5. KAPITEL
Eine einzigartige Jagd
8.
Das Wort hallte in ihr nach: Alkoholrückstände.
Zuerst fragte sie sich, ob ihre Wangen von den Tränen, die ihr heruntergelaufen waren, Narben davongetragen hatten; gleichzeitig fühlte sich ihr Herz an, als hätte es ihr jemand im Leib verdreht und verzerrt. Sie sah in den Spiegel und erwartete fast, da, wo sich ihr Kummer Bahn gebrochen hatte, bleibende rote Spuren auf ihrer Haut zu sehen. Es waren keine da. Sie rieb sich die Augen und merkte, wie eine unendliche Erschöpfung die Dämme ihrer Entschlusskraft und Ausdauer einriss und ihr Innerstes überschwemmte. Sie atmete langsam aus, um die Benommenheit und den Rest an Brechreiz abzuschütteln.
Detective Barren wollte unbedingt ihre Gedanken ordnen, kam jedoch gegen die Emotionen nicht an. Sie hielt sich am Rand des Spülbeckens fest und versuchte, alles aus dem Kopf zu bekommen, um als eine Art unbeschriebenes Blatt noch einmal zu beginnen.
Sie holte tief Luft und drehte mit übertriebener Konzentration die Wasserhähne auf. Ihr war heiß, und so ließ sie sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen; sie musste daran denken, dass sie diesen Trick von ihrem Mann gelernt hatte – ein alter Trick der Athleten, um schnell einen kühlen Kopf zu bekommen. Dann spritzte sie sich einige Tropfen ins Gesicht und starrte erneut ihr Spiegelbild an.
Ich bin alt, dachte Detective Barren.
Ich bin dünn, spröde und unglücklich, und ich habe Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln, die vor gar nicht allzu langer Zeit noch nicht da waren. Sie betrachtete ihre Handrücken und zählte die Adern. Die Hände einer alten Frau.
Detective Barren drehte sich um und kehrte ins Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung zurück. Sie warf einen Blick auf die Stapel von Meldungen und Berichten, von Fotos, Vernehmungsprotokollen, psychologischen Gutachten und Listen beschlagnahmter Gegenstände – Berge von Papier als Zeugnis polizeilicher Ermittlungsarbeit. Dies alles stapelte sich ungeordnet auf ihrem kleinen Schreibtisch. Sie ging hinüber und fing wahllos an, die Dokumente zu sichten und in der Materialfülle nach einem logischen Ordnungsprinzip zu suchen. Susans Erbe, dachte sie, und wieder musste sie gegen die Tränen ankämpfen.
Wie lange hatte sie geweint?
Sie trat ans Fenster und blickte in den blassblauen Morgenhimmel.
Er war wolkenlos und drückend hell. Die Luft schien von der Widerspiegelung der Sonne über der endlosen Weite des Meeres so dicht an der Stadt zu flirren. Es war ein Tag ohne Schatten, der sich der leisesten Störung widersetzte, und das ärgerte sie.
Sie legte die Hand an die Scheibe und fühlte die tropische Hitze. Einen Moment lang hätte sie die Finger am liebsten zur Faust geballt und zugeschlagen. Sie wollte das Glas bersten hören. Sie sehnte sich nach physischem Schmerz. Sie kam zu sich, als sie sah, wie sie tatsächlich die Finger zur Faust geschlossen hatte. Sie trat vom Fenster zurück und warf einen Blick auf ihre Wohnung.
»Also«, sagte sie laut zu sich selbst, »das war’s dann.«
Sie hatte das Gefühl, dass soeben etwas zu Ende gegangen war und etwas Neues begann, auch wenn sie noch nicht sagen konnte, was. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und holte tief Luft, dann noch einmal. Oben auf dem Bücherregal stand ein Foto von ihrer Nichte in einem schlichten Silberrahmen, und sie ging langsam hinüber. »Also«, wiederholte sie und betrachtete dabei das Bild, »es ist wohl Zeit, noch einmal von vorn anzufangen.« Als sie das Foto herunternahm, flutete ihr wie ein kühler Wind kurz vor einem heftigen Regenschauer eine Woge der Trauer durch den ganzen Körper. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so unendlich leid.« Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, bei wem sie sich entschuldigte.
