4. KAPITEL
Eine ganz normale Sitzung der Lost Boys

 

7.

Obszönitäten flogen durch die Luft, doch sie prallten an ihm ab. Immer noch hatte er das Bild seines Bruders vor Augen, wie er ihm in der Anstaltskantine gegenübersaß und ein unbekümmertes Grinsen auflegte, das einem Teenager angestanden hätte, im Gesicht eines erwachsenen Mannes hingegen etwas Beunruhigendes hatte. Er versuchte, sich seine Gedanken in jener Situation ins Gedächtnis zu rufen, blieb jedoch bei dem Moment hängen, als er in einer albernen Gefühlsaufwallung gesagt hatte: »Weißt du, ich wünschte, wir hätten uns früher nähergestanden …«

Und die unbarmherzige, kryptische Antwort: »Oh, wir stehen uns näher, als du denkst. Viel näher.«

Was glaube ich denn, wie nahe wir uns stehen oder wie ähnlich wir uns sind?, fragte sich Martin Jeffers.

Zu seiner Rechten hatten zwei der Männer die Stimme erhoben und waren inhaltlich wie auch im Ton kurz davor zu explodieren. Jeffers drehte sich um und behielt die Männer im Auge, während er mit aller gebotenen Vorsicht versuchte, herauszufinden, worum es bei der Auseinandersetzung ging.

Er wusste zwar, dass Konfrontation ein unverzichtbarer Therapiebestandteil war; andererseits vergaß er nicht, dass er es hier mit gewalttätigen Menschen zu tun hatte und dass es zu seinen Aufgaben gehörte, zu verhindern, dass sie mit der Brutalität aufeinander losgingen, zu der sie fähig waren. Ihm kam die seltsame Idee, dass sie sich wie eine keifende Schar alter Frauen verhielten, die sich weniger über einen Gedanken oder einen realen Konflikt in die Haare gerieten, als vielmehr aus der schieren Lust am Streit. Er beschloss einzugreifen.

»Ich glaube, Sie sagen nicht, was Sie wirklich meinen.«

Diese Bemerkung gehörte zu seinem Standardrepertoire. Er wusste, dass seine ausweichenden Stellungnahmen die Männer frustrierten; die meisten von ihnen waren Menschen mit sehr konkreten Vorstellungen und Gefühlen. Es ging ihm darum, dass sie lernten, abstrakter zu denken und sich von ihren Impulsen zu distanzieren. Verstanden sie erst mal, sich in andere einzufühlen, konnte man sie behandeln.

Er erinnerte sich an einen Professor an der medizinischen Fakultät, der vor seinem Seminar stand und sagte: »Denken Sie an die Erfahrung einer Krankheit. Führen Sie sich vor Augen, wie sie unsere Sinne, Gefühle und Emotionen beherrscht. Und dann denken Sie daran: Auch wenn Sie Ihrer Meinung nach ein noch so guter Arzt sind, sind Sie nur so gut wie Ihre letzte richtige Diagnose.« Zehn Jahre später hätte Martin Jeffers dem hinzugefügt: Und Therapie.

Jeffers betrachtete die streitenden Männer.

»Leck mich, Jeffers«, knurrte der erste und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Leck dich doch selbst«, warf der zweite ein. »Und genieß es besser, denn was anderes kriegst du für lange Zeit nicht vor die Zunge …«

»Musst du gerade sagen.«

»Genau, guck mal, wer das sagt, du Knirps.«

»Donnerwetter, da schlottere ich aber vor Angst. Schau mal, meine Hände. Wie Zittergras.«

Jeffers beobachtete die beiden Kampfhähne genau. Er versuchte einzuschätzen, ob sie jeden Moment von ihren Stühlen aufspringen könnten. Dieser konkrete Streit machte ihm wenig Sorgen: Bryan und Senderling gerieten oft aneinander. Solange sie sich Beleidigungen an den Kopf warfen, würden sie es beim verbalen Schlagabtausch belassen. Unter anderen Umständen, vermutete Jeffers, würden die beiden wohl als Freunde durchgehen. Was ihn tatsächlich alarmierte, war Schweigen. Manchmal verstummten sie. Dabei waren sie nicht um Worte verlegen oder gelangweilt oder warteten darauf, dass jemand anders etwas sagte. Es war vielmehr eine Stille der geballten Wut. Dann verengten sich ihre Augen und fixierten den Gegner oder die Muskeln spannten sich kaum merklich. Jeffers musste daran denken, dass er einen Großteil seiner Zeit im Aufenthaltsraum damit verbrachte, auf weiße Knöchel zu achten, wenn sich Finger um Stuhllehnen krampften. Einmal hatten sie einen Mann in der Gruppe gehabt, erinnerte sich Jeffers, der immer auf der Stuhlkante saß, die Beine unter sich verschränkt. Als der Mann eines Morgens die Stellung seiner Beine wechselte, war Jeffers bereits aufgesprungen, um die Explosion abzufangen, zu der es Sekunden später kam. Jeffers wurde sich bewusst, dass er im Lauf der Monate jeden Mann in der Gruppe nicht nur als eine Ansammlung von Erinnerungen und Erfahrungen kennenlernte, sondern auch die Körperhaltung studierte. Dass drüben in seinem Büro zwölf Bände voller Notizen aus diesen Sitzungen standen, war nicht weiter verwunderlich – so leicht qualifizierte man sich nicht für die Lost Boys. Dazu bedurfte es zweierlei: Verdorbenheit und das Pech, erwischt zu werden.

»Fick dich!«

»Fick dich selbst!«

Obszönitäten waren die Währung, die in der Gruppe getauscht wurde wie Kupfergeld. Er überlegte, wie oft er wohl am Tag »Leck mich« oder »Fick dich« hörte. Hundertmal? Das reichte bestimmt nicht. Dann vielleicht tausendmal. Für ihn hatten die Worte jeden konkreten körperlichen Bezug verloren. Sie dienten den Männern eher als eine Art Inter-punktion. Manche Menschen benutzten »Leck mich« oder »Fick dich« wie andere Kommas. Er dachte an die berühmte Lenny-Bruce-Nummer, die damit begann, dass der Comedian ins Publikum starrte und fragte: »Ich wüsste gerne, wie viele Nigger heute Abend unter uns sind«, bevor er gegen Itaker, Kanaken, Polacken, Schlitzaugen, Krauts und weiß der Himmel was noch die Beleidigungen so breit streute, dass sie harmlos und bedeutungslos wurden. Jeffers vermutete, dass sich im Aufenthaltsraum etwas Vergleichbares vollzog. So wie die Männer mit diesen Schimpfwörtern um sich warfen, waren sie neutralisiert. Ganz gewiss hatte das wenig mit den Verbrechen zu tun, derer sie sich schuldig bekannt hatten, auch wenn jeder von ihnen ein Sexualstraftäter war.

