10.

Sie legte gegen die grelle Mittagssonne die Hand über die Augen und hätte beinahe das kleine, quadratische, grüne Schild am Straßenrand übersehen. Es war ein paar Meter weiter zurückgesetzt als die meisten Straßenschilder, vermutlich ein Eingeständnis an den Unwillen der Nachbarschaft. Wer wohnt schon gern in der Nähe eines Gefängnisses? Auf dem Schild stand: EINSTUFUNGS- UND BEWERTUNGSZENTRUM, STRAFVOLLZUGSBEHÖRDE DES BUNDESSTAATES FLORIDA, NÄCHSTE STRASSE RECHTS. Hundert Meter hinter dem Schild bog eine schwarze Asphaltstraße ab. Sie führte zwischen zwei Gruppen hoher Tannen hindurch, deren Nadeln unter der unbarmherzigen Sommersonne Floridas eine bräunlich grüne Farbe angenommen hatten. Detective Barren fuhr langsam an einer riesigen Weide vorbei, die trotzig ihren Schatten warf. Die Straße führte über eine braune Wiese, auf der ein paar Rinder zufrieden dösten, dann trat eine Gruppe niedriger, grauer Gebäude ins Blickfeld, die in der Hitze zu glühen schienen.

Detective Barren hielt an, um ein großes schwarzgelbes Schild zu studieren, das die linke Seite der Straße beherrschte: ACHTUNG. WER DIESE LINIE ÜBERSCHREITET, WIRD DURCHSUCHT. DAS MITFÜHREN VERBOTENER GEGENSTÄNDE IN DAS EINSTUFUNGS- UND BEWERTUNGSZENTRUM WIRD STRAFRECHTLICH VERFOLGT. Quer über die Straße war ein breiter, gelber Streifen gemalt. Detective Barren trat leicht aufs Gas und sah vor sich einen drei bis vier Meter hohen, mit Stacheldraht bewehrten Maschendrahtzaun, der die Gebäudegruppe umschloss.

Sie stellte den Wagen auf einem Besucherparkplatz ab und lief zu einer breiten Glastür hinüber. Einem weiteren Schild entnahm sie, dass in diesem Gebäude die Gefängnisverwaltung untergebracht war, auch wenn das Wort »Gefängnis« nicht genannt wurde. Das war bezeichnend. Wir leben im Zeitalter der Aufklärung, das offenbar nicht ohne Euphemismen auskommt, dachte sie. Und so sind Gefängnisse Vollzugsanstalten, in denen Vollzugsbeamte und nicht Wärter ihren Dienst versehen und nicht Gefangene, sondern Insassen untergebracht sind. Wir brauchen nur das Etikett zu ändern, so scheinen wir zu glauben, und schon ist die Realität weniger böse und abstoßend, auch wenn sich in Wahrheit nichts ändert. Sie trat durch die Tür in das kühle Gebäude, wo sich ihre Augen erst an das Dunkel gewöhnen mussten. Sie begab sich zur Rezeption.

In wenigen Minuten hatte sie ihre Automatik von einem uniformierten Wachmann überprüfen lassen, der sie misstrauisch beäugte, als sie die schwere Pistole aus dem Halfter zog. Anschließend wurde sie in ein kleines Büro geführt, an dessen Tür der Name Arthur Gonzales mit dem Titel »Einstufungsbeauftragter« prangte. Es war ein beengter, von Aktenschränken überfüllter Raum mit einem kleinen, vollgepackten Schreibtisch und zwei Stühlen sowie einem Fenster zum Gefängnishof. Detective Barren starrte hinaus und sah einer kleinen Gruppe Männer beim Basketballspiel zu. Sie hatten die Oberkörper entblößt, so dass ihre verschwitzte Haut in der Sonne glänzte. Das Fenster war wegen der Klimaanlage geschlossen, und Detective Barren konnte die Männer nicht hören. Dennoch waren ihr die Geräusche, die sie machten, wenn sie mit Sportschuhen auf dem Zementboden sprangen und mit ihren Körpern zusammentrafen, bestens vertraut.

Sie dachte an ihren Mann, der das Spiel geliebt hatte.

»Du erreichst einen Punkt, Merce, eine Grenze, irgendwie so etwas, da kommst du auf Hochtouren. Ich kenne keinen anderen Sport, bei dem das so ist, es packt dich einfach, und du hast das Gefühl, du kannst werfen, was du willst, und es fällt in den Korb. Wie im Rausch. Wie unter Strom. Es ist schwer zu beschreiben, aber manchmal kommt es dir so vor, als könntest du ein kleines bisschen höher und schneller springen und der Korb ist plötzlich näher und der Ring weiter, und du weißt einfach, dass du triffst. Irgendwann im Verlauf des Spiels passiert das. Ich weiß auch nicht wieso. Und kaum ist das Gefühl da, verschwindet es schon wieder. Der Ball titscht umher. Dir werden die Füße schwer. Der Zauber verfliegt. Vielleicht wechselt er zu jemand anderem. Mit einem Mal wird man traurigerweise wieder zu einem gewöhnlichen Sterblichen. Aber diese kurzen Augenblicke der Unsterblichkeit, Merce, die haben was. Es ist, als hätten dich für einen Moment die Götter gesegnet. Und dann überlegen sie es sich plötzlich anders und picken sich den nächsten Spieler heraus, und du kommst in Schwierigkeiten …«

Sie schmunzelte.

Im Sommer nahm er sie morgens mit zu den Plätzen im Freien, und sie spielten gegeneinander. Zuerst beschränkte er sich darauf, nur mit der linken Hand zu werfen. Doch eines Morgens schlug sie ihn kichernd aus dem Laufen heraus mit einem Sprungwurf.

Wieder schmunzelte sie bei dem Gedanken, wie albern sich Männer bei ihren Spielen benehmen konnten. Albern, aber auch irgendwie wundervoll. Was ihr an John so gefiel, war, dass er noch am selben Morgen das Ereignis ihrer Familie verkündete. Und ohne eine Ausrede. Natürlich wechselte er am nächsten Tag den Ball von links nach rechts und preschte elegant an ihr vorbei. Auf diese Weise machte er ihr klar, dass sich die Spielregeln geändert hatten.

»Pfuscher!«, hatte sie gebrüllt.

»Nein, nein, nein«, hatte er protestiert. »Wir stellen nur die natürliche Balance zwischen den Geschlechtern wieder her.«

In dieser Nacht war er besonders zärtlich und behutsam gewesen, als er sie berührte.

Detective Barren schüttelte den Kopf und musste bei der Erinnerung unwillkürlich grinsen.

Als sie hinter sich die Tür aufgehen hörte, drehte sie sich um. Ein rundlicher Mann in hellbrauner Double-Knit-Hose und weißem Leinenhemd betrat den Raum. Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Hallo, Detective, wie kann ich Ihnen helfen?«, wenn auch in einem Ton, der deutlich machte, dass er sich lieber eine Krankheit einfangen wollte, als einen Finger für sie zu rühren. Er vergrub sich augenblicklich in den Papierstapeln auf seinem Tisch, als wollte er deutlich machen, dass ihre Anwesenheit nur einen Bruchteil seiner Aufmerksamkeit erforderte.

Alle Kripobeamten gehen Gefängnispersonal lieber aus dem Weg, dachte sie. Weil sie sich immer so benehmen. Sie sind nur auf Logistik und Kontrolle bedacht – wer wohin kommt und welches Bett ihm zugewiesen wird. Schuld oder Unschuld interessiert sie herzlich wenig.

Sie nahm ihm gegenüber Platz.

»Sadegh Rhotzbadegh.«

»Der gehört zu meinen Klienten, ja …«

Wieder ein Euphemismus, dachte Detective Barren.

»Ich würde ihn gern zu etwas befragen, wenn ich darf.«

»Geht es um ein ähnliches Delikt, wie diejenigen, die er gestanden hat?«

»Ja.«

»Und das hier ist ein offizielles Ersuchen?«

»Nein. Eigentlich nicht.«

»Nicht? Aber selbst dann würde ich ihm vermutlich raten, sich einen Rechtsbeistand zu nehmen, bevor er mit Ihnen spricht …«

Auf welcher Seite stehst du eigentlich?, fragte sich Detective Barren wütend. Doch sie verkniff sich eine Bemerkung.

»Mr. Gonzales, es geht um ein zwangloses Gespräch, kein Verhör. Ich glaube, Mr. Rhotzbadegh wird mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht, das er nicht begangen hat, und ich denke, er kann die Sache schnell aufklären. Natürlich hat er das Recht auf einen Anwalt. Wenn nötig, werde ich ihm seine Rechte verlesen …«

Sie sah ihr Gegenüber eindringlich an.

