6.

Als sie erwachte, war ihr erster Gedanke, dass sie sich den Tod anders vorgestellt hatte. Während sie langsam zu sich kam, wurde ihr klar, dass sie lebte. Dann spürte sie die Schmerzen; es fühlte sich an, als hätte man jeden Knochen und jeden Muskel in ihrem Körper bis zum Anschlag gestreckt und dann geschlagen oder verrenkt. Ihr Schädel pochte, und an der Stelle, an der sie der Schlag getroffen hatte, brannte ihr Schenkel. Sie stöhnte vorsichtig und versuchte, trotz der Schmerzen die Augen zu öffnen.

Sie hörte seine Stimme aus der Nähe, doch irgendwie körperlos.

»Versuch nicht, dich zu bewegen. Dich freizuwinden. Versuch einfach, dich zu entspannen.«

Sie stöhnte wieder.

Blinzelnd öffnete sie die Augen und ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten, obwohl die Angst schnell die Oberhand über die Schmerzen gewann und vollkommen Besitz von ihr ergriff. Sie schnappte nach Luft und hyperventilierte. Wieder hörte sie die Stimme.

»Versuch, ruhig zu bleiben. Ich weiß, das klingt schwer. Aber versuch es. Es ist wichtig. Sieh die Sache mal so: Wenn du ruhig bleibst, verlängerst du dein Leben. Wenn du dagegen in Panik gerätst … ich weiß, du bist kurz vor der Hysterie … also, das würde die Sache für uns beide nur erschweren. Hol tief Luft und verlier nicht die Fassung.«

Sie tat, was er sagte.

Sie schlug die Augen auf und versuchte, ihre Situation einzuschätzen.

Das Zimmer war größtenteils dunkel, es brannte nur eine schwache Lampe in einer Ecke. Sie konnte den Mann nicht sehen, doch sie hörte seinen Atem. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht rühren konnte; sie lag auf einem Bett auf dem Rücken, die Hände mit Stricken zusammengebunden und am Kopfende verknotet, die Füße am anderen Ende festgezurrt. Die Fesseln boten ein wenig Bewegungsspielraum; sie veränderte ihre Lage, so gut es ging, und versuchte zu sehen, wo sie war.

»Ah, Neugier. Gut. Das zeigt, dass du deinen Kopf gebrauchst.«

Sie wurde schlagartig von zwei Emotionen überwältigt, die unmittelbar aufeinanderfolgten. Zuerst empfand sie den Sog einer tiefen Verzweiflung über ihr Ausgeliefertsein, und sie schluchzte einmal auf. Es war, als fiele sie aus großer Höhe und stürzte immer rasanter ins Bodenlose. So schnell, wie das Gefühl gekommen war, wich es der Wut. Ich werde leben, dachte sie, ich werde nicht sterben.

Als sie von diesem Gedanken ganz durchdrungen war, meldete sich die kalte, teilnahmslose Stimme des Mannes.

»Es gibt viele Arten von Schmerzen auf der Welt. Ich bin mit den meisten vertraut. Fordere mich nicht heraus, mein Wissen anzuwenden.«

Sie konnte das Schluchzen nicht unterdrücken. Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, während sie sich fragte, was als Nächstes passieren würde. Doch es gelang ihr, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Nichts Gutes, sagte sie sich, doch das klang in ihren Ohren wie die Worte eines anderen – eines hilflosen Kindes.

»Bitte. Bitte lassen Sie mich gehen. Ich tue, was Sie wollen. Lassen Sie mich einfach nur gehen.«

Es herrschte Schweigen. Sie wusste, dass er ihre Bitte nicht in Erwägung zog.

»Bitte«, versuchte sie es noch einmal. Sie hörte ihre eigene Stimme und wusste, wie nutzlos es war.

»Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen«, flehte sie. Im Kopf ging sie die Möglichkeiten durch, doch sie weigerte sich, ihre Befürchtungen in Worte zu fassen. Sie hörte, wie der Mann langsam ausatmete. Es war ein schreckliches Geräusch.

»Du bist Studentin«, sagte er. »Du wirst lernen müssen.«

Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr Herz bliebe stehen.

Zum ersten Mal konnte sie am Rand ihres Gesichtsfeldes einen Blick auf den Mann erhaschen. Sie reckte den Hals, um ihn zu sehen. Er hatte sich umgezogen und trug statt des Baumwolljacketts und der Khakihose jetzt dunkle Jeans und ein schwarzes Sporthemd. Das irritierte sie, und sie musste zweimal hinschauen, um sicher zu sein, dass es sich um denselben Mann handelte. Auch sein Gesicht schien verändert: Das lässige, offene Grinsen war verschwunden, seine Züge wirkten hart und kantig. Als sein ungerührter Blick sie traf, hatte sie das Gefühl, ohnmächtig in die Höhe gerissen zu werden. Sie schluckte schwer.

»Wehr dich nicht dagegen«, empfahl er.

Sie schwieg.

»Wenn du dich wehrst, ziehst du die Dinge nur in die Länge. Es ist klüger, wenn du dich meinen Plänen fügst.«

»Bitte«, wiederholte sie. »Tun Sie mir nicht weh.« Sie hörte sich selbst reden. Die Worte brachen ungebeten, flehentlich und hilflos aus ihr heraus. »Ich mach alles, was Sie wollen.«

»Selbstverständlich tust du das.«

Er ließ die Augen nicht von ihr. Die absolute Gewissheit in seinem Ton traf sie wie ein Schlag.

»Was immer ich will.«

Wieder verstummte er.

»Aber das ist eine angelernte Reaktion. Konditioniert. Und die Lektion hat gerade erst begonnen.«

Er hielt die kleine, rechtwinklige Vorrichtung so hoch, dass sie sie sehen konnte. Sie zuckte unwillkürlich und versuchte zurückzuweichen. Er drückte auf einen Knopf an der Seite des Geräts, und sie sah, wie ein elektrischer Strom von einem Pol zum anderen sprang. »Damit hast du schon Bekanntschaft gemacht«, erklärte er. Plötzlich drangen ihr die Schmerzen im ganzen Körper ins Bewusstsein. Ihr entwich ein halb stöhnender, halb seufzender Laut. »Wusstest du, dass man so eine Betäubungspistole in Georgia, Alabama, Missouri, Montana und New Mexico und einem halben Dutzend anderen Bundesstaaten ohne Waffenschein kaufen kann? Man bekommt sie auch über den Versand, aber das ist leichter zurückzuverfolgen. Also, welche Verwendung hat man wohl für so ein Ding?«

Er fügte hinzu: »Außer Schmerzen zuzufügen?«

Sie merkte, wie ihre Unterlippe zitterte, und das Beben in ihrer Stimme war neu. »Bitte, ich tu alles, bitte.«

Er legte das Gerät weg.

»Es wäre kaum fair«, meinte er, »es noch einmal einzusetzen, nachdem du es schon zu spüren bekommen hast.«

Sie war ihm fast dankbar und schluchzte auf.

Als er plötzlich sein Gesicht ganz nah an ihres heranhielt, schnappte sie nach Luft.

»Aber stell dir eines vor«, zischte er. »Als ich dich vorhin damit außer Gefecht gesetzt habe, war es auf die niedrigste Stufe eingestellt. Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn ich es hochdrehe? Stell dir die Schmerzen vor. Hat es sich so angefühlt, als ob jemand nach deiner Seele greifen und aus deinem Leib ziehen würde? Denk mal drüber nach.«

Die Vision schwarzer Höllenqualen erfasste sie in einer einzigen Woge. Sie hörte die Antwort des kleinen Mädchens.

»Ja, ja, ja«, rief sie. »Bitte, Gott!«

»Nicht beten«, wies er sie schroff zurecht.

»Nein, nein, tue ich nicht. Was immer Sie sagen. Bitte.«

»Nicht betteln.«

»Ja, ja, natürlich. Ja.«

»Denk einfach nur drüber nach.«

»Ja, ja, ja.« Sie nickte beflissen.

»Gut. Aber denk dran. Es ist nie weit weg.«

»Ich denk dran, ganz bestimmt.«

Plötzlich wechselte sein Ton. Er klang tröstlich.

»Hast du Durst?«

Ihr wurde bewusst, dass ihre Kehle ausgetrocknet war. Sie nickte. Er verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie hörte, wie ein Wasserhahn lief, dann kehrte er mit einem feuchten Handtuch zurück. Er begann, ihr damit über die Lippen zu streicheln. Sie sog daran.

»Ist es nicht faszinierend, dass uns etwas so Schlichtes wie ein in Wasser getränktes Handtuch so viel Erleichterung verschaffen kann …«

Sie nickte.