»Ach, geh doch zur Hölle«, rief einer der Männer. Es war Bryan. Er wandte sich an Jeffers. »He, Doc, können Sie diesem Hurensohn nicht mal klarmachen, wo’s langgeht? Der hat immer noch nicht kapiert, wieso er hier ist.«

»Hör zu, Arschloch«, antwortete Senderling, »ich weiß, wieso wir hier sind. Ich weiß genauso gut, dass wir so schnell nirgendwo anders hinkommen. Und wenn doch, dann nur in den Knast, um verdammt viel Zeit abzusitzen.«

Ein weiterer Mann mischte sich ein, indem er zuerst einen Kussmund machte und dann einen so lauten Schmatzlaut von sich gab, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen erregte. Jeffers drehte den Kopf in seine Richtung und sah, dass es Steele war, der auf der anderen Seite des Kreises saß und es besonders genoss, Bryan und Senderling aufs Korn zu nehmen. »Und ihr wisst ja, meine Süßen, wie sie Jungs von eurer Sorte da lieben …«

Die drei Männer funkelten sich gegenseitig an und wandten sich dann an Jeffers. Er erkannte, dass eine Reaktion von ihm erwartet wurde. Er wünschte, er hätte besser zugehört.

»Sie kennen alle unsere Regeln.«

Mürrisches Schweigen schlug ihm entgegen.

Die erste Lektion der psychiatrischen Assistenzzeit: Im Falle eines Zweifels sag nichts.

Und so verfiel die Runde in nachsichtige Stille. Jeffers versuchte, mit jedem Mann Blickkontakt aufzunehmen. Einige schauten zurück, andere wandten sich ab. Einige schienen gelangweilt und abgelenkt, mit den Gedanken woanders, andere lagen auf der Lauer, waren auf dem Sprung. Eine Weile dachte Jeffers über das Mysterium der Gruppendynamik nach: Diese Gruppe bestand aus zwölf Lost Boys, von denen jeder einerseits ein eigenes, unverwechselbares Profil mitbrachte, andererseits aber auch die typischen Klischees erfüllte. Ihm kam plötzlich der verblüffende Gedanke, dass diese Männer alle an derselben Krankheit litten: Irgendwann einmal war jeder von ihnen in seiner Kindheit ein »Lost Boy« gewesen – im Stich gelassen, traf die Sache wohl am besten. Die steinigen Untiefen der Kindheit, dachte er. Die Dunkelheit und Grausamkeit der Jugend. Die meisten Menschen wachsen heran und lassen sie hinter sich, sie lernen, sich anzupassen und ihre Narben innerlich zu tragen. Die Lost Boys nicht.

Und wie sie sich an der Erwachsenenwelt gerächt hatten, war wirklich erbärmlich.

Zwölf Männer, die es zusammen auf beinahe hundert gemeldete Straftaten brachten, während die Dunkelziffer leicht das Doppelte betragen mochte: ungelöste, nicht gemeldete oder nie mandem nachzuweisende Fälle von Vandalismus und Kleindiebstahl bis hin zu ein oder zwei Vergewaltigungen oder auch einem halben Dutzend, wenn nicht sogar zehn, zwanzig oder mehr. Außerdem befanden sich unter den Lost Boys drei Mörder, Männer, die Menschenleben zerstört hatten, die offenbar in dem eigentümlichen Abwägungssystem des Strafrechts als weniger wertvoll galten und somit ein niedrigeres Strafmaß nach sich zogen, auch wenn Jeffers sich oft damit schwertat, zwischen Totschlag und vorsätzlichem Mord zu unterscheiden, besonders aus Sicht der Leiche.

Das Schweigen im Aufenthaltsraum hielt an, und Jeffers dachte erneut an seinen Bruder. Das hatte Doug ähnlich gesehen. Kurz anrufen und im nächsten Moment auf der Matte stehen. Es konnten drei Jahre zwischen zwei Besuchen vergehen, und Monate, bis er sich auch nur telefonisch meldete und dann so tat, als wäre nichts. Seine Wohnungsschlüssel mit den charakteristisch unklaren Instruktionen hinterlassen. Typisch.

Was trieb er eigentlich derzeit?, fragte sich Jeffers. Er kehrte im Geist noch einmal zu ihrem Treffen zurück. Sein erster Gedanke war allerdings: Was war bei Doug schon typisch? Mit leichtem Unbehagen registrierte er, dass er keine Antwort hatte.

Er sah seinen Bruder vor seinem geistigen Auge, die Sonne in seinem hellbraunen Haar. Doug, dachte er, war dieser attraktive, lässige Mensch, dessen gutes Aussehen weniger mit besonderen physischen Vorzügen zu tun hatte als vielmehr mit seiner unbekümmerten Einstellung zum Leben. Einen Augenblick lang beneidete er seinen Bruder um diese entspannte Lebenssicht, die er sich in seinem Beruf als Fotograf leisten konnte, während ihm, Martin, die unausgesprochene Förmlichkeit seiner eigenen Zunft zuwider war. Ich bin steif, dachte er. Er beneidete seinen Bruder um sein Leben im Freien, das ihn mit Dingen konfrontierte, die tatsächlich passierten, statt mit Dingen, über die nur geredet wurde. Manchmal kann ich die Beständigkeit kleiner Räume und verschlossener Türen, suggestiver Bemerkungen und Kommentare sowie stummer, beredter Blicke, die meinen Beruf ausmachen, nicht leiden, dachte er.

Dann schüttelte er innerlich den Kopf und sagte sich: Natürlich kannst du sie leiden, du liebst sie geradezu.

Dennoch spielte er einen Moment mit dem Gedanken, wie das Leben wohl durch eine Linse aussah.

»Wir stehen uns näher, als du denkst.«

Ist es denn so viel anders?, fragte er sich plötzlich. Sicher, er sieht ein Ereignis in der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Ich höre die Erzählung im Nachhinein.

Mit Betroffenheit wurde ihm bewusst, dass er sich nicht an die erste Kamera seines Bruders erinnern konnte. Es kam ihm so vor, als hätte Doug von der Grundschule an schon immer eine besessen. Er überlegte, wo und wie Doug wohl den ersten Fotoapparat bekommen hatte; gewiss nicht von ihren Eltern.

Das Einzige, was sie großzügig ausgeteilt hatten, war Elend, dachte Martin Jeffers.

Darin waren sich die beiden Brüder stets einig gewesen.