Die Beamtin, die in der Dienststelle des Bezirkssheriffs hinter dem Wachtisch saß, reagierte schroff:
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein, und ich glaube nicht, dass ich einen brauche …«, erwiderte Detective Barren.
»Tut mir leid, aber ich kann Sie nicht ins Morddezernat rauflassen, wenn niemand Sie erwartet. Zu wem wollen Sie?«
Detective Barren seufzte laut und genervt, während sie ihre Marke aus der Handtasche fischte.
»Ich möchte zu Detective Perry. Und zwar jetzt. Nehmen Sie Ihr Telefon, Officer, und rufen Sie ihn an. Und zwar jetzt.«
Die Frau streckte ihr die Hand entgegen, um die Marke in Augenschein zu nehmen. Detective Barren reichte sie ihr, und die Frau notierte sich die Nummer auf einem Formular. Sie gab den Dienstausweis zurück und wählte, ohne ihrem Gegenüber in die Augen zu blicken, die Nummer des Morddezernats. Es dauerte nicht lange, bis sie sagte: »Detective Perry, bitte.«
Es herrschte einen Moment lang Schweigen.
»Detective Perry? Hier ist Detective Barren von der Kripo Miami. Sie möchte Sie sprechen.«
Wieder entstand eine Pause.
Die Beamtin legte auf.
»Dritter Stock.«
»Ich weiß«, erwiderte Detective Barren.
Der Fahrstuhl schien viel länger zu brauchen, als sie es in Erinnerung hatte.
Sie wünschte sich auf einmal, einen Spiegel zur Hand zu haben; sie hätte gerne ihr Make-up überprüft, um sicherzustellen, dass alle äußeren Anzeichen ihres Kummers gut abgedeckt waren. Sie straffte unsicher die Schultern. Sie hatte an diesem Morgen ihre Kleider mit größerer Sorgfalt ausgewählt als gewöhnlich, da sie wusste, dass bei dem, was sie zu sagen hatte, die äußere Erscheinung zählte. Ihre dunkelblauen und grauen Kostüme für die Gerichtstermine hatte sie verworfen und sich stattdessen für einen hellen Baum wollblazer und eine khakifarbene Hemdbluse entschieden. Sie wollte locker, lässig und entspannt auftreten – inoffiziell. Die Jacke war großzügig geschnitten. Früher einmal hätte man sie schlabberig gefunden, hatte sie überlegt, als sie hineinschlüpfte. Jetzt war sie »oversized« und genau richtig, um ihr Schulterhalfter mit der Neunmillimeter zu kaschieren. Die Wahl der Waffe war ungewöhnlich. Normalerweise stopfte sie einfach einen kurzläufigen Revolver, Kaliber achtunddreißig, in ihre Handtasche und vergaß ihn für den Rest des Tages. Doch nachdem sie sich angezogen hatte, flog sie ganz plötzlich das Gefühl an, in Gefahr zu sein, und bei einem Geräusch vor ihrer Wohnungstür war sie hochgeschreckt und hatte gemerkt, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Ihr war kaum bewusst gewesen, was sie tat, als sie sich die große Automatik umschnallte, doch jetzt tat die Größe und das Gewicht der Waffe an ihrer Seite gut.
Die Lifttüren öffneten sich mit einem leisen, zischenden Geräusch.
»Hi, Merce, hier rüber!«
Sie drehte sich um und sah Detective Perry im Flur stehen und ihr zuwinken. Sie ging zügig hinüber. Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie schüttelte sie. Er hob seine Hand wie zu einem zweiten Gruß und ging zu seinem Schreibtisch.
