während sie keuchend Schritt zu halten versuchte.

Als sie wieder im Wagen saßen, sagte er nichts, sondern forderte sie nur stumm auf, sich anzuschnallen. Sie gehorchte und schwieg.

Er fuhr den ganzen Tag und bis in den Abend hinein, indem er sich stur ans Tempolimit oder die Durchschnittsgeschwindigkeit hielt, so dass sie von ebenso vielen Autos überholt wurden, wie sie selbst hinter sich ließen. Sie fragte sich, wieso Jeffers immer genau zu wissen schien, wohin sie fuhren und wie lange sie brauchen würden. Er schätzte: »Bis zum Ende des zweiten Innings müssten wir es schaffen«, doch sie mussten ein wenig weiter vom Stadion entfernt parken als geplant, so dass sie erst mitten im dritten Inning am Eingangstor standen. Sie trugen beide die roten Mützen, die er am Vormittag gekauft hatte. Am Drehkreuz zog Jeffers mit einer schwungvollen Handbewegung zwei Eintrittskarten aus der Brieftasche.

Sie zuckte zusammen angesichts der Geste, vor allem aber wegen der Erkenntnis, dass er die Karten lange im Voraus gekauft haben musste.

»Sicher ’n gutes Spiel«, meinte er zum Kontrolleur.

»Kann man wohl sagen, nur dass sie zwei Punkte zurückliegen und offenbar keiner weiß, wie sie das noch packen sollen.« Der Mann war alt; ihm wuchsen weiße Haare an den Ohrläppchen, und er trug ein Hörgerät. Anne Hampton sah, dass er sich in das andere Ohr den Kopfhörer eines billigen Transistorradios eingestöpselt hatte. Er achtete nicht weiter auf sie und griff nach den Tickets der nächsten Spätankömmlinge.

Sie huschten eilig durch die Sitzreihen, stießen gegen Menschen, umschifften Verkäufer mit Erfrischungen.

Die riesige Menge und der hohe Lärmpegel irritierten sie. Sie fühlte sich, als schwebte sie im All – schwerelos, so dass die Geräusche sie davontragen konnten. Sie drückte sich eng an Jeffers, und als eine Gruppe junger Rüpel sich zwischen sie drängte, griff sie nach seiner Hand.

Als die Heimmannschaft im fünften Inning am Schlag war, erklärte Jeffers, er habe Hunger. »Hör zu«, sagte er, »lauf mal da zu dem Imbissstand rüber und besorg uns ein paar Hotdogs.«

Sie starrte ihn ungläubig an.

In ihrer Umgebung dröhnte die Zuschauertribüne: Der stattliche Rechtshänder der Mets hatte einen seiner berüchtigten kräftigen Würfe hingelegt, und die Cardinals warteten mit ihrem Zwei-zu-null-Rückstand vergeblich auf den Lohn für ihre Mühen. Doch genau in dem Moment, als Jeffers seine Bitte ausgesprochen hatte, war der Lead-off vorgerückt, und der nächste Schlagmann landete prompt einen glatten Base-Hit nach rechts. Vor Spannung stand die Menge senkrecht, und das ganze Stadion hallte vom ermunternden, rhythmischen Klatschen wider. Sie musste brüllen, um sich bei ihm Gehör zu verschaffen.

»Ich kann nicht«, rief sie.

»Wieso nicht?«

Plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrem Bein und die Finger, die sich schmerzhaft in ihre Muskeln bohrten.

»Ich kann es einfach nicht«, wiederholte sie, während ihr die Tränen in den Augen standen.

Er starrte sie an. Perfekt, dachte er.

»Wieso nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste nur, dass der Lärm, die Menschen und die Welt, die er plötzlich in ihr Leben hereingelassen hatte, sie in Panik versetzten.

»Bitte«, flehte sie.

Er konnte sie nicht hören; der nächste Schlagmann hatte den Ball so weit nach vorn gebracht, dass eine Base in erreichbarer Nähe war; der Läufer punktete von der zweiten aus, indem er dem Hechtsprung des Fängers auswich, so dass sein Tag-Versuch in einer Staubwolke unterging. Jeffers sah jedoch ihre Mundbewegung, und das genügte.

»Meinetwegen«, gab er nach. »Nur dieses eine Mal.«

Er ließ ihr Bein los.

Sie nickte zum Dank.

»So was nennt man ein Bang-Bang-Spiel«, erklärte er.