Er musste plötzlich an die Nacht denken, in der sie zu ihren Pflegeeltern gebracht wurden, und augenblicklich wunderte er sich, wie lange er nicht mehr daran gedacht hatte. Er hörte den heftigen Regen, der gegen die Fenster der Polizeistation prasselte, und das Klappern der Fenster im Sturm. Das Gebäude hatte im Dunkeln gelegen, doch die harte Holzbank, auf der er saß und sich an die Hand seines Bruders klammerte, erstrahlte im grellen, künstlichen Licht. Es war spätnachts gewesen, und sie waren noch sehr klein. Dass sie lange aufblieben, hatte nichts mit der Vorfreude auf Heiligabend zu tun. Sie waren vielmehr vor Angst wie von Sinnen und sich vollkommen im Klaren darüber, dass sie in ein Mysterium der Erwachsenenwelt hineingetappt waren, als sie längst hätten schlafen sollen. Sie hatten etwas gesehen, das für ihre Augen nicht bestimmt war, und das zu fortgeschrittener Stunde, als sie nicht hätten auf sein sollen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er daran dachte, wie er den Kopf gehoben und in dem grellen Licht seinen Cousin mit undurchdringlicher, abweisender Miene gesehen hatte. Und dann seine ersten Worte: »Eure Mutter ist gegangen, damit hatten wir schon seit einiger Zeit gerechnet. Ihr sollt jetzt zu uns. Kommt mit.« Und dann der Anblick dieses schmalen, gebeugten Rückens, der sie in das Unwetter hinausführte. Ich war vier, und Doug war sechs.

Er versuchte, die Erinnerung abzuschütteln, obwohl er sich fragte, weshalb sie nie über ihre richtige Mutter gesprochen hatten. Er starrte aus dem Fenster des Aufenthaltsraums und versuchte vergeblich, sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Er erinnerte sich nur, dass ihr jede Zärtlichkeit abging und dass sie ständig wütend war. Sie unterschied sich nicht allzu sehr von der Cousine, die ihre Rolle übernommen hatte. Ihr Bild hatte er sofort vor Augen: das dünne braune Haar zu einem strengen Dutt zurückgekämmt, der zu ihrem leuchtend rot geschminkten vollen Mund, der sich nie zu einem Lächeln verzog, nicht passte. Später, im Wagen zum Trauermarschtakt der Scheibenwischer, hatte sich diese neue Mutter zu ihnen umgedreht und gesagt: »Wir sind jetzt eure Eltern. Ich bin Mom. Er ist Dad. Über andere Eltern wird nicht gesprochen.«

Er erinnerte sich noch, wie seine eigene Therapeutin ihn einmal gefragt hatte: »Aber was ist denn mit Ihrer leiblichen Mutter passiert?«

Und seine Antwort: »Das hab ich doch selbst nie richtig erfahren.«

Die Therapeutin hatte geschwiegen. Ein klassisches Schweigen des Zweifels; er hatte es selbst schon tausendmal angewendet.

Was war passiert?, fragte er sich.

Ganz einfach: Sie war weg. Tot. Davongelaufen, was machte das schon für einen Unterschied? Sie mussten beide im Drugstore ihrer neuen Eltern arbeiten. Er musste die Arzneifläschchen reinigen und die Reihen verschreibungspflichtiger Medikamente fein säuberlich auf den Regalen ordnen, und so war er Arzt geworden. Doug musste die Dunkelkammer reinigen, später auch die Entwicklerflüssigkeit mischen und schließlich, als er älter wurde, selbst entwickeln, also wurde er Fotograf. So einfach war das.

Es ist was aus uns geworden, sagte er sich.

Aber was ist tatsächlich aus uns geworden?

Nichts ist einfach.

Das wusste er sehr wohl. Es war das Erste, was er als Assistenzarzt gelernt hatte. Mentale Befindlichkeiten mochten zunächst klar und eindeutig erscheinen, doch selten blieb es dabei. Wenn die Erkenntnisse der Psychiatrie einen Sinn ergaben – die Theorien, Diagnosen, Behandlungspläne –, schien ihm das Spektrum realen Verhaltens seltsam rätselhaft. Er begriff zwar, weshalb die Lost Boys im klinischen Sinne Sexualstraftäter waren, doch auf einer höheren, grundsätzlicheren Ebene entging ihm das Wieso und Warum. Er konnte sich die physische Kraft vorstellen, die nötig war, um ein Opfer am Arm zu packen und ihm Gewalt anzutun, doch für die Willenskraft, die dabei ausschlaggebend war, fehlte ihm die Phantasie.

Er schüttelte den Kopf.

Doug versteht reale Dinge, dachte er. Ich verstehe Theorien. Ich habe überlebt, dachte er. Verflucht, wir haben beide überlebt. Wir haben es zu etwas gebracht. Es geht uns verdammt gut. Dann kam ihm der Gedanke, wie seltsam es doch war, dass jemand Experte in menschlichen Schwächen und Leiden werden konnte und es dennoch nicht schaffte, sein Wissen auf sich selbst anzuwenden.

Er lachte sich aus. Du bist ein Lügner, dachte er.

Und kein besonders guter.

Er fragte sich, wieso der Besuch seines Bruders so viele Erinnerungen wachrief, doch dann räumte er ein, wie dumm die Frage war; natürlich löste der Besuch seines Bruders eine Welle der Selbstbeobachtung bei ihm aus.

Ihm war heiß, und er merkte, dass die Sonne durch das Fenster direkt auf seine Brust schien. Er rutschte auf seinem Stuhl zur Seite, ohne dass es half, und verrückte ihn dann ein wenig.

»Wisst ihr, was ich am meisten hasse?«, fragte einer der Lost Boys. »Wie irgendwelche Freaks in einer Sondershow behandelt zu werden, genau das.«

Jeffers hob den Kopf, um zu sehen, wer gesprochen hatte. Er warf einen Blick auf Simon, den Anstaltspfleger, der bei den Lost Boys für Ordnung sorgte. Der Mann schien in der Sonne zu dösen und sich um die Unterhaltung nicht zu scheren. Simon war ein schwarzer Hüne, dessen Körper unter dem lose sitzenden Kittel der Pfleger gut versteckt war. Jeffers wusste auch, dass er einen schwarzen Gürtel in Karate besaß und professioneller Kickboxer gewesen war. Simons Gegenwart war die ultimative Abschreckung für Gewaltausbrüche.

»Freaks, Freaks, Freaks, genau das sind wir«, meldete sich Meriwether zu Wort. Meriwether war ein schmächtiger, blasser Mann im mittleren Alter, der sein karges Einkommen einmal als Buchhalter verdient und sich schuldig bekannt hatte, die Tochter eines Nachbarn vergewaltigt zu haben. Erst nachdem er zu den Lost Boys gestoßen war, hatte Jeffers bei dem Mann eine zwanghafte Zuneigung zu Jugendlichen festgestellt. Meriwether stand auf der Liste der Zweifelhaften: Jeffers glaubte kaum, dass es bei dem einen Verbrechen, zu dem er sich bekannt hatte, geblieben war, und er bezweifelte auch, dass dieses Programm bei ihm etwas ausrichten konnte. Er vermutete, dass Meriwether eines Tages an einen Jungen geraten würde, der stärker war als er und der ihm für das Kleingeld in der Jackentasche die Kehle aufschlitzte. Jeffers dachte nicht daran, sich für seine unwissenschaftliche Spekulation zu schämen.