»Aber … derselbe Gegenstand, der uns Erleichterung verschafft, kann zugleich die größte Angst einflößen.«

Während er das sagte, drückte er ihr das Handtuch plötzlich auf Mund und Nase. Sie würgte, versuchte nach Luft zu schnappen und zu schreien, blieb aber unter dem nassen Handtuch stumm. O mein Gott!, dachte sie. Ich sterbe! Ich kann nicht atmen! Sie merkte, dass sie langsam erstickte, und plötzlich sah sie ihren Bruder vor sich, wie er sie über das Eis hinweg zu sich winkte. Es fühlte sich an, als würde ihr die Lunge aus der Brust gerissen. Sie verdrehte die Augen und zuckte unter den Fesseln, während sich in ihrem Kopf die Panik wie ein riesiges schwarzes Tuch ausbreitete.

Dann ließ er los.

Sie rang nach Luft und pumpte verzweifelt die Lungen voll. »Und jetzt wieder Erleichterung.« Er benutzte das Handtuch, um ihr die Stirn zu befeuchten. Sie schluchzte.

»Was haben Sie mit mir vor?«

»Wenn ich dir das verraten würde, wäre nichts Geheimnisvolles mehr daran.«

Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt, und sie schluchzte hemmungslos

»Wieso?«

Er ignorierte sie und ließ sie eine Weile weinen.

Die Tränen versiegten, und sie sah ihn an.

»Noch mehr Fragen?«

»Ja. Nein. Ich kann nicht …«

»Schon gut«, beruhigte er sie sanft. »Ich hab damit gerechnet, dass du neugierig bist.«

Er dachte einen Moment nach. Die Zeit schien unterdessen stillzustehen.

»Hast du je in der Zeitung einen Artikel über ein Verbrechen gelesen, aus dem nicht richtig klar wurde, was nun wem zugestoßen ist? Es bleibt deiner Phantasie überlassen, die Euphemismen und Analogien zu sondieren, um zu begreifen, was tatsächlich vorgefallen ist? Kennst du das?«

»Ja. Nein. Ich glaube schon. Bitte, was immer Sie wollen.«

Er sah sie verärgert an.

»Also, genau das ist dir passiert. Du bist in einen von diesen Zeitungsartikeln hineingeraten. Du bist eine Nachricht …« Er lachte. »Nur dass sie noch nicht ganz vollständig ist. Und wir müssen auch noch eine passende Schlagzeile finden. Verstehst du das? Verstehst du, was ich sage?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es bedeutet, dass du eine Chance hast, am Leben zu bleiben.«

Sie schluchzte. Sie wusste nicht, ob sie dankbar sein sollte.

In dem Moment schlug er sie fest auf den Mund, und das Zimmer drehte sich um sie. Sie kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an. Sie schmeckte Blut am Gaumen, und ein Zahn schien zu wackeln.

»Aber es bedeutet auch, dass es genauso gut anders kommen kann. Merk dir das.«

Er wartete einen Moment und forschte in ihrem Gesicht nach der Wirkung seiner Worte.

Sie wusste, dass sie die Angst nicht verbergen konnte. Ihre Lippe zitterte.

»Ich mag das nicht«, stellte er in sachlichem Ton fest.

Dann schlug er sie erneut. Seine Hand fuhr wie in Zeitlupe auf ihr Gesicht zu. Sie war erstaunt, dass sie den Schmerz spürte. Sie entspannte sich und fragte sich zugleich, wie sie dazu fähig war, und diesmal überließ sie sich der Qual und fiel in Ohnmacht.

 

Als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte, war sie auf der Hut und biss die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben. Sie fühlte, wie geschwollen ihre Lippe war, und schmeckte getrocknetes Blut. Sie war immer noch gefesselt, und die Schmerzen in ihren Gelenken und Muskeln kehrten zurück – zwar weniger heftig, doch mit einer pochenden Nachhaltigkeit, die sie fürchtete.

Sie konnte den Mann nicht hören, doch sie wusste, dass er nicht weit war.

Sie atmete langsam ein und kämpfte gegen die Schmerzen an, während sie sich zwang, ihre Umgebung abzuschätzen. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ sie den Blick über die Decke schweifen. Dort hing eine einzige nackte Birne, doch die war aus. Sie ahnte, dass sie in einem kleinen Zimmer lag, und sie tippte auf ein kleines Apartment oder Zimmer in einem Motel. Wenn sie den Kopf ein wenig nach links und rechts bewegte, konnte sie ein paar billige Möbel und ein Fenster mit heruntergezogener Jalousie erkennen. Etwas außerhalb ihres Gesichtskreises schien ein kleiner Flur zu sein, und sie vermutete, dass dort der Eingang lag. Sie konnte nicht sehen, woher das schwache Licht im Zimmer kam, ging jedoch davon aus, dass nebenan ein Badezimmer war, in dem er die Lampe angelassen hatte. Sie wusste nicht, wie spät es war oder wie lange ihre Ohnmacht gedauert hatte.

Mit Entsetzen stellte sie fest, dass sie sich weder an das Datum noch an den Wochentag erinnerte, und sie versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen. Ich habe an einem Dienstag in der Bibliothek gesessen. Es ist Juli. Es ist Ende Juli. Die letzte Woche. Das Semester dauert nur noch drei Wochen.

Oder vier? Sie biss sich auf die Lippe und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Erinnere dich!, schrie sie sich innerlich an. Sie spürte, wie ihre Gedanken verzweifelt rasten, weil sie nicht sagen konnte, welcher Tag es war.

Wie lange bin ich schon hier?, fragte sie sich weinend.

Und als ob er ihren Gedanken gehört hätte, antwortete der Mann: »Von jetzt ab bestimme ich über die Zeit.«

In seiner Stimme lag eine dunkle Endgültigkeit, und sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Zuerst kam ihr ein Schluchzer über die Lippen, dann ein zweiter, bis sich ihr ganzer Körper vor Verzweiflung schüttelte.

Er ließ sie gewähren. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte, ob Minuten oder Stunden. Als sie ruhiger wurde, hörte sie einen Seufzer, und er sagte: »Gut. Jetzt können wir weitermachen.«

Reflexartig straffte sie den Körper.

Sie hörte, wie es in einer Tasche, in der er wühlte, klirrte.

»Was haben Sie vor?«, fragte sie.

Augenblicklich war er neben ihr und flüsterte ihr böse zu: »Keine Fragen.«

Er schlug sie.

»Keine Fragen!«

Er schlug sie wieder.

»Keine Fragen!«

Er schlug sie ein drittes Mal.

Es ging so schnell, dass sie Schmerz und Verblüffung nicht unterscheiden konnte. »Nein, nein, nein, tut mir leid …«, stammelte sie.

Er sah sie an.

»Irgendwelche Fragen?«, fragte er.

Sie schüttelte hastig den Kopf.

Er lachte auf. »Dachte ich mir.«

Wieder stürzte ihr Herz im freien Fall in die Tiefe. Sie kämpfte gegen einen hysterischen Anfall an.

Sie hörte ein Klicken und verdrehte den Kopf, um zu sehen, was es war.

»Zeit, dich für einen Fototermin zurechtzumachen«, meinte er.

Er hielt eine OP-Schere hoch.

Das stumpfe Metall fühlte sich kalt an. Sie zitterte bei dem Geräusch und stöhnte bei dem Gedanken, dass es nicht anders hatte kommen können. Gott, ich hab’s gewusst. Er schnitt behutsam, doch unbeirrbar durch den Stoff ihrer Jeans.

Zuerst trennte er ein Hosenbein vom Knöchel bis zur Taille auf, dann das andere. Sorgfältig faltete er die Kleidungsreste zusammen und legte ihre Beine frei. Sie zitterte, als sie merkte, wie er ihr unter das Kreuz fasste, um ihr Gesäß vom Bett zu heben. Nachdem er die zerschnittene Jeans entfernt und in eine Ecke geworfen hatte, ließ er sie wieder auf die Matratze herunter. Sie schloss die Augen und spürte, wie die Schere mit der gleichen schrecklichen Präzision ihre Bluse entlangglitt. Sie merkte, wie ihr BH entfernt wurde, und fühlte den kalten Stahl an ihren Hüften, als er sich daranmachte, den Slip aufzuschneiden.

Wieder schluchzte sie.

Eine Woge der Qual und der Scham und der Hilflosigkeit schlug über ihr zusammen. Was jetzt geschehen würde, schien ihr so dumpf, so offensichtlich und so unvermeidbar, dass es ihr kaum noch Angst bereitete. Tu’s einfach, bitte, damit ich es hinter mir habe.

Sie wartete darauf, sein Gewicht auf ihrem Körper zu fühlen. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, und sie merkte, dass sie fror. Die Augen immer noch fest geschlossen, fing sie an zu zittern.

Sie hörte nichts weiter als seinen Atem in unmittelbarer Nähe.

Ihr wurde bewusst, wie die Zeit verstrich.