»Kommen Sie – wollen Sie einen Kaffee? Wie läuft’s denn so?«, fragte er, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern redete sofort weiter. »Wissen Sie, ich musste neulich an Sie denken. Wir hatten einen Mord mit Vergewaltigung, die Kleine in Süd-Miami, direkt am Kanal, haben Sie sicher in der Zeitung gelesen, und da fiel mir dieser Boxer wieder ein, den Sie einkassiert haben. Mit Intuition kriegt man keinen Durchsuchungsbefehl, waren das nicht Ihre Worte? Na, jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass der Kerl kein richtiger Mörder ist, verstehen Sie? Ich meine, es war eine klassische Vergewaltigung, aber der Schädel der Kleinen war eingeschlagen. Sie war bewusstlos, als sie starb, sagt der Coroner. Mir kam der Gedanke, dass er es vielleicht gar nicht gemerkt hat, wissen Sie? Vielleicht wusste er nicht, wie fest er zugeschlagen hat, richtig? Also hab ich mir ein paar Jungs geschnappt und eine Polizistin, die sich als Teenager verkleidet hat, und gestern Nacht haben wir die Stelle observiert – dieselbe Stelle wie beim ersten Mal, ist das zu fassen, und Bingo! Wer schlendert da auf unsere Dame zu? Ein Typ mit Kratzspuren im Gesicht, die gerade erst verheilen. ›So allein hier draußen?‹, fragt der Scheißkerl. ›Nicht so ganz‹, antwortet sie. Ein paar Stunden lang hat er alles abgestritten, aber dann hat er geplaudert. Wissen Sie was, Merce? Wir könnten alle einpacken, wenn die Bösen nicht meistens so unglaublich dämlich wären. Also, wie Sie sehen, hatte ich ’ne tolle Nacht, verflucht, eine von diesen Nächten, in der man das Gefühl hat, es ist die Sache wert …«
Er sah Detective Barren an, bevor er fortfuhr.
»Da sitz ich also und erledige noch ein bisschen Papierkram, bevor ich zu Weib und Kind nach Hause fahre, und wer ruft mich aus der Lobby an? Das ist kein Privatbesuch, nehme ich an. Setzen Sie sich.«
Er bot ihr einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs an, und sie nahmen beide Platz.
»Sie sind ja so still«, meinte er.
»Klingt nach einem guten Fang. Einem richtig guten Fang.« Ihr wurde bewusst, dass sie Detective Perry mochte, und es machte sie traurig zu wissen, dass er sie am Ende dieses Gesprächs nicht mehr mögen würde. »Es ist hilfreich«, sagte sie.
»Was ist hilfreich?«
»Dass so viele von denen dämlich sind.«
Er lachte. »Können Sie laut sagen.«
Über den Stapel Papiere hinweg sah er Detective Barren an.
»Merce«, fragte er leise, »was bringt Sie her?«
Sie zögerte ein paar Sekunden, bevor sie ebenso leise antwortete: »Er war es nicht.«
Detective Perry starrte sie an, und beide schwiegen. Dann stand er auf und wanderte durchs Zimmer. Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
»Merce«, antwortete Detective Perry schließlich, »lassen Sie’s gut sein.«
»Er war es nicht.«
»Lassen Sie es gut sein, Merce.«
»Er war es nicht!«
»Na schön, nehmen wir mal an, er war’s nicht. Woher wollen Sie das wissen? Wie können Sie so sicher sein?«
»Alkoholrückstände.«
»Was?«
»Alkoholrückstände. Die Bisswunde an Susans Leiche; man hat die Speichelproben untersucht. Sie wiesen Alkoholrückstände auf.«
»Richtig, ich entsinne mich. Und?«
»Er hat gesagt, er ist schiitischer Moslem.«
»Richtig.«
»Strenger schiitischer Moslem.«
»Sicher, das hat er gesagt. Und?«
»Dann rührt er keinen Tropfen Alkohol an. Kein Bier. Keinen Scotch. Nicht ein einziges Glas Wein.«
Detective Perry sank in seinen Sessel.