»Ich kann es einfach nicht ab, wie sie uns anglotzen«, sagte Meriwether.

»Dich«, warf Miller ein, der ihm im Kreis gegenübersaß. Miller war nicht nur Vergewaltiger, sondern auch ein verurteilter Krimineller. Zweimal hatte er Männer bei Kneipenschlägereien getötet und dreimal wegen tätlichen Angriffs, Raubs und Erpressung gesessen. Jeffers mochte ihn besonders wegen seiner offenen, gradlinigen Einstellung zu den Therapiesitzungen. Miller hasste sie. Dennoch stand er nicht auf der Liste der Zweifelhaften; Jeffers hielt es für möglich, dass der Mann lernte, nicht wieder zu vergewaltigen. Doch auch dann würde er ein Vollzeit-Krimineller bleiben.

»Siehst du, Kleiner, die spüren was bei dir. Etwas Schleimiges direkt unter der Oberfläche. Das tun wir alle, Kleiner. Gibt dir zu denken, was?«

Meriwether zögerte nicht: »Meinetwegen spüren sie etwas bei mir, aber die müssen nur einen Blick in deine Visage werfen, und dann wissen sie’s. Du verstehst, was ich meine? Sie wissen es einfach.«

Miller knurrte etwas, dann lachte er. Jeffers schätzte an ihm, dass er sich nicht so schnell provozieren ließ, auch wenn er sich fragte, wie viel Selbstbeherrschung der Kerl noch besaß, wenn er etwas getrunken hatte.

Die anderen Männer, die in dem losen Kreis im Aufenthaltsraum zusammensaßen, lachten ebenfalls oder lächelten zumindest. Wright, Weingarten, Bloom, der offenbar eine Vorliebe für Jungen hatte; Wasserman, der mit neunzehn das Küken war und eine Highschool-Ballkönigin vergewaltigt hatte, weil sie nicht mit ihm hatte tanzen wollen. Pope mit zweiundvierzig der Älteste, ein behandlungsresistenter, bösartiger Mann mit grauen Haaren, Lastwagenfahrermuskeln und Tattoos. Jeffers schätzte, dass er weit mehr Verbrechen begangen hatte, als die Polizei ahnte. Meistens blieb er stumm, und er führte die Liste der Zweifelhaften an. Parker und Knight vervollständigten die Lost Boys. Sie passten zueinander – Akne im Gesicht, Wut im Bauch, Mitte zwanzig, beide Collegeabbrecher. Der eine war Programmierer, der andere Teilzeit-Sozialarbeiter gewesen. Sie verspotteten zwar vieles, würden jedoch irgendwann, hoffte Jeffers, begreifen, dass sie eine Chance im Leben hatten.

Das Gelächter verebbte, und Meriwether platzte in die Stille hinein: »Mir passt das immer noch nicht.«

»Passt was nicht, Kleiner?«

»Wir sind nicht verrückt. Was haben wir hier zu suchen?«

Mehrere Stimmen meldeten sich gleichzeitig.

»Wir sind hier zur Reparatur …«

»Wir sind wegen dieses Programms hier …«

»Wir sind hier, du Dumpfbacke, weil wir alle rechtskräftig als Sexualverbrecher verurteilt worden sind. Geht das in deinen Schädel, Schleimer?«

»Mann, kann ja sein, dass du nicht weißt, was du hier zu suchen hast, ich schon …«

Der letzte Beitrag erntete Gelächter. Es verebbte im selben Moment, und Jeffers beobachtete, wie Meriwether wartete, bis Schweigen herrschte.

»Ihr seid dümmer, als ich dachte …«, fing er an. Höhnisches Zischen und ein paar Buhrufe. Wieder wartete Meriwether. Jeffers registrierte das gequälte Grinsen im Gesicht des kleinen Mannes, der es eindeutig genoss, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

»Denkt mal einen Moment darüber nach, Freaks. Wir sind hier zwar in einer Klapse, aber ist einer von uns wirklich bekloppt? Wenn wir tatsächlich Kriminelle wären, meint ihr nicht, dass sie uns dann einfach wegsperren würden? Statt Wasser und Brot geben sie uns Zuckerbrot und Peitsche. Nehmt an dem Programm teil, sagen sie, und lernt, richtig zu lieben. Lernt zu hassen, was ihr mal gewesen seid. Dann biegen wir euch wieder hin und ab geht’s zurück in die Welt …«

Er legte eine Pause ein und sah sich erwartungsvoll um.

»Wisst ihr, was mir wirklich auf den Geist geht? Jedes Mal, wenn ich durch eine der Irrenstationen laufe, weichen mir alle aus. Mir! Ist schon zum Lachen, was, Miller, du taffer Bursche? Sie wissen es.«

Er lachte.

»Wir alle denken doch ganz tief drinnen, da, wo wir den Seelenklempner nicht reingucken lassen, dass wir das hier hinter uns bringen. Wir hängen einfach nur lange genug rum und sagen das Richtige … na ja, irgendwann kommen wir raus. Die werden mich nicht ändern!«

Er wandte sich an Jeffers.

»Stecken Sie sich Ihre Aversionstherapie sonst wohin. Stecken Sie sich Ihren peer group pressure sonst wohin. Ich hab für so was ein bisschen zu viel drauf.«

»Glauben Sie?«, fragte Jeffers.

Meriwether lachte.

»Was für eine Wischiwaschi-Frage. Sehen Sie nicht, dass wir alle im Grunde so denken?«

Er überlegte. »Ganz tief drinnen, ganz tief drinnen. Wo Sie nicht rankommen.«

Miller brummte. »Meinst aber auch nur du, Arschloch.«

»Und ob ich das meine«, bekräftigte Meriwether.

Die beiden Männer starrten einander an, und Jeffers dachte wieder an seinen Bruder. Er erinnerte sich, wie überrascht er gewesen war, als er erfuhr, dass Doug routinemäßig Taschengeld aus der Ladenkasse stahl. Er hatte das nicht deshalb für falsch gehalten, wurde ihm bewusst, weil es nicht richtig war zu stehlen, sondern weil es, falls er aufflog, schlimme Konsequenzen nach sich ziehen würde. Er konnte sich noch an das unbekümmerte Lachen seines Bruders erinnern und daran, wie er betonte, dass er es nur zum Teil wegen des Geldes machte.

»Verstehst du nicht, Marty? Jedes Mal, wenn ich mir was nehme, gibt es mir das Gefühl, ihm eins auszuwischen. Ich bin dann nicht mehr nur das Opfer.«

Doug war dreizehn gewesen. Und er hatte sich geirrt. Wir waren seine Opfer.