Ihr kam ein schrecklicher Gedanke: Mein Gott, wenn er nun nicht kann? Wenn seine Frustration … Sie befahl sich, den Gedanken fallenzulassen, und öffnete langsam die Augen. Er saß einfach nur neben ihr. Als er sah, dass sie die Augen offen hatte, musterte er ihren Körper von oben bis unten.

»Du weißt natürlich, dass ich tun könnte, was ich will?«

Sie nickte.

»Spreiz die Beine.«

Sie gehorchte, soweit es die Fesseln erlaubten.

Sie hörte das Sirren einer Kamera, und hinter ihren zugekniffenen Augen leuchtete es rot, als ein Blitz explodierte. Es gab noch eine Explosion und eine dritte.

Langsam schlug sie die Augen auf.

»Gut«, sagte er und steckte die Kamera wieder in eine Tasche.

Nervös versuchte sie, die Beine wieder zu schließen.

»Werden Sie mich …«, fing sie an, doch ihre Worte gingen in einem weiteren Schlag ins Gesicht unter.

»Ich dachte, die Lektion hätten wir gelernt?«, herrschte er sie an.

Er schlug sie wieder.

Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.

»Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid«, rief sie. »Bitte nicht schlagen.«

Er sah sie nur an.

»Okay. Du kannst deine Frage stellen.«

Sie schluchzte.

»Raus damit!«

»Werden Sie, werden Sie mich vergewaltigen?«

Er schwieg.

»Muss ich das?«, erwiderte er schließlich. Er legte die Hand auf ihr Geschlecht. Sie fühlte, wie sich ihre Haut unter seinen Fingern zusammenzog.

Dann schlug er sie erneut. Sie schnappte nach Luft.

»Ich hab dich was gefragt. Lass mich nicht warten.«

»Gott, nein, ja, ich weiß nicht, was immer Sie wollen, bitte.«

»Gut.«

Er stand auf und ging ans Fußende des Bettes. Sie hob den Kopf, um ihn zu sehen. Er hielt etwas Kleines, Blitzendes hoch.

»Erkennst du, was das ist?«

Sie stöhnte. In ihrem Kopf wurde es dunkel.

»Ich war schon immer von der einfachen Rasierklinge fasziniert. Sie könnte deine Kehle so sauber durchtrennen, dass du es erst merken würdest, wenn dir das Blut in die Gurgel fließt.«

Voller Entsetzen riss sie die Augen auf.

Er sah sie scharf an. Dann senkte er die Klinge langsam und glitt damit die dicke Haut an ihrem großen Zeh entlang.

»Bitte«, setzte sie an, verstummte aber, als er sie wütend anfunkelte. Er trat an ihre Seite und berührte mit der Klinge ihre Hüfte. Sie spürte zwar nichts, sah jedoch, wie auf ihrer Haut eine dünne, wenige Zentimeter lange Blutlinie erschien.

»Betrachte mich als eine Rasierklinge«, sagte er.

Er trat neben ihren Oberkörper und glitt mit der Klinge ihren Oberarm entlang. Er war fast außerhalb ihres Gesichtsfeldes, und sie konnte nur vage einen weiteren Blutstriemen erkennen. Sie merkte, wie ihr schwindelig wurde, wie sich alles um sie drehte, und sie versuchte mit aller Macht bei Sinnen zu bleiben, zu schreien, irgendetwas zu tun. Plötzlich erschien er neben ihrem Gesicht, und sie sah die Klinge in seinen Fingern. Er rammte ihr die Hand über Mund und Nase, während er zischte:

»Soll ich dein Gesicht neu gestalten?«

Sie verlor das Bewusstsein.

 

Anne Hampton wachte langsam auf und dachte darüber nach, in Ruhe zu frühstücken, und zwar richtig üppig, mit Eiern, Toast und Schinken zu einer Tasse Kaffee, vielleicht noch etwas Süßes hinterher und dazu die gemächliche Lektüre der Zeitung. Etwas zu essen und schlechte Nachrichten, vermutete sie, würden ihr helfen, den grässlichen Traum abzuschütteln, der sie gequält hatte, eine Horrorvision aus Rasierklingen und Wahnsinn. Im Halbschlaf versuchte sie, sich vom Bett zu rollen, als sie die Fesseln an Händen und Füßen spürte. Einen Moment lang war sie verwirrt und glaubte, sich diesen aufdringlichen Alptraum aus den Augen reiben zu können, um den vertrauten Alltag zu begrüßen. Dann wurde die Spannung an ihren Handgelenken und Knöcheln real, und sie merkte, dass in Wahrheit die Gedanken an einen normalen Morgen das Traumgespinst waren. Als ihr das bewusst wurde, schluchzte sie auf.

Dann dachte sie an ihr Gesicht.

Unwillkürlich wollte sie sich mit der Hand an die Augen fassen, doch die Fesseln hielten sie zurück. Sie versuchte, ihre Hände zu sehen: Ich muss es fühlen!, schrie sie innerlich. Was hat er getan?

Eine unkontrollierbare Angst überflutete sie. Bin ich noch der Mensch, der ich war?, hallte es ihr durch den Kopf. Sie reckte sich, um die Linie zu sehen, die er ihr mit der Klinge in den Oberarm geritzt hatte. Zu ihrem panischen Entsetzen konnte sich nichts fühlen, auch wenn sie sah, wo das Blut bräunlich verkrustet war. Keine Schmerzen, überhaupt kein Gefühl. Mein Gesicht! Was hat er mit meinem Gesicht gemacht? Sie versuchte, ihre Züge in Abschnitte einzuteilen: Sie verzog die Nase, und sie schien normal zu reagieren. Sie runzelte die Stirn und versuchte herauszufinden, ob ihre Muskeln irgendwo nicht reagierten, weil sie dort zerschnitten waren. Sie schob den Unterkiefer vor, so dass sich die Haut am Kinn und an der Unterlippe straffte. Sie war sich nicht sicher, denn ihre Unterlippe war noch geschwollen. Sie zwang ihren Mund zu einem Lächeln und dann zu einem breiten Grinsen, so dass sich das Fleisch an ihren Wangen spannte und zusammenzog. Sie hielt die groteske Maske, während sie von innen heraus nach Veränderungen suchte, wie ein Blinder, der einen vertrauten Raum betritt und feststellt, dass jemand die Möbel verrückt hat, deren Position er sich so sorgsam eingeprägt hatte.

Sie konnte nichts mit Sicherheit feststellen, und das machte ihr am meisten Angst. Sie schloss die Augen und betete stumm, dass sie nur dieses eine Mal, wenn sie sie wieder öffnete, ihr eigenes Zimmer mit ihren eigenen Sachen vorfand. Sie kniff die Lider zusammen und versuchte, sich ihr Schlafzimmer vorzustellen. Sie dachte an die Fotos, die auf ihrer Kommode standen: ihre Eltern, ihre Großeltern, ihr ertrunkener Bruder, der alte Hirtenhund ihrer Familie. Sie besaß ein antikes, handgeschnitztes Schmuckkästchen, das in der Mitte zwischen den Bildern stand und in dem sie ihre Ohrstecker, Ringe und Halsketten aufbewahrte – allesamt deutlich weniger wert als das Kästchen selbst. Sie versuchte, den Weihnachtsmorgen heraufzubeschwören, an dem sie es ausgepackt und ihre Eltern an sich gedrückt und geküsst hatte. Sie bemühte sich, die zarten verschnörkelten Schnitzereien auf dem Deckel vor sich zu sehen und strich im Geist mit den Fingerspitzen darüber.

Doch das alles schien so weit weg wie in einem Wunschtraum, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob irgendetwas von dem, was vor wenigen Stunden noch real zu sein schien, tatsächlich existierte.

Sie zitterte, doch nicht von der Kälte.

Wo ist er?, fragte sie sich.

Sie konnte seinen Atem nicht hören, doch das hatte nicht viel zu besagen; sie wusste, dass er in der Nähe war. Sie hob den Kopf, um in dem fahlen Licht ihre Umgebung auszumachen. Sie sah den Mann nicht, doch was sie erblickte, versetzte ihr einen Schock und stürzte sie in abgründige Verzweiflung.

Sie rammte den Kopf ins Kissen zurück und brach in so heftiges Schluchzen aus, dass ihr ganzer Körper bebte. In diesem Moment fühlte sie sich zum ersten Mal zutiefst geschändet.

Er hatte sie angezogen.

Sie trug einen Slip, Hose, einen neuen BH und ein T-Shirt. Sie dachte: Ich bin wie ein Kind.

Und sie weinte hemmungslos.