»Bang-Bang?«

»Ja, wenn alles Schlag auf Schlag geht. Der Läufer rutscht aus, Bang! Der Fänger erzielt einen Tag, Bang! Er ist safe! Bang! Oder er ist out, Bang! Ich hab für dieses Klischee schon immer was übriggehabt.«

Er entdeckte einen Erdnussverkäufer und winkte heftig, um die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen. Er gab Anne Hampton eine Tüte, und nachdem sie angefangen hatte, die Schalen zu knacken und die Nüsse zu essen, bückte er sich und zog seine allgegenwärtige Nikon aus der Kameratasche.

»Bitte lächeln«, rief er und schnellte auf seinem Sitz herum. Er knipste ein paar Bilder.

Sie wurde verlegen. »Meine Haare«, meinte sie. »Diese alberne Kappe …«

Doch er deutete nur aufs Spielfeld. »Da spielt die Musik«, wies er sie zurecht. »Pass gut auf, vielleicht musst du dich später an ein paar Einzelheiten erinnern.«

Das machte ihr Angst, und sie versuchte, sich auf die Vorgänge unterhalb der Tribüne zu konzentrieren. Ich verstehe was von Baseball, beruhigte sie sich. Ich weiß, was Spielzüge des Squeeze-Play und Pitchouts sind und wie man hinter den Läufer kommt. Immerhin war ich in der Softball-Mannschaft an der Highschool Shortstop und hab die Regeln gelernt.

Dennoch blieben ihr die Akteure auf dem Kunstrasen der Spielfläche ein Rätsel, wie sehr sie auch versuchte zu analysieren, was dort vor sich ging.

Sie wagte einen Seitenblick zu Jeffers. Er schien ganz im Spielverlauf versunken, doch sie wusste, dass diese Anteilnahme andere Dinge verschleiern sollte. Etwas in ihr weigerte sich, konkrete Möglichkeiten ins Auge zu fassen.

Sie zitterte in der schwülen Luft. Ihr Kopf fühlte sich dumpf an, und sie konnte nur schwer schlucken. Als sie einmal sah, wie er sich zu der Tasche vor seinen Füßen bückte, bekam sie vor Verwirrung plötzlich keine Luft mehr.

Als die Mannschaften die Seiten wechselten, fragte sie endlich in einem Ton, der ihr hohl in den Ohren klang: »Wieso sind wir hier?«

Jeffers drehte sich zu ihr um und starrte sie an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Wir sind hier, weil das Amerika ist, das nationale Freizeitvergnügen, das hier sind die Mets und die Cards und der Siegeswimpel steht auf dem Spiel. Aber vor allem sind wir hier, weil ich ein Baseball-Fan bin.«

Wieder lachte er und sah sie an.

»Du siehst also«, fuhr er fort, »bis jetzt schlagen wir nichts tot außer der Zeit.«

Er zögerte. »Später«, fügte er hinzu.

Sie stellte keine weiteren Fragen.

Sie blieben bis zur ersten Hälfte des achten Innings. Jeffers wartete, bis die Mets vier Punkte machten und Bewegung in das ausgeglichene Spiel brachten. Er packte sie bei der Hand und führte sie zusammen mit den anderen leicht verstimmten Fans, die früh aufbrachen, aus dem Stadion. Auf ihrem Weg zum Auto folgte ihnen ein lauter Schrei von den Zuschauerrängen hinter ihnen. Er hörte, wie aus einem Transistorradio, das ein junges Paar in ihrer Nähe bei sich hatte, eine Stimme allen, die es hören wollten, verkündete: »Homerun Jack Clark, und noch zwei Innings zu spielen!« Er nickte.

»Hätten sie eigentlich wissen müssen«, meinte er leise zu Anne Hampton, »dass es nie vorbei ist, bevor es vorbei ist. Das hat einmal ein großer Amerikaner gesagt.«

»Wer?«, fragte sie.

»Caryl Chessman«, antwortete Jeffers.

