12. KAPITEL
Noch eine Fahrt nach New Hampshire

 

17.

Er hatte die Stricke zu fest geschnürt, und das Nylon schnitt ihr äußerst schmerzhaft in die Handgelenke. Nachdem sie gemerkt hatte, dass der Strick ihr jedes Mal, wenn sie daran zog oder die Hände verdrehte, das rohe Fleisch wundrieb, hatte sie es aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Sie versuchte, das Pochen bis in die Arme hinauf zu ignorieren und etwas Schlaf zu finden, doch immer, wenn sie die Lider schloss, sah sie nur den rotglühenden Schmerz, vor dem es kein Entrinnen gab. Und so blieb sie hellwach, obwohl sie die Grenze der völligen physischen und psychischen Erschöpfung weit hinter sich gelassen hatte. Auch der Knebel in ihrem Mund bereitete ihr Probleme. Sie konnte nur durch die Nase atmen, die er blutig geschlagen hatte, so dass ihr bei jedem Atemzug geronnenes Blut und Schleim die größten Schwierigkeiten machten. Zuerst hatte er sie geknebelt, dann ihren Kopf heftig zurückgezogen und das Tuch in ihrem Nacken fest verknotet, ohne darauf zu achten, was er tat. Dann hatte er ihr ein graues Klebeband quer über den Mund geklebt. Es stank nach Chemie, und sie hatte Angst, sich zu übergeben.

Sie wusste, das konnte ihr Ende bedeuten. Wenn sie sich vor Schmerz, Angst und Panik erbrach, dann konnte sie daran ersticken. Sie war verblüfft, als ihr klar wurde, dass sie die Gefahr, in der sie sich befand, sehr genau einschätzen konnte, und trotz der Nebelschleier, die die Qual über ihr Bewusstsein legte, musste sie daran denken, welche Wegstrecke sie schon zurückgelegt hatten und wie viel mehr sie begriff. Bei dem Gedanken kroch ihr erneut Angst den Rücken hoch. Nachdem sie diesen Alptraum bis hierher überlebt hatte, fühlte sie sich äußerst verletzlich. Sie wies den Gedanken, dass er sie jetzt töten wollte, energisch zurück.

Anne Hampton wusste nicht, weshalb Douglas Jeffers sie in dieser Nacht geschlagen und gefesselt hatte, doch wirklich überrascht war sie nicht.

Vermutlich lag es daran, dass ihm die Ermordung der beiden jungen Frauen vereitelt worden war. Doch sie hatte ihn nicht wiedererkannt. Er hatte der blanken Wut freien Lauf gelassen.

Irgendwie hatte sie gewusst, was kommen würde.

Er war mürrisch und ohne ein Wort von der Rennbahn weggefahren, und sein Schweigen war schlimmer gewesen als sein übliches Monologisieren. Trotz der Dunkelheit war er an New York vorbeigefahren, bis sie um Mitternacht die Gegend von Bridgeport, Connecticut, erreichten. Dort hatte er ein mieses Quartier wie üblich gefunden, sich bei einem unrasierten Nachtconcierge eingetragen, kaum ein Wort mit ihm gewechselt und wie immer bar bezahlt. Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, hatte er sich auf sie gestürzt und sie mit der flachen Hand geschlagen, so dass sie quer durchs Zimmer flog. Bei den ersten Hieben hatte sie schützend die Arme hochgehoben, doch schließlich hatte sie sich gefügt und die Prügel eingesteckt, die er austeilen wollte.

Ihre Passivität hatte ihn vielleicht enttäuscht, doch fast so schnell, wie sie seine Schläge trafen, durchfuhr sie der Gedanke, dass sie die Stelle der beiden Frauen einnehmen könnte, falls sie sich wehrte. Sie waren mit dem Leben davongekommen, und sie wollte nicht hier und jetzt deren Glück mit ihrem eigenen Leben bezahlen.

Und so sank sie zu Boden, hielt nur zaghaft die Arme vor sich und ließ sich von ihm verprügeln.

Es war wie ein Anfall gewesen, ein Krampf, kurz und entsetzlich, doch schnell vorbei. Dann hatte er sie verächtlich in eine Ecke geschleift, wo sie zwischen der Wand und den durchgelegenen Betten des Motelzimmers kauerte. Sie hatte nicht gesehen, wie er die Stricke geholt hatte, doch plötzlich hatte er sie niedergeworfen, und sie hatte gespürt, wie sich die Fesseln schlangengleich fest um sie legten. Gleich darauf folgte der Knebel. Sie hatte hochgeschaut und versucht, seine Augen zu sehen, um zu begreifen, was passierte, doch vergeblich. Er hatte ihr einen letzten gereizten Stoß versetzt und ohne eine Erklärung, mit der vagen Versprechung: »Ich komme wieder«, das Motel verlassen.

Die meiste Angst machte ihr der Strick. Seit ihrem ersten Tag hatte er ihn nicht mehr benutzt, und sie fürchtete, dass dies eine schreckliche Veränderung in ihrer Beziehung signalisierte. Sie war wieder sein Besitz und nicht mehr, so seltsam das auch klang, so etwas wie seine Partnerin. Sie hatte ihre Identität, ihre Bedeutung verloren. Wenn sie für ihn nicht mehr wichtig war, dann würde er sich ihrer entledigen, und ihr war sehr wohl bewusst, dass der Euphemismus für etwas anderes stand. Sie erkannte, dass die Situation äußerst gefährlich für sie geworden war. Boswell würde er nicht so schnell töten, eine namenlose, gesichtslose, gefesselte und geknebelte Frau, die ihm lästig fiel und ihn an einen Fehlschlag erinnerte, dagegen schon, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. Sie suchte, so gut sie konnte, das Zimmer mit ihren Augen ab. Sie sah eine alte Frisierkommode, einen Spiegel und zwei Betten mit billigen, verblichenen, braunen Korddecken darauf, und sie musste daran denken, dass es ein erbärmlicher Ort zum Sterben war.

Sie hatte Vicki und Sandi vor Augen, die sich nur widerstrebend wieder angezogen hatten. Sie war verwirrt gewesen. Jeffers war lächelnd, witzelnd und in übermütiger Stimmung aus dem Wald getreten, als sei alles in bester Ordnung, doch sie wusste, dass ihm irgendetwas einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, was sie nur umso mehr alarmierte. Er hatte den beiden wegen ihres guten Aussehens geschmeichelt und ihnen eine echte Chance auf die sagenumwobene Doppelseite versprochen.

Sie erinnerte sich, dass sie das alles wie aus der Ferne mitbekam. Sie war in böser Erwartung wie gelähmt gewesen; sie hatte ein Dutzend Mal aufgeschaut und die Waffe in seiner Hand gesehen, bevor sie erkannte, dass es nur die Kamera war.

Nachdem er noch ein paar Aufnahmen gemacht hatte, hatte er sie alle durch den Wald wieder zurück zum Wagen gedrängt. Auf der Fahrt zur Rennbahn hatte er die beiden kichernden Mädchen immer noch geneckt, während Sandi und Vicki immer wieder beteuerten: »Nicht zu fassen, was wir für Glück gehabt haben.«

Wäre es nicht zum Weinen gewesen, hätte sie gelacht.

Für sie war die Tatsache, dass der Mord ausgeblieben war, doppelt so beängstigend gewesen wie der Akt selbst. Sie wusste nicht, was vorgefallen war, welcher Zufall oder glückliche Umstand den beiden Frauen das Leben gerettet hatte. Sie wusste nur, dass er sie wieder an der Haupttribüne abgesetzt und den beiden lachend hinterhergewinkt hatte, bevor er aufs Gas getreten und Richtung Highway gefahren war. Nach diesem falschen Lachen hatte sie bei Douglas Jeffers nur noch stetig anschwellenden Zorn beobachtet.

Anne Hampton schaffte es, sich trotz des brennenden Schmerzes an den Handgelenken zu entspannen und sich darüber Klarheit zu verschaffen, was geschehen war.

Wenn er zurückkam, schwor sie sich, würde sie ihn dazu bringen, sie zu befreien. Sie konzentrierte sich darauf und schärfte sich ein: Nichts anderes zählt. Nichts anderes ist wichtig. Du musst erreichen, dass er anerkennt, wer du bist. Und das wird er erst tun, wenn er mir die Fesseln abnimmt.

Sie schluckte schwer und merkte, dass ihr Magen auf und nieder ging wie ein Boot im Sturm.

Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihr die schiere Angst bereitete.

Ich bin im Moment dem Tode näher als zu irgendeinem Zeitpunkt seit den ersten Minuten.

Mach dich unverzichtbar.

Er muss dich brauchen.

Er muss.

Er muss.

Zwing ihn dazu.

Während sie auf seine Rückkehr wartete, wiederholte sie die Worte immer und immer wieder wie ein schreckliches Wiegenlied.

 

Douglas Jeffers fuhr ziellos durch die dunklen Straßen, einzig auf der Suche nach einem Ventil für seine Frustration. Einen Moment lang dachte er daran, in die Innenstadt zu fahren und einfach einen Pechvogel auf der Straße hinzurichten. Er überlegte, ob er eine Prostituierte finden sollte; die boten das leichteste Ziel, sie leisteten ihrer Ermordung geradezu Vorschub. Auch der Gedanke, bei irgendeiner rund um die Uhr geöffneten Tankstelle vorzufahren und einfach den Angestellten wegzupusten, hatte etwas für sich. Das lief unter Berufsrisiko, wenn man nachts für Benzin Geld kassierte. Immer wieder war jemand anders an dem Geld interessiert und bereit, dafür zu töten. Für Douglas Jeffers hatten all diese verschiedenen Möglichkeiten ihren Reiz; das war der Stoff der allnächtlichen Polizeiberichte. Diese Fälle bekamen am nächsten Morgen höchstens ein paar Zeilen in der Zeitung. Im städtischen Leben waren sie der ganz normale Standard, geradezu Routine. Es war nur wenig von Belang, dass ein Leben endete, eine Begleiterscheinung der Nacht, die mit der ersten Morgendämmerung verblasst.

An diese Art Verbrechen würde ein Experte von seinem Format nicht mehr als ein paar Sekunden verschwenden, und der Fall wäre klar.

Er schüttelte den Kopf. Ein anderes Mal, dachte er, werde ich es tun. Vielleicht eine Spirituosenhandlung, die ein bisschen zu lange geöffnet hat. Eine Skimütze und eine große Knarre. Ein wahrhaft amerikanischer Augenblick.

Nicht jetzt. Nicht so kurz vor dem Ende.