»Ist das alles?«
»Für den Anfang.«
»Haben Sie sonst noch was in der Hand?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Merce, wieso tun Sie sich das an?«
»Was?«
»Wieso bestrafen Sie sich selbst?«
»Das tue ich nicht. Ich versuche lediglich, Susans Mörder zu finden.«
»Wir haben ihn gefunden. Er ist für alle Ewigkeit in den Knast gewandert. Wenn er stirbt, fährt er wahrscheinlich zur Hölle. Mit Sicherheit fährt er zur Hölle. Merce, geben Sie auf.«
»Sie hören mir verdammt noch mal nicht zu! Alkoholrückstände!«
»Merce, bitte …« Er klang niedergeschlagen. »Ich bin müde. Ich bin wirklich müde. Sie wissen so gut wie ich, dass der Kerl die Hälfte seiner Opfer in Bars oder Studententreffs aufgerissen hat. Sie wollen mir weismachen, der Kerl hätte nie ein Bier angerührt? Blödsinn! Der hatte einen Knall, Merce! Der war völlig verdreht! Der hätte alles, aber auch wirklich alles getan, um an seine Opfer ranzukommen. Das Übrige, dieser religiöse Quatsch, das war nur, ich weiß nicht, fadenscheinige Ausrede. Rechtfertigungsversuch. Geisteskrankheit, Gott, was weiß ich …«
Detective Perry ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
»Ich möchte wirklich nichts mehr davon hören, Merce. Ich muss doch wohl nicht ausgerechnet Ihnen sagen, dass diese verdammte Speichelprobe sogar Alkoholrückstände aufweisen würde, wenn der Mistkerl auch nur mit Mundwasser gegurgelt hätte, bevor er das Verbrechen beging. Verflucht, das wissen Sie doch besser als ich. Sie sind die Expertin. Sie müssen es wissen.«
»Er war es nicht.«
»Merce, tut mir leid. Er war es. Er hat sie umgebracht. Er hat sie alle umgebracht. Sie werden lernen müssen, damit zu leben. Bitte, Merce, lernen Sie, damit zu leben.«
Detective Barren sah Detective Perry an. Für einen Augenblick brachte sein trauriger, mutloser Ton sie ins Wanken. Sie machte sich klar, wie verrückt sie klingen musste. Dann kam ihr vage und diffus das Bild ihrer Nichte in den Sinn, und sie war wieder fest und entschlossen.
»Werden Sie mir helfen?«
»Merce …«
»Werden Sie mir verdammt noch mal helfen?«
»Hören Sie auf …«
»Werden Sie mir helfen?!«
»Merce. Lassen Sie sich helfen. Gehen Sie zum Seelenklempner Ihrer Dienststelle. Reden Sie mit Ihrem gottverdammten Pfarrer. Machen Sie Urlaub. Lesen Sie ein gutes Buch. Verflucht, ich weiß auch nicht, aber bitten Sie mich nicht, Ihnen zu helfen!«
»Dann überlassen Sie mir wenigstens die Akte.«
»Gott, Merce, Sie haben bereits alles von uns bekommen. Vor dem Schuldbekenntnis habe ich Ihnen alles gegeben.«
»Und Sie halten nichts vor mir zurück?«
Detective Perry war der Ärger anzusehen.
»Nein, verflucht noch mal! Was für eine Scheißfrage!«
»Ich musste es wissen.«
»Sie wussten es bereits!«
Sie schwiegen beide und starrten sich an.
Nach einer Weile sagte Detective Perry langsam und resigniert: »Es tut mir leid, dass Sie sich so fühlen. Hören Sie, der Mord an Ihrer Nichte wurde von uns aufgeklärt. Falls Sie mit einem handfesten Beweis aufwarten können, gut, Sie können jederzeit wiederkommen, und wir sehen uns die Sache an. Aber, Merce, es ist vorbei. Sollte es jedenfalls sein. Ich wünsch te, Sie würden es so sehen …«
Er zögerte, bevor er fortfuhr.
»… denn dann wären Sie bedeutend glücklicher.«
Sie wartete, um sicherzugehen, dass er fertig war.
»Danke …«
Er schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
»Nein, ich mein’s ernst. Ich weiß, dass Sie das, was Sie sagen, auch so meinen. Und Sie waren immer sehr aufrichtig zu mir, ich weiß das zu schätzen.«
Sie sah ihn eindringlich an.
»Ich weiß, was Sie denken, aber Sie irren sich. Ich bin nicht verrückt. Und auch wenn ich mir für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen würde, könnte das nichts an meiner Haltung ändern. Er läuft noch frei herum.«
»Ich halte Sie nicht für verrückt, Merce, nur …«
Ihm fiel kein passendes Wort ein.