 

Jeffers vergewisserte sich, dass Anne Hampton angeschnallt war, dann ging er zum Heck und öffnete den Kofferraum. Er wühlte einen Moment in seiner Allzwecktasche und zog schließlich zwei Nummernschilder mit Kennzeichen von Missouri heraus. Zuvor hatte er daran Metallklammern befestigt, so dass er sich nur zu bücken und sie direkt auf den eigentlichen Schildern zu montieren brauchte. Er nahm einen billigen Nummernschildrahmen, den er in einem Laden für Autozubehör gekauft hatte, und klemmte ihn auf die neuen Schilder, so dass vom verräterischen Gelb seiner New Yorker Kennzeichen nichts mehr zu sehen war, er aber ebenso schnell die früher einmal gestohlenen Schilder wieder abmontieren konnte. Dann öffnete er die Tasche mit den Waffen und zog eine billige Automatik, Kaliber fünfundzwanzig hervor. Im Innern der Tasche war ein besonders präparierter, voller Ladestreifen befestigt. Er vergewisserte sich, dass die Rundköpfe eingekerbt waren, dann steckte er die Munition in seine Kameratasche. Wieder suchte er einen Moment und holte eine schlichte Aktentasche heraus, bevor er den Kofferraum schloss.

Zurück im Wagen, schaltete er die Innenbeleuchtung ein.

Sie sah zu, wie er eine kleine gelbe Aktenmappe herauszog und auf den Knien öffnete.

Die Akte enthielt neben Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten eine getippte Checkliste. Anne Hampton konnte die Wörter lesen: Pistole, Schreibmaschine, Zugang, Ausgang, Notfall-Unterstützung (Backup), Anwalt, Personalien. Unter jedem Begriff waren Unterkategorien aufgelistet, doch sie war nicht schnell genug und das Licht war zu schwach, als dass sie auch diese hätte lesen können. Eine Reihe von Punkten waren durchgestrichen, während andere deutlich abgehakt waren. Neben anderen wiederum standen handschriftliche Bemerkungen.

Sie sah, dass die Akte zwei Landkarten enthielt, eine handgezeichnete und einen Gitternetzplan von der Stadt. Während sie ihn beobachtete, schien Jeffers die Listen und Karten durchzugehen. Sie warf einen Blick auf die Zeitungsausschnitte und sah einen halbseitigen Artikel aus dem Time Maga zine. Er war dem innenpolitischen Nachrichtenteil entnommen, und die Schlagzeile lautete: WILLKÜRLICHER MORD AN HOMOSEXUELLEN VERSETZT ST. LOUIS IN AUFRUHR. Sie sah, dass die anderen Artikel dem Post-Dispatch von St. Louis entstammten.

»Gut«, murmelte Jeffers mit einer gewissen Erregung in der Stimme. »Gut. Wir sind so weit.«

Er sah sie an. »Kann’s losgehen?«

Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

»Bist du so weit?«, fragte er streng.

Sie nickte.

»Also«, sagte er, »die Jagd geht los.« Und er fuhr in die Dunkelheit der Stadt.

Nach wenigen Minuten hatte sie die Orientierung verloren. Eben noch waren sie auf einer Durchgangsstraße, inmitten von Wolkenkratzern, die links und rechts in den Nachthimmel ragten, im nächsten Moment kreisten sie durch schäbige, schlecht erleuchtete Straßen, die das Licht der Scheinwerfer spiegelten. Nach mindestens einer halben Stunde drosselte Jeffers das Tempo. Anne Hampton starrte aus dem Fenster und sah Männer, die in der lauen Sommerluft in Gruppen vor Bars standen, plauderten und gestikulierten. Jeffers ließ die Szenerie wortlos auf sich wirken.

Trotzdem, dachte sie, scheint er zu wissen, wohin er will. Sie zwang sich, an nichts zu denken. Nachdem er eine weitere halbe Stunde lang durch eine Gegend von etwa zehn Häuserblocks gekurvt war, bog Jeffers in eine dunkle Nebenstraße ein und fuhr am Ende des Blocks rechts heran. Offenbar handelte es sich um eine Wohngegend – größere, in Wohnungen aufgeteilte Häuser, Bäume, für die im Bürgersteig ein Stück Erde ausgespart war. An den hellen Lichtern konnte sie jedoch erkennen, dass sie nicht weit von der Hauptdurchgangsstraße entfernt waren. Jeffers ging vorne um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Sie fand seine Bewegungen spinnen- oder raubtierartig. Von einem Moment zum anderen sah sie sich buchstäblich aus dem Wagen gehoben, um Arm in Arm mit ihm den Bürgersteig entlangzugehen. Wie immer zuckte sie unter der angespannten Stärke seiner Hände und Arme zusammen. Sie spürte, wie sich vor Erregung seine Muskeln verhärteten.