Nicht noch alles vermasseln.

Er wünschte sich abwechselnd, er hätte den jungen Ranger getötet oder die zwei jungen Frauen, doch vor allem war er auf sich selbst wütend, weil er die Probleme nicht vorhergesehen hatte, die sich an das geplante Verbrechen knüpften. Er ging in Gedanken noch einmal die Einzelheiten durch und machte sich bittere Vorwürfe: Ich war doch immer auf jede Eventualität gefasst; ich hab bisher immer jedes Dilemma vorhergesehen. Ich hätte ein besseres Versteck finden müssen. Er haderte mit sich wegen der Wahl der Lichtung. Mir gefiel das verdammte Licht und der Hintergrund. Ich habe wie ein Fotograf und nicht wie ein Mörder gedacht. Die ganze Arbeit war also umsonst, umsonst, verdammt, verdammt, verdammt!

Er versuchte, seine Wut zu besänftigen, indem er sich sagte, dass mit dem Auftauchen des Rangers nicht zu rechnen gewesen war. Doch das waren faule Ausreden, und die waren erbärmlich. Ich bekomme doch sonst, was ich will, sagte er sich. Und zwar immer.

Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, warf sich heftig auf seinem Sitz hin und her, so dass er selbst bei langsamem Tempo kaum noch Kontrolle über das Fahrzeug hatte. Er hätte schreien können, tat es aber nicht. Dann fiel ihm Anne Hampton im Motelzimmer ein. Lass sie schmoren, sagte er sich wütend. Lass sie Angst ausstehen. Lass sie leiden.

Lass sie sterben.

Er holte tief Luft und hielt sie einen Moment an.

Er war erstaunt, dass diese Überlegungen ihm ein etwas unbehagliches Gefühl bereiteten.

In einer verlassenen Straße in einer Lagerhausgegend fuhr er rechts heran. Er legte den Kopf zurück und war plötzlich müde.

Es war verdammt noch mal nicht ihre Schuld. Es war deine.

Sie hat getan, worum du sie gebeten hast.

Er machte die Augen zu.

Verdammt. Der Plan war fehlerhaft.

Er seufzte. Nun ja, womit lediglich bewiesen wäre: Nobody is perfect.

Seine Wut verflog mit einem Schlag, und er kurbelte die Scheibe herunter, so dass sich die abgestandene Luft im Wagen mit der dunklen, kühlen der Nacht vermischte.

Er lachte laut auf. Das Lachen verwandelte sich in ein kindisches Kichern. Nobody is perfect, dachte er. Stimmt.

Aber du bist verdammt nah dran.

Er dachte an die beiden nackt posierenden Frauen. Du musstest sie gar nicht töten, wurde ihm klar. Die sterben vermutlich früher oder später an Langeweile und Dummheit sowie einem öden Leben, das wenig verspricht und noch weniger hält. Das Aberwitzigste, wurde ihm in diesem Moment bewusst, war die Tatsache, dass sie soeben die einzigartigsten, aufregendsten und gefährlichsten Minuten hinter sich hatten, die sie je erleben würden, egal wie alt sie würden. Einen erhabenen Nachmittag lang waren sie mit wahrer Genialität in Berührung gekommen und hatten es geschafft, ihn zu überleben. Und die blöden Kühe wussten es nicht einmal.

Wieder musste er lachen. Die Erschöpfung machte sich in ihm breit, und er räumte ein, dass er unbedingt schlafen musste. Nun ja, dachte er, wir sind durchaus noch im Zeitplan. Eine nette kleine Fahrt nach New Hampshire am nächsten Morgen. Er überlegte, ob er sie, bevor es Abend wurde, noch auf den Mount Monadnock oder an den Lake Winnipesaukee oder sonst ein hübsches Fleckchen mitnehmen sollte. An irgendeinen ruhigen, entspannenden Ort. Er dachte an eine Stadt, die er in Vermont kannte. Ziemlich abgelegen, aber schön – und zugleich nicht weit von ihrer Verabredung in New Hampshire. Dann noch der geschäftliche Teil, bevor sie zum Cape aufbrachen.

Plötzlich dröhnte ihm schwere, hämmernde, anschwellende syn thetische Musik im Kopf, und er sah den grinsenden Schauspieler in weißem Overall, schwarzer Melone auf dem Kopf und Pappnase im Gesicht sowie Springerstiefeln an den Füßen vor Augen. Ein bisschen von der alten radikalen Gewalt, sagte er sich. Eine richtige Horrorshow.

Und dann die Freiheit.

Wieder dachte er an Anne Hampton. Wahrscheinlich ist Boswell halb wahnsinnig vor Angst. Er zuckte die Achseln. So schlimm war das schließlich nicht; es war klug, sie aus der Fassung zu bringen.

Dennoch hatte er einen Anflug von schlechtem Gewissen.

Gib ihr eine Verschnaufpause, dachte er. Sie ist nach wie vor unverzichtbar.

Der Gedanke hatte etwas Zielgerichtetes; er ging einen Moment in sich, bekam wieder Boden unter den Füßen und war bereit, sofort ins Motel zurückzukehren. Er machte sich die ersten Gedanken darüber, wie er sich bei ihr entschuldigen sollte. Als er gerade den Gang einlegen wollte, um loszufahren, entdeckte er den Lieferwagen, der zweihundert Meter vor ihm parkte.

Er wusste augenblicklich, was es war. Warenhaus. Außerhalb der Gegenden mit regelmäßiger Polizeipatrouille. Nach Mitternacht. Ein Lieferwagen. Eine einfache Gleichung: Einbruch. Ihm kam eine Idee, und er schmunzelte.

Nein, hielt er sich in Gedanken zurück.

Und dann: Wieso nicht?

Er hätte losprusten können, doch er mahnte sich zur Vorsicht.

Ohne das Licht einzuschalten, ließ er das Auto so leise wie möglich an den Lieferwagen heranrollen. Dieser hatte eine undefinierbare helle Farbe und wirkte etwas ramponiert. Es bewegte sich offenbar nichts, doch vorsichtshalber behielt Jeffers die Pistole in der Hand. Als er kurz hinter dem Wagen hielt, konnte er im spärlichen Licht der Straßenlaterne gerade noch das Kennzeichen entziffern. Er wartete einen Moment und registrierte, dass der Pfosten an der Tür zum Warenhaus offenbar aufgesplittert war, auch wenn er es nicht mit Sicherheit sagen konnte, ohne auszusteigen. Das unterließ er tunlichst. Nicht, dass er den Mann oder die Männer im Innern fürchtete. Er wollte nur nicht auf das Überraschungsmoment verzichten. Er rollte vorbei, ohne seine Scheinwerfer anzumachen, bis er ein paar Häuserblocks weiter war.

Er hielt an der erstbesten Tankstelle mit Münztelefon und wählte die Notrufzentrale.

»Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst Bridgeport«, meldete sich eine teilnahmslose Stimme.

»Ich möchte einen Einbruch melden, der gerade passiert«, sagte Douglas Jeffers.

»Gerade jetzt?«

»Genau das hatte ich gesagt«, bekräftigte Jeffers eine Spur ungehalten. »In diesem Moment.« Er gab dem Polizisten die Anschrift und eine Beschreibung des Lieferwagens sowie des Nummernschilds.

»Danke. Schon unterwegs. Würden Sie mir für unsere Unterlagen wohl Ihren Namen geben?«

»Nein«, lehnte Douglas Jeffers ab. »Betrachten Sie mich einfach als einen besorgten Bürger.«

Damit legte er auf. Ein besorgter Bürger. Das gefiel ihm. Wenn die wüssten, dachte er. Er stellte sich vor, wie ein Einbrecherpärchen, ganz in Schwarz gekleidet, plötzlich von den Scheinwerfern einer Polizeistreife überrascht wurde. Wahrscheinlich würden sie ihr Pech verfluchen und frustriert an den Handschellen zerren, während die Polizisten den Erfolg meldeten und sich zu der ordentlichen Festnahme beglückwünschen ließen. Wenn sie nur den blassesten Schimmer hätten, von wem der Tipp stammte. Die Bösen wie die Guten. Wie die aus der Wäsche gucken würden.

Dann lachte er über den schieren Aberwitz lauthals los.

Anne Hampton hörte den Schlüssel im Schloss und spannte die Muskeln gegen die Stricke. Von der Stelle aus, an der sie lag, konnte sie die Tür nicht sehen, sondern sie nur knarren hören, als sie aufging. Als die Tür sich schloss und Schritte auf sie zukamen, gab sie durch den Knebel und das Klebeband einen erstickten Laut von sich. Sie hob den Kopf, um Douglas Jeffers direkt in die Augen zu sehen. Sie hatte sich mit aller Macht darauf konzentriert, die ungehaltene Angst aus ihrem Gesicht zu verbannen und eine trotzige, fordernde Miene aufzusetzen. Ihre Blicke trafen sich, und Jeffers schien erstaunt.

»Oh«, machte er. »Boswell scheint verärgert.«

Er beugte sich herunter und riss ihr das Klebeband vom Mund. Bei dem lauten Reißen glaubte sie, ihre Lippen und Wangen wären aufgeplatzt. Sie bewegte sich nicht, während er ihr den Knebel lockerte.

»Besser?«, fragte er.

»Entschieden. Danke.« Sie sprach in gemäßigtem, doch leicht gereiztem Ton. Douglas Jeffers lachte.

»Boswell ist böse.«

»Nein«, entgegnete sie, »nur angespannt.«

»Das ist nicht verwunderlich. Bist du verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf

»Nur steif.«

»Dagegen sollten wir etwas tun.«

Douglas Jeffers zog ein Messer heraus. Sie sah, wie das Licht von der Nachttischlampe sich in der Klinge spiegelte. Sie holte tief Luft und dachte: Boswell, Boswell, er hat dich Boswell genannt, du hast nichts zu befürchten. Noch nicht, noch nicht.

Er legte ihr die Klinge flach an die Wange.

»Ist dir schon mal aufgefallen, wie schwer man unterscheiden kann, ob ein Messer heiß oder kalt ist? Es hängt davon ab, wovor man gerade Angst hat. Je nachdem, was für ein Gefühl man gerade in der Magen- oder Herzgegend hat, kommt einem die Berührung glühend heiß oder eiskalt vor.«

Sie rührte sich nicht, sondern starrte geradeaus.

Nach einer Weile zog er die Klinge weg.

Er machte sich daran, die Stricke zu zerschneiden, und ihre Hände waren frei.