»Schon in Ordnung«, kam sie ihm entgegen. »Ich kann Ihre Sicht nachvollziehen.« Sie stand auf. »Ich nehme es Ihnen nicht übel«, sagte sie, »aber ich werde trotzdem Susans Mörder finden.«
Sie zögerte einen Moment.
»Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich ihn habe.«
Sie war sich nicht sicher, was sie ihrem Chef sagen sollte. Sie glaube, der Araber sei es nicht gewesen; der Mörder sei noch auf freiem Fuß; sie werde nicht aufgeben, bis sie ihn gefunden hatte?
Jedesmal, wenn sie versuchte, ihre Situation zu beschreiben, klang es ganz und gar aberwitzig, melodramatisch und wenig überzeugend. Sie dachte: Die Rache hat etwas Gewöhnliches, Banales. Es ist ein gewöhnlicher Drang, der unter ungewöhnlichen Umständen entsteht. Er ist immer schuld behaftet, kompliziert und unvermeidlich. Sie wusste, dass es nicht richtig war, es sich so sehr zu wünschen, doch sie konnte wiederum nicht sagen, wieso.
Die Tür zu Lieutenant Burns’ Büro war angelehnt. Sie klopfte zögerlich, dann streckte sie den Kopf hinein.
Er saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen zwei Dutzend Farbfotos im Format zwanzig mal fünfundzwanzig ausgebreitet. Er schaute auf und sah ihr lächelnd in die Augen.
»Ahh, Merce, Sie kommen wie gerufen. Kommen Sie rein, und werfen Sie mal einen Blick darauf.«
Sie betrat vorsichtig das Büro.
»Hier herum. Sehen Sie sich diese Fotos an.«
Sie blickte angestrengt auf die Abzüge.
Sie sah eine Gestalt, die in embryonaler Stellung in einem Kofferraum lag. Es war ein junger Mann, der ausgesehen hätte, als ob er schliefe, wäre da nicht dieser riesige Blutfleck auf seiner Brust gewesen. Detective Barren starrte die Bilder an und war verblüfft, wie seltsam friedlich das Gesicht des Mannes wirkte. Sie nahm Aufnahmen in die Hand, die den Kofferraum aus unterschiedlichen Winkeln zeigten, doch sie sah nur dieselbe Ruhe, dasselbe Blut und Gewebe. Was dieser junge Mann wohl getan haben mochte, um den Tod zu verdienen, fragte sie sich, auch wenn sie intuitiv die Antwort wusste: In neun von zehn Fällen hatte der Tod eines jungen Menschen, zumindest in Miami, mit Drogen zu tun.
»Wissen Sie, Peter, auffällig ist, dass er keine Angst hatte.«
Lieutenant Burns blickte abwartend zu ihr hoch.
»Ich meine, wir wissen genug über das, was zum Todeszeitpunkt physiologisch passiert, um ein bisschen zu spekulieren. Und der hier wirkt, na ja, ein bisschen zu entspannt. Wenn Sie oder ich überwältigt und in einen Kofferraum geworfen und irgendwohin rausgefahren würden – wohin?«
»Eine Felsschlucht in South Dade …«
»Okay, in eine Felsschlucht. Und dann mit einem Gewehr pulverisiert … es war doch ein Gewehr? Ich meine, dem Mann fehlt fast die ganze Brust …«
»Kaliber zwölf. Ein Schuss.«
»Also, ich will darauf hinaus, dass wir eigentlich sämtliche Anzeichen von Angst sehen müssten. Die Augen aufgerissen. Das Gesicht starr. Die Finger verkrampft. Sehen Sie, der Kerl trägt nicht mal Handschellen oder Fesseln. Wie viel von ihm ist liegengeblieben, als man ihn rausgezogen hat?«
»Etwas Blut. Etwas Gewebe.«
»Nicht viel?«
»Durchschnittliche Menge, würde ich sagen.«
»Und der Wagen. Sieht wie ein brandneuer BMW aus, oder?«
»Sechs Monate alt.«
»Ich wette«, überlegte Detective Barren laut, »der gehört einem Drogendealer von mittlerem Rang. Vielleicht zwanzig Kilo Hasch im Monat, kein richtiges Schwergewicht.«
»Wieder getroffen.«
»Hat er ihn vermisst gemeldet?«
»Das überprüfen wir gerade.«
»Also, was mir auf Anhieb dazu einfällt – natürlich reine Spekulation –, aber wenn Sie mich fragen, würde ich sagen, das arme Schwein wurde woanders von jemandem erschossen, von dem er so etwas Unfreundliches nicht erwartet hat, wenn Sie verstehen, was ich meine …«
Lieutenant Burns lachte trocken auf.