Er schlug Doug, dachte Jeffers. Wieso eigentlich nicht mich? Wahrscheinlich lag es an der hartnäckigen, offensichtlichen Rebellion seines Bruders. Dann schüttelte er den Kopf und räumte ein, dass dies wohl nur die halbe Wahrheit war. Natürlich hatte Doug sich nicht unterkriegen lassen, doch da war noch etwas anderes, Tieferes, das ihr Vater gesehen hatte und das ihn in weißglühende, brutale Wut versetzte.

»Kleiner«, knurrte Miller, »du kotzt mich an.«

»Die Wahrheit«, konterte Meriwether, »tut weh.«

»Dann sag mir doch mal, was du für die Wahrheit hältst, du mieser kleiner Schieber, erzähl mir, was du über mein Leben weißt!«

Meriwether lachte.

»Lass mich mal überlegen.« Er musterte Miller wie ein Gutachter die beschädigte Ware.

»Na ja«, fing er langsam an und genoss seine Show, »wahrscheinlich hast du deine Mutter gehasst …«

Alle außer Miller lachten.

»Sie hat alle außer dir geliebt …«

Meriwether setzte mit einem Lächeln fürs Publikum noch einen drauf: »Und jetzt, wo du dich nicht an ihr rächen kannst …«

Der ganze Raum grölte über die Binsenweisheit.

»… da rächst du dich an anderen.«

Meriwether zögerte. Schließlich fügte er hinzu: »Tadaaah! Grundsätzliche Wahrheiten ans Licht gebracht!«

Miller lächelte nicht. Jeffers merkte, dass er wieder versuchte, sich das Gesicht seiner leiblichen Mutter vorzustellen, es aber nicht konnte. Wenn er an das Wort Mutter dachte, kam ihm nur die Frau des Drogeriebesitzers in den Sinn, ihrer Cousine und Mutter, die nachmittags in einer Ecke des Hauses saß und sich sommers wie winters Luft zufächelte, während sie ihren Tee trank.

»Red weiter, du Stück dampfende Kacke. Du steckst schon so tief in der Scheiße, dass du genauso gut darin ersticken könntest«, sagte Miller.

Jeffers überlegte einen Moment, ob Miller explodieren würde, bezweifelte es aber. Er besaß die Weisheit des erfahrenen Knastbruders. Wenn er glaubt, sich rächen zu müssen, schätzte Jeffers, dann auf seine Weise. Er wird einen günstigen Zeitpunkt abwarten, und die Vorfreude auf die Rache ist genauso süß wie der Moment, in dem er ihm das selbstgebastelte Messer zwischen die Rippen rammt. Jeffers notierte sich in seiner Kladde mit den Sitzungsprotokollen, dass er den Konflikt zwischen den beiden Männern weiterhin beobachten sollte.

»Also«, fuhr Meriwether fort, »wie alt war diese letzte Braut? Diejenige, die du vertrimmt und dann auch noch ausgeraubt hast, nachdem du – tja, wie sag ich’s denn möglichst taktvoll – deinen Spaß mit ihr gehabt hattest? Könnte sie vielleicht zwanzig gewesen sein? Nein, vielleicht doch ein bisschen älter. Dann eher dreißig? Nein, immer noch ein klitzekleines bisschen zu jung. Dann womöglich vierzig? Du liebe Güte, nein, weit daneben … fünfzig? Sechzig? Wie wär’s mit dreiundsiebzig? Bingo!«

Meriwether schloss die Augen und lehnte sich zurück.

»Alt genug jedenfalls, um deine Mutter zu sein.«

Meriwether schwieg einen Moment, bevor er sich an Jeffers wandte.

»Wissen Sie, Doc, Sie sollten mich dafür bezahlen, dass ich hier die Arbeit für Sie mache.«

Jeffers erwiderte nichts.

»Also, du toller Hengst«, nahm Meriwether wieder Miller ins Visier, »dann erzähl mal. Wie war’s denn so?«

Miller kniff die Augen zusammen. Er wartete, bis es still war.

»Weißt du was, Schwätzer? Es war perfekt. Ist es immer.«

Miller schwieg.

»Richtig, Freak?«

Meriwether nickte. »Richtig.«

Jeffers blickte in der halbherzigen Hoffnung in die Runde, jemand könnte ins Gespräch eingreifen. Er hatte im Lauf der Zeit erkannt, dass die Gruppe bestimmte Dinge nicht in Frage stellte. Spaß zu haben, gehörte in diese Kategorie. Er notierte sich, dass er das Thema in den regelmäßigen Einzelsitzungen der Männer jeweils weiterverfolgen sollte. Die Gruppe, so seine Überlegung, dient nur dazu, das zu vertiefen, was in den täglichen Therapiesitzungen vermittelt wurde. Manchmal, dachte er und musste innerlich schmunzeln, geht die Rechnung auf. Manchmal auch nicht.

»Miller«, schaltete sich Jeffers nun ein, »wollen Sie der Gruppe etwa sagen, dass die brutale Vergewaltigung einer dreiundsiebzigjährigen Frau eine befriedigende sexuelle Erfahrung gewesen ist?«

Mit einigen der anderen hätte er nicht so unverblümt reden können. Miller schüttelte den Kopf.

»Nein, Doc. Wenn Sie es so ausdrücken, nicht«, antwortete er verächtlich. »Eine befriedigende sexuelle Erfahrung, was immer das sein soll. Was ich sagen wollte – und der Freak da weiß, was ich meine, stimmt’s, Spinner? – ist nur, dass sie eben da war. Und ich war da. Es kam einfach nur eins zum anderen – keine besondere Sache.«

»Und meinen Sie nicht, dass es für sie eine besondere Sache war?«

Miller versuchte, einen Witz zu reißen.

»Na ja, vielleicht hat es ihr ja noch keiner so gut besorgt …« Es gab ein paar Lacher, die schnell verstummten.

»Kommen Sie, Miller. Sie sind brutal über eine alte Frau hergefallen. Was für ein Mensch tut so etwas?«

Miller funkelte Jeffers an.

»Sie hören mir nicht zu, Doc. Ich sag ja, sie war zufällig da. Keine große Sache.«

»Da liegt das Problem. Das war es eben doch.«

»Na ja, jedenfalls nicht für mich.«

»Wenn es keine große Sache war, was ist dann in Ihnen vorgegangen, als Sie es taten?«

»Was in mir vorging?« Miller zögerte. »Wie soll ich das verdammt noch mal wissen? Ich hatte Angst, dass sie mich identifiziert, wissen Sie, also hab ich ihre Brille zertreten, und ich hab versucht, auf der Hut zu sein, wollte die Nachbarn nicht wecken …«

»Ach, Miller, kommen Sie schon. Es wimmelte nur so von Ihren Fingerabdrücken, und Sie wurden dabei erwischt, wie Sie den Schmuck der alten Frau verkaufen wollten. Woran haben Sie also gedacht?«

»Was weiß ich, verdammt noch mal.«

Er verschränkte die Arme und sah geradeaus.