»Ich hätte dich nicht schlagen sollen«, stellte er in sachlichem Ton fest. »Es war nicht deine Schuld.«

Sie antwortete nicht.

»Nenn es einen Moment der Schwäche.« Er schwieg. »Einen seltenen Moment.« Er half ihr auf die Beine.

»So ist’s gut. Ein bisschen wackelig, aber nicht allzu schlimm. Du kannst dich im Badezimmer waschen.«

Sie machte ein paar unsichere Schritte und hielt sich dafür an der Wand fest. Im Spiegel sah sie, dass sich um Mund und Nase Blut verkrustet hatte, das sie aber wegbekam, als sie energisch genug daran schrubbte. Sie spürte, wie sie mit einem Schlag die Erschöpfung überwältigte, und musste sich am Waschbeckenrand festhalten, um nicht zu fallen.

Als sie wieder ins Zimmer trat, sah sie, dass Douglas Jeffers das Bett für sie aufgeschlagen hatte. Sie ließ die Jeans zu Boden gleiten und kroch dankbar hinein. Er verschwand ins Bad, und sie hörte Wasser laufen, dann die Toilettenspülung. Er kam heraus und stieg in das andere Bett. Er schaltete das Licht aus, und die Dunkelheit schwappte über sie wie eine Welle am Strand.

Eine Weile schwieg er, dann sagte er:

»Boswell, hast du je darüber nachgedacht, wie gefährdet das Leben ist?«

Sie antwortete nicht.

»Nicht nur die täglichen Gefahren, sondern das Leben als solches hängt an einem seidenen Faden. Denk mal an die Mutter, die ihrem Kind einen Moment den Rücken kehrt, und es läuft prompt auf die Straße. Oder den Vater, der nur dieses eine Mal zu faul ist, sich auf dem Weg zur Arbeit anzuschnallen. Unfälle. Krankheiten. Pech. Den einen erlöst der Tod, gewiss. Aber die Hinterbliebenen bringt er aus dem Gleichgewicht, aus der Bahn. Sie verlieren ihre Mitte. Denk nur mal an all die Menschen, die du gekannt hast und die dich geliebt haben. Stell dir nur mal einen Augenblick lang vor, was dein Tod für sie bedeuten wird …«

Sie schloss die Augen. All ihre tapferen Vorsätze waren verflogen, und sie wollte nur noch weinen.

»… oder was ihr Tod für dich bedeuten würde. Leere. Ein tiefes Loch. Erinnerungen, die man nicht vertreiben kann. Vielleicht irgendwo ein Fotoalbum. Ein Grab, das man einmal im Jahr besucht. Wir sind alle auf so vielfältige Weise miteinander verbunden, unser seelisches Gleichgewicht hängt von anderen Menschen ab. Söhne und Väter. Töchter und Mütter. Brüder. Schwestern. Alles ein brüchiges Beziehungsgeflecht. Zu eng verwoben, und alles so zerbrechlich wie Porzellan.«

Er schwieg einen Moment und wiederholte dann mit Nachdruck:

»Zerbrechlich. Zerbrechlich. Zerbrechlich.«

Wieder zögerte er.

»Ich hasse das mehr als irgendetwas sonst«, gab er zu. Seine Stimme war nur noch mühsam beherrscht und voller Bitterkeit. »Ich hasse es, dass wir nicht selbst bestimmen können, wer wir sind. Ich hasse es, keine Wahl zu haben. Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es, hasse, hasse, hasse …«

In der Dunkelheit konnte Anne Hampton sehen, dass Douglas Jeffers auf dem Rücken lag und beide Hände in der Luft zu Fäusten ballte.

Er atmete heftig aus.

»Alle sind Opfer«, stellte er fest. »Alle. Nur ich nicht.«

Dann hörte sie, wie er sich auf die Seite rollte und dem Schlaf überließ.

 

Am Morgen fuhren sie Richtung Norden und stießen in New Haven auf die Route 91, die an Hartford vorbei nach Massachusetts führt. Sie hatte den Eindruck, dass Jeffers wieder Herr über sich war; er sah auf die Uhr, schätzte Entfernungen, achtete auf die Zeit. Das beruhigte und entspannte sie, zumindest bis etwas Neues geschah.

Sie erreichten den südlichen Zipfel von Vermont am frühen Nachmittag und fuhren in gemächlichem Tempo weiter nach Norden. Fast wie nebenbei fragte sich Anne Hampton, ob es nach Kanada gehen würde. Sie versuchte, sich irgendwelche Verbrechen in Erinnerung zu rufen, die dort passiert waren, und spekulierte, was er ihr dort wohl zeigen wollte. Ihr fiel nichts ein, war jedoch davon überzeugt, dass sich auch dort Menschen gegenseitig umbrachten. Es ist kalt, dachte sie, es herrschen Frost und Dunkelheit, und die langen Winter können nichts Gutes bedeuten.

Bevor sie den Gedanken weiterspinnen konnte, sagte Douglas Jeffers: »Hier oben gibt es eine kleine Stadt, die du sehen solltest …«

Das war alles, was er über Woodstock verriet, und für Stunden schwieg er sich aus. Sie wird schon sehen, dachte er. Im Geist ging er noch einmal die verbleibenden Punkte seiner Planung durch. Er wollte in seiner Aktentasche den Brief der Bank in New Hampshire hervorsuchen, doch er wusste, dass das nicht nötig war. Sie erwarten dich morgen früh, beruhigte er sich. Es wird schnell und zügig vonstatten gehen, ganz nach meinen Wünschen.

Als er von der Durchgangsstraße in Richtung der Kleinstadt abbog, fragte er: »Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass fast jeder dieser alten Bundesstaaten in New England sein eigenes Woodstock hat? Vermont, New Hampshire, Massachusetts. Vermutlich sogar Rhode Island, wenn sie es reinquetschen können. Die sprechen es ›Roudailan‹ aus. Und ›Nehämpsche‹. Das historische Woodstock ist natürlich das in New York, auch wenn sie das Festival in Wirklichkeit woanders abgehalten haben. Erinnerst du dich?«

»Da war ich noch ein Kind«, antwortete sie. »Ich wusste nichts davon.«

»Ich war da«, erwiderte Jeffers.

»Tatsächlich? War es so groß, wie die Literatur behauptet?«

Er lachte.

»Eigentlich war ich nicht da …«

Sie sah ihn verwirrt an.

»Bestimmte öffentliche Ereignisse graben sich dank der Popkultur ins kollektive Gedächtnis ein. Woodstock ist so ein Ereignis. Ich kannte mal einen Mann, aus dem Zeitungsgeschäft, der war der Urheber des Woodstock-Mythos. Er fing gerade erst an, als Collegekorrespondent bei der New York Daily News. Es war Sommer, also fragten sie ihn, ob er zum Festival gehen wollte, nur für den Fall, dass da was Ungewöhnliches passierte. Sie hatten keine Ahnung, welche Menschenmassen zusammenkommen würden.

Na, jedenfalls fuhr er einen Tag vorher hin, um sich die Vorbereitungen zum Festival anzusehen, und das war sein Glück, denn bis zum nächsten Vormittag bildete sich ein zehn bis zwanzig Meilen langer Stau. Die Leute kamen scharenweise. Langmähnige. Hippies. Biker. Collegestudenten. Du hast sicher den Film gesehen. Na, jedenfalls wurde daraus diese geballte Massenveranstaltung, dieses einmalige Musik-Event, und plötzlich war es auf den Titelseiten. Mein Kumpel sitzt also hinter der Bühne am Telefon und hat die Lokalredaktion der News in der Leitung, und dieser Redakteur brüllt am anderen Ende: ›Wie viele Leute sind da? Wie viele Leute?‹, und natürlich hatte der Kerl keinen blassen Schimmer. Ich meine, so weit das Auge reichte, sah er ein einziges Meer aus Menschen, Trucks und Hubschraubern, die darüberdröhnten, und Bands, die die Lautstärke voll aufdrehten und was weiß ich. Und der Redakteur fordert: ›Wir brauchen eine offizielle polizeiliche Schätzung!‹ Also läuft unser Freund zum nächstbesten Cop und fragt ihn, wie ihre Schätzungen liegen, und natürlich sieht der Kerl ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Woher er das wissen sollte. Mein Kumpel läuft zum Telefon zurück, und der Redakteur merkt plötzlich, dass es hier um seinen eigenen Arsch geht, weil sie es mit der größten Nummer auf lange Zeit zu tun haben und er so dämlich war, einen College-Teilzeitkorrespondenten darauf anzusetzen, und jetzt sind die Straßen verstopft und sämtliche Helikopter durch die Fernsehsender ausgebucht, also keine Chance, einen richtigen Reporter hinzuschicken.

Und da kommt meinem Kumpel die richtige Eingebung. Er beschließt zu lügen.

Also brüllt er ins Telefon: ›Die Polizei schätzt, dass über eine halbe Million Menschen in dieses verschlafene Nest eingefallen sind. Mit einem Schlag ist Woodstock die drittgrößte Stadt im Staate New York!‹ Und das ist so recht nach dem Geschmack des Redakteurs. Er lässt es sich auf der Zunge zergehen. Am nächsten Tag ist es der Aufmacher auf der Titelseite. Nachdem die News mit der Zahl getitelt hat, greift die Times sie auf, dann die Associated Press und damit die ganze Welt. Und schwupp ist die Lüge meines Kumpels ein historisches Faktum …«

Er schnippte mit den Fingern.

»Einfach so. Alle sind zufrieden, und alle sind überzeugt, genau so viele Menschen wären da gewesen. Nur weil mein Kumpel den richtigen Instinkt hatte, jemandem eine Lüge aufzutischen, der nach einer Lüge lechzte.«

Douglas Jeffers schwieg. Wie schon so oft, schien sein Ton zwischen der kindlichen Freude am Geschichtenerzählen und einem diffusen Hass hin und her zu wechseln.

»Also lüge ich jetzt auch.«

Er grinste, dann schnitt er eine Grimasse.

»Ich behaupte einfach, ich war da. Ich meine, wer will das nachprüfen?«

Douglas Jeffers verstummte, und Anne Hampton sah, dass sich in die unbekümmerte Erzählfreude ein düsterer Gedanke eingeschlichen hatte. Sie schnappte sich eins der Notizbücher und machte sich eilig eine Reihe von Notizen über Woodstock und eine halbe Million Besucher, über einen Kerl in ihrem Alter, der sich eine Ziffer aus den Fingern gesogen hat.