»… aber Sie haben ganz sicher nicht das Recht, ihm irgendwelche Auskünfte zu erteilen. Und schon gar nicht irgendwelche Ratschläge. Wenn Sie allerdings wünschen, dass ich mit Ihrem Vorgesetzten spreche …«

»Nein, selbstverständlich, das wird nicht nötig sein.«

Er wühlte hastig in seinen Papieren.

»Und?«

»Nun, Mr. Rhotzbadegh hat gerade Hofgang. Danach ist bis zum Abendessen Ruhezeit. Da können Sie mit ihm reden … falls er das möchte. Er hat natürlich das Recht, ein Gespräch zu verweigern …«

»Aber Sie werden sicher dafür sorgen, dass er von diesem Recht keinen Gebrauch macht.«

»Nun, ich kann natürlich nicht …«

»Und ob Sie das können. Ich bin nicht dreieinhalb Stunden hierhergefahren, um mir von einem rechtskräftig verurteilten Mörder sagen zu lassen: ›Nein danke, heute passt es mir gerade nicht.‹ Schnappen Sie ihn sich und bringen Sie ihn in einen Raum, in dem ich ungestört mit ihm reden kann. Falls er einfach nur dasitzen und schweigen will, nun gut, das ist eine Sache zwischen ihm und mir, und nicht Ihnen.«

»Einen Raum kann ich besorgen. Aber …«

»Aber was?«

»Nun, wir sind gerade mit unserer Einstufung durch, und er soll Ende dieser Woche überstellt werden …«

»Ja, und?«

»Nun, er kommt in die psychiatrische Anstalt in Gainesville. Wir glauben, dass er unter den gewöhnlichen Insassen nicht sicher wäre.«

»Sie glauben, dass er nicht sicher wäre!«

»Nun ja, er hat Kompensationsstörungen …«

»Und Sie meinen im Ernst, Sie müssten ihn schützen!«

»Zu diesem Schluss ist der Bewertungs- und Einstufungsausschuss gekommen.«

»Sie schicken ihn also in einen Countryklub?«

»Es ist ein Hochsicherheitstrakt.«

»Klar doch.«

»Na, jedenfalls, da soll er hin.«

»Ich fasse es nicht.«

»Detective, wenn wir ihn ins Staatsgefängnis schicken, bringt ihn jemand um. Er ist – mir fällt kein anderes Wort ein – widerwärtig und praktisch psychotisch. Die anderen Männer kommen mit seinem religiösen Gefasel nicht zurecht. Oder seinem arroganten Gehabe. Selbst ohne diese, äh, Eigentümlichkeiten haben es Vergewaltiger im Allgemeinen nicht leicht. Was soll ich sagen?«

Detective Barren ließ die Nachricht langsam wirken. Sie bekam einen trockenen Mund, und ihr drehte sich der Magen um. Sie schüttelte den Kopf.

»Sorgen Sie einfach nur für ein Vernehmungszimmer.«

 

Als Sadegh Rhotzbadegh das kleine Büro betrat, huschten seine Blicke wild hin und her, als wollte er sich Zuschnitt und Ausstattung des Zimmers ins Gedächtnis brennen. Als er mit seiner Einschätzung fertig war, richtete er den Blick auf Detective Barren, die geduldig an dem kleinen Tisch in der Mitte saß. Dieser Tisch sowie zwei Stühle bildeten das einzige Mobiliar.

Rhotzbadegh starrte sie an, machte plötzlich einen Schritt nach vorn, zögerte und trat wieder zurück, während ihm zuerst Wut, dann Furcht ins Gesicht geschrieben stand. Am Ende fügte er sich in die Situation. Er blieb stehen und wartete auf eine Reaktion der Polizistin. Detective Barren winkte ihn heran und deutete auf den Stuhl ihr gegenüber.

Er hat zugenommen, dachte sie, und ist nicht mehr so drahtig und kräftig. Der stärkehaltige Gefängnisfraß, vermutete sie. Rhotzbadegh setzte sich, wand sich unruhig auf seinem Stuhl und kam schließlich auf der Kante zur Ruhe. Ein wenig vorgebeugt sah er Detective Barren misstrauisch an. Sie erwiderte seinen Blick und hielt ihm stand, bis er wegsah.

»Zunächst einmal möchte ich Ihnen Ihre Rechte verlesen«, begann sie. »Sie haben das Recht zu schweigen, das Recht, einen Anwalt …«

Er unterbrach sie.

»Die sind mir bestens vertraut. Habe ich oft genug gehört. Sagen Sie mir lieber, warum Sie gekommen sind, um mit Sadegh Rhotzbadegh zu sprechen! Wieso haben Sie ihn in seiner Ruhe gestört?«

»Sie wissen, warum.«

Er lachte.

»Nein, das müssen Sie mir schon sagen.«

»Susan Lewis. Meine Nichte.«

»Ich kann mich an den Namen entsinnen, aber nur undeutlich, wie in einem Traum. Helfen Sie mir, damit ich mich besser erinnern kann.«

»September. Der Studententreff der University of Miami.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.« Er lachte wieder und fuhr dann fort: »Wieso sollte ich mich an diese Person erinnern?«

Er kicherte wie ein Mädchen.

»Welchen Grund hätte ich, mich an diese Person zu erinnern? Ist sie jemand Besonderes, Bemerkenswertes? Vielleicht jemand Wichtiges? Ich glaube nicht. Folglich gibt es keinen Grund, weshalb Sadegh Rhotzbadegh sich an diese Person erinnern sollte.«

Rhotzbadegh lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme über der Brust und grinste selbstzufrieden.

Detective Barren atmete tief durch und sah ihn mit einem durchbohrenden Blick an. Sie wartete einen Moment, dann sagte sie in leisem, modulationslosem, unfreundlichem Ton: »Weil ich Ihnen hier und jetzt eigenhändig das Gesicht herunterreiße, falls Sie sich nicht augenblicklich erinnern.«

Rhotzbadegh verspannte sich auf seinem Stuhl und wirkte eingeschüchtert.

»Das können Sie nicht machen!«

»Ich würde es an Ihrer Stelle nicht drauf ankommen lassen.«

Er neigte sich vor, hob den Arm und zeigte Detective Barren den gespannten Bizeps. »Glauben Sie wirklich, dass Sie dafür stark genug sind …«

Sie beugte sich ebenfalls vor.

»Was meinen Sie?«

Sie folgte seinem Blick, der zu ergründen versuchte, wie ernst sie es meinte. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und starrte ihn mit eiserner Miene an. Rhotzbadegh begann plötzlich zu schluchzen und legte die Hände vors Gesicht.

»Ich hab Alpträume«, wimmerte er.

»Das will ich verdammt noch mal hoffen«, erwiderte Detective Barren.

»Ich sehe Gesichter, Menschen, aber ich kann mich nicht an ihre Namen erinnern.«

»Ich weiß, wer diese Leute sind.«

Tränen flossen seine Wangen herab, und er wischte sie weg.

»Gott ist nicht mehr mit mir. Jetzt nicht mehr. Ich fühle mich verlassen.«

»Vielleicht war er nicht glücklich über das, was Sie getan haben, verdammt noch mal.«

»Nein! Er hat es mir befohlen!«

»Sie haben ihn missverstanden.«

Rhotzbadegh schwieg. Er zog ein zerknülltes Taschentuch aus der Hose und schneuzte sich dreimal fest.

»Das«, gab er in vollkommen verzweifeltem Ton zu, »ist nicht auszuschließen.«

Er wischte sich energisch die Nase.

»Trotzdem«, fuhr er fort, »ich werde ihm weiter nacheifern. Ich werde seine Botschaften beherzigen und den wahren Pfad finden. Dann wird er mich im Paradies an seine Brust nehmen, und ich werde in alle Ewigkeit dort wandeln.«

»Großartig. Ich gratuliere.«

Ihr Sarkasmus entging ihm.

»Danke«, sagte er.

Detective Barren griff in ihre Tasche am Boden und zog ein einfaches Schülerlineal heraus. »Strecken Sie Ihre Hand aus«, wies sie ihn an. »Spreizen Sie die Finger.«

Rhotzbadegh gehorchte. Sie hielt das Lineal an seine Hand. Der Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger betrug vierzehneinhalb Zentimeter. Verdammt, dachte Sie. Die Male könnten von ihm stammen.

»Meine Hände strecken sich Gott entgegen«, beteuerte er.

»Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie ihn zu fassen kriegen.«

Wieder sah sich Rhotzbadegh im Zimmer um. Dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. Er lief zur Wand und drückte den Rücken fest dagegen. Dann schritt er den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand ab und zählte dabei bis einundzwanzig. Wie bei einer Militärparade machte er kehrt und begab sich wieder auf seinen Platz.

»Einundzwanzig Schritte«, sagte er und schüttelte ungläubig den Kopf. »Einundzwanzig volle Schritte.« Er sprang auf und machte einen Satz zu der Wand gegenüber von Detective Barren. Dann schritt er die Distanz in dieser Richtung ab und sah nicht einmal auf, als er an der Kripobeamtin vorbeikam.

»Neunzehn!«

Erneut kehrte er auf seinen Platz zurück.

»Meine Zelle misst nur neun mal acht Schritt. Ich fühle mich manchmal, als hätten sie mein Herz in einen Käfig gezwängt.«

Er legte den Kopf in die Hände und schluchzte. »Sie lassen mich nicht mit den anderen Männern in den Hof«, wimmerte er. »Sie fürchten um meine Sicherheit. Sie glauben, dass ich getötet werde. Ich kann nachts nicht schlafen. Ich kann nicht essen. Ich fürchte, mein Essen schmeckt nach Gift. Sie haben mir etwas ins Wasser getan, so dass ich benommen werde, und dann werden sie kommen und mich töten. Ich muss auf Schritt und Tritt gegen sie ankämpfen.«

»Die Mädchen?«

»Die sind die schlimmsten. Sie kommen in meinen Träumen und helfen diesen Männern, die mich umbringen wollen.«

»Wer sind die Mädchen?«

»Ich weiß nicht …«

»Das könnte Ihnen so passen! Denken Sie nach! Verdammt, ich will Antworten.«

Rhotzbadegh rümpfte in gespieltem Snobismus die Nase.

»Es sind meine Träume. Ich muss Ihnen nicht davon erzählen.«

Detective Barren starrte den kleinen Mann unerbittlich an, doch innerlich seufzte sie. Zwecklos, dachte sie. Seine Gedanken gehen in alle Richtungen, nur nicht dahin, wo ich sie haben will. Sie griff in ihre Tasche und zog ein einfaches Jahrbuchfoto ihrer Nichte heraus.

»Erscheint die Ihnen auch im Traum?«

Rhotzbadegh betrachtete das Bild. Er schnappte es sich vom Tisch und hielt es sich dicht ans Gesicht, dann wieder auf Armeslänge.

»Die nicht so direkt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie erscheint mir im Traum, aber sie sieht nur den anderen zu. Sie weint allein. Die anderen sind meine Peiniger.«

In einer konspirativen Geste beugte er sich vor und erklärte leise: »Manchmal lachen sie mich aus! Aber ich lebe noch, und wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Detective Barren nahm das Bild und hielt es Rhotzbadegh direkt vor die Augen. Mit erhobener Stimme in forderndem, angsteinflößendem Ton legte sie alles Gewicht in eine einzige Frage hinein: »Haben Sie diese junge Frau getötet?«

Es herrschte Schweigen.

»Haben Sie sie vom Parkplatz vor dem Studententreff der University of Miami entführt?«

Wieder Schweigen.

»Haben Sie sie auf den Kopf geschlagen, sie in den Matheson-Hammock-Park geschafft und dort sterben lassen?«

Er erwiderte nichts.

Detective Barren ließ das Foto sinken und starrte Rhotzbadegh an. Sie merkte, wie der Hass sich allmählich verflüchtigte und ein leeres Gefühl hinterließ. Seine Augen waren erneut feucht geworden, während er sich vor ihren zornigen Fragen geduckt hatte.

Sie empfand kein Mitleid, nichts, nur das Bedürfnis, dieses Vakuum zu füllen.

»Sagen Sie es mir!«, flüsterte sie.

Für einen Moment legte er wieder das Gesicht in die Hände, dann sah er sie an. »Ich kann es nicht sagen!«, schluchzte er. »Ich kann es nicht sagen!«

Er holte tief Luft und wand sich auf seinem Stuhl, als bezöge er Prügel.

»Irgendwie erinnere ich mich schon. Es klingt so, als könnte ich es gewesen sein. Ich erinnere mich an den Studententreff, mit all dem Dreck, dem Tanz, Alkohol und Gelächter. Ein Ort der Sünde. Eines Tages wird Gott ihn mit einem großen Feuer reinigen. Das weiß ich …«

»Das Mädchen!«, unterbrach ihn Detective Barren.

»Ich war da. Mitten zwischen diesen Leibern. So viel weiß ich. Aber das andere …«

Er schüttelte den Kopf.

»Wozu haben Sie den Artikel aus der Zeitung ausgeschnitten?«

»Ich musste es dokumentieren! Wie sollte Gott sonst wissen, dass ich seine Wünsche erfüllt habe? Das war der Beweis!«

»Wieso brauchten Sie einen Beweis für diesen speziellen Mord?«

»Das ist es ja, was mich verwirrt«, wimmerte er. »Ich hatte meine – meine – meine Beweise von den anderen. Aber an diese Frau kann ich mich nicht erinnern.«

»Was sagt sie, wenn sie im Traum erscheint?«

»Sie sagt nichts. Sie steht abseits und sieht zu. Ich hasse sie nicht ganz so wie die anderen.«

Er schwieg.

»Ich muss schlafen. Gott gebe mir Schlaf. Können Sie mir helfen, Detective, dass ich wieder schlafen kann? Ich bin so müde, aber trotzdem kann ich nicht schlafen. Ich darf nicht. Sie kommen und quälen mich in meinen Träumen. Sobald ich die Augen schließe, schmieden meine Feinde ihr Komplott gegen mich. Ich werde dereinst nicht auferstehen.«

Er weinte leise weiter.

»Das macht Ihnen Angst?«, fragte Detective Barren.

Er wurde plötzlich unruhig, schoss vom Stuhl hoch und stand mit stolzgeschwellter Brust und angespannten Muskeln kerzengerade vor ihr.

Er klang nicht länger kläglich, sondern brüllte ihr ins Gesicht:

»Angst? Nichts macht Sadegh Rhotzbadegh Angst. Ich fürchte mich vor nichts!«

Er starrte Detective Barren an.

Nachdem sie beide eine Weile geschwiegen hatten, antwortete sie bedächtig: »Sollten Sie aber«, und stand auf.

 

Es war schon spät, als Detective Barren endlich ihre Wohnung erreichte. Sie war in verhaltenem, gleichmäßigem Tempo vom Bewertungszentrum zurückgefahren und hatte bereitwillig andere Autos vorbeirauschen lassen, während sie sich stur ans Tempolimit hielt. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, als gähnte in ihr ein Loch, als hätten sich die Organe in ihrem Körper irgendwie leicht verschoben. Bei dem Gedanken, wie der Gerichtsmediziner darauf reagieren würde, musste sie schmunzeln. Sie hörte, wie seine hohe Stimme in einen Sopran wechselte, während er ihren Bauch aufschnitt: »Was haben wir denn da, ihr Blinddarm hat sich verschoben! Ihre Milz ist gewandert! Ihr Magen hat sich selbständig gemacht! Ihr Herz hat das Weite gesucht!« Detective Barren lachte laut.

So weit hergeholt ist das eigentlich nicht, dachte sie.

Sie erinnerte sich an einen Besuch zwei Jahre nach John Barrens Tod, ein schmächtiger Mann, der ein wenig stotterte. Er hatte Johns Einheit angehört und ihr gegenüber in einem Restaurant gesessen, um ihr von ihrem Mann zu erzählen. Er sei sehr tapfer gewesen, berichtete der Mann. Einmal hatte er sich von den anderen, die ihn festhalten wollten, losgerissen, um den Späher zurückzubringen. So machten sie es immer, der Vietkong, sagte der Mann. Erst mal den Späher erschießen. Als Nächstes den Sanitäter, weil der immer springt. Dann die Männer abknallen, die dem Sanitäter etwas schuldig sind, also alle.

»John war der Beste von uns«, meinte der Mann.

Sie hatte genickt und nichts gesagt. Das war etwas, das sie bereits gewusst hatte, ohne dass es ihr jemand sagen musste.

»Ich wollte nur, dass Sie das erfahren«, erklärte der Mann. Er stand auf.

»Danke«, sagte sie, mehr seinet- als ihretwegen. »Es hilft.« Sie hatte bewusst gelogen.

»Das hatte ich gehofft«, erwiderte der Mann.

Er zögerte.