»Geben Sie sich ein bisschen Mühe.«

»Hören Sie, Doc, ich kann mich nur noch erinnern, dass ich stinksauer war. Hatte das Gefühl, dass alles komplett in die Hose ging. Ich war definitiv in einer ganz miesen Stimmung. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich alles zum Kotzen fand. So sehr, dass ich am liebsten geschrien hätte. Ich wollte jemandem wehtun, wissen Sie? Weiter nichts. Jemand anderem so richtig wehtun. Das brauchte ich dringend. Tut mir leid, dass mir das alte Mädchen da gerade in die Quere kam. Aber sie war nun mal da, und ich brauchte das in dem Moment. Kapiert? Fühlen Sie sich jetzt besser?«

Jeffers lehnte sich zurück. Für einen Neuling, dachte er, mach ich mich gar nicht so übel.

»Na schön«, meinte er. »Reden wir über Wut. Will jemand was sagen?«

Es trat kurzes Schweigen ein, bevor Wasserman, der stotterte, sagte: »M-m-manchmal hab ich das Gefühl, dass ich immer wütend bin.«

Als er die Antwort eines anderen Mannes in der Runde hörte, schlug Jeffers die Beine übereinander. »Wütend worauf?« Die Sitzung dauerte nur noch wenige Minuten, und Jeffers wusste, dass die Gruppendynamik sie ohne sein Zutun füllen würde; Wut war stets ein fruchtbares Gesprächsthema. Alle Lost Boys waren wütend. Damit kannten sie sich aus.

Er sah sich im Aufenthaltsraum um. Es war ein offenes, lichtund luftdurchflutetes Zimmer mit weißen Wänden und einer Fensterreihe, die den Blick auf die Sportplätze freigab. Das Mobiliar wirkte alt und schäbig, doch das war bei einer staatlichen Einrichtung nicht anders zu erwarten. An einer Wand lehnte eine zusammengeklappte Tischtennisplatte, die nur selten zum Einsatz kam. Irgendwann einmal hatte es auch einen Billardtisch gegeben, doch eines Tages hatte ein psychotischer Patient mit einem Queue zwei Pfleger krankenhausreif geprügelt, und so wurde der Tisch weggeschafft. Wenn ein Windstoß durch ein geöffnetes Fenster blies, flatterten Zeitschriften auf; der Fernseher schien verhext, er sendete nur Soaps und alte Filme. Es gab ein verstimmtes Klavier, an das sich immer mal wieder jemand setzte und hoffte, es würde sich durch unsichtbare Hand selbst stimmen. Das Klavier hat etwas mit den Patienten gemeinsam, dachte Jeffers. In der Hoffnung, eine Melodie zu finden, drücken wir immer wieder auf die Tasten, doch meistens endet es in einem Missklang. Jeffers mochte den Raum; er hatte etwas Stilles, Wohltuendes, und manchmal schien er Probleme regelrecht abzuwenden. Eine Prügelei passte einfach nicht hierher.

Er glaubte nicht, dass er sich je mit seinem Bruder geprügelt hatte.

Das war ungewöhnlich: Brüder kämpfen nun einmal miteinander, wieso sollte das bei ihnen anders gewesen sein? Doch sosehr er sich auch anstrengte, fiel ihm keine einzige Gelegenheit ein, bei der sie in mörderischem Zorn aufeinander losgegangen wären – eine hemmungslose Rage, die im nächsten Moment verpufft.

Er erinnerte sich noch an die Zeit, als Doug ihn mühelos am Boden festhalten konnte, indem er ihm die Arme auf dem Rücken verdrehte; doch das hatte er nur gemacht, damit Martin nicht ihrer Mutter nachjagte, die ihre Schulzeugnisse dem Drogisten zeigen wollte. Er hatte zum ersten Mal in einem Fach – Französisch – nicht bestanden und schämte sich dafür. Er erinnerte sich noch an den eisernen Griff seines Bruders, gegen den er machtlos gewesen war. Doug sagte nichts, sondern hielt ihn einfach nur fest. Er war sich nicht sicher gewesen, was er vorhatte – ob er ihr das Zeugnis aus der Hand reißen und vernichten wollte oder was auch immer. Er wusste nur, dass der Drogist außer sich sein würde, und da lag er richtig. Eine Woche lang jeden Abend in meinem Zimmer eingeschlossen. Aber das nächste Mal bekam ich eine Zwei und danach eine Eins.

»He, Pope!« Es war Meriwether. »Komm schon, Pope, du bist ein Mörder, Pope. Sag uns, wie wütend du werden musstest, um jemanden umzubringen.«

Jeffers wartete genau wie die anderen Männer im Raum. Das war eine gute Frage, musste er anerkennen, vielleicht nicht unbedingt vom therapeutischen Standpunkt, aber um die Neugier zu befriedigen allemal.

Pope schnaubte. Er hatte schmale schwarze Augenschlitze und im Vergleich zu seinem übrigen Körperbau zu breite Schultern. Jeffers hielt ihn für überaus kräftig. »Ich hab noch nie jemanden umgebracht, auf den ich richtig wütend war.«

Meriwether lachte. »Ach nee, Pope, ich bitte dich. Du hast diesen Kerl in der Kneipe erschlagen. Hast du uns letzte Woche erzählt. Eine Prügelei, erinnerst du dich?«

»Das hatte nichts mit Wut zu tun. Das war nur eine Prügelei.«

»Er ist draufgegangen.«

»Soll vorkommen. Glückliches Händchen.«

»Du meinst, unglückliches Händchen.«

Pope zuckte die Achseln. »Aus seiner Sicht vermutlich schon.«

»Du meinst, du hast dich mit ihm geprügelt, und er ist abgekratzt, und du warst nicht mal wütend auf ihn?«

»Du bist ein bisschen begriffsstutzig, Schlauchen, wie? Sicher hatte ich mit dem Schwachkopf eine Prügelei. Wir hatten was getrunken. Eins kam zum anderen, und er hätte mich nicht beleidigen sollen. Aber das ist nix Besonderes. So was passiert jeden Abend in jeder x-beliebigen Kneipe. Aber ich bin noch nie so stocksauer auf jemanden gewesen, dass ich mich nüchtern hingesetzt und ausgebrütet hätte, wie ich ihn umlegen soll. Könnt ihr euch eigentlich denken.«

Das leuchtete der Gruppe ein, und alle schwiegen eine Weile. »Ich war mal so wütend«, gab Weingarten zu. Er hatte den größten Teil der Sitzung über geschwiegen, registrierte Jeffers. Er war ein Exhibitionist mit schmierigem Haar, der gefasst worden war, weil er in einer Einkaufspassage während seiner Schau eine junge Frau angefallen hatte. Sie hatte sich jedoch losreißen und ihn am nächsten Tag bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen können, und so war er bei den Lost Boys gelandet. Jeffers bezweifelte, dass das Programm bei ihm viel bewirken würde; er hatte sein abartiges Verhalten eben erst gesteigert. Wahrscheinlich faszinierten ihn die neuen Erfahrungen zu sehr, als dass er gleich wieder damit aufhören würde. Die Lost Boys litten schließlich nicht an irgendeiner gewöhnlichen Krankheit. Plötzlich kam ihm wieder in den Sinn, wie ihnen an der Uni stets eingebleut worden war, eine Krankheit im Frühstadium zu erkennen, bevor sie weiter fortschreiten konnte. Hier musste man die Krankheit therapieren, nachdem sie bereits voll ausgebrochen war. Man versuchte, sie im Nachhinein auszumerzen. Gewöhnlich war es ein hoffnungsloses Unterfangen, räumte er wehmütig ein, auch wenn die Erfolgsraten stets geschönt wurden, um weiterhin die Finanzierung sicherzustellen.