 

Erst nach mehreren Minuten wurde ihr bewusst, dass der Mann auf einem Stuhl unmittelbar hinter ihrem Kopf saß. Als die Tränen langsam versiegten, betupfte er ihre Lippen mit einem feuchten Waschlappen. Dann fing er an, behutsam ihr Gesicht zu waschen. Währenddessen bekam sie ihre Ängste allmählich unter Kontrolle; sie konzentrierte sich auf die Empfindung des nassen Frottees auf der Haut und versuchte dabei festzustellen, ob sich irgendetwas taub anfühlte oder brannte und ihr zeigte, was er mit seiner Rasierklinge angerichtet hatte. Doch sie spürte nichts und atmete innerlich auf. Sie merkte, wie sich ihre Muskeln entspannten, und kämpfte dagegen an, da sie jederzeit mit allem rechnen musste. Ihr wurde klar, dass ihr Körper nicht mehr ihrem Willen gehorchte, dass sie ihren Gliedern nicht mehr gebieten konnte, dass sie in der Angst und Anspannung der letzten Stunden einen Teil ihrer Selbstkontrolle aufgegeben hatte. In diesem Moment sprach er sie in sanftem Ton an. Sie hasste den Klang seiner Stimme, konnte sich der Wirkung aber dennoch nicht entziehen.

»Gut«, sagte er. »Entspann dich. Atme langsam ein und aus.« Er verstummte.

»Schließ die Augen und finde deine innere Kraft.«

Das meint er nicht wirklich, dachte sie. In Wahrheit will er, dass ich sie verliere.

»Hör auf deinen eigenen Herzschlag«, empfahl er ihr. »Du bist noch am Leben. Bis hierhin hast du es geschafft. Du machst Fortschritte.«

Ihr gingen hundert Fragen auf einmal durch den Kopf, doch sie biss sich auf die Lippen und schwieg.

»Sei einfach still.«

Sie merkte, dass ihr Atem ruhiger, ihr Herzschlag langsamer geworden war.

Sie versteckte sich hinter den geschlossenen Augen, als sie spürte, dass er nicht mehr neben ihr war. Stattdessen hörte sie ihn ein paar Meter weiter irgendetwas tun. Ebenso schnell war er wieder bei ihr.

»So ist’s gut. Lass die Augen zu«, meinte er fast säuselnd.

Er streichelte ihr sanft über die Stirn.

»Glaubst du, dass ich dir wehtun würde?«, fragte er leise.

»Nein«, erwiderte sie zögerlich. Ihre Augen blieben geschlossen.

»Aber du irrst dich«, widersprach er im selben milden Ton.

Als er zuschlug, schien hinter ihren geschlossenen Lidern Licht zu explodieren. Das Geräusch, mit dem seine Hand ihre Wange traf, war hart und entsetzlich, und sie schnappte in einer Mischung aus Schmerz und Verblüffung nach Luft. Sie riss die Augen auf und sah, wie er mit der erhobenen flachen Hand zu einem weiteren Schlag ausholte – der einzige Fixpunkt in einem Raum, in dem sich alles drehte.

Sie kniff die Lider zu und versuchte, sich im Kissen unsichtbar zu machen.

»Nein, nein, nein, nein, bitte nicht noch einmal«, flehte sie.

Und es war still.

In der Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern herrschte heller Aufruhr. Zum ersten Mal konnte sie nur noch an die Schmerzen denken, die sie hasste, die sie fürchtete, von denen sie erlöst werden wollte.

Nach einer Weile sagte er: »Ich schulde dir noch einen Schlag. Denk dran.«

Sie hörte, wie er vom Bett zurücktrat und sich irgendwo im undurchdringlichen Dunkel des kleinen Zimmers zu schaffen machte. Sie verharrte hinter ihren Lidern und fühlte sich vollkommen alleingelassen, den fortwährenden Verletzungen vollständig ausgeliefert.

 

Sie konnte nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob sie wachte oder schlief. Die Grenzen zwischen Einbildung und Realität, zwischen Traum und angespannter Aufmerksamkeit waren verwischt. Einen Moment lang fragte sie sich, ob die Trennlinie zwischen Leben und Tod ebenso verschwamm.

Der Gedanke machte ihr Angst, und sie versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen: Ich bin immer noch am Leben. Wäre es ihm darum gegangen, mich zu töten, hätte er es längst getan.

Schon gleich zu Beginn. Er würde mich nicht am Leben lassen, mir weiter Schmerzen zufügen, nur um mich am Ende zu töten. Nein, er braucht mich, und das bedeutet Leben.

Doch ebenso schnell kehrte die Hoffnungslosigkeit zurück, und sie gestand sich ein, dass sie sich vielleicht irrte. Vielleicht brauchte er sie nur als das, was sie ihm bereits war – ein gefesseltes Opfer. Vielleicht lief alles nur auf eine langsame Steigerung hinaus und am Höhepunkt war sie – ja was? Entbehrlich? Sie versuchte, den Gedanken wegzuschieben und in einen der hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu verbannen, doch nachdem er sich erst einmal eingeschlichen hatte, drängte er sich immer weiter in den Vordergrund, bis er sie völlig gefangen nahm. Sie sah Szenen wie aus den Abendnachrichten vor sich: eine Horde Kameraleute, ein Trupp Kripobeamte, eine Traube Schaulustiger, die sich alle um ihre nackte Leiche drängten. In ihrer Vision versuchte sie, der Menge zuzuschreien, dass sie am Leben sei, dass sie noch atmen, weinen, denken konnte, doch niemand schenkte ihr Beachtung. Für diese Leute war sie, so lautstark sie auch das Gegenteil beteuern mochte, tot. In diesem Zustand sah sie, wie man sie – starr vor Angst – auf eine Bahre legte, um sie ins Leichenschauhaus zu schaffen. Es war, als blieben ihre Rufe stumm.

Der Mann trat in ihren Tagtraum, und sie sah, dass er einen Revolver in der Hand hielt.

»Ich habe noch andere Waffen«, erklärte er in gleichgültigem Ton.

Sie brauchte einen Moment, bis sie wusste, ob dies ein Trugbild oder Wirklichkeit war. Dann wurde ihr nach und nach das dämmrige Licht bewusst, die beigefarbenen Wände, die Fesseln, die sie hielten, und sie kehrte aus dem Zwischenreich in das Motelzimmer zurück.

»Heb die Hüften«, wies er sie an.

Sie tat, was er verlangte.

Er legte die Waffe weg und zog ihr Hose und Slip herunter.

»Eine Schusswaffe ist etwas äußerst Kaltes«, sagte er.

Damit legte er ihr den Revolver auf den nackten Bauch. Sie fühlte das Gewicht des kühlen Metalls. Er ließ ihn einen Moment dort liegen.

Dann nahm er die Pistole wieder in die Hand. Sie beobachtete ihn, wie er abwechselnd von ihr zu der Waffe blickte.

»Wenn du deine Identität zerstören wolltest«, überlegte er, »würdest du dir da nicht am ehesten in den Unterleib schießen?«

Er deutete mit die Waffe zwischen ihre Beine.

»O Gott, nein!«, wimmerte sie.

Sie hörte, wie er den Hahn mit einem Klicken spannte. Sie sah, wie er den Lauf nach unten richtete. Sie warf sich wild auf dem Bett hin und her und bäumte sich gegen die Fesseln auf, während der Mann langsam zielte. Sie winselte wie ein Tier, ohne den Blick für eine Sekunde von dem schwarzen runden Loch des Revolvers abzuwenden. Es schien riesenhaft zu sein, groß genug, um sie ganz zu verschlingen. Ein letztes Mal zerrte sie an den Stricken, dann sackte sie auf das Bett zurück und gab sich geschlagen. Sie schloss die Augen nicht, sondern fixierte den Lauf der Waffe. Einen Moment lang glaubte sie zu sehen, wie die Kugel sich löste.

Der Mann betrachtete sie von oben, zögerte eine Sekunde und drückte ab.

Der Hahn schnellte mit einem Klicken herunter.

»Leer«, sagte der Mann. Wieder drückte er ab. Es klickte auf einem weiteren leeren Zylinder.

Als hätte ihr jemand auf den Rücken geschlagen, bekam sie plötzlich keine Luft mehr. Sie versuchte zu atmen.

Er beobachtete sie aufmerksam. Dann zog er eine Handvoll Patronen aus der Tasche und schob bedächtig eine nach der anderen in die Trommel.

Sie merkte, wie in ihr eine Woge der Übelkeit hochstieg.

»Bitte«, flehte sie, »ich muss mich übergeben …«

Er war sofort neben ihrem Kopf. Die Waffe flog zur Seite, und sie fühlte seine stützende Hand im Genick. Er hielt ihr einen kleinen Abfalleimer aus Plastik hin. Sie würgte, doch es kam nichts. Langsam ließ er ihren Kopf herunter und zügig fing er an, ihre Lippen mit dem nassen Waschlappen zu reiben. Sie leckte an der Feuchtigkeit und schluchzte wieder los.

»Heb die Hüften.«

Auch diesmal tat sie, was er wollte.