»Dann haben sie ihn schnell in den Kofferraum eines Wagens geworfen, den sie rechtzeitig vorher gestohlen hatten, sind zu der Schlucht rausgefahren … wo wir ihn bald finden würden, anders als in den Everglades draußen, und da haben sie ihn abgeladen. Sieht mir nach der Idee eines etwas beschränkten kolumbianischen Drogendealers aus, der einem Konkurrenten was anhängen will. Vielleicht jemand, der zwischen zwei Organisationen böses Blut machen will, und das hier ist der erste Trumpf, den sie ausspielen. Reine Spekulation, wie gesagt. Jedenfalls wüsste ich nicht, ob ich gegen den Fahrzeughalter einen Haftbefehl erlassen würde.«
»Merce, wissen Sie, weshalb ich so gern mit Ihnen arbeite?«
»Nein, Peter, wieso?«
»Weil Sie so denken wie ich.«
Detective Barren grinste.
»Jeder mag einen Jasager. Oder in meinem Fall, eine Jasagerin.«
»Na, jedenfalls stimme ich Ihnen in allen Punkten zu. Ich habe der Forensik die Schuhe von dem Kerl gegeben. Keinerlei Sand aus der Schlucht. Dafür ein paar frische Grasflecken. Sehen Sie in dieser Spalte irgendwo Gras? Ich denke nicht.«
Er starrte auf die Bilder.
»Merce, vermuten Sie auch manchmal, die Welt gehört den Drogendealern? Zuweilen muss ich lachen, wenn ich daran denke, dass sie die neuen Unternehmer unserer Gesellschaft sind. Ich meine, vor hundert, zweihundert Jahren sind die Leute in dieses Land gekommen, haben geschuftet, Wurzeln geschlagen und sich hochgearbeitet. Wo ist der amerikanische Traum geblieben, Merce? Eine Hundert-Kilo-Charge und ein hübscher brandneuer BMW.«
Er stand auf und sammelte sämtliche Fotos ein. »Ich ent wickle mich immer mehr zum Pessimisten. Na, jedenfalls, ich denke, ich mach mal einen kleinen Abstecher zur Mordkommission und rede mit den Kollegen. Sollten wissen, womit sie’s zu tun haben. Am besten auch gleich beim Drogendezernat, denke ich.« Er sah sie an und setzte sich. »Aber zuerst sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
Detective Barren dachte an den jungen Mann auf den Bildern und fragte sich einen Moment, wie ein so junger Mensch so dumm sein konnte, sich auf Drogenhandel einzulassen. Auch nicht dümmer als John Barren, der wegen einer idiotischen Prinzipienreiterei in den Krieg zog, sich umbringen ließ und ihr zumutete, alleine zurechtzukommen. Für einen Augenblick wurde sie wegen all der jungen Männer traurig, die auf die eine oder andere Weise starben, doch ebenso schnell folgte eine Aufwallung von Wut. Wie sinnlos, dachte sie. Wie ganz und gar sinnlos und egoistisch. Irgendwo gab es jemanden, der über diesem zerfetzten Leichnam bitter weinte.
»Peter, ich brauche ein bisschen Zeit.«
»Wegen Ihrer Nichte?«
»Ja.«
»Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie mit unserem Psychologen sprechen würden und weiterarbeiteten. Sie wissen schon, Beschäftigung. Wie heißt es so schön, Müßiggang ist aller Laster Anfang.«
»Mir geht es nicht um Müßiggang.«
»Ich wollte damit nur sagen, es würde mir nicht gefallen, wenn Sie Urlaub nähmen, nur um in der Wohnung zu sitzen und zu brüten. Was haben Sie vor?«
Susans Mörder finden!, schrie es in ihr auf. Sie verkniff sich die Bemerkung und zwang sich zu einer diplomatischen Erklärung.