»Sag nichts«, schärfte ihr Jeffers in leisem, schrecklichem Ton ein. »Meide Augenkontakt, bis ich meine Wahl getroffen habe. Aber lächle und mach ein glückliches Gesicht.«

Sie gab sich Mühe, auch wenn sie wusste, dass sie allenfalls erbärmlich wirken musste. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, gleichmäßig zu laufen.

Sie wusste, was passieren würde, oder zumindest, dass ein weiterer Alptraum wie der mit dem Obdachlosen bevorstand und sie nichts dagegen machen konnte. Ihr wäre auch nichts eingefallen, außer zu tun, was er sagte.

Sieh in den Himmel, sagte sie sich. Starre zu den wenigen Lichtern hoch. Sie sah den Mond, der in den Zweigen eines Baums zu hängen schien, und musste plötzlich an eine Melodie aus ihrer Kindheit denken: »Der Fuchs ging hinaus in die kalte Nacht … da hat er den Mond gefragt … ob er ihm leuchten wollte … wenn er sich über die Felder trollte bis zur weiten Stadt, Stadt, Stadt.« Die Musik strömte ihr wie eine beruhigende Woge durch den Kopf.

Dreimal liefen sie um den Block, und jedes Mal kamen sie an einem Paar oder auch einem Dreiergespann von Männern vorbei, das durch das Dunkel der Gasse eilte. Als sie sich auf ihrer vierten Runde ihrem Wagen näherten, merkte sie, wie sich Jeffers neben ihr anspannte, und sie beobachtete, wie er die Hand in seine Kameratasche steckte.

»Das könnte er sein«, meinte er.

Sie liefen weiter auf den einsamen Mann zu, der ihnen entgegenkam.

»Etwas langsamer«, sagte Jeffers. »Ich will im Schatten des Baumes an dem Kerl vorbei.«

Sie sah, dass sie genauso weit von dem Baum entfernt waren wie der Mann, der mit seiner schieren Körpergröße einen Schatten warf.

»Lächeln«, befahl Jeffers.

Sie fühlte sich plötzlich von einer heftigen Unterströmung in die See hinausgezogen. Sie klammerte sich an seinen Arm, weil sie fürchtete, plötzlich zu stolpern oder in Ohnmacht zu fallen.

Jeffers schärfte all seine Sinne. Er spähte blitzschnell in alle Richtungen und registrierte die Leere. Sein Gehör war auf jedes noch so leise außergewöhnliche Geräusch eingestimmt. Er hob sogar die Nase witternd in die Luft. Er glaubte, in Flammen zu stehen oder verliebt zu sein. Sämtliche Nervenenden in seinem Körper waren aufs höchste gespannt und pochten. In seiner Hand schien das Metall der Pistole heiß zu glühen. Er zwang sich, seine Schritte genau zu bemessen und langsam zu gehen, damit er den Mann genau im richtigen Moment erreichte, dem dunkelsten Moment.

Ein Todesmarsch, musste er auf einmal denken.

Jeffers bemaß die Distanz: Knapp zwanzig Meter. Dann plötzlich nur noch sechs. Dann drei, und er nickte dem Mann mit einem Lächeln zu.

Der Mann war jung, wahrscheinlich nicht älter als fünfundzwanzig.

Wer bist du?, fragte sich Jeffers für einen Augenblick. Hast du dein Leben geliebt? Der Mann trug das blonde Haar an den Schläfen und im Nacken kurz. Jeffers sah einen kleinen Goldstecker in einem Ohr. Er war mit einem schlichten, offenen Sporthemd und einer Hose bekleidet, dazu hatte er betont leger einen Pullover um die Schultern geschlungen.

Jeffers nickte dem Mann noch einmal zu und bekam ein etwas nervöses, schwaches Lächeln zurück. Jeffers drückte Anne Hampton fest in den Arm und registrierte das gewünschte Lächeln in ihrem Gesicht.

Der Mann war gleichauf, dann vorbei.

Als er gerade aus seinem Blickfeld verschwand, zog Jeffers die Waffe aus der Tasche und legte den Finger an den Abzug.

Ihm blieb gerade genug Zeit, sich zur Ruhe zu mahnen.

Dann wirbelte er herum, sprang direkt hinter den Mann, ließ Anne Hamptons Arm los und legte beide Hände um den Pistolenkolben. Als der Lauf exakt auf den Kopf des Mannes gerichtet war, feuerte Jeffers zweimal.

Das Krachen hallte durch die Straße.