Rasch und geübt zog er ihr Slip und Hose wieder an. Er nahm die Waffe und zeigte sie ihr. »Darin bin ich ebenfalls Experte«, erklärte er. »Aber das wusstest du schon, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Überhaupt«, fuhr er fort, »bin ich in den unterschiedlichsten Arten zu töten äußerst versiert. Erfahren. Aber auch das muss ich dir eigentlich nicht erst erzählen, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er sah zu ihr herab, schwieg einen Moment und sprach dann weiter.

»Du hast deinen Dostojewski gelesen, nicht wahr?«

Sie nickte. »Ein paar …«

»Schuld und Sühne? Die Brüder Karamasow? Aufzeichnungen aus dem Kellerloch?«

»Ja. Und Der Idiot

»Wann?«

»Letztes Jahr, im Proseminar.«

»Gut. Dann weißt du sicher auch, was mit dem gefeierten Autor passierte, bevor man ihn nach Sibirien ins Arbeitslager schickte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Er und weitere Verurteilte wurden vor dem Exekutionskommando des Zaren an die Wand gestellt. Achtung, brüllte der Kommandant, während die Männer zitternd vor ihm standen. Anlegen, wies er an, während die Männer hastig ihre letzten Gebete murmelten und auf ihre Henker starrten. Der Degen des Kommandeurs erhob sich, doch bevor er heruntersauste und der Feuerbefehl ertönte, kam ein Reiter herangeprescht und schwenkte wie wild ein Papier. Es war die Begnadigung des Zaren. Einige Männer fielen vor Dankbarkeit auf die Knie. Andere stammelten wirre Worte in geistiger Umnachtung, weil ihnen der kurze Moment im Angesicht des Todes den Verstand geraubt hatte. Einige starben auf der Stelle, da ihr Herz zu schwach war. Alle anderen landeten in den Lagern. Wie überlebte man wohl im Lager?«

Sie brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass ihr eine Frage gestellt worden war. Im Geist saß sie wieder in dem kleinen Raum, in dem sie und neun andere Studenten zusammengekommen waren, um über die Romane des Russen zu diskutieren. In der Erinnerung sah sie, wie sich die Sonne in der glatten grünen Tafel spiegelte.

»Durch Gehorsam«, antwortete sie.

»Gut. Glaubst du, dasselbe gilt hier?«

Sie nickte.

Er überlegte und sah sie eindringlich an.

»Sag mir, was von allem, das dir passiert ist, am schlimmsten ist. Was macht dir am meisten Angst? Was tut am meisten weh?«

Er saß am Bettrand und wartete auf ihre Antwort.

In ihr braute sich eine Woge aus Gefühlen und Erinnerungen zusammen, und sie hätte an der Frage verzweifeln können. Sie dachte an den Revolver, mit dem er auf ihren Unterleib gezielt hatte, und kämpfte gegen den bitteren Geschmack der Galle auf der Zunge an; sie erinnerte sich an die Brutalität des Elektroschockers; an die Rasierklinge an ihrem Gesicht; an das Gefühl zu ertrinken, als er ihr das Handtuch auf Mund und Nase gedrückt hatte; an die willkürlichen, unberechenbaren Schläge. Alles tat weh, schrie es in ihr. Alles machte entsetzliche Angst. Und dann fragte sie sich: Wieso fragt er? Aus Anteilnahme? Was soll das für eine Anteilnahme sein? Sie konnte sich nicht dazu bringen, gründlich und logisch zu denken; die Vorstellung, dass sie irgendwie Macht haben könnte, dass sie in der Lage sein sollte, einen gewissen Einfluss auf die Situation auszuüben, bestürzte sie. Und dann erfasste sie ein neuer unerträglicher Gedanke: Vielleicht will er es wissen, damit er die anderen Methoden ausschließen kann, damit nur noch die schlimmste bleibt. Mein Gott, dachte sie, was soll ich ihm sagen?

»Nun komm schon«, hakte er nach, und es lag eine gewisse Ungeduld in seiner Stimme. »Was ist das Schlimmste?«

Sie schwieg. Bitte, flehte sie sich an.

»Ich höre?«

»Die Rasierklinge.« Sie weinte los. Die Tränen liefen ihr ungehemmt die Wangen hinunter.

»Die Rasierklinge?«, wiederholte er. Während sie weiterschluchzte, stand er auf. Für einen Moment konnte sie ihn nicht mehr sehen, dann kehrte er zurück und hielt die Klinge in der Hand. »Diese Rasierklinge?«, fragte er.

»Ja, ja, ja, bitte, Gott, bitte.«

Er hielt sie dichter an ihr Gesicht.

»Das setzt dir am meisten zu?«

»Bitte, bitte, bitte …«

Er fuhr mit der Klinge dicht über ihre Nase.

»Das ist zu viel, wie?«

Sie schluchzte nur noch und konnte vor Angst nicht mehr denken.

»In Ordnung«, meinte er einfach.

Sie sah ihn durch den Tränenfilm an.

»In Ordnung. Ich benutze die Rasierklinge nicht mehr.« Er schwieg. »Außer, um mich zu rasieren.« Er lachte. Er sah sie an und sagte: »Du kannst lächeln, das war ein Witz.«

Sie weinte weiter. Er sagte nichts, während sie Minute um Minute schluchzte. Nachdem sie sich schließlich ein wenig beruhigt hatte, blickte er sie freundlich an und fragte: »Möchtest du ins Bad?«

Das schlichte Angebot verblüffte sie.

Sie nickte.

»In Ordnung.« Rasch löste er ihre Fesseln. Bevor er jedoch ihre Handgelenke losband, sah er sie durchdringend an. »Muss ich die Regeln noch einmal erklären, oder denkst du, dass du sie verstanden hast?«

Wieder war sie verwirrt. Sie hatte keine Ahnung, was er meinte.

»Nein«, überlegte er laut. »Ich glaube, du weißt dich zu benehmen. Das Bad ist gleich hier um die Ecke. Natürlich gibt es auch ein kleines Fenster, das dich vor die Wahl stellt. Für den einen oder anderen bedeutet ein geöffnetes Fenster die Freiheit. Aber verlass dich darauf, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt nur eine Möglichkeit, von mir freizukommen, und zwar, wenn ich sage, du bist frei. Das solltest du mittlerweile begriffen haben. Trotzdem, das Fenster ist da. Die Wahl liegt also bei dir.«

Er band ihre Handgelenke los; sie schob die Beine über den Bettrand und versuchte aufzustehen, doch im selben Moment wich ihr das Blut aus dem Kopf, und ihr wurde schwindelig. Sie hielt sich am Bettgestell fest.

»Lass dir Zeit. Fall nicht hin.«

Er war sitzengeblieben und rührte sich nicht.

Sie stand langsam auf und spürte, wie sich die Muskeln in ihrem ganzen Körper schmerzhaft zusammenzogen. Sie machte einen kleinen Schritt, dann den nächsten.

»Babyschritte«, meinte er. »Gut.«

Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, nahm dann die andere hinzu. An der Wand entlang tastete sie sich in den engen Flur, von dort aus ins Bad. Das Licht brannte in ihren Augen, und sie legte die Hand darüber. Ihr erster Gedanke galt dem Spiegel, und sie zwang sich, die Augen zu öffnen; ihr tat alles weh, da kam es auf ein bisschen zusätzlichen Schmerz nicht mehr an. Sie brachte das Gesicht nah an den Spiegel und untersuchte es auf Verletzungen. Die Lippe ist geschwollen, stellte sie fest, aber damit habe ich gerechnet. Auf der Stirn hatte sie einen Bluterguss, von dem sie nicht wusste, wie er da hingekommen war. Auch ihr Kinn war von seinen Schlägen rot gezeichnet. Doch ansonsten fehlte ihr nichts. Vor Dankbarkeit schluchzte sie auf. Als sie Wasser ins Becken laufen ließ und es sich ins Gesicht spritzte, um ein wenig von den Qualen abzuwaschen, zitterten ihre Hände. Sie hatte plötzlich großen Durst und fing an, sich das Wasser in den Mund zu schöpfen, bis ihr davon übel wurde. Bei der nächsten Woge beugte sie sich über die Toilette und erbrach sich heftig. Als sie fertig war, griff sie nach dem Waschbeckenrand und stützte sich ab.

Dann blickte sie auf und sah das Fenster.

So wie er gesagt hatte, stand es offen.

Sie gestattete sich einen kurzen Traum von Flucht, doch dann wurde ihr klar, dass er auf der anderen Seite warten würde. Sie wusste das mit absoluter Sicherheit. Dennoch trat sie ans Fenster und legte die Hand auf den Rahmen, als erhoffte sie sich von der angenehm kühlen Luft der Sommernacht ein wenig Linderung. Sie blickte in das Dunkel hinaus. Er ist da irgendwo, dachte sie. Am äußersten Rand ihres Blickfeldes konnte sie seine Gestalt ausmachen. Sie sah, wie sich die Zweige der Bäume im Wind bewegten, doch sie wusste, dass er sie dort erwarten würde. Er würde mich umbringen, dachte sie, auch wenn sie das Wort »umbringen« vermied und stattdessen nur ein diffuses Dunkel aus Schmerz und Qual vor Augen hatte.