»Wissen Sie, Peter, es ist nie gelungen, gegen Rhotzbadegh eine hieb- und stichfeste Anklage wegen des Mordes an Susan zu erheben. Ich will damit nicht sagen, dass die Jungs nicht ihre Pflicht getan hätten. Es ist nur, na ja, es macht mich wütend. Ich möchte ein bisschen herumstochern und sehen, was ich herausbekomme. Danach vielleicht eine Weile zu meiner Schwester, versuchen, ihr darüber hinwegzuhelfen. Sie nimmt es immer noch sehr schwer.«
Lieutenant Burns sah ihr eindringlich in die Augen. Sie rührte sich nicht.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass Sie sich in den Fall einmischen wollen. Das andere, also, selbstverständlich …«
»Wie viel Zeit können Sie mir geben?«, fragte sie.
Ist eigentlich egal, dachte sie. Ich werde eine Ewigkeit brauchen. Ich werde ihn suchen, bis ich alt und grau bin.
Lieutenant Burns öffnete eine Schreibtischschublade und blätterte in einer Akte. Er zog ein Blatt mit ihrem Namen heraus. »Also, Sie haben noch drei Wochen Urlaub und mindestens zwei Wochen Überstunden … was soll’s, sagen wir, noch mal drei Wochen. Außerdem gibt es Urlaub in Härtefällen. Das könnte ich für Sie beantragen, wenn auch zu gekürzten Bezügen. Wie lange, glauben Sie, werden Sie brauchen?«
Sie hatte keine Ahnung.
»Schwer zu sagen.«
»Sicher, verstehe. Denke ich jedenfalls.« Er sah sie ein wenig misstrauisch an. »Wieso tragen Sie die Waffe?«
»Was?«
Er deutete auf ihren Blazer. »Diese Großwildkanone. Was ist das, eine Fünfundvierziger oder eine Neunmillimeter?«
»Neunmillimeter.«
»Brauchen Sie die, um Fotos anzusehen?«
»Nein.«
»Wozu dann?«
Sie antwortete nicht. Es herrschte Schweigen. Lieutenant Burns warf einen Blick auf das Dokument und sah ihr wieder ins Gesicht.
»Lassen Sie es, Merce. Es ist vorbei. Der ist für immer und ewig aus dem Verkehr gezogen, und das ist gut so …« Er straffte plötzlich die Schultern und setzte einen amtlichen Ton auf. »Und das ist ein Befehl: Halten Sie sich von dem Fall fern. Er ist abgeschlossen. Sie laden sich nur noch mehr Kummer auf. Sie wollen sich beurlauben lassen, kein Problem. Aber nicht, um zu arbeiten. Zur Erholung. Verstanden?«
Sie antwortete nicht. Er sah sie an, und sein Ton wurde milder.
»Na schön, zumindest habe ich Ihnen vorschriftsmäßig die Leviten gelesen …«
Sie lächelte. »Danke, Peter.«
»Aber, Merce, mir zuliebe, sehen Sie zu, dass Sie in Ordnung kommen, und lassen Sie sich wieder bei der Arbeit blicken. Okay?«
»Ich tu mein Bestes«, sagte sie.
»Gut, nehmen Sie zuerst die Überstunden, danach, falls das nicht reicht, den Urlaub. Danach rufen Sie mich an, und wir finden eine Lösung. Ich werde dafür sorgen, dass man Ihnen die Gehaltsschecks nach Hause schickt. Unter einer Voraussetzung.«
»Die wäre?«
»Gehen Sie zuerst zu unserem Seelenklempner. Hören Sie, man wird Sie sowieso hinschicken, wenn Sie zurückkommen. Verlassen Sie sich drauf. Der wird nur sagen, nehmen Sie sich eine Auszeit, zwei Aspirin und melden Sie sich, wenn Sie wieder zum Dienst kommen.«
Sie nickte.