»Ich war der Sp-p-p-äher.«

Sie nickte. »Dachte ich mir.«

Sie hatten sich schweigend angesehen.

Schließlich hatte sie gefragt: »Und was haben Sie jetzt vor?«

Er lächelte. »Erst einmal zurück ins Lazarett. Mir weiter an den alten Eingeweiden herumschneiden lassen. Das ist das Problem, wenn man verwundet wird. Die Kugeln reißen verdammt viel kaputt. Die Militärärzte sind große Klasse im Improvisieren. Sie sind wie der Kerl, den jeder von der Highschool kennt, der Kerl, der an jedem Motor herumbasteln konnte – hier ein bisschen rumfummeln, dort ein bisschen adjustieren, bis das Ding wieder anständig läuft. Genau das machen sie mit mir. Sie haben einen Darm vor sich, der nach Norden zeigt, während der übrige Verdauungstrakt Richtung Süden weist, aber sie brauchen nicht lange, und schon stimmt die Landkarte wieder.«

»Und danach?«

Er hatte die Achseln gezuckt.

Immer wieder sah Detective Barren, wie der junge Mann angesichts der Wirklichkeit die Schultern hängen ließ. Immer wenn sie an den Krieg dachte, kam ihr dieser junge Verwundete in den Sinn, der auf die Frage nach seiner Zukunft nur die Achseln zuckte.

Sie fragte sich zuweilen, ob es bei John ähnlich gewesen wäre. Er hatte keine Enttäuschungen, Zurückweisung oder Pech kennengelernt. Er war nie gefeuert oder abgelehnt worden, hatte sich nie anhören müssen, er solle sich zum Teufel scheren. Er kannte keinen Verlust.

Anders als sie.

Detective Barren warf Block und Aktentasche auf den kleinen Schreibtisch, streifte die Schuhe ab und ging in die Küche. Sie holte etwas grünen Salat, Käse und Obst aus dem Kühlschrank. Kaninchenfutter, dachte sie. Sie machte sich einen Teller zurecht und stellte ihn auf den Tisch, dann ging sie ins Schlafzimmer und schlüpfte aus dem Rock. Sie wusch sich Gesicht und Hände und tappte barfuß und halbnackt wieder hinüber. Während sie aß, versuchte sie, nicht an Rhotzbadegh zu denken und die Verzweiflung im Zaum zu halten. Ihre Mahlzeit schmeckte nach nichts.

Er hätte direkt sein können, dachte sie wütend.

Träume! Verdammt! Er sieht sie im Traum, aber sie quält ihn nicht! Was zum Teufel soll das heißen? Dass er sie nicht umgebracht hat? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich.

Sie lächelte traurig und stellte sich vor, wie sie zu Detective Perry ging und verkündete: »Tolle Neuigkeiten! Der Mistkerl träumt! Damit wäre eindeutig bewiesen, dass er Susan nicht umgebracht hat.«

Sie schüttelte den Kopf.

Was für ein hoffnungsloses Schlamassel.

Sie aß den Salat auf und schob den Teller weg. Na schön, sagte sie sich. Genug. Genug! Hör auf, deine Zeit mit dem Araber zu verplempern!

Sieh zu, dass du einen klaren Kopf bekommst, und fang von vorne an.

Sie stand auf und trug ihr Geschirr zur Spüle. Sie wusch es gründlich ab und biss die Zähne zusammen, als sie in das brühend heiße Wasser griff. Sie räumte kurz auf und ging ins Wohnzimmer. Zum hunderttausendsten Mal starrte sie die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch an. Vielleicht auch zum Millionsten oder Trillionsten Mal. Die Lösung steckt irgendwo da drin, dachte sie. Irgendetwas muss da sein.

»Morgen früh«, befahl sie sich laut, »gehst du zum Morddezernat und suchst nach vergleichbaren Fällen. Dann überprüfst du das Vorstrafenregister bekannter Sexualverbrecher. Dann gehst du noch mal zur Uni und findest heraus, ob Susan irgendwelche Feinde hatte. Gib den Modus operandi beim National Crime Information Center ein. Vielleicht auch beim FBI. Überprüfe, ob es nach der Festnahme des Arabers ähnliche Delikte gegeben hat …

An diesem Punkt hielt sie inne. Sie sah aus dem Fenster.

»Irgendwo da draußen«, sagte sie.

Sie lächelte. Du hast dir doch wohl nicht eingebildet, dass es leicht wird. Du hast doch wohl nicht wirklich gehofft, du könntest beweisen, dass es nicht der Araber war, und dafür sorgen, dass die Ermittlungen offiziell wieder aufgenommen werden. Du bist nach wie vor ganz auf dich gestellt, und das ist gar nicht mal so schlecht.

Nein, ganz und gar nicht.

Sie betrachtete das Bild von Susan im Regal. Keine Sorge, dachte sie, ich schaff das, ich schaff das schon.

Dabei kamen ihr augenblicklich die Tränen hoch.

Sie wandte sich ab und starrte wieder in die schwarze tropische Nacht. Der Himmel war von Sternen übersät; einer dieser Punkte leuchtete strahlend hell, dann schoss er durchs All und verschwand.

»Verdammt«, murmelte sie und merkte, wie ihr die Tränen die Wangen herunterliefen. Doch sie wandte sich nicht ab.

Nachdem sie fünf Minuten einfach so stehen geblieben war, drehte sie sich endlich um. Sieh zu, dass du einen klaren Kopf bekommst, mahnte sie sich noch einmal. Sie ging zum Fernseher und schaltete ihn an. Sie war erstaunt, als sie zwei lokale Sportreporter angeregt vor laufender Kamera diskutieren sah, während sie im Hintergrund die Orange Bowl im Stadtzentrum von Miami erkannte.

»Also, da haben die Dolphins einen ziemlich aufregenden Start in die Vorsaison hingelegt«, sagte einer der Moderatoren.

»Wir gehen gleich ins letzte Viertel des ersten Freundschaftsspiels in diesem Jahr, mit einem Spielstand von vierundzwanzig zu zwanzig Punkten gegen die Saints.«

Sie hatte den Beginn der Football-Vorsaison verpasst. »Sieht dir gar nicht ähnlich«, meinte sie vorwurfsvoll. »Sieht dir ganz und gar nicht ähnlich …« Sie nahm ihr Weinglas und machte es sich vor dem Fernseher gemütlich.

»Die ideale Gehirnwäsche«, fand sie. »Kommt schon, Fins!«

Sie verfolgte den Spielverlauf mit unverhohlenem Vergnügen und ließ sich – allein in ihrem bequemen Sessel – von der Spannung gefangen nehmen, die ihre düsteren Gedanken vertrieb und die Tränen trocknete. Der Beginn einer neuen Saison, dachte sie. Für sie und für mich.

Etwa nach der Hälfte des vierten Viertels erzielten die Saints ein Feldtor und gingen mit drei Punkten in Führung. Eine Minute später ließ ein Neuling, der für die Dolphins spielte, den Ball auf seiner eigenen Dreißig-Yard-Linie fallen, was den Saints ein weiteres Feldtor einbrachte, so dass sie gegen Ende des Spiels mit sechs Punkten führten. In der hektischen Schlussphase fingen sich die Dolphins jedoch. Fast sekündlich holten sie Yards an Gelände auf, bis sie knapp eine Minute vor dem Schlusspfiff die Ein-Yard-Linie der Saints erreicht hatten. Beim Fourth Down war der Spielausgang in der Schwebe. »Kommt schon! Verdammt! Haut den Ball da rein!« Sie schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Na macht schon!«

Gespannt sah sie zu, wie der Quarterback an die Linie trat. »Rüber damit, verdammt! Hau ihn rüber!« Beide Teams verkeilten sich und warteten auf die Explosion in der Mitte, Kraft gegen Kraft. Ganz und gar nach ihrem Geschmack. »Nun knallt ihn schon rein!«, brüllte sie.