»Siehst du, das beschreibt ziemlich genau, was wir bei der Zeitung machen. Wir schaffen einen gemeinsamen Erfahrungsschatz. Wer könnte von sich sagen, er wäre nicht in Vietnam gewesen? Wir wurden mit Bildern überflutet. Und der Aufstand von Watts? Oder ein bisschen aktueller: Beirut. Das Erdbeben von Mexico City. Die Entführung des TWA-Flugs. Die haben doch wahrhaftig eine Pressekonferenz abgehalten, ist das zu fassen? Absurder geht’s nicht. Kriminelle, die das Licht der Öffentlichkeit suchen, noch während das Verbrechen im Gange ist, und es auch bekommen. Und wir waren hautnah dabei. Allein darauf kommt es an.«

Wieder zögerte er.

»Das Nachrichtengeschäft läuft auf die alte Volksweisheit vom Fällen eines Baumes im Wald hinaus: Wenn der Baum mit Getöse herunterkracht und es dennoch keiner hört, hat es dann ein Geräusch gegeben oder nicht? Wenn tausend Indianer im Regenwald sterben und wir nicht darüber berichten, hat es dann stattgefunden oder nicht?«

Jeffers lachte laut auf. Zunächst klang es wütend, dann befreit.

»Ich bin manchmal so öde, dass du mich eigentlich längst dafür hättest umbringen müssen.«

Wieder lachte er.

Sie wusste, dass sie ein niedergeschlagenes Gesicht machte.

»Guck nicht so trübselig, Boswell, wir sind bald am Ende. Das war ein Witz.«

Er lächelte.

»Oder nicht? Armer Boswell. Manchmal kann sie meine Witze überhaupt nicht komisch finden. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Aber tu mir den Gefallen und schenk mir ein kleines Lächeln, ein klitzekleines Lachen.«

Letzteres war ein Befehl.

Sie gehorchte auf der Stelle und fand den Laut, den sie herausbrachte, widerwärtig.

»Nicht sehr überzeugend, Boswell, aber ich weiß es trotzdem zu schätzen.«

Er verstummte.

»Arbeite dran, Boswell. Arbeite an all den kleinen Dingen im Leben, die uns daran erinnern, wer wir sind. Konzentrier dich, Boswell. Ich denke, also bin ich. Ich lache, also bin ich … Wenn ich lache, atme ich. Wenn ich lächle, empfinde ich. Wenn ich denke, existiere ich.«

Er richtete den Blick auf die Straße.

»Boswell lebt fort«, sagte er.

Sie merkte, wie sich ihr vor Verzweiflung das Herz zusammenzog.

»Aber Douglas Jeffers auch.«

 

Er blickte aufmerksam durch die Windschutzscheibe und bog in eine kleine, zweispurige Straße ab. Der Abend legte sich über die warmen Grün- und Brauntöne der Berge von Vermont, die an ihnen vorüberflogen, und nur gelegentlich durchdrang ein blasser, letzter Lichtstrahl die Dämmerung. Sie ließen die Quechee-Schlucht hinter sich, die auf der Straße nach Woodstock liegt, und er sah, wie Anne Hampton sich den Hals verrenkte, um vom Auto aus den Steilhang zu sehen.

Er fuhr durch die stillen Straßen. Anne Hampton sah adrette weiße Holzschindelhäuser hinter weitläufigen Rasenflächen, mit weinbewachsenen Gartenlauben inmitten kleiner Blumengärten.

»Siehst du«, er wies auf eine karge weiße Kirche, die sich vom grünlichen Dunkel des nächtlichen Vermont absetzte, »siehst du, wie entspannend das ist? Wer käme auf den Gedanken, dass in einer solch kleinen, wohlbehüteten Stadt des Nachts solche Schrecken lauern?«

Er stellte den Wagen ab.

»Nun denn«, meinte er, »auch wer Angst und Schrecken verbreitet, hat mal Hunger.«

Er sah Anne Hampton an.

»Das war ein Witz«, beruhigte er sie.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Aber der beste Humor basiert immer auf der Realität.«

Er nahm sie bei der Hand und führte sie in ein Restaurant. Es war schön und anheimelnd warm, von Kerzenlicht erleuchtet. Es roch nach frischem Essen, und von der Mischung aus unterschiedlichen Empfindungen wurde ihr schlecht.

Was soll das Ganze?, fragte sie sich.

Was ist los?

Wieso sind wir hier?

Wieso scheint alles so stinknormal, obwohl es alles andere als das ist?

Was passiert mit mir?

Dieser letzte Gedanke schrie sie förmlich an. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich stehe hier und warte darauf, dass mir in einem eleganten Restaurant in einer schönen Stadt ein Platz angewiesen wird. Verkehrte Welt. Nichts ist so, wie es sein sollte. Was soll das Ganze?

Wieder durchfuhr sie eine Woge der Übelkeit.

»Ich könnte Berge verdrücken«, erklärte Douglas Jeffers.

Sie aßen still, ausgiebig und freudlos. Jeffers bestellte Wein und starrte, während er an seinem Glas nippte, über den Rand hinweg Anne Hampton an. Sie sah, wie sich das Licht im Glas spiegelte.

Nachdem er bezahlt hatte, nahm Douglas Jeffers Anne Hampton beim Arm und führte sie im Dunkeln um den Anger herum. Sie merkte, dass sie zitterte. Die Wärme des Tages war gewichen und hatte den ersten Vorboten des Herbstes Platz gemacht.

»Still«, sagte er. »Friedlich.«

Sie sah nicht den geringsten Grund zu entspannen. Es kostete sie genügend Willenskraft, ihren Arm locker auf seinem ruhen zu lassen. Sie hätte ihn am liebsten gepackt und ihm ins Gesicht geschrien: Was kommt jetzt?

Doch sie tat es nicht.

Er führte sie wieder zum Wagen. In wenigen Minuten umfing sie das Dunkel der Nebenstraßen, die zur Interstate führten. Douglas Jeffers fuhr langsam. Er hing offensichtlich seinen Gedanken nach und konnte sich wohl nach dem Wein und mit vollem Magen nicht wie gewohnt auf seine Pläne konzentrieren.

Er erzählte gerade: »Ich kenne ein paar hübsche Landgasthäuser ein Stück die Straße runter …«, als eine Autohupe ihm schrill das Wort abschnitt und grelles Licht den Wagen erfüllte. Er riss das Steuer herum und geriet auf das Schotterbankett, so dass der Wagen beängstigend ins Schleudern kam, als ein anderes Fahrzeug vorbeiraste.

Sie hatte das Gefühl, als sei das andere Auto irgendwie in ihres eingedrungen, und ihr entfuhr ein Laut zwischen Angst und Warnung: »Achtung! O mein Gott!«

Ihr war die erschreckende Nähe des anderen Fahrzeugs bewusst. Dann hörte sie laute Stimmen und sah, wie sich die Rücklichter eines Jeeps entfernten. Es war ein aufgemotztes Modell mit dicken Reifen, grellbuntem Lack und Überrollbügel. Zwei Jugendliche hielten seitlich die Köpfe heraus und gestikulierten wild.

Jeffers fluchte wild.

»Teenager!«, knurrte Douglas Jeffers wütend, und in seinem Ton kämpfte rasende Wut mit Erleichterung. »In ungefähr einer Woche fängt, glaube ich, das Semester an, und sie lassen Dampf ab. Gott, um ein Haar wäre ich die Böschung runtergefahren …« Er deutete auf den Seitenstreifen. »Ich kenne diese Straße. Verdammt! Da drüben fällt das Gelände direkt steil ab. Eine Uferböschung runter, dahinter kommt ein kleiner Fluss. Gott, wir wären tot gewesen. Diese kleinen Miststücke. Gott. Montagnachts auf ’ner Spritztour, ist das zu fassen! Wir hätten tot sein können.«

Er fuhr in gemächlichem Tempo weiter.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

»Ja, sicher«, antwortete sie. »Aber die haben mir einen Mordsschrecken eingejagt.«

»Das war mein Fehler«, entschuldigte er sich. »Ich hätte sehen müssen, wie schnell sie herangebraust kamen.«

Er hielt die flache Hand ausgestreckt vor sich hin.

»Sieh dir das an. Sie zittert ein bisschen. Müssen die Nerven sein.«

Er lächelte wieder.

»Das bedeutet wohl, dass ein Beinahe-Unfall einem an die Nieren geht, egal, wer man ist. Ein Moment der Panik, und dann kehrt das Leben in seinen gewohnten Trott zurück.«

Nach einer Weile fügte er hinzu: »Es gibt wirklich nichts, aber auch gar nichts Schlimmeres als einen Jungen mit einem Auto, allzu viel Selbstvertrauen und ein bisschen Alkohol im Blut. Verflucht noch mal, die tun so, als wären sie allein auf der Welt. Unsterblich. Junge, mir geht das auf den Geist.«

Dann lachte er. »Und es gibt mir das Gefühl, alt zu sein.«

Im Dunkel vor ihnen leuchtete eine Tankstelle auf. Als sie daran vorbeikamen, sahen sie beide den Jeep an der Zapfsäule.

»Da drüben«, sagte sie unwillkürlich. »Da sind sie.« Sie sah zwei Jungen mit dem Rücken zu ihnen am Getränkeautomaten stehen. Beide waren groß und dünn und trugen Baseballkappen. Ihre Körperhaltung war lässig und aufsässig zugleich.

Jeffers ließ die Tankstelle absichtlich hinter sich. Nach einer Viertelmeile beschleunigte er plötzlich so stark, dass es sie gegen die Rücklehne drückte. Sie griff nach vorne, um sich festzuhalten.

»Ich hab eine Idee«, meinte er. »Das klassische Highway-Spektakel.«

Plötzlich klang seine Stimme aufgeregt.

»Da vorne kommt eine interessante Stelle«, fuhr er fort. »Wo sich die Straße gabelt und ein Weg in eine kleine Schlucht neben der Interstate runterführt.«

Binnen Sekunden hatten sie die Gabelung erreicht. Er nahm die obere Abzweigung und drosselte nach wenigen hundert Metern das Tempo. Er fand eine dunkle Parkbucht und hielt an.

»Und jetzt«, erklärte er, »wollen wir mal sehen, ob das Glück auf unserer Seite ist. Bleib, wo du bist.«

Er hatte einen Befehlston angenommen, dass sie nicht einmal zu zucken wagte.

Douglas Jeffers rannte zum Heck und riss den Kofferraum auf. Er griff ins Gepäck und hatte im nächsten Moment den glänzenden Stahlgriff des halbautomatischen Ruger-Gewehrs in der Hand. Er wühlte zwischen den anderen Waffen, bis er den Ladestreifen mit neun langen Patronen fand. Er legte ihn ein und hörte zufrieden das klickende Geräusch, als er einschnappte.