Plötzlich kam ihr der Gedanke: Ich brauche zu lange! Er wird böse auf mich sein! Hastig beugte sie sich noch einmal über das Becken und spritzte sich, so schnell sie konnte, noch eine Handvoll Wasser ins Gesicht und eine weitere in den Mund. Beeil dich! Tu einfach, was er will!

Sie hielt sich erneut an der Wand fest und stolperte in das Motelzimmer zurück.

»Ich warte«, sagte er.

Sie taumelte durch den Raum zum Bett. Ohne Zögern ließ sie sich wieder darauf nieder und streckte ihre Hände hoch, so dass er sie leicht festbinden konnte. Dasselbe tat sie mit den Beinen; im nächsten Moment spürte sie, wie die Stricke an den Knöcheln festgezurrt wurden.

»Besser?«, erkundigte er sich.

Sie nickte.

»Willst du schlafen, oder soll ich Fragen beantworten?«

Sie erfasste eine Erschöpfung, als sei sie nicht nur kurz ins Bad gegangen, sondern käme von einer unglaublich beschwerlichen Gipfelbesteigung zurück.

»Also schlafen«, hörte sie ihn noch feststellen.

Sie merkte, wie sich ihre Augen verdrehten.

Als sie erwachte, saß er am Fußende des Bettes.

»Wie lange hab ich …«, fing sie an, doch er unterbrach sie.

»Fünf Minuten. Fünf Stunden. Fünf Tage. Was macht das für einen Unterschied?«

Sie nickte. Da hatte er recht.

»Kann ich jetzt Fragen stellen?«

»Ja. Dies wäre ein guter Zeitpunkt.«

»Werden Sie mich töten?«, wollte sie wissen. Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, bereute sie es.

»Nur, wenn du mich dazu zwingst«, erwiderte er. »Siehst du, daran hat sich nichts geändert. Du bestimmst immer noch über dein Schicksal.«

Sie glaubte ihm nicht.

»Wieso tun Sie mir das alles an? Ich verstehe das nicht.«

»Ich habe eine Aufgabe für dich, und ich muss mir ganz sicher sein, dass du sie übernimmst. Ich muss dir vertrauen können. Mir sicher sein.«

»Ich tue alles, was Sie wollen. Sie müssen es nur sagen …«

»Nein«, antwortete er. »Danke für das großzügige Angebot, aber mir genügen keine verbalen Beteuerungen. Ich muss es ohne jeden Zweifel wissen. Dazu musst du begreifen, wie viel Macht ich über dich habe. Du musst wissen, wie nahe du dem Tode bist.«

Er stand auf und löste ihre Hände vom Bettgestell, um sie vor ihrem Körper zusammenzubinden.

»Ich muss kurz weg. Ich bin gleich wieder da. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, was ich von dir erwarte.«

Er ging Richtung Tür.

»Bitte«, flehte sie. »Lassen Sie mich nicht allein.« Sie traute ihren Ohren nicht. War das wirklich sie, die sprach?

»Ich brauche nicht lang«, beruhigte er sie. »Dir passiert nichts.«

Sie rief noch einmal hinter ihm her, als er durch die Tür verschwand. Einen Moment lang sah sie draußen Dunkelheit und dachte: Es muss noch Nacht sein.

Als sie allein im Zimmer war, sah sie sich um. Alles war wie zuvor, doch in Abwesenheit des Mannes machte es ihr plötzlich Angst. Sie zitterte. Das ist verrückt, dachte sie. Er tut dir diese Dinge an. Dann wurde ihr bewusst, dass er die Tür nicht abgeschlossen hatte, und sie bekam noch mehr Angst. Jeder kann hier einbrechen und mich finden. Sie fürchtete auf einmal, jemand könnte hereinkommen und sie vergewaltigen; das würde nichts ändern, es würde den Mann lediglich wütend machen; sie wäre für ihn wie verdorbene Ware, und er würde sie wegwerfen wie ein Stück Müll. Sie kämpfte mit widerstreitenden Gefühlen. Die eine Stimme in ihr schrie, wie verdreht diese Befürchtungen waren. Er ist derjenige! Schnapp dir die Pistole! Töte ihn! Das ist deine Chance! Doch sie rührte sich nicht vom Fleck.

Befreie dich aus den Fesseln! Lauf weg!

Und wohin?

Wo bin ich? Wo könnte ich hin?

Er wird mich töten, dachte sie. Er wartet direkt hinter der Tür. Ich komm keine drei Meter weit.

Doch, lauf weg! Nein, tu’s nicht!

Sie weinte still und versuchte, ans College zu denken, an ihre Familie, ihre Freunde, ihr Leben. Doch das alles schien flüchtig und erschreckend weit weg. Das einzig Reale, dachte sie, ist dieses Zimmer.

Sie versuchte, sich zu trösten, und merkte, wie sie leise ein Liedchen aus ihrer Kindheit sang: »Lavendel ist blau, tirili, tirili, Lavendel ist grün; wenn ich König bin, tirili, tirili, dann bist du Königin …« Sie erinnerte sich, wie sie das ihrem kleinen Bruder vorgesungen hatte und er darüber eingeschlafen war. Sie merkte, wie weitere Tränen in ihr aufstiegen. Aber er ist tot, dachte sie. O Gott, er ist gestorben.

Sie legte den Kopf ins Kissen und wartete auf die Rückkehr des Mannes. Sie versuchte, die Gedanken zur Ruhe zu bringen, doch ihre Ängste waren nicht im Zaum zu halten. Sie merkte, dass sie das Gefühl für die Zeit verlor, als hätte der Mann ihr die Fähigkeit genommen, abzuschätzen, wie die Minuten und Stunden verstrichen. War er seit einer Stunde weg? Oder seit fünf Minuten? Die Stille erfasste alles um sie herum, die Dunkelheit war böse und bedrohlich. Sie zwang sich, auf das Geräusch seiner Schritte zu horchen, doch die pechschwarze Nacht, in die sich das Zimmer hüllte, gab keinerlei Laute preis. Sie hob die Hände und legte sie auf die zusammengekniffenen Augen, um sich wenigstens in ihre eigene Dunkelheit zurückzuziehen und dort irgendetwas zu finden, an das sie sich klammern konnte. Wieder versuchte sie, an etwas Geringfügiges, Gewöhnliches und Vertrautes zu denken, irgendeinen Gegenstand, den sie besaß und der bewies, dass sie existierte, eine Erinnerung, die ihre Vergangenheit aufleben ließ, etwas Handgreifliches, das ihr die Kraft gab, um ihre Zukunft zu kämpfen. Sie dachte an ihre Eltern zu Hause in Colorado, doch sie erschienen ihr plötzlich wie Gespenster. Sie konzentrierte sich mit aller Macht auf das Gesicht ihrer Mutter; im Geist setzte sie wie ein Künstler ihr Porträt zusammen. Sie malte die Augen, den Mund, das Lächeln, das ihr so vertraut sein sollte. Dann fragte sie sich, ob die Erinnerung vielleicht nichts weiter als ein Traum war, und sie schlug vorsichtig die Augen auf.

Sie zuckte heftig zusammen.

Der Mann beugte sich über sie.

»Ich habe Sie nicht reinkommen hören«, entfuhr es ihr.

Sein Gesicht wirkte hart. Eine Weile starrte er sie einfach nur an. »Das hier ist jetzt die Realität«, erklärte er. Dann schlug er fest mit der flachen Hand zu. »Glaubst du es jetzt?«

»Ja, bitte«, flehte sie.

Er schlug wieder zu. Der Schmerz hüllte ihren ganzen Körper wie in eine düstere Wolke.

»Willst du am Leben bleiben?«

Er schlug sie wieder. Sie nickte vehement.

»Ich glaube dir nicht«, herrschte er.

Er schlug ein drittes Mal zu.

»Doch, bestimmt«, wimmerte sie.

Ein vierter Schlag traf ihr Gesicht.

Dann in rascher Folge ein fünfter, sechster und siebter, bis der Mann die Schläge mit beiden Händen auf sie niederprasseln ließ, wie um das Feuer ihrer Hysterie zu schüren. In den Sekundenbruchteilen zwischen den Schlägen versuchte sie, das Wort »bitte« herauszuschluchzen, doch irgendwann gab sie auf unter dem Fausthagel, der aus dem Dunkel auf sie niederging, sie hob nur noch flehentlich die gefesselten Hände und ließ ihre Tränen für sie sprechen. Er hörte erst auf, als er vor Anstrengung keuchte.

Er setzte sich auf den Bettrand und holte Luft, während sie still wimmerte.