Plötzlich liefen die beiden Linien zusammen, und Detective Barren sah, wie sich der Quarterback um die eigene Achse drehte und den Ball an einen Halfback weitergab, der in die Mitte stürmte. Es gab einen gewaltigen Zusammenstoß, und der Lärmpegel in den Zuschauerreihen schwoll in gespannter Erwartung an. Als im nächsten Moment alle auf die Beine sprangen und einen gewaltigen Schrei losließen, schien das Stadion zu beben. Detective Barren war wie die Menschen auf der Tribüne auf den Füßen und ließ einen Laut, halb Angst-, halb Jubelschrei los, da sie wie die Zeugen vor Ort gesehen hatte, dass der Quarterback den Ball nicht wirklich abgegeben, sondern den Wechsel nur vorgetäuscht hatte, um in der nächsten Sekunde allein, mit aller Macht und ohne Deckung auf die Ecke der Endzone zuzurasen. Gleichzeitig steuerte der Outside Linebacker der Saints, ein wuchtiger, aggressiver Mann, im scharfen Winkel auf den Quarterback zu, so dass sie sich kurz vor der Torlinie, in der Ecke des Spielfelds treffen mussten. »Lauf! Lauf! Lauf!«, brüllte Detective Barren und stimmte in den Lärm ein, der aus dem Fernseher dröhnte. »Zieh den Kopf ein!«

Und genau das tat der Quarterback. Exakt in dem Moment, in dem er sich über die Torlinie stürzte, wurde er vom Linebacker gerammt. Beide Männer flogen in die Luft und rollten mit ganzer Wucht in eine Schar Fotografen, die sich für den idealen Schnappschuss nah der Torlinie versammelt hatten. Wie aufgescheuchte Gänse stoben die Kameraleute auseinander, um den heranfliegenden Körpern auszuweichen. Die Menge tobte, denn der Schiedsrichter hatte als Zeichen für einen Touchdown die Hände hochgerissen, und Detective Barren lehnte sich, ohne zu denken, einfach zurück und genoss den Siegestaumel.

Die Moderatoren plapperten aufgeregt drauflos.

»War das ein Zusammenprall an der Torlinie, was, Bob!«

»Also, ich muss schon sagen, das war ein beherzter Zug von diesem neuen Quarterback und eine harte Lektion über das Leben in der Nationalliga. Das war echtes Profiniveau.«

»Ich hoffe, den Fotografen ist nichts passiert …«

»Na ja, ich fürchte dieser Linebacker der Saints hat ein paar von denen auf dem Gewissen …«

Beide Männer lachten und schwiegen einen Moment.

»Wissen Sie was? Schalten wir doch mal zu Chuck aufs Spielfeld hinunter. Er steht gerade mit einigen Journalisten zusammen. Die haben eine richtig gute Nahansicht vom Touchdown bekommen, oder, Chuck?«

»Kann man wohl sagen, Ted. Ich stehe hier mit Pete Cross und Tim Chapman vom hiesigen Herald und Kathy Willens von der Associated Press zusammen. Erzählen Sie uns doch mal, was Sie gesehen haben …«

»Na ja«, begann einer der Fotografen, ein Mann mit hellbraunem Haar und Bart, »wir standen alle in Reih und Glied, um die beste Sicht auf den Schuss über die Linie zu kriegen, wissen Sie. Und auf einmal sehen wir …«

Die junge Frau unterbrach ihn: »… sehen wir, wie diese beiden feuerspeienden Berserker auf uns zufliegen und …«

»Ich musste Kathy packen«, erzählte der andere, ein Mann mit gekräuseltem Haar und mächtigem Brustkorb. »Sie fotografierte gerade mit dem Motordrive, und ich dachte, die reißen sie um.«

»Kann an den Seitenlinien ganz schön gefährlich werden, was?«, fragte der Moderator.

»Nicht schlimmer als eine Berichterstattung über einen durchschnittlichen Krieg oder eine Revolution«, witzelte die junge Frau.

Die Fernsehkamera hielt schließlich die drei Fotografen in Nahaufnahme fest. Detective Barren hörte halb zu und überlegte, ob sie einem von ihnen schon mal bei einer ihrer Ermittlungen begegnet war.

Im nächsten Moment saß sie kerzengerade.

Sie fiel vor dem Fernseher auf die Knie.

»O Gott! O mein Gott!«

»So weit unsere Berichterstattung von den Seitenlinien. Und damit gebe ich zurück an Ted …«, sagte der Moderator.

»Halt!«, brüllte Detective Barren. »Warte!«

Sie krallte sich seitlich an das Gerät.

»Nein, halt! Ich muss es sehen!«

Die Berichterstatter redeten weiter, und die Mannschaften stellten sich für den Extra Point auf. Detective Barren hörte nicht, wie die Menge jubelte, als der Ball durch die Pfosten sauste. Sie schüttelte den Apparat und weinte: »Nein, nein, nein! Noch mal zurück, bitte!«

Dann sackte sie nach hinten und dachte darüber nach, was sie gesehen hatte.

Drei Fotografen, die vor einer Kamera standen.

Eine leichte Brise. Eben genug, um ihnen das Haar zu zerzausen. Und genug, dass ihnen ihre Presseausweise um den Hals flatterten.

Ein breites, dickes, gelbes Papierschildchen, auf dem OFFIZIELLER PRESSE-PLATZAUSWEIS eingestanzt war.

In Panik hastete Detective Barren zu ihrem Schreibtisch. Verzweifelt wühlte sie in den Dokumenten, griff sich die Akten mit den Indizien, bis sie die Liste mit den Gegenständen hervorzog, die von der Spurensuche am Fundort ihrer Nichte sichergestellt worden waren. Es waren dreiunddreißig, doch sie interessierte sich nur für den letzten.

»Etikettende, Farbe gelb, Herkunft unbekannt (unter Leiche).«

»Ja«, sagte sie.

Sie atmete tief ein.

»Ja«, wiederholte sie laut. »Ich glaube, ja.«

 

Am nächsten Morgen begab sie sich zu den schmuddeligen Räumlichkeiten, in denen die Asservatenkammer im Zentrum von Miami untergebracht war. Der Mitarbeiter zeigte keine Lust, die verstaubten Schachteln in dem höhlenartigen Raum einzeln durchzugehen. Der gereizte, unfreundliche Mann hatte in dem Moment, in dem Detective Barren zur Tür hereinkam, eine finstere Miene aufgesetzt und zunächst eine gerichtliche Anordnung und dann ein Schreiben ihres Vorgesetzten verlangt. Schließlich begnügte er sich mit einer handschriftlichen Versicherung von Detective Barren, die auf die Nörgeleien des Mannes mit ausgesuchter, lächelnder Freundlichkeit reagierte. Der Angestellte war ein breit gebauter Mann, dessen Hals in Muskelpaketen verschwand, was darauf schließen ließ, dass er seine Freizeit ächzend in einem Fitnessraum verbrachte. Er hatte die Hemdsärmel so weit hochgekrempelt, dass zwei reichverzierte Drachentattoos zum Vorschein kamen, und jedes Mal, wenn er den hinters Ohr geklemmten Bleistift hervorholte, glaubte sie, der Mann würde den dünnen Stift mit der schieren Kraft seiner plumpen Finger zerbrechen. Sie folgte ihm und bemühte sich, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, obwohl sie heftiges Herzklopfen hatte und schwitzte.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die richtigen Pappkartons gefunden waren. »Abgeschlossene Fälle bedeuten scheißversiegelte Schachteln. Ich bin dazu nicht verpflichtet, wissen Sie.«

»Ich weiß, ich weiß. Officer, ich weiß, das ist ein wirklich großer Gefallen, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre Hilfe zu schätzen weiß.«

»Trotzdem, ich will nur, dass Sie verstehen, dass ich das nicht machen muss.«

»Ich verstehe«, beteuerte sie.

Sämtliche Kartons waren durchnummeriert. Die jeweils erste Ziffer stand für das Jahr, in dem ein Verbrechen begangen worden war; es folgte die Fallnummer des jeweils ermittelnden Dezernats. Einbruchsdelikte, Körperverletzung, Vergewaltigungen und Morde bildeten eine bunte Mischung – mit dem einzigen Unterscheidungsmerkmal, ob ein Fall abgeschlossen war oder nicht. Sie ließ den Blick über die Regale schweifen und hatte das Gefühl, dass ihr eine Tragödie entgegenblicken musste, sobald sie den Deckel irgendeiner Schachtel öffnete.

»Du liebe Güte, ich wusste es. Natürlich ganz oben. Ich geh und hol die verfluchte Leiter.«

Sie wartete reglos während er den Karton herunterholte.

»Und jetzt müssen Sie das hier gegenzeichnen, wenn Sie das Ding aufmachen wollen …« Er hielt ihr ein vorgedrucktes Formular hin, das sie blind unterschrieb. Er warf einen prüfenden Blick darauf und hob den Kopf. »Ich muss eigentlich zusehen, selbst bei den verdammten abgeschlossenen Fällen. Aber scheiß drauf. Sie brauchen was aus dem Ding? Na los, schnappen Sie sich’s.«

Damit stapfte der Mann davon, ohne etwas von seiner Angriffslust eingebüßt zu haben, und Detective Barren hatte immer noch keine Ahnung, woher seine Frustration rührte. Sie starrte auf die Beweismittelbox. Auf dem Deckel klebte ein Blatt mit einer Liste des Inhalts sowie der Auskunft, dass Sadegh Rhotzbadegh sich schuldig bekannt hatte und zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war. Am oberen Rand befand sich ein Stempel mit dem Vermerk: ABGESCHLOSSENER FALL.

