6. KAPITEL
Leichte Beute

 

11.

Douglas Jeffers blickte geradeaus auf den endlosen, tuscheschwarzen Highway, der unter seinen Rädern dahinflog, und summte wahllos irgendwelche Melodien. Hinter ihm zog am Horizont der Morgen herauf. Langsam drang das erste Licht in den Wagen und kroch in alle Ecken. Jeffers blickte zu der schlafenden Gestalt neben ihm. Anne Hamptons Mund war leicht geöffnet, ihr Atem regelmäßig. Das Morgenlicht ruhte auf ihren Zügen und schärfte ihre Konturen. Er versuchte, ihre dunklen Augenbrauen zu studieren, dann die lange Adlernase, die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen, indem er den Blick immer wieder für einen kurzen Moment von der Straße abwandte. Er beobachtete, wie sich das klare frühe Licht in ihrem flachsblonden Haar fing und es sekundenlang aufglühen ließ. Er fragte sich wieder, ob sie schön war oder nicht. Für seinen Geschmack war sie es auf eine schlichte, schnörkellose Weise.

Er wäre gerne über die Stelle, an der das Licht die Konturen ihres Kinns betonte, mit dem Finger entlanggestrichen und hätte sie mit einer kleinen zärtlichen Geste geweckt. Er sah, dass sie dort einen kleinen Bluterguss hatte, was ihn einen Moment lang traurig machte. Er hatte riesiges Glück gehabt, dass er sie nicht hatte töten müssen.

Jeffers blickte wieder geradeaus und sah den letzten fahlen Umriss der Mondsichel am Himmel, bevor sie ganz in der endlosen Bläue verschwand. Er liebte den frühen Morgen, auch wenn es bei diesem Licht schwierig, wenn nicht sogar unmöglich war, vernünftige Bilder zu machen. Falls es jedoch gelang, strahlten sie einen unbestreitbaren Zauber aus. Er dachte an einen Morgen in Vietnam, als er so tollkühn gewesen war, mit einem südvietnamesischen Ranger-Bataillon loszuziehen. Er war ebenso jung gewesen wie die Soldaten. Die anderen Kameraleute, mit denen er zusammen gewesen war – eine Crew von ABC News, ein anderer freier Mitarbeiter, der für Magnum filmte, und ein Kerl vom Australian –, hatten dankend abgelehnt, als sich ihnen die Chance bot, bei Kampfhandlungen hautnah dabei zu sein; sie hatten versucht, ihn mit vernünftigen Argumenten davon abzubringen. Doch er hatte sich von dem Gelächter, dem lärmenden Umgang und der unbeschwerten Kameradschaft der Soldaten anstecken lassen. Sie hatten alle mächtig angegeben, mit den Waffen gefuchtelt und siegessicher gegrinst, als sie in den grünen Zweieinhalbtonner stiegen, der sie an die Gefechtslinie bringen sollte. Er war lächelnd mit aufgesprungen, hatte drauflos geknipst, sich ihre Namen geben lassen und die entspannte Stimmung genossen, die im Krieg so kostbar war.

Einen Tag lang waren sie unter einem freundlichen Himmel durch Reisfelder gestapft. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatten sie an einer kleinen Erhebung im Schutz von Bäumen und hohem Unterholz biwakiert. Jeffers erinnerte sich, dass die Männer bis in die Nacht hinein weitergelacht und -gealbert hatten, während er mit einem mulmigen Gefühl in die Dunkelheit starrte. Er war früh in sein Schützenloch gekrochen, nachdem er sich aus ihrem Waffenfundus eine M-16 und ein halbes Dutzend Ladestreifen genommen und neben seine ausgerollte Schlafmatte gelegt hatte. Links von seinem Lager stapelte er ein paar Handgranaten und rechts hielt er seine mit lichtempfindlichem Film bestückte Nikon bereit. Er zurrte seine kugelsichere Weste fest und ignorierte, wie unbequem sie war. Seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen waren wütend gewesen – vor allem war er wütend über seinen eigenen Leichtsinn. Der gottverdammte Offizier hatte nur einen kümmerlichen Zug an die vorderste Frontlinie befohlen und nicht einmal einen Lauschposten tiefer in den Busch geschickt; also hatte Jeffers sich ohne Angst und Panik, aber mit einer gewissen Frustration gefragt, ob sie in dieser Nacht alle sterben würden. Oder zumindest die meisten von ihnen.