Jeffers ließ das Gewehr zuoberst im offenen Kofferraum liegen und suchte einen Moment weiter, bis er ein langes, zylindrisches Lederfutteral fand. Er klemmte es sich unter den Arm und rannte die Straße zurück. Er schärfte seinen Blick und versuchte, in der schwarzen Nacht einzelne Formen auszumachen. Er suchte die Gegend nach irgendwelchen Lebenszeichen ab. Er spähte in die Dunkelheit und hielt nach den verräterischen Scheinwerferkegeln in der Ferne Ausschau. Er horchte auf irgendwelche Geräusche, die verrieten, ob ein anderes Fahrzeug in ihre Richtung kam. Außer dem leisen Rascheln des Windes in einer Gruppe Fichten in der Nähe war es vollkommen still. Er blickte in die Ferne und versuchte, das Rauschen des Wildbachs unterhalb der Böschung zu hören.

Er musste plötzlich daran denken, was man in seiner Kindheit sagte: Wer bei Nacht gut sehen will, muss Karotten essen. Die ganze Zeit. Und ich sehe ziemlich gut im Dunkeln. Aber ich sehe noch viel besser, wenn ich ein Starlight-Scope zu Hilfe nehme.

Er öffnete das Lederfutteral und hielt den Zylinder ans Auge. Es tauchte die Landschaft in ein schmutziges Grün, und er drehte es in alle Richtungen, um sich davon zu überzeugen, dass ihn seine Sinne nicht getäuscht hatten. Er war allein. Ihm kam der Gedanke, dass er auf seinem einsamen Posten einem alten Seefahrer glich, der auf offener See dahintrieb und den Horizont nach Land absuchte. Er starrte die Straße entlang in die Ferne.

»Aha«, sagte er. »Wir bekommen Besuch.«

Er sah den aufgemotzten Jeep übermütig durch die Nacht heranbrausen.

»Tja, tja, tja, es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

Außer ihm und dem nahenden Fahrzeug war weit und breit niemand zu sehen. Er hatte die beiden Teenager im Jeep vor Augen, wie sie in ihrem offenen Gefährt lachend die Haare im Fahrtwind flattern ließen und die Köpfe nach hinten warfen. Dazu dröhnte zweifellos die Stereoanlage, und ihre Aufmerksamkeit war von ein paar Bier beeinträchtigt. Er drehte sich um und rannte zu seinem Wagen zurück. Er sah Anne Hamptons Gesicht durch die Windschutzscheibe auf sich gerichtet. Er sah, wie sie, ahnend, was bevorstand, sich in ihrem Sitz zusammenkauerte. Er handelte schnell, doch überlegt. Er nahm das Gewehr aus dem Kofferraum und fühlte sein Gewicht in den Händen. Nichts ist so beruhigend wie ein zuverlässiges Gewehr im Arm, dachte er. Dann eilte er durch die pechschwarze Nacht wieder zu seinem Aussichtspunkt und ging, ein wenig vorgebeugt, doch seiner Sache sicher, in Position wie ein erfahrener Soldat, der sich unter dem Beschuss von Handfeuerwaffen wegduckt.

Ein letztes Mal schaute er sich um und vergewisserte sich, dass er alleine war. Er dachte einen Moment an Anne Hampton im Wagen, aber dann verbannte er sie aus seinem Kopf. Er hob den Kolben an die Wange und richtete das Visier genau zwischen die Scheinwerfer des Jeeps.

»Fahrt unten lang«, befahl er.

Sie gehorchten.

Er fand es verblüffend, wie ihn und seinen Finger beinahe so etwas wie eine elektrische Spannung mit dem Abzug und dem Ziel in seinem Visier verband. Er drückte den Kolben eng an die Wange und streichelte den Abzug mit dem Finger.

»Gute Nacht, Jungs.«

Er feuerte siebenmal. Das krachende Geräusch erschien ihm fast überirdisch, als ob das Gewehr von unsichtbarer Hand in den dunklen Himmel gehoben würde und mit dem Strahl eines Sterns zur Erde zielte.

Als er die Waffe senkte, sah er, dass der Jeep ins Schleudern geraten war und um Bodenhaftung kämpfte. Außer dem Echo der Schüsse konnte er jedoch nichts hören. Es klang wie Musik in seinen Ohren, wie ein altes Lied, das man nicht aus dem Kopf bekommt. Er musste plötzlich an eine Situation in Nicaragua denken – oder war es Vietnam gewesen? –, als er sich beim Zischen einer Rakete umgedreht und gesehen hatte, wie sie in einen Jeep einschlug. Es hatte eine Explosion gegeben, er hatte die Kamera gezückt und Schärfe und Blende beinahe gleichzeitig eingestellt, um den Feuerballon und die durch die Luft wirbelnden, zerfetzten Leiber einzufangen. Er entsann sich genau, wie wenig er damals hörte. Keine Schreie, keine Explosionen, keine Hilferufe, nur das vertraute Sirren des Autodrive. Er wollte gerade sein Gewehr an die Augen heben, als er merkte, dass es keine Kamera war, und es hängen ließ.

Der Jeep legte sich auf die Seite. Er wusste, dass das Metall lautstark über den Asphalt schleifte und die Reifen quietschten. Er sah vor sich, wie der Wagen kurz vor der Schlucht gleich einem sterbenden Dinosaurier, der im dunklen Wasser Zuflucht sucht, dumpf aufschlug. Er dachte an den Bruchteil einer Sekunde, der vergeht, während der erste Dominostein kippt und bevor er den nächsten umstößt.

Dann rollte der Jeep über den Rand und stürzte ins Dunkel. Die Teenager waren aus seinem geistigen Sichtfeld verschwunden.

Sobald er wusste, dass der Wagen unten aufgeprallt war, machte er kehrt. Er war überaus zufrieden. Er drehte sich nicht einmal um, als er die Druckwelle der Explosion zu spüren bekam.

Er sah Anne Hamptons entsetztes Gesicht. In ihren weit aufgerissenen Augen spiegelte sich das Feuer hinter ihm. Er schritt mit der unbeirrbaren Selbstdisziplin von Lot auf den Wagen zu.

Er warf das Gewehr in den Kofferraum und schlug ihn zu.

Jeffers setzte sich hinters Lenkrad, legte bedächtig den Gang ein und gab mäßig Gas. In wenigen Sekunden fuhren sie erst um eine, dann um eine zweite Kurve der Straße.

Anne Hampton drehte sich ruckartig auf dem Sitz herum und zitterte am ganzen Körper.

»Ich hab’s dir gesagt«, erklärte Douglas Jeffers. »Das ultimative Highway-Spektakel.«

Sie warf einen letzten Blick nach hinten und glaubte, den roten Widerschein vom brennenden Wrack zu erkennen. Sie wandte sich um und sah die Schilder, die die Interstate ankündigten. Schnell, dachte sie, bloß weg hier, bitte!

Jeffers manövrierte sie durch die verschiedenen Auffahrten und gab auf der Durchgangsstraße Gas. »Wir sind«, sagte er, »eine Nation von Attentätern. John Wilkes Booth und Lee Harvey Oswald. Charles Whitman und der Texas Tower. Wir blicken auf eine reiche Tradition des Hinterhalts zurück.«

»Sie hatten keine …«

»Im Grunde nicht. Das ist bei einem Attentat entscheidend. Bei einem Hinterhalt in X-Formation oder L-Formation. Denk mal darüber nach. Guerillas, die in die Falle gehen. Hinterrücks gemeuchelt werden. Keine Aussicht auf Entkommen. Kein Schlupfloch. Das ist Sinn und Zweck der Übung.«

Sie antwortete nicht. Nirgendwohin, dachte sie. Sie sah zu, wie die Scheinwerfer eine dünne Sichel ins Dunkel schnitten. Sechzig Stundenmeilen. Eine Meile pro Minute. Jede Sekunde führt uns weiter weg.

»Wo fahren wir hin?«, fragte sie.

Sie kannte die Antwort. Bis ganz ans Ende.

»Zum Granitstaat«, erwiderte Jeffers. »Glücklicherweise hat unser kleines Abenteuer in Vermont stattgefunden, und bis irgendjemand begreift, wie es passiert ist – was übrigens nicht geschehen wird –, sind wir Schnee von gestern. Was für ein Schuss«, bewunderte er sich. Er schien immer noch freudig erregt. »Was für ein Schuss. Verdammt! Und weißt du, was die Cops denken werden? Nichts. Sie werden im Jeep ein paar Bierdosen finden, und das war’s. Ein Unfall, bis jemandem Bedenken kommen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und wer würde außerdem ein nett aussehendes Touristenpärchen verdächtigen?«

Er sang: »We’ll be gone, gone, gone …«

»Wieso Vermont?«, erkundigte sie sich zaghaft. »Können Sie nicht genauso gut jemanden in New Hampshire töten?«

Er lachte. »Na ja, vor ein paar Jahrhunderten hatte der Teufel in Marshfield ein paar Unannehmlichkeiten, und seitdem hat er seine Tätigkeit auf den Nachbarstaat verlegt. Sozusagen vertraglich vereinbart. Also folge ich seinem Beispiel.«

Er lächelte.

»Aber das heißt nicht, dass wir nicht einen kleinen Abstecher machen können.«

Er fuhr weiter.

 

Die Morgensonne war grell, und Anne Hampton hielt die Hand über die Augen. Einen Moment lang erinnerte das Licht sie an Florida, und sie sah sich unwillkürlich nach einer Palme um, die in der leichten Brise raschelte. Sie starrte die Hauptstraße von Jaffrey, New Hampshire, hinunter und fragte sich, ob sie alles nur geträumt hatte. Sie versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern; da war die Angst, als sie beinahe von der Straße abgekommen waren; da war die Dunkelheit neben der Kurve; Jeffers, wie er mit dem Gewehr in die Nacht hinauslief; die krachenden Schüsse, gefolgt vom gedämpften Geräusch der Explosion. Wie ein Juwelier den Edelstein, nahm sie jede Facette ihrer Erinnerungen unter die Lupe. Bestimmt würde sie so auf eine Ungereimtheit stoßen und erkennen, dass es gar nicht passiert war. Irgendetwas würde deutlich machen, dass es nur ein Traum war, ein Stück geschliffenes Glas, in dem sich das Licht bricht.

Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, ihre Erinnerungen zu ordnen.