Nach einigen Sekunden hörte sie durch die Schmerzen und die Tränen hindurch wie aus weiter Ferne: »Du enttäuschst mich.«

Sie fühlte seine Hände an ihrer Hose. Plötzlich zog er sie herunter und entblößte sie wie zuvor.

»Hörst du mir zu?«, fragte er.

»Ja, ja«, beteuerte sie, schlug die Augen auf und sah ihn an. Sie registrierte, dass er den Revolver in der Hand hielt.

»Du bist ein zu großes Problem«, stellte er in festem, nüchternem Ton klar. »Ich hatte Hoffnungen in dich gesetzt. Aber ich sehe, dass du nicht lernst. Also werde ich dich einfach nur vögeln und töten. Das hätte ich von Anfang an tun sollen!«

Die Worte durchbrachen mit solcher Wucht ihre Todesangst, dass sie den inneren Rückzug aufgab und sich der Gegenwart stellte. »Bitte, nein, nein, nein, nein, nein, ich mach alles, geben Sie mir eine Chance, sagen Sie mir nur, was Sie wollen, was Sie brauchen, ich tu’s, alles, bitte, bitte, egal was, alles, bitte, nein, nein, nein, bitte, bitte, geben Sie mir noch eine Chance, ich werde Sie nicht enttäuschen, ich tu’s, was auch immer, Sie müssen es nur sagen, bitte, mir war nicht klar, bitte, alles, alles, alles …«

Er stand neben dem Bett und zielte mit der Pistole auf sie.

»O Gott, bitte, bitte«, schluchzte sie.

Sie wollte an etwas anderes denken, den letzten Moment ihres Lebens woanders verbringen, doch sie sah nur den fürchterlichen Lauf des Revolvers. Sie stöhnte, während die Sekunden vergingen.

»Alles?«, fragte er schließlich.

»O ja, ja, ja, bitte, alles …«

»Na schön. Wir werden sehen.«

Für Sekunden verschwand er. Dann kehrte er wieder zurück. Er hatte den Elektroschocker in der Hand.

»Tu dir selbst weh«, befahl er. Er zeigte auf ihr Geschlecht. »Genau da.«

In diesem Moment schienen ihr plötzlich all die anderen Schmerzen, die sie schon erlitten hatte, unbedeutend. Die Panik nahm völlig von ihr Besitz. Sie merkte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, als bräche all das, was er ihr angetan hatte, auf einmal über sie herein. Doch mitten in diesem Chaos der Gefühle fand sie einen einzigen klaren Gedanken: Zögere nicht, schärfte sie sich ein.

Sie drückte den Elektroschocker in sich hinein und versuchte im selben Moment, sich gegen den Schmerz zu panzern, der in ihr losbrechen würde.

Doch er blieb aus.

Sie sah verwirrt auf.

»Ausgeschaltet«, meinte der Mann.

Er nahm ihr den Elektroschocker aus der Hand.

»Eine Begnadigung«, sagte er und lachte. »Vom Zaren.«

Sie brach – wie ihr schien, zum hundertsten Mal in den letzten Minuten – in Tränen aus.

»Es gibt Hoffnung für dich.«

Er wartete einen Moment.

»Das meine ich wörtlich.«

Er trat in den Schatten zurück und ließ sie ungestört weinen.

 

Anne Hamptons erster Gedanke, als ihre Tränen versiegten, war, dass sich etwas geändert hatte. Sie war sich nicht sicher, was genau, doch sie fühlte sich wie ein Bergsteiger, der auf dem Gletschereis ausgerutscht und im freien Fall in eine Felsspalte gestürzt war, bis er plötzlich den Ruck des Sicherheitsseils spürte. Sie kam sich vor wie ein Jojo, kurz vor dem Punkt, an dem es zur Ruhe kommt – immer noch in Gefahr, doch für den Moment in Sicherheit. Zum ersten Mal gab sie der Hoffnung nach, dass sie durch Gehorsam eine Überlebenschance hatte. Sie versuchte, sich in Gedanken ihr Bild vor Augen zu führen, konnte es aber nicht. Sie entsann sich, dass sie einmal Träume und Ambitionen gehegt hatte, doch sie wusste nicht mehr, welche. Immerhin konnte sie sich mit dem Gedanken trösten, dass es ihr später vielleicht wieder einfallen würde, und beschloss zugleich, alles zu tun, was von ihr verlangt wurde, um am Leben zu bleiben. Sie blickte auf und sah, dass der Mann ihr ins Gesicht starrte. Er nickte, als wollte er ihr signalisieren, dass sie richtig lag.

»Die werden wir für eine Weile nicht brauchen, oder?«, meinte er. Er knüpfte die Stricke auf, die sie ans Bett gefesselt hatten. »Zieh dich aus«, befahl er.

Sie gehorchte. Sie empfand nichts, als er ihren Körper von oben bis unten absuchte.

»Wie wär’s, wenn du eine Dusche nehmen würdest? Du wirst dich besser fühlen«, schlug er vor.

Sie nickte und ging zögernd Richtung Badezimmer. Als sie die Tür erreichte, wandte sie sich noch einmal zu dem Mann um, doch er saß da und studierte in dem schwachen Licht eine Landkarte.

Heißes Wasser überspülte sie, und sie dachte an nichts anderes als das Gefühl von Seifenschaum und Wärme. Sie hatte nicht gemerkt, wie kalt ihr gewesen war. Zum ersten Mal schien sie innerlich erfrischt, leer und unbeschwert. Sie blickte zum offenen Fenster, doch alles was sie sah, war graues Licht, das langsam die Dunkelheit durchdrang.

Es machte sie seltsam traurig, das Wasser abzudrehen, als hätte sie etwas Altes, Vertrautes weggewaschen. Sie trocknete sich schnell ab und wickelte sich ein Handtuch als Turban um den Kopf, ein anderes um die Körpermitte. Sie versuchte, sich zu beeilen, doch ihr wurde schwindelig, und sie musste sich am Türrahmen festhalten, um das Gleichgewicht zu halten. Sie sah, wie der Mann hochsah. »Pass auf«, sagte er. »Rutsch nicht aus. Es wird einige Zeit dauern, bis du wieder ganz bei Kräften bist.«

Sie setzte sich aufs Bett.

»Es ist schon fast Morgen«, stellte sie fest. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Eine Ewigkeit«, antwortete der Mann. Er stand auf und kam auf sie zu. »Nimm das«, wies er sie an. Er hielt ihr eine Pille und einen Becher Wasser hin.

Sie wollte fragen, was es war, überlegte es sich aber anders. Sie schluckte die Pille herunter. Er erriet ihre Gedanken.

»Nur ein Schmerzmittel. Kodein, genauer gesagt. Damit du schlafen kannst.«

»Danke«, erwiderte sie. Sie blickte zu der Karte hinüber.

»Wann fahren wir?«

Er lächelte. »Heute Abend. Es ist wichtig, dass ich auch ein bisschen Ruhe bekomme.«

»Natürlich«, meinte sie und legte sich aufs Bett.

Er wühlte einen Moment in dem Matchbeutel, der seine Waffen enthielt, und zog ein Paar Handschellen heraus. »Die werden bequemer sein als die Stricke«, sagte er. »Setz dich auf.« Sie gehorchte. Er legte eins ihrer Handgelenke in eine Schelle und die andere um das eigene. »Leg dich hin.« Sie ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Er streckte sich neben ihr aus.

»Träum was Schönes«, sagte er.

Wie ein Paar nach der Liebe suchten beide Schlaf.

 

Anne Hampton erwachte vom Rauschen der Dusche. Sie merk te sofort, dass sie wieder an das Bettgestell gefesselt war. Sie rollte sich, so gut es ging, wie ein Embryo ein und wartete. Das Handtuch, das sie sich um den Körper geschlungen hatte, war verschwunden, und sie war nackt. Einen Moment fragte sie sich, ob der Mann sie vergewaltigen würde, sobald er herauskam, doch der Gedanke verblasste ebenso schnell, wie er gekommen war, und wich einer dumpfen Gefügigkeit.

Sie hörte, wie die Dusche abgestellt wurde, und nach wenigen Minuten erschien der Mann und trocknete sich ab. Er war nackt.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich musste dein Handtuch nehmen. Das hier ist ein billiges Etablissement; die geizen mit der Wäsche.«

Sie wartete.

»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Zeit, dass wir weiterkommen.«

Sie nickte.

»Gut«, meinte er.

Sie sah zu, wie er sich Unterwäsche, Jeans und ein Sweatshirt anzog. Eher beiläufig bemerkte sie, dass er äußerst fit war. Er kämmte sich kurz das Haar, setzte sich dann auf die Bettkante und schlüpfte in Sportsocken und Laufschuhe. Sie wartete auf einen Befehl, während der Mann seine Sachen zusammensuchte. Sie sah, wie er die Betäubungspistole und den Revolver in eine kleine Reisetasche warf. Er zog einen kleinen Koffer unter dem Bett hervor, und sie erhaschte einen Blick auf das Seersucker-Jackett, das gefaltet darin lag.