Der Mann kippte nach vorn und schlug auf den Bürgersteig.

Anne Hampton stand da wie gelähmt. Sie versuchte, die Hände vor die Augen zu legen, rührte sich aber nicht, sondern starrte nur entsetzt auf die Stelle.

Jeffers war im selben Moment über dem Mann, der mit dem Gesicht nach unten in einer immer größer werdenden Blutlache lag. Er achtete darauf, weder den Mann noch das Blut zu berühren. Der Mann bewegte sich nicht. Jeffers beugte sich nach unten, gab noch einen Schuss in den Rücken, in die Herzgegend ab. Dann steckte er mit einer einzigen fließenden Bewegung die Pistole zurück und zog dafür die Nikon heraus. Er hob sie ans Auge, und sie hörte das Surren des Motordrives, der den Film transportiert. Ebenso schnell war er fertig und schob die Kamera wieder in die Tasche.

Er packte Anne Hampton am Arm und zerrte sie Richtung Wagen.

Er riss die Tür auf und warf sie auf den Sitz. Im nächsten Moment war er auf der Fahrerseite und sprang hinein. Er fuhr nicht mit quietschenden Reifen weg, sondern warf ruhig und sicher den Motor an, dann rollte er langsam an der Leiche auf dem Bürgersteig vorbei.

Binnen Sekunden waren sie weg.

Sie sah, dass Jeffers eine geplante Route fuhr. Sie spürte, wie er sich konzentrierte, so als brächte er mit seiner schieren Intelligenz ein empfindsames Sinnesorgan hervor. Nach einer Viertelstunde sah sie, dass sie eine verlassene Stelle in einer Lagerhausgegend unweit vom Zentrum erreicht hatten. Jeffers hielt an und stieg wortlos aus. Sie wartete darauf, dass er sie aus dem Wagen ließ, doch das geschah nicht.

Am Heck entfernte er das Nummernschild von Missouri, wischte es mit einem Lappen ab und warf es in eine dunkle Plastiktüte. Die Tüte wiederum warf er in einen Abfallbehälter und kletterte extra daran hinauf, um sich davon zu überzeugen, dass die Tüte sich mitten zwischen anderem Müll befand.

Er stieg wieder ein, und sie fuhren durch die Stadt in eine Vorortgegend. Jeffers hielt an einem kleinen Laden und nutzte das Licht, um zu sehen, was er tat: Zuerst zog er wieder die Plastikhandschuhe an. Dann holte er den Umschlag mit dem Brief heraus, den er am Vormittag geschrieben hatte. Aus seinem Schnellhefter nahm er ein kleines braunes Kuvert. Er drehte es um, und Anne Hampton sah, wie eine Reihe Wörter herausflatterten, die aus Zeitungen ausgeschnitten schienen. Jeffers kramte eine Tube Kleber hervor und brachte damit die Wörter auf dem Umschlag an, dann klebte er ihn zu.

Erst jetzt redete er wieder mit ihr.

»Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich weiß zwar, dass sie von Papier keine Fingerabdrücke nehmen können, wenn ich mir nicht gerade die ganzen Hände mit Tinte vollschmiere. Aber der FBI hat jetzt diese neue spektrographische Ausrüstung, mit der ich mich gerade erst vertraut mache, damit können sie Enzyme aufschlüsseln und Gott weiß, was alles. Deshalb ja keine Spucke! Wenn ich diesen Umschlag hier anlecken würde, um ihn zuzukleben, könnten sie glatt meine Blutgruppe rauskriegen. Was sag ich, nach allem, was ich darüber weiß, hätten sie am Ende meine Sozialversicherungsnummer. Es ist also Vorsicht angesagt.«

Er sah sie an. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, und er wirkte fast wie ein aufgeregter kleiner Junge.

»Hör zu«, sagte er. »Kein Grund zur Sorge. Wir sind fertig. Wir sind davongekommen. Nur noch ein paar Kleinigkeiten, und wir haben unsere Schäfchen im Trockenen.«

Er hatte den Brief verschlossen und legte wieder den Gang ein. Im nächsten Moment fuhr er vor einem großen Postamt vor. Er sprang aus dem Wagen und steckte seine Sendung in einen der Briefkästen.