Wir werden ja sehen, dachte sie.

Sie zog ihr Taschenmesser heraus und schnitt das Klebeband auf, mit dem der Karton verschlossen war. Behutsam, als ginge es darum, den Staub, der sich dort angesammelt hatte, nicht unnötig aufzuwirbeln, öffnete sie den Deckel. Sie unterdrückte die Erregung, indem sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief: Das ist nur der erste Schritt.

Sie fasste hinein und holte das gelbe Schildchen heraus. Es steckte in einer Plastikhülle. Als sie es in ihre Handtasche steckte, bemerkte sie die Reste des Pulvers von der Untersuchung auf Fingerabdrücke. Die haben nach jedem Strohhalm gegriffen, dachte sie. Nur selten gelingt es, von Papier Abdrücke zu nehmen. Sie warf noch einmal einen Blick in die Schachtel und überlegte, ob sie noch etwas anderes mitgehen lassen sollte, schüttelte dann aber den Kopf und schloss den Karton.

Sie schwebte an dem bärbeißigen Beamten vorbei. »Danke für Ihre Hilfe. Falls ich noch etwas brauche, komme ich wieder.«

»Sicher«, sagte er in einem Ton, der das Gegenteil signalisierte.

 

Als sie aus der Asservatenkammer trat, war es später Vormittag. Sie zügelte ihre Phantasie und gestattete sich nicht, die Informationen auszuwerten. Ein Schritt nach dem anderen, schärfte sie sich ein. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl zu siegen. Sie dachte nicht an ihre Nichte, verband den verstaubten Karton oder auch das gelbe Stück Papier in der Plastikhülle nicht mit Susan und mit ihrer Erinnerung an den Leichenfundort. Stattdessen richtete sie den Blick auf die ferne Schnellstraße. Die Sonne glitzerte im Metall der Chassis, als ruhte auf jedem einzelnen Wagen ein besonderer Segen. Das stetige Fließen des Verkehrs versetzte sie fast in eine Art Trance. Sie hob den Kopf und erspähte eine einsame Amsel, die aussichtslos gegen die morgendliche Brise anflatterte. Sie bewunderte die Entschlossenheit des Vogels im ungetrübten Blau des tropischen Himmels. Er gab ein heiseres Krächzen von sich, streckte seinen Schnabel in den Wind und bahnte sich langsam, aber sicher seinen Weg. Detective Barren lächelte und lief zielstrebig zu ihrem Wagen, um sich in die Blechlawine Richtung Stadtmitte einzureihen.

In der Geschäftsstelle der Miami Dolphins am Biscayne Boulevard ließ man Detective Barren warten. »Sie können von Glück sagen, dass Mr. Stark Zeit für Sie hat«, meinte die Empfangsdame, eine junge Frau mit dem Mindestmaß an Attraktivität, über das jede Sekretärin verfügen muss: ein unbeschwertes Lächeln, eine angenehme Stimme und ein leicht schelmischer Blick.

»Wieso?«

»Haben Sie denn nicht die Zeitung gelesen?«, fragte die junge Frau.

»Heute Morgen noch nicht.«

»Ach so, dann wissen Sie noch nichts von dem neuen Vertrag?«

Als Detective Barren den Kopf schüttelte, hörte sie aus einem der anderen Büros schallendes Gelächter.

»Das ist die Pressekonferenz«, erklärte die Sekretärin.

»Kann ich mal reinschauen?«, fragte Detective Barren.

Die junge Frau zögerte. Sie sah sich um. Außer ihnen beiden war niemand zu sehen. »Sind Sie ein Fan?«

Detective Barren lächelte. »Verpasse kein einziges Spiel.«

Die Frau grinste. »Dann kommen Sie mit. Wir linsen einfach zur Hintertür hinein.«

Detective Barren folgte der jungen Frau, die behutsam eine Tür öffnete und sie durch den Spalt hereinschlüpfen ließ. Die Szene war Detective Barren augenblicklich von Hunderten von Sportreportagen vertraut, die sie spätabends sah, wenn sie nicht einschlafen konnte. Die Mitte des Raums beherrschte ein halbes Dutzend Fernsehkameras auf Stativen. Dahinter stand ein Tisch auf einem Podest. Es wimmelte von Zeitungsund Fernsehreportern, die teils auf Stühlen saßen, teils an die Wand gelehnt standen und sich Notizen machten. Unterhalb der Fernsehkameras huschten Toningenieure und Fotografen herum. Am Tisch saßen hinter einem Strauß Mikrophonen der berühmte Trainer mit dem vorstehenden Kinn, der Eigentümer sowie der große, kraushaarige Quarterback. Sie lächelten alle in die Kameras. Hin und wieder schüttelten sie sich die Hände und lösten ein Blitzlichtgewitter aus. Detective Barren war wie gebannt. Sie fühlte sich wie ein Kind, das den Weihnachtsmann dabei überrascht, wie er die Geschenke unter dem Christbaum verteilt. »Er ist größer, als ich dachte«, flüsterte sie der Sekretärin mit der Ehrfurcht eines kleinen Mädchens zu. »Und sieht besser aus.«

»Sicher«, wisperte die junge Frau zurück. »Und er ist auch reicher. Er kriegt über eine Million im Jahr.«

Die Sekretärin schwieg, bevor sie finster hinzufügte: »Und dann heiratet er auch noch seinen Collegeschwarm.«

Über den hochbeleidigten Ton und den Schmollmund, den sie dabei machte, hätte Detective Barren beinahe losgeprustet. Sie drehte sich wieder um und beobachtete die Männer auf dem Podium. Jemand hatte einen Witz gemacht, und die drei lachten. Dies löste eine weitere Blitzlichtorgie aus. Wieder sirrten die Motordrives. In diesem Moment fuhr ihr das Geräusch wie ein Stich ins Herz. Mein Gott!, dachte sie und sah sich wild um. Er könnte hier sein. Eine Sekunde lang geriet sie in Panik und griff nach ihrer Tasche, um die Pistole herauszuholen. Sie hielt inne, als sich ihre Finger bereits um den kalten Kolben legten. Aber wer?

Verzweifelt irrte ihr Blick durch den Raum.

Sie sah einen muskulösen, bärtigen Mann an seinem Weitwinkelobjektiv herumfuchteln. Sie starrte auf seine großen Hände und sah, wie sie sich plötzlich um den Hals ihrer Nichte legten; sie riss sich los und konzentrierte sich auf einen stämmigen Kerl mit Stirnglatze, der zwischen den Schnappschüssen herumalberte. Es lag ein harter Zug um seine Mundwinkel, der ihr eine Gänsehaut einjagte. Ein anderer, dünner, blonder, junger Mann, der etwas Asketisches an sich hatte, verstellte ihr für einen Moment die Sicht. Er wirkte beinahe zart, dann ängstlich, und sie konnte sich vorstellen, wie er sich unerkannt unter die Studenten mischte und mit seinem wachen Blick den Blondschopf ihrer Nichte entdeckte.

Sie kniff die Augen zu, um die Zwangsvorstellung zu verbannen. Der Geräuschpegel im Raum schwoll an, und das Lachen und Witzereißen im Raum schien sie und ihr Ziel zu verspotten. Sie fühlte sich schwindelig und hatte Angst, sie müsste sich übergeben.

In diesem Moment hörte sie jemanden neben sich flüstern.

»Detective Barren?«

Sie öffnete die Augen. Ein kleiner Mann in einem baumwollenen Sportjackett stand plötzlich neben ihr. Sie nickte.

»Mein Name ist Mike Stark. Ich bin sozusagen für diesen Zoo verantwortlich …«

Sie lachte und riss sich in einem gewaltigen Willensakt zusammen. Er sah noch einmal zu der Menge und den Männern im Rampenlicht zurück. »Also, was meinen Sie?«

Sie holte tief Luft und drängte ihren Alptraum zurück. Sie setzte ein Lächeln auf.

»Ich denke, eine Million im Jahr ist eine Menge Geld.«

»Er spielt wie der Teufel.«

»Das kann man wohl sagen …«

Stark überlegte einen Moment, dann faltete er die Hände vor dem Bauch.