»Ich meine, ich wollte ihn wirklich umbringen und so.«

»Und was haben Sie gemacht?«, fragte Jeffers.

»An der Highschool gab es einen Mistkerl, der mir tierisch auf die Eier ging, ihr wisst schon, so ein Typ, der sich vor allen anderen vor dir aufpflanzt und dir richtig fest auf den Arm boxt, nur damit du alt aussiehst. Weil er weiß, dass du nicht zurückschlagen kannst. Versteht ihr, was ich meine? Ein richtiger Sack. Ein richtiges Arschloch …«

»Und das aus deinem Mund«, warf Meriwether ein.

Weingarten ignorierte ihn und fuhr fort.

»Zuerst hätte ich ihn am liebsten umgebracht. Mein Dad hatte eine Jagdflinte, er ging gern auf Rotwildjagd, das fand ich richtig klasse, aber er wollte mich nie mitnehmen. Da war ein richtig gutes Zielfernrohr dran, und einmal hatte ich den Arsch direkt im Fadenkreuz. Hätte es machen sollen. Aber dann war ich ein bisschen schlauer und hab mir gedacht, ich geb’s ihm einfach genauso, wie er’s mir gegeben hatte, ja? So richtig nett vor allen anderen. Also hab ich gewartet und geplant, es ihm direkt vor dem entscheidenden Heimspiel zu zeigen. Ich wollte dafür sorgen, dass er einen Platzverweis kriegt, so einfach war das. Der Trainer hatte ein Ausgehverbot verhängt, und ich wusste, dass der Scheißkerl was mit einer der Cheerleader hatte. Ich bin ihnen einfach zu der Stelle gefolgt, wo es die anderen gewöhnlich im Auto trieben, und hab gewartet. Dauerte nicht lange, bis sie loslegten. Nach ’ner Weile hab ich mich rangeschlichen und zack! Mit ’nem Eispickel sauber in jeden Reifen. Ich wusste, dass sie nie im Leben pünktlich zu Hause sein konnten. Bingo! Platzverweis. Das Mädchen war nämlich zufällig die Tochter des Trainers. Wasserdichte Sache.«

»Und wie ging’s weiter?«

»Sie waren erst um vier Uhr morgens zu Hause.«

»Und hat der Trainer den Scheißkerl ausgeschlossen?« Weingarten zögerte.

»Er war immerhin der scheiß Fullback. Bezirksliga. Hatte ’n Stipendium für die Notre-Dame in Michigan. Und es war immerhin das scheißwichtige Heimspiel. Also, was glaubst du?«

Die Lost Boys brachen in Gelächter aus, und Jeffers fiel ein. Weingarten musste ebenfalls lachen. »Es war ’ne gute Idee«, meinte er. »Wenigstens hat sich der Mistkerl in der zweiten Viertelzeit das Knie aufgeschlagen und war sein Stipendium los.«

»Was ist denn aus ihm geworden?«, wollte einer der anderen wissen.

Weingarten grinste. »Mann, der war so ein Mistkerl, klar, dass der nur Cop werden konnte.«

Das Grölen der Lost Boys schallte durch den Raum.

Sein Bruder, dachte Jeffers, hätte ein großartiger Sportler werden können. Wenn er spielte, hatte man das Gefühl, als zöge er den Ball magisch an. Er war schnell und konzentriert, und er hatte eine seltsame Art von Stärke, die nicht von der Muskelkraft abhing, aber umso überlegener war. Außerdem besaß Doug diese besondere Fähigkeit, wenn nötig, den ganzen Tag zu rennen. Er verfügte über eine unglaubliche Ausdauer. Sie speiste sich aus der Wut. Je mehr ihre Eltern ihn zum Sport ermunterten, desto weniger wollte Doug damit zu schaffen haben. Das gehörte wiederum zu seinen kleinen Rebellionen. Martin entsann sich, wie er eines Nachts in ihrem Zimmer saß, nachdem sie das Licht gelöscht hatten, und seinem Bruder zuhörte, der über Hass sprach. Es hatte ihn überrascht, wie abgrundtief die Gefühle seines Bruders waren. »Ich werde keinen Finger für sie krumm machen«, hatte er erklärt. »Ich werde rein gar nichts für sie tun, nichts, was ihnen gefallen könnte. Nichts.«

Aus heutiger Sicht würde Jeffers sagen, dass sich in einer solchen Haltung ein tiefsitzender Selbsthass manifestierte. Doch seine Kindheitserinnerung war stärker. Was er immer noch spüren konnte, war die geballte Wucht dessen, was sein Bruder im dunklen Zimmer zu sagen hatte. Er hatte Dougs Gesicht nicht sehen können, stattdessen erinnerte er sich an den nächtlichen Blick aus dem Fenster über den Garten bis zur nächsten Straße, wo das Mondlicht durch die Bäume schien. Es war ein bescheidenes Haus in einem bescheidenen Vorstadtviertel, das die ganze Wut in seinen vier Wänden staute.

»Der einzige Mensch, auf den ich jemals so sauer war, dass ich ihn umbringen wollte, Mann, war meine Alte.« Jeffers blickte auf und sah, dass Steele das Wort ergriffen hatte. »Die hat immer nur gemeckert, Mann, Tag und Nacht. Morgens, mittags und abends. Verflucht, manchmal hab ich gedacht, die meckert auch noch weiter, wenn sie schläft …«

Die anderen lachten. Jeffers sah, dass einige nickten.

»Wisst ihr, der war es völlig egal, wo wir gerade waren und was wir gerade machten. Sie hat immer dafür gesorgt, dass ich mich, äh, klein gefühlt hab. Klein.«

Es herrschte einen Moment Schweigen, bevor Steele fortfuhr. Jeffers war mit der Patientenakte von Steele bestens vertraut. Er hatte sein eigenes Viertel unsicher gemacht, indem er sich in der Mittagspause von seiner Arbeit als Klempner fortstahl und Hausfrauen überfiel.