Natürlich war es kein Traum. Sie dachte daran, wie sie sich letzte Nacht auf schweißgetränkten Laken hin und her geworfen hatte.

Die Träume sind viel schlimmer, stellte sie fest.

Sie drehte sich um und spähte durch das Schaufenster des Feinkostgeschäfts. Sie sah Jeffers an der Kasse stehen, um den Kaffee und die Doughnuts zu bezahlen. Sie sah zu, wie er sein Wechselgeld einsteckte und aus dem Laden schlenderte. Wie immer versetzte er sie in Staunen. Er pfiff ein Lied und schien völlig unbeschwert, von so etwas Banalem wie Angst oder Schuldgefühlen keine Spur.

»Für dich ist dieses Glibberding«, sagte er, als er in den Wagen stieg. »Dazu Kaffee und Saft.«

Er deutete Richtung Stadt. »Hübsch, hm? Es wimmelt von Boutiquen und kleinen Geschäften. Der Yankee bringt ständig Bilder von Jaffrey. Glückliche weiße Frauen vor Tischen mit frischem Gebäck. Kattun. Das ist eine Kattun-Stadt. Und Rohwolle im Winter. An so einem Ort fällt ein Touristenpaar mit einem Kennzeichen aus einem anderen Bundesstaat nicht weiter auf.«

Er kurbelte die Scheibe herunter.

»Das wird ein mächtig heißer Tag«, vermutete er. »Der Spätsommer ist hier oben völlig unvorhersehbar. Mal wirbelt ein bisschen kanadische Luftmasse herein, und es schneit. Dann wieder bringen die Überlandströmungen Schwüle aus dem Süden herbei, und die Temperaturen steigen auf über fünfunddreißig Grad.« Er zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und wischte sie am Hemdschoß sauber. Sie spürte den Hitzeschwall, der in sie einzudringen schien. Sie nippte an ihrem Kaffee, während Jeffers die Zeitung aufschlug. Er überflog die Seiten.

»Nein, nein, nein, hier, sieh mal, aha! Da steht was.«

Er las zuerst schweigend, dann laut: »Zwei Tote bei Verkehrsunfall in Vermont. Zwei Teenager ver unglückten Montagnacht tödlich, als ihr allradgetriebener Wagen vier Meilen von Woodstock, Vermont, entfernt aus der Kurve getragen wurde und auf eine Nebenstraße geriet. Die Polizei vermutet, dass die beiden Jugendlichen, Daniel Wilson, siebzehn, und Randy Mitchell, achtzehn, vor dem Unfall, der sich um 21:45 an der Kreuzung State Road zweiundachtzig und Ravine Drive ereignete, unter Alkoholeinfluss standen …«

Er sah Anne Hampton an.

»Ich kann weiterlesen. Es folgen noch ein paar Absätze.«

Sie antwortete nicht, sondern trank ihren Kaffee und wusste den bitteren Geschmack zu schätzen.

»Nicht? Dachte ich mir.«

Er warf ihr die Zeitung auf den Schoß. »Lies selbst.«

Als sie den gereizten Unterton hörte, saß sie aufrecht.

»Und jetzt hab ich etwas Geschäftliches zu erledigen. Ich möchte, dass du im Wagen wartest.«

Sie nickte heftig.

»Gut. Es ist schon fast zehn. Müsste ungefähr eine Stunde dauern.«

Jeffers nahm seine Aktentasche und ging.

Sie sah ihm nach, als er die Straße überquerte und in der Nationalbank von New Hampshire verschwand. Einen Moment lang war sie in Panik und blickte wild in alle Richtungen: Er will eine Bank ausrauben!, dachte sie. Dann wurde ihr klar, wie albern die Vorstellung war, und sie lehnte sich wieder auf ihrem Sitz zurück.

Ihr kam kein Gedanke an Flucht, selbst dann nicht, als ein Streifenwagen langsam an ihr vorüberrollte. Die Vorstellung, dass sie aufstehen, einen Polizisten heranwinken und dem Alptraum ein Ende setzen könnte, schien aberwitzig naiv. Ein Ding der Unmöglichkeit. Sie hatte nicht das geringste Vertrauen in eine naheliegende, einfache Auflösung. Sie wusste, dass sie immer noch machtlos war; dass Douglas Jeffers für sie beide sämtliche Strippen zog. Sie konnte nur an den Augenblick denken, an die Hitze, die ihr zu schaffen machte. Sie fragte sich, was im nächsten Moment passieren würde, und schloss die Augen, so dass sie ihre Umgebung vergessen und in sich hineinsehen konnte. Finde Kraft, redete sie sich gut zu. Sie versuchte zu ergründen, ob sie noch einen Funken Mut in den Knochen hatte. Sie wusste, dass sie ihn brauchte, um zu überleben.

 

In der Bank war es kühl und dunkel, und Douglas Jeffers nahm gemächlich die Sonnenbrille herunter. Es war ein altmodischer Bau, mit hoher Decke und hochglanzpolierten Böden, auf denen die Absätze klickten. Jeffers ging zu einer Gruppe Tische hinüber, an der die Angestellten arbeiteten. Eine Sekretärin sah lächelnd zu ihm auf.

»Ich möchte zu Miss Mansour. Douglas Allen. Ich habe einen Termin.«

Die junge Frau nickte und griff nach dem Telefon. Jeffers sah, wie eine Frau in mittlerem Alter mit einem offenen Gesicht den Hörer abnahm und nickte. Wenig später schüttelten sie sich die Hand, und sie forderte ihn auf, in dem Sessel neben ihrem Tisch Platz zu nehmen. Sie zog einen Schnellhefter heraus, auf dem ein Name stand.

»Nun, Mr. Allen, wir finden es immer ausgesprochen schade, wenn ein langjähriger Kunde uns verlässt. Wie lange sind Sie jetzt schon …«

»Zehn Jahre.«

»Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein? Wir könnten Ihnen ein neues Konto an Ihrer …« Sie beendete den Satz nicht.

»Atlanta«, sagte er. »Versetzung innerhalb der Firma.«

»Ich meine, ich rufe gerne jemanden an …«

Er schüttelte den Kopf. »Wirklich sehr freundlich von Ihnen«, meinte er. »Aber das regelt fast alles der Umzugsdienst der Firma. Vielleicht können Sie mir ja Ihre Karte mitgeben, und falls es irgendwelche Probleme gibt, können die sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Sehr gerne.« Sie überprüfte die Formulare. »Also, in Ihrem Brief schreiben Sie, dass Sie das Konto auflösen und den Saldo in Travellerschecks haben wollen. Die liegen schon für Sie bereit. Sie müssen sie also nur noch unterschreiben, dann diese Auflösungserklärung unterzeichnen und Ihr Schließfach räumen, dann wäre alles erledigt.«

Sie reichte ihm ein Bündel Reiseschecks, und er fing an, seinen Namen darunterzusetzen. Er betrachtete den Schriftzug und ließ innerlich den Namen auf der Zunge zergehen. Seit zehn Jahren bin ich hier in New Hampshire Douglas Allen. Keine Vorsichtsmaßnahmen mehr. Keine Vorspiegelungen falscher Tatsachen. Wir werden unseren Horizont erweitern.

»Zählen Sie bitte nach«, sagte Miss Mansour. »Es sind über zwanzigtausend Dollar.«

Ersparnisse von einem ganzen Jahrzehnt, dachte er. Täglich verzinst.

Er folgte ihr in den Tresorraum, und sie händigte ihm seinen Schlüssel aus. »Bringen Sie mir einfach nur beide Schlüssel zurück, wenn Sie fertig sind«, erklärte sie. »Ich bin an meinem Tisch.«

Er nickte ihr zum Dank zu und trat in eine Kabine. Eine Angestellte brachte ihm ein verschlossenes Kästchen und zog die Tür hinter sich zu. Er wartete einen Moment, um zu genießen, wie glatt alles nach Plan verlief.

Er öffnete das Kästchen.

»Lebe wohl, Douglas Jeffers«, flüsterte er.

Zuoberst lag eine alte Ausgabe der nicht mehr existierenden Zeitschrift New Times, der er die Idee verdankte. Er blätterte die abgegriffenen Seiten um, bis er zu dem entsprechenden Artikel kam. Es entbehrte, fand er, nicht der Ironie, dass der Aufsatz vom Aktivismus der sechziger und siebziger Jahre inspiriert war. Er ging einer höchst simplen Frage nach: Wie leicht ist es, im Untergrund zu verschwinden? Wie schwer ist es, sich eine neue Identität zuzulegen? Die Antwort lautete: Im Grunde recht einfach. Besonders in einem Bundesstaat wie New Hampshire, der kompromisslos auf der individuellen Freiheit und auf Privatsphäre besteht. Er hatte sich peinlich genau an die beschriebene Vorgehensweise gehalten und sich eine Sozialversicherungsnummer besorgt, ein Postfach genommen, sich eine neue Anschrift gegeben. Dann das Bankkonto und ein paar Kreditkarten, die er häufig genug benutzte, damit sie nicht erloschen. Gleichzeitig hatte er sich unter seinem neuen Namen und seiner neuen Versicherungsnummer einen Führerschein beschafft. Sein größter Triumph allerdings war die Geburtsurkunde, die er sich selbst zusammengeschustert hatte. Die Wunder der modernen Fotokopiertechnik, dach te er. Als er mit seiner abgegriffenen Kopie und sämtlichen anderen Dokumenten im örtlichen Postamt erschien, hatte niemand protestiert. Sechs Wochen später traf ein Brief mit seinem kostbarsten Besitztum ein. Er nahm es aus dem Kästchen. Ein brandneuer US-Reisepass auf den Namen Douglas Allen – und nicht gefälscht.

Er steckte ihn zusammen mit seinem Führerschein, den Kreditkarten und der Versicherungskarte in die Aktentasche.

Ich bin frei, dachte er.

Er grinste. Na ja, nicht ganz. Ich kann weder nach Albanien, noch nach Nord-Vietnam einreisen.

Er stopfte seine Barreserven, ein paar tausend Dollar in Zwanziger- und Hunderterscheinen in die Hosentasche. Er überprüfte sein Ticket, das er als Letztes aus dem Kästchen nahm. Es war erster Klasse, mit offenem Datum, New York–Tokio ohne Rückflug. Er wusste, dass er von Tokio aus spielend leicht in alle Richtungen reisen und sich zum Beispiel irgendwo im Fernen Osten in Luft auflösen konnte. Oder wie wär’s mit Sydney?, dachte er. Perth. Melbourne. Die Namen klangen exotisch und vertraut zugleich. Es wird eine Art Heimkehr, dachte er. Der letzte Gegenstand in dem Tresorkästchen war ein sauberer, stahlblauer Magnum-Revolver, .357, der ebenfalls in die Aktentasche wanderte. Er hatte ihn einige Jahre zuvor in Florida gekauft, nur wenige Wochen, bevor dort ein neues, etwas strengeres Waffengesetz verabschiedet wurde. Dann hatte er die Pistole einfach als gestohlen gemeldet. Der National Rifle Association sei Dank.