»Sie haben recht. Eine Menge Geld für einen Kerl mit zwei kaputten Knien. Ich kann nur hoffen, dass der Gott, der über Footballspielern wacht, seine Hand über ihn hält.« Er verdrehte die Augen gen Himmel. »He, du da oben, hast du das gehört?«

Detective Barren grinste aufrichtig.

»Er gibt den Ball ja nicht mit den Knien ab«, sagte sie.

»Für das, was wir ihm zahlen, sollte er dazu in der Lage sein«, antwortete Stark.

Ihr Lachen mischte sich in das allgemeine Stimmengewirr.

Der kleine Mann sah sich um. »Kurz gesagt, ich danke Gott auf Knien, dass wir den Kerl schon jetzt eingekauft haben, zu Anfang der Saison. Nicht auszudenken, was er nach noch so einer furiosen Erfolgsserie wert gewesen wäre. Wollen Sie vielleicht in meinem Büro auf mich warten?«

Detective Barren nickte.

Sie starrte aus dem großen Fenster und beobachtete die Motorboote, die quer durch die Bucht weiße Linien in die Wellen zogen.

Die Tür ging auf, und Stark trat ein. Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz, und sie setzte sich in den Sessel ihm gegenüber.

»Also?«, fragte er.

Sie kramte das Schildchen aus ihrer Handtasche hervor. Einen Augenblick hielt sie es auf dem Schoß in der Hand und fragte sich, ob ihre Vorgehensweise richtig war. Dann ließ sie es kommentarlos auf die Tischplatte fallen. Sie sah, wie er verständnislos die Stirn runzelte, bevor er die Plastiktüte nahm und langsam hin und her wendete. Dann legte er sie zurück.

»Tut mir leid …«, meinte er.

Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das Schweigen dehnte sich quälend lang.

Er nahm den Beutel noch einmal in die Hand, und ihr Herz pochte wild.

»Nun ja, vielleicht«, räumte er ein. Er legte den Beutel noch einmal weg und drehte sich auf seinem Stuhl zu einem Aktenschrank um, in dem er nach etwas suchte. Wenig später hatte er einen Ordner in der Hand. Er öffnete ihn auf seinem Tisch, und Detective Barren sah einen kleinen Stapel gelber Plastikausweise. »Das Modell vom letzten Jahr«, erklärte Stark. »Dieses Jahr haben wir sie für das erste Heimspiel in Aquamarin und Orange gedruckt.«

Er hielt eins der Schildchen zum Abgleich neben das Exemplar in der Plastiktüte.

»Könnte sein«, überlegte er. »Konjunktiv, wohlgemerkt.«

Detective Barren betrachtete die beiden Papiere. Sie hatten die gleiche Breite.

»Die richtige Farbe«, fuhr Stark fort. Er betastete den Fetzen durch die Folie. »Scheint auch die richtige Stärke zu haben. Auch wenn ich es nicht beschwören kann. Aber durchaus möglich.«

Er zögerte, dann sah er Detective Barren an.

»Wieso?«

Sie überlegte. Weshalb nicht?, dachte sie.

»Mord«, antwortete sie.

Er pfiff durch die Zähne. Blickte noch einmal auf die beiden Kärtchen.

»Wahrscheinlich musste so etwas früher oder später passieren«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Nun ja, wir leben schließlich in Miami, habe ich recht? Das hier ist der mörderische Teil der USA, stimmt’s? Irgendwann kommt in dieser Stadt wohl jeder einmal mit einem Mord in Berührung, nicht wahr?«

»Vielleicht.«

»Also«, überlegte er weiter, »das könnte definitiv ein Fetzen von einem unserer Platzausweise sein. Könnte natürlich auch alles mögliche andere sein. Ich meine, was weiß ich?«

»Wissen Sie, wer die für Sie druckt?«

»Sicher, das kann ich Ihnen sagen. Die Druckerei Biscayne oben in der achtundsechzigsten Straße. Die können Ihnen in einer Minute sagen, ob das von ihnen stammt.«

Die Forensik auch, dachte sie.

»Und haben Sie eine Liste der Personen, an die sie ausgegeben wurden?«

»Klar. Welches Spiel?«

»Achter September letztes Jahr.«

»Die hab ich hier.« Wieder drehte er sich auf dem Stuhl zu seinem Schrank um, suchte eine Weile und zog einen weiteren Ordner hervor. Sie hätte ihm den am liebsten aus der Hand gerissen, hielt sich aber zurück. »Tatsächlich war das Spiel am Neunten. Der achte September war der Samstag davor.«

Ihr kam eine Idee. Sie hatte ein rauhes, staubtrockenes Gefühl in der Kehle und hüstelte vor ihrer nächsten Frage. Wieder war ihr ein wenig schwindelig. »Hat irgendjemand um zwei Ausweise gebeten? Ich meine, hat jemand angerufen und Ersatz beantragt, weil er sein Schildchen verloren hat?«

Stark sah sie verwundert an und nickte. »Verstehe, was Sie meinen«, sagte er. Er starrte auf die Akte. »Die National Football League verlangt, dass wir genau darüber Buch führen, wer die Spiele fotografiert und filmt. Teils aus Sicherheitsgründen. Vor allem aber wollen sie die Kontrolle über die Fotografen haben, über die Publicity genauer gesagt. Manchmal habe ich das Gefühl, ich arbeite für Big Brother.« Er zog ein getipptes Blatt heraus. »Zu dem Spiel gab es eine Menge Presse«, berichtete er. »Jeder wollte den Kraftprotz vor die Linse kriegen, der heute den Vertrag bekommen hat. Er war ein Neuling, und keiner hatte ein Kunstwerk.«

»Kunstwerk?«

»So nennen sie das. Gott weiß, warum. Ein gutes Bild ist ein Kunstwerk. Rembrandt würde sich im Grab umdrehen, wenn er das von einem dieser Banausen hörte.«

Er sah auf die Liste. »Drei«, sagte er. »Drei von denen haben ihre Pässe verloren. Ach, Moment, Entschuldigung. Zwei Kerle und ein Mädel. Frau, meine ich. Die Kleine von der hiesigen AP, ein Kerl von der Miami News, und einer, der für Sports Illustrated fotografiert hat. Er ist bei der Agentur Black Star unter Vertrag. Normalerweise schickt Sports Illustrated ihre eigenen Jungs, aber vermutlich waren sie diesmal zu dünn besetzt. Baseball, College Football, die Profis – Sie wissen schon.« Er schob das Blatt über den Tisch. »Genügt Ihnen eine Kopie?«, fragte er. »Ich muss das Original behalten.«

Sie nickte. Ihr drehte sich alles im Kopf, doch sie stellte ihre nächste Frage: »Und haben die irgendwelche Gründe angegeben, weshalb sie einen neuen Ausweis brauchten?«

»Sicher«, meinte Stark. »Die NFL achtet streng darauf, wer die Dinger bekommt. Die sind nicht scharf darauf, dass sich Krethi und Plethi an den Seitenlinien tummeln.« Er betrachtete ein anderes Blatt. »Mal sehn, aha, da haben wir’s schon. Das Mädel von der AP hatte ihren in ihrer Reisetasche. Sie ist mit Eastern geflogen, und die haben die Tasche verloren. Das hat sie sich bestimmt nicht ausgedacht. Der Kerl von der News hat gesagt, sein zehn Monate altes Baby hätte seinen aufgegessen, und der Kerl von Black Star, warten Sie, hat seinen bei einer Prügelei verloren …«

Stark lehnte sich zurück. »Wissen Sie, ich glaube, ich erinnere mich, wie er an dem Morgen reinkam, um sich den neuen zu holen. Er hatte einen üblen Striemen über dem Auge. Alle haben ihn damit aufgezogen. Er trug’s mit Fassung.«

Detective Barren merkte, wie ihr Magen in die Kniekehlen sackte. Ich wusste es, dachte sie. Ich wusste, dass sie mit aller Macht kämpfen würde. So leicht würde Susan es keinem machen, ihr das Leben zu nehmen.

Sie nahm die Liste vom Schreibtisch und ging die Namen durch.

Sie fasste sich und machte sich klar, dass sie erst sicher sein konnte, wenn sie bei der Druckerei gewesen war. Dann würde sie bei der Forensik noch einen Abgleich machen lassen, um jeden Zweifel auszuschließen. Das Ganze konnte dauern. Sachte, nichts überstürzen. Du musst jede Unsicherheit ausschließen. Allerdings zweifelte sie an ihrer Fähigkeit, sich an den eigenen Rat zu halten. Noch einmal starrte sie auf die Namensliste, doch die Buchstaben schienen sie zum Narren zu halten und tanzten auf dem Papier. Da ist er, dachte sie. Da ist er.