Wieder trat Stille ein.

»Wahrscheinlich«, sagte Steele nach einer Weile, »säße ich jetzt nicht hier, wenn mir was eingefallen wäre, wie ich mich an ihr hätte rächen können.«

Jeffers machte sich eine Notiz und dachte: Ist dir doch eingefallen.

Er sah auf die Uhr. Die Sitzung war fast um. Er fragte sich einen Moment, wieso sein Bruder sich geweigert hatte, mit ihm zu Abend zu essen, bei ihm zu übernachten oder wenigstens ein bisschen länger zu bleiben.

»Es ist eine ›empfindsame Reise‹ …«

Was hatte er damit gemeint? Martin merkte, wie in ihm Wut hochstieg. Doug konnte in einem Moment gnadenlos direkt sein und dann wieder unergründlich vage. Er hatte plötzlich ein leeres Gefühl im Magen. Wie gut, überlegte er, kenne ich meinen Bruder? Und automatisch kam die Frage hinterher: Wie gut kenne ich mich selbst? Er ging seinen Terminkalender für den Rest des Tages durch: Visite. Mehrere Stunden Einzeltherapie. Essen allein in seiner Wohnung. Ein Ballspiel im Fernsehen, ein Kapitel in einem Buch, ins Bett. Am nächsten Morgen das Ganze wieder von vorne. Routine ist eine Art Schutzschild, dachte er. Er fragte sich, womit sich sein Bruder schützte. Und wovor? Das ist nicht schwer zu beantworten, dachte er. Er sah sich im Zimmer um.

Wir schützen uns immer vor uns selbst.

»Ich bin dem Unheil auf der Spur …« Er schmunzelte. Das war typisch Doug. Ein Hang zur Theatralik. Für einen Augenblick fühlte er einen Anflug von Eifersucht, dann beließ er es dabei. Wir sind, wie wir sind, dachte er und wurde verlegen. Diese Weisheit ist nicht eben neu, sagte er sich, und noch einmal kam ihm die Frage: Wie ähnlich sind wir uns?

Rechts von ihm regte sich der Pfleger Simon. Er streckte die Glieder und stand auf.

Jeffers hörte, wie die Männer mit den Stühlen rückten, und fühlte sich an eine Grundschulklasse kurz vor der Pausenglocke erinnert.

»Gut«, meinte Martin Jeffers. »Das war’s für heute.«

 

Martin Jeffers sah den Männern nach, die allein oder in Grüppchen den Tagesraum verließen. Er hörte das Lachen durch den Flur. Als er allein war, sammelte er seine Papiere ein, machte ein paar Einträge in sein Notizbuch und schlenderte noch eine Weile durchs Zimmer, um die Sonne im Rücken zu genießen. Es war still, und er kam zu dem Schluss, dass die Sitzung ein Erfolg gewesen war: Keine Handgreiflichkeiten, kein unversöhnlicher Streit, auch wenn es nicht schaden konnte, Miller und Meriwether im Auge zu behalten. Es war ein wenig Fortschritt zu verzeichnen. Vielleicht konnten sie Weingartens Geschichte weiter vertiefen. Er beschloss, in der nächsten Sitzung das Thema Eifersucht anzuschneiden, und zog die Tür hinter sich zu.

Der Anstaltsflur war menschenleer, und er lief zügig am Eingang vorbei zu einer der Stationen. Er blickte durch die Glasscheibe in der Tür und hatte dasselbe lethargische Bild wie jeden Tag vor Augen. Ein paar Leute, die schwatzend herumstanden, und andere, die Selbstgespräche führten. Einige lasen, andere spielten Schach oder Dame. In einer Anstalt dreht sich so viel darum, einfach nur Zeit totzuschlagen. Die Patienten werden wahre Meister darin, bestimmte Tätigkeiten in die Länge zu ziehen, so dass die Mahlzeiten und andere Höhepunkte ewig dauern konnten. Zeit wurde in voller Absicht vergeudet, und das war für Menschen, für die sie alle Dringlichkeit verloren hatte, gar nicht mal unvernünftig.

Als er sein Büro erreichte, entdeckte er an seiner Tür eine Notiz: UMGEHEND IN DR. HARRISONS BÜRO ANRUFEN! Dr. Harrison leitete die Heilanstalt. Jeffers betrachtete die Notiz und fragte sich, worum es wohl ging. Er schloss auf und legte die Papiere ab. Er drehte sich um und starrte für einen Augenblick auf das Bücherregal aus Stahl, das sich unter der Last von Papieren, Akten und Lehrbüchern bog. An der Wand hing ein Kalender mit Gemälden von Vermont. Das erinnerte ihn plötzlich an eine gute Zeit: Da haben wir viel Spaß gehabt, dachte er. Angeln und Zelten. Er dachte an die Forelle, die Doug gefangen und wieder ins Wasser geworfen hatte, nur um den Spott ihres Vaters zu ernten: »Wenn du sie erst mal berührst, wischst du etwas von dem Schleim weg, den sie am Körper haben, und dann erkälten sie sich und sterben. Du kannst eine Forelle nicht einfach wieder ins Wasser werfen.« Und dann hatte ihr Vater weitergelacht und mit dem Finger auf seinen Bruder gezeigt. Martin Jeffers überlegte, ob es wohl stimmte. Er hatte es nie überprüft. Es machte ihn richtig verlegen, wenn er daran dachte, wie er durchs Leben gegangen war und von dem Moment an geglaubt hatte, dass man eine Forelle nicht ins Wasser zurückwerfen konnte, ohne sie damit zu töten. Dr. Harrison ist Angler, dachte er, verdammt, ich werde ihn fragen.

Er nahm den Hörer ab und wählte den Anschluss des Verwaltungsdirektors. Die Sekretärin meldete sich.

»Hallo, Martha. Marty Jeffers. Ich habe Ihren Zettel gefunden. Was hat der Chef auf dem Herzen?«

»Ach, Dr. Jeffers«, sagte die Sekretärin, »Genaues weiß ich auch nicht, aber hier ist eine Kripobeamtin. Extra von Florida heraufgekommen, aus Miami, sagt sie, und sie möchte mit Ihnen sprechen …«

Die Sekretärin zögerte, und Jeffers dachte an Palmen und Strände. »Ich war noch nie in Miami«, meinte er. »Wollte immer mal hin.«

»Ach, Doktor«, fuhr die Sekretärin fort, »sie sagt, es gehe um einen Mordfall.«

Jeffers fragte sich einen Moment, ob die Forelle vielleicht, nachdem sie angefasst worden war, wusste, dass sie sterben würde; ob sie vielleicht wegschwamm, um sich einen warmen Strudel hinter ein paar Felsen zu suchen, um sich dort ihrer Umgebung zum Trotz zu Tode zu frieren.

»Bin gleich da«, erklärte er.