Als er wieder im Auto saß, erklärte er: »Jetzt nur noch die Waffe und die Munition, und alles ist erledigt. Aber darum brauchen wir uns erst morgen zu kümmern. Wann immer es uns beliebt.«

Als er wieder auf die Autobahn fuhr, schien er immer noch unter Adrenalin zu stehen. Anne Hampton drehte sich ein einziges Mal auf ihrem Sitz nach hinten um und blickte den verblassenden Lichtern der Großstadt hinterher.

Er sah, dass sie zitterte.

»Frierst du?«

Sie nickte.

Er tat nichts.

»Müde?«

Sie merkte, dass sie sich ausgelaugt fühlte. Wieder nickte sie.

»Hunger?«

Sie hatte Angst, dass sie sich übergeben müsste.

»Ich habe einen Bärenhunger«, sagte er.

Sie dachte nur, das hört nie auf.

Nach einer Weile ergriff er wieder das Wort. »Das ist absolut verrückt«, erklärte er in gleichmütigem Ton. »Der Schwulenhasser, der in St. Louis all diese Homos umgebracht hat – ich glaube, bis heute Nacht waren es sieben –, der schreibt immer in Reimen. Jedenfalls stand das im Post-Dispatch

Jeffers schüttelte den Kopf.

»Die Zeitungen haben ihm keinen Spitznamen gegeben, was irgendwie seltsam ist. Ich meine, bei solchen Serienmorden, da finden sie normalerweise ein Etikett für den armen Kerl. Zum Beispiel der Schwulenkiller oder Schwuchtelschreck oder was ähnlich albern Obszönes.«

Er schaute sie an und sah die Müdigkeit in ihren Augen.

»Verstehst du eigentlich, was da eben passiert ist?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie dumpf.

Er beugte sich zu ihr hinüber und ohrfeigte sie, aber nicht heftig, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich fertig war.

Das Klatschen auf ihrer Wange schreckte Anne Hampton aus ihrer Lethargie auf, die sie seit den Schüssen auf der Straße übermannt hatte.

»Begreifst du, was wirklich passiert ist?«, wiederholte er seine Frage.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir haben gerade eine ziemlich gute Kopie einer Verbrechensserie hingelegt, die diese schöne Stadt im Lauf der letzten achtzehn oder zwanzig Monate beschäftigt hat. Die Polizei nennt so etwas einen Trittbrettfahrermord. Weißt du, die enthalten der Presse immer das eine oder andere Detail vor, damit sie erkennen können, wer es tatsächlich gewesen ist. Trittbrettfahrer sind für die Cops schrecklich frustrierend. Man muss das verstehen: Während sie sich sämtliche Beine ausreißen, um den Irren zu finden, pfuscht ihnen ein anderer Spinner ins Handwerk. Es kostet sie Zeit, ich meine, richtig viele Dienststunden, Ordnung in das Ganze zu bringen. Bis das Sonderkommando, das auf den Killer angesetzt ist, rausbekommt, was passiert ist, sind wir längst verschwunden. Keine Beweise. Keine heiße Spur …«

Sie sah, dass er lächelte – ein Grinsekatzen-Grinsen.

»Aber glaub ja nicht, das Ganze sei völlig ohne Risiko. Jemand könnte uns aus einer der Wohnungen heraus beobachtet haben. Vielleicht hab ich etwas fallengelassen, oder du, ohne dass wir es gemerkt haben. Etwas, das einem mürrischen, hartnäckigen Kripobeamten einen ersten Hinweis liefert. Weißt du, darin liegt ja gerade der Reiz. Das Warten darauf, dass es an der Tür klopft.«

Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, und das Geräusch erschreckte sie.

»Siehst du, das hab ich bei meinen ausführlichen Studien begriffen. Gewöhnlich findet die Polizei die Mörder, weil Täter und Opfer in irgendeiner Beziehung stehen, die dem Mord vorausgeht. Sie müssen nur noch herausfinden, welche Beziehung zu dem Verbrechen geführt hat. So läuft das in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle. Dann sind da noch die Serienmörder, deren Verbrechen einem deutlichen Muster folgen. Natürlich sind die ziemlich schwer zu lösen, weil die Killer mobil sind. Überschreiten die Fälle den Zuständigkeitsbereich einer Dienststelle, verwirren sie die Bürokratie. Aber ich habe großen Respekt vor der Polizei. Die haben schon mehr von diesen Fällen gelöst, als man meinen sollte. Oft genug, weil der arme Irre etwas anderes vermasselt und sich die Cops dann wie Haie auf ihn stürzen. Die Intuition eines Polizisten sollte man nie unterschätzen, sage ich immer. Aber trotzdem sind natürlich willkürliche Morde, die kein Muster erkennen lassen, die schwierigsten Fälle für sie. Eine Zeitlang hab ich überlegt, ob ich mich darauf spezia lisieren sollte. Einfach in irgendeine Stadt fahren, mir wahllos ein armes Schwein herauspicken und wegblasen. Aber dann wurde mir klar, dass das in sich auch wieder ein Muster abgeben würde, und irgendwann würde das irgendeinem Cop wie Schuppen von den Augen fallen. Das ist die Theorie von den Millionen Affen an Millionen Schreibmaschinen. Irgendwann wird einer von ihnen Shakespeares gesammelte Werke tippen. Was blieb mir also übrig?«