 

Der Kubaner, der in der Druckerei Biscayne hinter der Theke hervorkam, um ihr zu helfen, war ein umgänglicher und respektvoller älterer Herr. Sie zog ihre Dienstmarke und stürzte den Mann ganz offensichtlich in einige Verwirrung angesichts einer weiblichen Polizistin. Dennoch nahm er das gelbe Schildchen vorsichtig aus der Plastikhülle, um es mehrfach umzudrehen und zwischen den Fingern zu reiben.

»Das«, sagte er mit leichtem Akzent, »sieht zumindest sehr nach den Pässen aus, die wir für die Dolphins drucken. Dieses Jahr allerdings in einer anderen Farbe.«

»Könnte es sein …«, fing sie an, doch er unterbrach sie mit einer Handbewegung.

»Letztes Jahr«, bestätigte er. »Wenn ich das hier mitnehmen darf, kann ich Ihnen vielleicht zeigen, welches Papier wir dazu eingekauft hatten, und Sie bekommen einen perfekten Abgleich?«

Die Bemerkung war als Frage formuliert. Detective Barren wusste, dass sie die nötige Untersuchung ohne weiteres beim Fo rensischen Institut der Bezirkspolizei in Auftrag geben konnte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich wollte nur …«

Er hielt die Hand hoch. »Was immer die schöne Polizistin wünscht.«

Er lächelte mit der harmlosen Laszivität eines alten Mannes.

Sie nahm die Papierprobe wieder an sich und überlegte, wann der nächste Flieger nach New York ging.

 

Das Dröhnen der Düsenmotoren drang nicht bis in ihre Gedanken, die sich nur um eines drehten: den Namen, der irritierend alltäglich klang und den sie gleich einem Mantra unablässig wiederholte. Wie im Schlaf nannte sie dem Taxifahrer die Adresse. Als sie vor dem riesigen Bürogebäude vorfuhr, nahm sie es kaum zur Kenntnis. Mechanisch drückte sie im Fahrstuhl die Siebzehn, zwängte sich hinter einem Dutzend Büroangestellten an die Rückwand und lauschte auf das leise Zischen des Lifts.

Sie wartete ein paar Minuten in einer Lobby, während eine Empfangsdame einen Redakteur herbeiholte. Ihr Blick fiel auf eine Reihe gerahmter Fotos an der Wand, allesamt von Katastrophen oder Kriegen, und sie schlenderte hinüber. Aus Neugier, dann mit entsetzter Faszination starrte sie auf das erste Bild. Der Name, den sie darunter sah, riss sie mit einem Schlag aus ihrem geistigen Dämmerzustand. Da, sagte sie in Gedanken. Da ist er. Den Namen schwarz auf weiß vor sich zu sehen, stählte sie. Mehrere der Fotos an der Wand stammten von Douglas Jeffers, darunter ein Schnappschuss von einem dreck- und rußverschmierten Feuerwehrmann mit niedergeschlagener Miene, hinter dem ein Häuserblock brannte. Es war Philadelphia.

Als der Redakteur kam, riss sie sich los und drehte sich um. Sie suchte nach einer passenden Ausrede. Lüge clever und ungeniert! Mach ihn nicht misstrauisch! Lenke ab! Sie wollte nicht, dass die Fotoagentur Jeffers anrief und ihm erzählte, dass eine Polizistin nach ihm suchte. Sie zögerte nur kurz, bevor ihr die ersten Sätze über die Lippen kamen. Einen Anflug von schlechtem Gewissen schüttelte sie ab und machte munter weiter. Ihr war klar, wie wichtig es war, sich zu verstellen, und sie rief sich ins Gedächtnis, dass ihre Motive ehrlich und rechtschaffen waren.

Der stellvertretende Redakteur für Kriegsberichterstattung war freundlich, aber reserviert. »Er ist nicht da. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, tut mir leid, aber …«

Detective Barren nickte und schüttelte in gespielter Enttäuschung den Kopf. »Junge, da wird die alte Bande echt traurig sein. Alle wollten Doug wiedersehen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte der stellvertretende Redakteur, ein Mann in mittleren Jahren, der eine Fliege trug. Er hatte etwas verhalten Lüsternes an sich – ein leicht zerzauster Mann auf der ständigen Suche nach einem Abenteuer, der mit seinen Teddybärarmen sicher oft genug landen konnte. Sie beschloss, ihn bei seiner Schwäche zu packen, und schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln.

»Ach, nein, nicht so wichtig. Ist nur so, dass ein paar von uns, die zusammen die Bombardierung des Gebäudes von MOVE in Philly fotografiert haben, dieses Wiedersehen planen … eigentlich keine große Sache. Wissen Sie, wie wir uns kennengelernt haben? Wir hockten alle in sicherem Abstand, während die Cops und die Feuerwehr sich dranmachten, das Ganze in die Luft zu jagen. Der alte Doug war wie ein Rennpferd. Der konnte einfach nicht warten, musste unbedingt zum Zuge kommen, egal, ob ihm die Kugeln um die Ohren fliegen würden. Typisch Doug, nicht wahr …«

»So was Verrücktes sieht ihm ähnlich …«

»Na ja, wie gesagt, ist nicht so wichtig. Wäre einfach nur nett gewesen, ihn dabeizuhaben. Jeder hört gerne Kriegsgeschichten, wissen Sie. Deshalb bin ich hergekommen …«

»Wird sicher nett werden …«

»Na ja, letztes Jahr wurde es am Ende ein bisschen ruppig …«

Sie zwinkerte und wurde dem Redakteur zuliebe noch ein bisschen rot.

Sie hoffte, dass er ihr zu dem Ereignis in Philadelphia keine Fragen stellen würde. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach den wenigen Artikeln, die sie darüber gelesen hatte. »Aber macht nichts, ehrlich.«

»Tut mir wirklich leid«, versicherte der Redakteur.

»Keine große Sache, nur dass Doug, na ja, Sie kennen ihn ja. Er ist so ein Einzelgänger. Wir hatten gehofft, ihn ein bisschen aus der Reserve zu locken, wissen Sie?«

»Können Sie laut sagen. Fotografen sind schon eine Sorte für sich.«

»Na ja, der alte Doug ist einer der Besten …«

»Keine Frage.«

»Also, ob Sie’s glauben oder nicht, er hat sich bei seinen Aufträgen da draußen in der finsteren Provinz eine Menge Freunde gemacht.«

»Hab ich immer vermutet. Hier bei uns ist er wirklich ein einsamer Wolf. Aber«, fuhr der Redakteur fort, »es gibt Orte, da können Sie nicht hingehen, ohne sich ein bisschen auf andere Leute einzulassen. Wenn’s brenzlig wird, rückt man zusammen.«

»Wie wahr, wie wahr!«, erwiderte Detective Barren.

»Für wen arbeiten Sie noch mal?«, fragte er.

»Für den Herald. Ich hab nur ein, zwei Tage in der Stadt zu tun …«

»Na ja«, meinte der Redakteur, »ich weiß nur, dass er Ferien macht und bei uns nicht hinterlassen hat, wohin er wollte. Er ist drei Wochen weg, falls Ihnen das weiterhilft. Ich kann gerne eine Nachricht …«

Sie dachte an die Wartezeit. Unmöglich.

»Oder vielleicht wollen Sie es bei seinem Bruder versuchen?«

»Doug hat nie einen Bruder erwähnt.«

»Er ist Arzt in einer staatlichen Heilanstalt in New Jersey. In Trenton. Doug gibt ihn immer als nächsten Angehörigen an, wenn er in ein Kriegsgebiet muss. Vielleicht wenden Sie sich mal an den. Täte mir wirklich leid für ihn, wenn er eine gute Party verpassen würde …«

»Wissen Sie was«, meinte Detective Barren, »ich versuche mein Glück bei dem Bruder, und falls das nicht klappt, hinterlasse ich bei Ihnen eine Nachricht, okay?«

»Gerne.«

»Junge«, sagte sie in mädchenhaftem Ton, »Sie haben mir echt geholfen. Wissen Sie was? Wenn alles klappt, hätten Sie da vielleicht Lust, auf einen Drink vorbeizukommen?«

»Sicher, gerne.«

»Ich ruf Sie an«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Ich erreiche Sie sicherlich hier, oder?«

Er lächelte hoffnungsvoll. »Jederzeit.«

Doch sie war längst mit den neuen Erkenntnissen beschäftigt, und es drängte sie mit Macht nach New Jersey.