»Bin gleich wieder da.«

Sie sah ihm hinterher. Es war Nacht. Er kehrte augenblicklich zurück, eine mittelgroße rote Reisetasche in der Hand, die mit verschiedenen Reißverschlussfächern versehen war. »Tut mir leid«, erklärte er beschwingt, »aber ich musste bei den Farben und Größen schätzen. Normalerweise bin ich in solchen Dingen allerdings ziemlich gut.« Er nahm ihr die Handschellen vollständig ab und trat zurück, um ihr zuzusehen.

Die Tasche war voller Kleider. Es waren eine Khakihose, eine Jeans, Shorts, eine Windjacke, ein Pullover und ein Sweatshirt dabei; außerdem zwei Seidenblusen, eine davon in einem leuchtenden Blumenmuster, und ein passender Rock; schließlich ein Seidenkleid mit einem Designer-Label. In einem Fach befand sich ein Knäuel Wäsche, in einem weiteren Strümpfe und Socken.

»Zieh die Jeans an«, schlug der Mann vor. »Oder die Khakihose, wenn dir das lieber ist.« Er drehte sich um und reichte ihr zwei Schuhkartons. Sie wusste nicht, wo er sie aufbewahrt hatte. Sie enthielten ein Paar elegante Sandaletten und ein Paar Laufschuhe. »Pack die Sandaletten ein«, wies er sie an.

Er sah zu, wie sie sich ankleidete.

»Du bist hübsch«, stellte er fest, als sie vor ihm stand.

»Danke.« Sie hatte das Gefühl, die Stimme einer anderen zu hören. Einen winzigen Moment lang fragte sie sich, wer plötzlich hereingekommen sein könnte, bis sie merkte, dass sie selbst gesprochen hatte.

Er reichte ihr eine Papiertüte mit dem Namen einer Drogerie. Sie machte sie auf und entdeckte Zahnbürste und -pasta, etwas Make-up, eine Sonnenbrille und eine Schachtel Tampax. Sie nahm die blaue Verpackung und starrte sie mit einem seltsamen Gefühl an. Ein beunruhigender Gedanke machte sich bei ihr breit, je länger sie darauf starrte.

»Ich habe aber meine …« Sie verstummte.

»Könntest du aber, bevor wir fertig sind«, antwortete er.

Sie hätte weinen können, erkannte aber, dass sie sich besser zusammenreißen sollte. So biss sie sich auf die Lippe und nickte.

»Mach dich frisch, dann gehen wir.«

Zögernd ging sie ins Bad. Zuerst putzte sie sich die Zähne. Dann tupfte sie vorsichtig ein wenig Make-up auf ihr Gesicht, um die Blutergüsse zu verdecken. Er stand im Türrahmen und sah zu.

»Die sind in ein, zwei Tagen verblasst.«

Sie erwiderte nichts.

»Fertig?«, fragte er.

Sie nickte.

»Geh zuerst noch mal aufs Klo. Wir sind eine ganze Weile unterwegs.«

Sie fragte sich, wo ihre Scham geblieben war. Wieder hatte sie das Gefühl, dass nicht sie selbst, sondern jemand anders sich auf die Toilette setzte, während der Mann ihr zusah. Ein Kind vielleicht.

»Trag deine Tasche selbst«, befahl er.

Sie steckte die Zahnbürste und die anderen Toilettenartikel in eins der Fächer. Dann hob sie die Tasche hoch. Die hatte einen Schulterriemen, den sie sich über den Arm legte. »Ich kann noch was nehmen«, bot sie an.

»Hier, aber sei vorsichtig.«

Er reichte ihr eine zerbeulte Fotografentasche und hielt ihr die Tür auf.

Anne Hampton trat in die Nacht hinaus und spürte, wie ihr die abendliche Wärme von Florida in Muskeln und Knochen kroch. Sie fühlte sich schwindelig und zögerte. Der Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter und deutete auf einen dunkelblauen Chevrolet Camaro, der vor der kleinen Moteleinheit stand. Sie sah einen Moment in den sternenübersäten Himmel; sie suchte den Großen und den Kleinen Bären und dann den Orion. Ein plötzliches Gefühl der Wärme durchrieselte sie, als mischte sie sich mitten unter die Himmelskörper und ginge in ihrer Masse auf. Sie fixierte einen Stern, einen unter unzähligen, der im dunklen All zu schweben schien. Ich bin dieser Stern, und er ist ich, dachte sie. Allein, isoliert hing sie in der Nacht.

»Komm schon«, drängte der Mann. Er war seitlich an den Wagen getreten und hielt ihr die Tür auf.

Sie ging zu ihm hinüber.

»Es ist eine schöne Nacht«, meinte sie.

»Es ist eine schöne Nacht, Doug«, korrigierte er sie.

Sie sah ihn mit fragendem Blick an.

»Sag es.«

»Es ist eine schöne Nacht, Doug«, wiederholte sie.

»Gut. Nenn mich Doug.«

»In Ordnung.«

»Ich heiße so. Douglas Jeffers.«

»In Ordnung. In Ordnung, Doug. Douglas. Douglas.«

Er lächelte. »Das gefällt mir. Eigentlich mag ich Douglas lieber als Doug, aber du kannst mich nennen, wie du willst.«

Sie musste irritiert geguckt haben, denn er lächelte und erklärte: »Das ist mein richtiger Name. Du musst wissen, dass ich dich nicht belüge. Ich werde immer die Wahrheit sagen, oder was man eben dafür hält.«

Sie nickte. Sie zweifelte nicht einen Augenblick daran. Einen Moment lang fragte sie sich, wieso, doch dann schüttelte sie den Gedanken ab.

»Es gibt allerdings ein Problem«, überlegte Douglas Jeffers. Seine Stimme hatte plötzlich einen düsteren Unterton, der ihr Angst machte.

»Nein, nein, nein, keine Probleme«, entgegnete sie hastig.

Er sah in den Himmel. Sie vermutete, dass er angestrengt nachdachte.

»Ich finde, du brauchst einen neuen Namen«, erklärte er. »Ich mag deinen alten nicht. Er stammt aus deiner Vergangenheit, und du brauchst etwas für die Gegenwart und die Zukunft.«

Sie nickte. Sie war selbst überrascht, dass sie das für eine vernünftige Überlegung hielt.

Er deutete auf den Wagen, und sie setzte sich auf ihren Platz.

»Anschnallen«, wies er sie an.

Sie gehorchte.

»Du wirst Biographin«, sagte er.

»Biographin?«

»Ja. Im Handschuhfach findest du Stenoblöcke und Stifte. Die sind für dich. Sorge dafür, dass du immer genug zur Hand hast, um aufzuschreiben, was ich sage.«

»Ich verstehe nicht ganz«, zögerte sie.

»Ich erklär es dir unterwegs.«

Er sah zu ihr hinunter. Dann lächelte er.

»Von jetzt an bist du Boswell«, meinte er.

»Boswell?«

»Richtig.« Er lächelte. »Ein kleiner literarischer Scherz, wenn du so willst.«

Er schloss ihre Tür, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Sie schaute zu, wie er seinen eigenen Gurt umlegte und den Anlasser betätigte. »Versuch mal deinen Türgriff«, bat er. Sie legte die Hand darauf und zog. Der Griff bewegte sich, die Tür dagegen nicht. »Das gehört zu den Vorzügen des Chevrolet Camaro: Die Schnappvorrichtungen sind leicht auszuhebeln. Du wirst also jedes Mal, wenn wir halten, warten, bis ich zu dir herumkomme und dich rauslasse, klar?«

Sie nickte.

»Das hab ich in Cleveland gelernt, als ich Fotos von dem Prozess gegen einen Footballspieler machte – ein Kerl, der gerne Stricherinnen ins Auto holte, um sich vor ihnen zu entblößen. Wenn sie versuchten, auszusteigen, Fehlanzeige. Das gab ihm den eigentlichen Kick.«

Douglas Jeffers blickte sie an.

»Siehst du, so etwas musst du aufschreiben.«

Er wies mit dem Kopf auf das Handschuhfach.

Eine Sekunde lang hatte sie Panik und griff hastig nach vorn. Er hinderte sie daran. »Schon gut. Das war nur ein Beispiel.« Er sah sie an.

»Weißt du, Boswell schreibt alles auf.«

Sie nickte.

»Gut«, sagte er. »Boswell.«

Dann legte er den Gang ein, gab Gas und fuhr langsam in die Dunkelheit über dem nächtlichen Highway.

Sie drehte sich um und blickte noch einmal zu den Sternen. Unvermutet erinnerte sie sich an einen Kinderreim und sprach ihn stumm vor sich hin: Sternchen, Sternchen, hell und klar, ich wünsch mir was, ich wünsch es mir sehr, bitte mach es wahr.

Am Leben bleiben, dachte sie.