Einen Moment lang starrte er auf das leere Safe-Kästchen und dachte daran, wie beruhigend es gewesen war, dass dies alles für den Fall, dass er es brauchte, bereitgelegen hatte. Mein Notausgang.

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Australien, sagte er sich. Ein phantastischer Ort, um neu anzufangen. »Tie me kangaroo down, sport.«

In Gedanken summte er auf seinem Weg zu Miss Mansours Schreibtisch »Waltzing Mathilda«.

»Fertig?«, fragte sie fröhlich.

»Alles in bester Ordnung«, antwortete er.

Er unterschrieb ein paar Papiere und stellte fest, dass ihm der neue Namenszug leicht von der Hand ging.

Hallo, begrüßte er sich. Nett, Sie kennenzulernen. Was, sagten Sie noch gleich, machen Sie beruflich? Was immer dir gefällt. Egal, was.

Als er das Dunkel der Bank verließ, blendete ihn die helle Sonne, und er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen umgestellt hatten. Er sah zu Anne Hampton hinüber, die im Wagen saß und wartete.

Nicht mehr lange, Boswell.

Er summte zufrieden vor sich hin und überquerte die Straße. Er nickte einer älteren Dame zu, die an ihm vorbeikam, und grüßte zwei kleine Jungen, vermutlich nicht älter als sechs oder sieben, die ihre letzten Ferientage vor Schulbeginn mit Schokoladeneis versüßten.

Anne Hampton sah zu ihm auf.

»Gehen wir an den Strand«, sagte er.

 

Den größten Teil des Tages döste sie, während Douglas Jeffers quer durch Massachusetts Richtung Cape Cod fuhr. Er schien in Gedanken, aber sorglos. Er machte das Radio an und fand einen Sender, der Rock ’n’ Roll aus den Sechzigern spielte, der einzigen Musik, wie er sagte, die man sich im Radio anhören konnte. Gut gelaunt bestand er darauf, der einzige Musiker, den er überhaupt ernst nehmen konnte, sei der Kerl aus New Jersey, und das auch nur, weil er sich wie jemand benahm, der aus einer Epoche von vor zwanzig Jahren stammte. Er erzählte ihr, er hätte nur einmal den Auftrag gehabt, bei einem Rock-Konzert zu fotografieren.

»Das einzige Mal, dass ich wirklich um mein Leben gefürchtet habe. Wir sollten unten vor der Bühne in Stellung gehen, und als diese vier Jungs in Strumpfhosen, Glitzer-Make-up und Federboas herausstolzierten, drängte sich hinter uns alles nach vorne, verflucht noch mal. Ich dachte, ich werde von einer Horde tränenseliger Jugendlicher zerquetscht. Sämtliche Kameraleute kämpften mit dem Rücken zur Wand, und als ich den Kopf hob, sah ich, wie einer der Musiker mit glänzenden Augen und blondem Haar, das ihm bis zum Hintern reichte, die Arme in die Höhe hob und die Stimmung in der Zuschauermenge noch weiter anheizte. Tod durch Rock ’n’ Roll …« Douglas Jeffers lachte. »Da stolperte ich also immer weiter rückwärts gegen die Bühne, überall schreiende Gören, kein Platz, um auch nur einen Fuß auf den Boden zu bekommen, und ich konnte nur daran denken, dass uns unsere Eltern genau davor gewarnt hatten. Eine Kommunistenverschwörung. Damals zumindest kam es den Leuten so vor.«

Er fuhr gemächlich und ließ sich häufig überholen. Er schien keine Eile zu haben, hielt sich aber offensichtlich an einen Zeitplan. Als sie die Ausfahrt zur Route 6 erreichten, die sich von dort aus bis zum Cape Cod hinauswindet, verblasste bereits der Nachmittag. Sie war noch nie am Cape gewesen und sah sich interessiert die etwas heruntergekommenen Antiquitätenhandlungen, die Süßwarengeschäfte und T-Shirt-Läden an, die sich am Straßenrand mit Fastfood-Restaurants und Tankstellen abwechselten.

»Ich versteh das nicht«, sagte sie. »Ich dachte, Cape Cod wäre schön.«

»Ist es auch«, antwortete Jeffers. »Zumindest da, wo wir hinwollen. Es hat niemand behauptet, die Straße dahin wäre schön. Ist sie auch nicht. Sie hält eher einen Weltrekord an Hässlichkeit.«

Im letzten Tageslicht überquerten sie die Bourne Bridge. Anne Hampton sah darunter in der Tiefe Lastschiffe langsam den Kanal entlangziehen. Vor ihnen lag ein Kreisverkehr, und Jeffers murmelte etwas über die darwinistische Überlebensstrategie der Autofahrer in Massachusetts. In einem Imbiss in Falmouth aßen sie zügig etwas zu Abend, dann fuhren sie zur Anlegestelle der Fähre im Woods Hole Ferrydock. Der weiße Lack eines Boots der Küstenwache leuchtete in der Dunkelheit. Die Fähre selbst glimmte im Licht der Straßenlaternen und Autoscheinwerfer. Auf der Straße wartete eine Fahrzeugschlange, die von einem Teenager mit Baseballkappe und Walkie-Talkie abgefertigt wurde. Jeffers kurbelte die Scheibe herunter.

»Ich habe eine Reservierung für die Fähre um halb neun«, erklärte er.

»Großartig«, erwiderte der Junge. Für Anne Hampton sah er haargenau so aus wie die jungen Männer im Jeep die Nacht davor. »Fädeln Sie sich einfach hinter dem Kombi da ein.«

Jeffers folgte seiner Anweisung. Er zog Tickets aus der Tasche und zeigte sie einem anderen Teenager.

»Weißt du, was ich an dieser Fähre schon immer mochte?«, wandte er sich an Anne Hampton. Er wartete keine Reaktion ab. »Sie hat dieses vollkommen funktionale Design. Das Boot hat keine Vorder- und keine Rückseite. Ich meine, beide sehen gleich aus. Man fährt in Woods Hole drauf und in Vineyard Haven runter. Auf beiden Seiten hat sie diese riesige Öffnung. Das Ding pendelt wie ein Jojo zwischen den beiden Anlegestellen.«

Sie blickte hinüber und sah die Menschenströme, die sich durch das geduckte Fährdienstgebäude neben dem Pier drängten. Sie sah, wie sich eine Gruppe Biker an die Spitze der Autoschlange setzte. Sie beobachtete, wie das Deckpersonal die anfahrenden Autos in eine Öffnung auf der Fähre winkten, die in schroffem Schwarzweiß vor dem dämmrigen Abendhimmel klaffte. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie nicht das offene Wasser sehen, sondern nur durch Jeffers geöffnetes Fenster die Seeluft riechen.

»Wo …«

»Die Insel Martha’s Vineyard«, antwortete er. »Sommerresidenz der oberen Zehntausend. Altes Geld, neues Geld, alle bescheiden in Jeans und Arbeitshemden gekleidet. Da haben sie Der weiße Hai gedreht …« Er sang ein paar Takte des bekannten, unheilverkündenden Soundtrack. »Unter anderem auch alle möglichen Kennedys. Erinnerst du dich, wie Teddy von Chappaquiddick nach Edgartown geschwommen ist? Jedenfalls hat er das behauptet. Jackie O. hat da ein Domizil, ebenso Walter Cronkite, die halbe Redaktion der New York Times und mehr Dichter und Romanschriftsteller pro Quadratmeter, als du zählen kannst. John Belushi besaß für ungefähr fünf Minuten ein Haus in Chilmark, bevor es ihn in Los Angeles erwischte, und jetzt ist er hier begraben. An einem wunderschönen Ort namens Abel’s Hill. Diesen Friedhof lieben die Jugendlichen. Sie feiern an seinem Grab. Es ist eine sehr wohltuende Insel«, erzählte Jeffers. »Atmet die feine Lebensart der Ostküsten-Elite. Sie ist ruhig, angenehm, schön und gemächlich. Wenn sich die Insulaner mal über einen Mangel an Schwertfischsteaks oder zu viele Mopeds auf den Straßen aufregen, ist das schon viel. Es herrscht eine freundliche Atmosphäre, und man weiß die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen, die sich jeder leisten kann, der über einen Haufen Geld verfügt und die Tatsache mit ausgewaschenem Denim kaschiert. Eine Menge gute Leute, die in intellektueller Harmonie zusammenleben. Vom ersten Juni bis zum Labor Day.«

Er schwieg, bevor er hinzufügte:

»Der ideale Ort für ein unaussprechliches Ereignis.«

 

Jeffers fuhr plan- und ziellos quer über die Insel, durch ein Netz enger, unbeleuchteter Straßen. Die Scheinwerfer schnitten bizarre Formen in den leichten Nebel zwischen den Bäumen. Hinter einer Häuserecke begegneten sie plötzlich einer großen Ohreule, die sich an einer Bisamratte oder einem Kaninchen satt fraß, das den Weg über die Straße falsch eingeschätzt hatte. Der Vogel breitete die weißen Schwingen aus und stieß angesichts der unhöflichen Störung einen verärgerten Schrei aus. Er erhob sich wie ein Gespenst direkt vor der Kühlerhaube, und einen Moment fürchtete Anne, es gäbe einen Zusammenstoß, so dass es ihr einen Stich versetzte.

Sie wusste nur, dass es weit nach Mitternacht war und auf den Morgen zuging. Jeffers schien ständig unter Adrenalin zu stehen und redete in angeregtem Ton unermüdlich drauflos.

Er fuhr wiederholte Male zahlreiche Straßen entlang, so dass Anne Hampton trotz seiner laufenden Reisekommentare irgendwann die Orientierung verlor. Er zeigte auf verschiedene Örtlichkeiten und verband sie mit bestimmten Erinnerungen, so wie es jedem ergehen musste, der nach vielen Jahren einen Lieblingsort besucht.