Anne Hampton ging nicht wirklich davon aus, dass er eine Antwort von ihr erwartete.

»Ich musste dieses Willkürprinzip mit einem Muster verbinden. Ich hab mir den Kopf zermartert. Ich hab gerechnet. Ich hab geschätzt. Und weißt du, was am Ende dabei rauskam?«

Wieder blieb sie stumm.

Seine Stimme hypnotisierte sie.

»Ein Plan von großer Einfachheit und damit von großer Schönheit.«

Er lächelte.

»Ich ahme andere nach. Ich lerne nie aus. Ich bringe alles über einen Autobahn-Killer, einen Campus-Killer oder einen Green-Mountain-Killer in Erfahrung. Die Presse ist mit diesen Titulierungen nur allzu gern behilflich. Dann geh ich los und plane eine möglichst gute Kopie. Also hat die Polizei, die mitten in ganz anderen und scheinbar wichtigeren Ermittlungen steckt, diesen neuen Fall mit leichten Abweichungen am Hals. Sie lassen ihn links liegen. Er wird möglichst schnell zu den Akten gelegt.«

Er holte tief Luft. »Die meisten Mörder lassen sich schnappen, weil sie in ihrer Arroganz und ihrem Trieb eine Handschrift hinterlassen. Ich bin da viel bescheidener. Mir ist der Akt als solcher wichtig. Ohne meine Unterschrift darunterzusetzen. Also schlüpfe ich, um zu morden, in die Haut eines anderen. Ich versetze mich in diese andere Person. Ich verwende Einzelheiten, die ich kenne oder die ich erschließen kann, und erfreue mich an meiner eigenen Perfektion im Detail. Ich komme an. Ich morde. Ich gehe wieder. Und niemand außer mir selbst wird daraus klug.«

Er legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr: »Nur dass ich allzu versiert, allzu vorsichtig geworden bin. Zu clever, zu perfekt.« Er schüttelte den Kopf.

»Das Klopfen an der Tür? Ein Haftbefehl? Ist noch nie vorgekommen. Ich will mich damit nicht brüsten. Das hat mit Effizienz und Selbstvertrauen zu tun.«

Sie glaubte, einen traurigen Unterton herauszuhören.

»Da geht der Nervenkitzel verloren.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Es ist, ganz platt gesagt, einfach viel zu leicht geworden.«

»Deshalb bist du hier«, erklärte er in sachlichem Ton. »Du sollst mir helfen, das Ganze zu einem angemessenen, passenden und gebührend explosiven Schluss zu bringen.«

Er sah wieder nach vorne.

»Du kannst jetzt ruhig schlafen«, sagte er. »Ich bin ein bisschen überdreht. Am besten fahre ich einfach eine Weile weiter.« Mit einem Mal empfand er eine große, angenehme Erleichterung. Er dachte: Da, endlich. Ich habe es jemandem erzählt. Jetzt wird es bekannt.

»Jetzt fahren wir nach Hause«, meinte Jeffers. »Auf Umwegen natürlich. Aber nach Hause. Gute Nacht, Boswell.«

Sie hörte seine Stimme, und das Wort drang ihr ins Bewusstsein: nach Hause.

Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte kein klares Bild von ihrem Zuhause und ihren Eltern heraufbeschwören. Stattdessen schien alles, was ihr im Kopf aufblitzte, fern und nebulös, wie hinter einer dünnen Schicht versteckt, und sie hatte Mühe zu sagen, woran das lag, auch wenn sie wusste, dass es ihr Angst einflößte.

Sie spürte den Schub, als er Gas gab, und schloss die Augen, um sich in ihren neuen Alptraum zu fügen.