»Also gut, das wär’s.«
Er stand auf und nahm den Stapel Fotos. »Kommen Sie mit zum Morddezernat? Bei den Idioten braucht man einiges an Überredungskraft, besonders, wenn sie tatsächlich mal alleine da raus sollen, um ein paar Zeugen und Indizien aufzutreiben.«
»Nein, danke«, sagte sie. Wenn ich das nächste Mal ins Morddezernat komme, dachte sie, bringe ich ihnen einen Fall.
Sie biss sich auf die Lippe. Oder ich stelle mich selbst.
Der Besuch beim Psychologen der Dienststelle war, wie Lieutenant Burns vorausgesagt hatte, eine reine Formsache. Sie beschrieb ihm eine gewisse Unruhe, Schlaflosigkeit und Konzentrationsstörungen sowie Anwandlungen von Depression. Sie erklärte ihm, sie fühle sich wegen Susans Tod schul dig und brauche etwas Zeit, um sich auf den Verlust einzustellen. Sie hörte sich reden und dachte, wie leicht es war, eine Lüge mit einer Prise Wahrheit zu würzen, um eine glaubhafte Geschichte aufzutischen.
Er fragte sie, ob er ihr Schlaftabletten verschreiben sollte. Sie lehnte ab. Er erklärte ihr, dass sie der Verlust wahrscheinlich weiterverfolgen werde, es sei denn, sie entschlösse sich zu einer Therapie; eine Ruhepause könne ihr in jedem Fall guttun. Er sagte ihr zu, ein entsprechendes Formular für sie auszufüllen, um ihr eine Beurlaubung aus Gesundheitsgründen zu verschaffen, so dass sie fast keine Gehaltseinbußen hätte. Schließlich erklärte er, dass er sie nach Ablauf von vier Wochen regelmäßig sehen wolle, und notierte einen Termin. Er füllte eine Karte aus, und sie schüttelten sich die Hände. Sie bedankte sich und warf die Karte weg, kaum dass sie die Tür des Büros hinter sich geschlossen hatte.
Es war viel leichter, als sie erwartet hatte.
Sie brauchte nicht lang, um alles, was sie benötigte, aus ihrem Schreibtisch zu räumen, auch wenn sie ständig von den Kollegen der Abteilung für Indizienanalyse unterbrochen wurde, die vorbeikamen, um zu kondolieren, Einladungen auszusprechen, ihre Freundschaft anzubieten, was sie tief berührte. Doch sie war eher aufgeregt, angespannt und wollte nur das Gebäude verlassen.
Als sie aus der Tür des Polizeipräsidiums Miami trat, schlug ihr sengende Hitze entgegen. Die roten Klinker des Gebäudes schienen wie Kohlen zu glühen. Sie atmete langsam ein, als fürchte sie, sich die Lunge zu verbrennen, und sah, die Hand schützend über die Augen gelegt, zum Himmel. Für Sekunden schien es ihr, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet, um sie zu observieren.
Doch das Gefühl verging, und was blieb, war fast so etwas wie ein Hochgefühl gespannter Erwartung. Zum ersten Mal seit Monaten merkte sie, wie die Depressionen, die sie niedergedrückt hatten, schwanden. Ich tue was, dachte sie. Schritt für Schritt, nichts überstürzen. Ihr fielen plötzlich die Nächte im Haus ihrer Schwester wieder ein, wenn das Baby sie mit den ersten Wimmerlauten geweckt hatte, um sich über Bauchschmerzen und Hunger zu beklagen. Es wurde ein Ritual daraus: Die Decke zurückschlagen, in die Pantoffeln und den am Fußende liegenden Bademantel schlüpfen. »Ich komme«, hatte sie dann stets laut genug versichert, damit es das Baby, aber auch ihre Schwester hörte und wusste, dass sie weiterschlafen durfte. »Bin gleich bei dir, und jetzt sch, sch, sch«, hatte sie dann in einem beruhigenden Rhythmus geflüstert.
»Ich komme«, sagte sie nun laut, doch es war niemand da, um sie zu hören.
Sie ging die Treppe hinunter und summte eine Melodie.