Sie versuchte, sich Notizen zu machen, stellte jedoch fest, dass er von einer banalen Erinnerung zur nächsten sprang. Keine davon hatte irgendetwas mit Sterben oder Tod zu tun. Vielmehr erzählte er, wo die besten Blaubeeren oder die geheimen Pfade zu den Stränden zu finden seien. Er fuhr sie zu den Gay-Head-Kliffs hinaus und lief mit ihr zum Rand der Felsen, damit sie aufs Meer hinaussehen konnten. Da, wo die Wellen an den Strand schlugen, sah sie weißen Schaum, und trotz der Dunkelheit konnte sie in der schwarzen Weite große Brecher ausmachen. Sie spürte eine stete Brise im Gesicht, die guttat. Dennoch war ihr die schwindelerregende Höhe unbehaglich, und einen Moment lang sah sie vor sich, wie sie über die steilen rotgrauen Kliffs ins Nichts stürzte. Sie fühlte seine Hand auf ihrem Arm, und sie sah, dass er in die schwarze Meeresnacht zeigte.

»Da draußen«, erzählte er, »gibt es eine Insel, die heißt No Man’s Land, dort testet die Marine Waffen. An einem klaren Tag kann man sie sehen, und wenn der Wind richtig steht, hört man sogar gelegentlich das Donnern der Sprengstoffexplosionen. Ich wollte schon immer mal hin, seit meiner Kindheit. Nicht wegen der Trainingsdurchgänge der Marine, die durchaus interessant sind – manchmal kann man die Kondensstreifen der Düsenjets sehen –, sondern weil ich wissen wollte, wie es da aussieht, nachdem es über so viele Jahre hin zerbombt worden ist. Wie eine Zukunftsvision, könnte ich mir denken …

Bin aber nie rübergefahren. Einmal, noch als Kind, war ich nahe dran, als wir geangelt haben. Wir hatten einen tollen Fang gemacht, als plötzlich ein Hubschrauber der Küstenwache über uns kreiste und uns anwies, wir sollten zusehen, dass wir da wegkommen.«

Er lachte.

»Wir haben gehorcht.«

»Sind Sie mit Ihrer Familie oft hier rausgekommen?«, fragte sie.

»Ein paar Sommer lang. Irgendwann, als Teenager, nicht mehr.« Er sah sich um.

»Es hat sich verändert. Dieselbe Insel, aber anders. Manches ist neu, vieles ist wie früher. Es gibt Stabilität und Kontinuität. Aber auch Wachstum.«

Wieder lachte er.

»Alles verändert sich. Alles bleibt, was es war. Wie das Leben selbst.«

Er dachte an den Pass, das Flugticket und das Geld in seiner Aktentasche. Wie ich.

Sie stiegen wieder ins Auto, und er steuerte langsam die Mitte der Insel an. Sie wagte nicht, ihn nach der Unterkunft oder seinen Plänen zu fragen.

Jeffers wunderte sich, dass er statt seiner gewohnten, angespannten Freude auf einmal eine Art gemächliche, fast träge Behaglichkeit empfand. Er fühlte sich ein wenig berauscht, so als hätte er von einem ausgezeichneten Wein ein paar Schluck zu viel getrunken und sei etwas beschwipst. Nachdem er sich die ganze Zeit so streng an seine Vorgaben gehalten und alles bis zu den Fährtickets genauestens geplant hatte, sah er sich jetzt nicht mehr zur Eile genötigt. Diesen letzten Akt wollte er auskosten, in die Länge ziehen. Der Gedanke ging ihm ins Blut, er prickelte ihm in den Adern. Er horchte auf seinen eigenen Herzschlag und dachte daran, dass es nicht leicht würde, seiner alten Identität Lebewohl zu sagen. Denk einfach nur daran, wie du dir eine neue schaffst.

Sie kamen durch das Städtchen West Tisbury, und Jeffers ermahnte sich, ganz bei der Sache zu bleiben. Nicht mehr weit, dachte er. Er nahm innerlich Haltung an und konzentrierte sich auf die anstehenden Probleme.

Anne Hampton warf einen Seitenblick auf Jeffers und sah, dass er plötzlich wach und gestrafft aussah. Er hatte sich ein wenig vorgebeugt, und das bedeutete, dass etwas bevorstand. Augenblicklich verspannte sie sich und rutschte an den Rand ihres Sitzes.

Er hatte so viel von einem Ende gesprochen, und sie vermutete, dass dies der Anfang davon war. Sie merkte, wie auch bei ihr alle Schläfrigkeit verflog. Sie nahm ihre Gefühle an die Kandare, um wie kurz vor einer Schlacht die nötigen Kraftreserven zu sammeln, die im kritischen Moment über Sieg oder Niederlage entscheiden konnten.

Jeffers bog in eine ungeteerte Nebenstraße ein, und wenig später holperten sie einen Feldweg entlang. Die dichten Büsche und knorrigen Bäume der Insel schienen sie wie ein Tunnel zu umschließen, und sie hatte schlagartig das Gefühl, als hätten sie einen Sprung aus der Zivilisation an einen wilderen, prähistorischen Ort gemacht. Der Wagen hob und senkte sich, und gelegentlich drehten für einen Moment die Reifen durch, während sich der Innenraum mit den kratzenden und schabenden Geräuschen von Büschen füllte, die an das Autoblech peitschten. Nach einer ungefähren holprigen Meile immer tiefer in den Dünenwald hinein, gelangten sie an eine Weggabelung mit vier winzigen Straßen. Kleine, farbige Pfeile wiesen in die verschiedenen Richtungen. Die unbefestigten Wege schienen immer enger und dunkler zu werden.

»Die Pfeile stehen für die verschiedenen Wohnsitze«, erklärte Jeffers. »Das ist wichtig. Du musst die richtige Farbe kennen, um zum richtigen Haus zu finden. Sonst landest du auf der falschen Seite des Teichs.«

Er steuerte den Weg ganz links an.

Vom wilden Auf und Ab wurde ihr langsam, aber sicher übel. Sie versuchte, durch die überhängenden Zweige in den Himmel zu schauen und erhaschte einen Blick auf den Mond in der Höhe.

So ging es zehn Minuten weiter. Mindestens eine Meile, dachte sie, vielleicht auch mehr.

Und dann öffnete sich plötzlich wie mit dem Messer geschnitten die Sicht auf eine weite dunkle Ebene. Jeffers schaltete die Scheinwerfer aus und fuhr bei Mondlicht weiter.

Zu ihrer Rechten sah sie eine große Wasserfläche.

»Das ist der Teich«, sagte Jeffers. »Teich ist eigentlich nicht das richtige Wort. Er ist in Wahrheit so groß wie ein See, und auch so tief.« Er hielt an und kurbelte die Scheibe herunter.

»Hör mal«, forderte er sie auf.

Sie hörte in der Ferne die Brandung ans Ufer schlagen.

»Der Teich trennt die Häuser vom Strand«, erzählte er. »Wir mussten mit einem Motor- oder Ruderboot übersetzen. Viele hatten Segelboote. Oder auch Kanus, Kajaks und Surfbretter. Und jetzt schau genau hin. Siehst du, da drüben?«

Er zeigte über den Teich.

»Das ist alles unberührte Natur. Der einzige Mensch, der da draußen wohnt, ist ein alter Schafhirte namens Johnson. Er ist verrückt. Im wortwörtlichen Sinne. Stiehlt die Außenbordmotoren von den Booten der Sommerurlauber, wenn er etwas gegen sie hat. Er schießt mit dem Gewehr auf Leute, die mit dem Auto auf den Sanddünen fahren. Einmal hat er eigenhändig eine Landmine zusammengeschustert und eine Panzerfalle für all die Kinder und Touristen, die auf seinem Weg zum Strand gelangen wollten. Der alte Mistkerl hat mich mal mit vorgehaltenem Gewehr von seinem Grundstück gejagt. Das war vor zwanzig Jahren, aber er hat sich kein bisschen geändert. Er wurde wegen einer Geistesstörung aus der Armee entlassen, und seither ist es wohl nicht besser geworden. Er ist unzurechnungsfähig, aber ein alter Insulaner, also bleibt er ungeschoren. Die Urlauber finden ihn natürlich kurios.«

Jeffers schwieg. Bei seinen nächsten Worten klang seine Stimme plötzlich ganz von Wut getränkt.

»Bei dem, was wir vorhaben, werden sie zuerst ihn verdächtigen.«

Dann zeigte er nach vorne auf die Straße.

»Dieses Gelände endet an einer Stelle, die in den Teich hineinragt. Finger Point. Eine halbe Meile diesen Weg weiter ist ein Haus. Das einzige hier draußen. Für die richtige Art von Abgeschiedenheit lassen manche einen Haufen Geld springen. Na, jedenfalls, da wollen wir hin.«

Damit kurbelte Jeffers energisch das Fenster hoch und legte den Rückwärtsgang ein. Der Wagen machte einen gewaltigen Satz, bevor er ihn wieder Richtung Wald zurückfuhr. Er riss das Lenkrad herum und bog in eine kleine Abzweigung ein, die ihr zuvor nicht aufgefallen war. Dann stellte er den Motor aus.

»Gut«, meinte er. »Wir sind da. Warte.«

Jeffers ging zum Heck und nahm die Reisetasche mit den Waffen aus dem Kofferraum. Er zog den Reißverschluss auf und holte zwei schwarze Arbeiteroveralls sowie mehrere andere Gegenstände heraus. Einen Overall zog er sich selbst über, dann steckte er eine Pistole in den Gürtel. Er lud das Gewehr neu und legte weitere Patronen ein. Schließlich schlang er sich die Tasche über die Schulter.

»Also denn«, wies er sie an, »raus aus dem Wagen.«

Sie gehorchte augenblicklich.

»Zieh den an.«

Sie schlüpfte hinein und dachte: Ich bin Teil der Nacht.

Er betrachtete sie mit einem prüfenden Blick.

»Gut. Gut. Du bist genau richtig für die Rolle gekleidet. Du brauchst nur noch das hier.«

Er reichte ihr eine kleine Strickmütze. Sie betrachtete das Kleidungsstück mit einem fragenden Blick.

»So!«, knurrte er, plötzlich äußerst gereizt.

Er trat auf sie zu, griff nach der Mütze und stülpte sie ihr unsanft über den Kopf. Mit einer einzigen, gewaltsamen Bewegung riss er die aufgerollte Krempe herunter, und sie erkannte, dass es eine Skimaske war. Sie glaubte, sie müsse unter dem eng sitzenden Wollstoff ersticken. Sie sah, dass er seine ebenfalls übers Gesicht gezogen hatte.

»Eine richtige Horrorshow«, sagte er. Er drehte sich um und lief los, während sie sich beeilte, Schritt zu halten.