Dann war er in einen leichten Schlaf hinübergeglitten. Ein paar Stunden nach Mitternacht war das Lager angegriffen worden, und das Feuergefecht hatte bis in die frühen Morgenstunden gedauert.

Erst dann hatte der Feind den siegreichen Rückzug in den Dschungel angetreten. Jeffers war langsam und unter Schmerzen, blut- und dreckverschmiert aus seinem Loch gekrochen wie ein primitives Tier aus seiner Höhle. Seine Granaten und seine gesamte Munition waren in den Wirren der letzten Nacht draufgegangen. Doch dann war ihm eingefallen, dass er immer noch mehrere Filmrollen hatte, und er war im ersten Dämmerlicht aufgestanden, hatte Filme in seine Kameras eingelegt und gewartet, bis die Dämmerung den Blutzoll der letzten Nacht offenbarte. Irgendwann hatte der Morgen die Toten erreicht und in grotesken Posen festgehalten. Er entsann sich, wie der Nebel, die Kälte und der Geruch nach Kordit sich verzogen hatten und er einen Moment lang auf die verrenkten, brutal entstellten Leichen gestarrt hatte, die über das Schlachtfeld verstreut lagen. Dann hatte er sich die Nikon geschnappt und immer wieder den Auslöser gedrückt, während er sich im Krebsgang durch das Zerstörungswerk an Menschen und Material arbeitete und dabei versuchte, den Toten gleichermaßen Schönheit und Schrecken abzuringen. So hatte es für ihn nach dem Ende des Gefechts eine eigene Schlacht gegeben.

Newsweek hatte eins dieser Bilder für einen geradezu hellsichtigen Artikel über die fragwürdige Kompetenz der südvietnamesischen Armee ausgesucht. Er erinnerte sich genau an das Foto: ein kleiner Soldat, wahrscheinlich nicht älter als vierzehn, den es rückwärts auf eine Munitionskiste geschleudert hatte, im Tod die Augen weit aufgerissen, als betrachtete er die Zukunft, die er nun nicht mehr hatte. Es erschien etwa ein halbes Jahr, bevor Saigon fiel. Das war vor über einem Jahrzehnt, dachte er.

Ich war damals so viel jünger.

Er lächelte in sich hinein.

Athleten reden gerne über junge Beine, über Beine, die den ganzen Tag rennen können und immer noch Reserven haben, aber auch Fotografen sind darauf angewiesen. Er dachte daran, wie er nur wenige Monate später mit einer Abordnung der Nationalgarde zu Fuß durch die dichtbewachsenen Hügel von Nicaragua gelaufen war und die Rebellen mit Granatwerfern auf sie zukamen. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt und auf das wimmernde Geräusch und den dumpfen Aufschlag der Granaten gelauscht, die sich unerbittlich der Stelle näherten, zu der er und die Männer heruntergeklettert waren, um Schutz zu suchen. Er hörte im Geist, wie das Surren seines Motordrive den Lärm der Granaten übertönte, und wusste noch, dass er damals dachte, wie sehr der Krieg einem die Sinne schärfte.

Natürlich waren die Männer, mit denen er zusammen war, in alle Richtungen geflohen. Das war ansteckend, dieses Bedürfnis, vor Angst wegzurennen, und obwohl er sich nicht entsann, selbst in Panik geraten zu sein, war er ebenso schnell auf den Beinen gewesen.

Er war mit den anderen geflüchtet und hatte die gut ein Dutzend Jahre jüngeren Männer überholt, so dass er sich umdrehen und sie fotografieren konnte – eines seiner Lieblingsfotos, Blende 1,6 bei einer tausendstel Sekunde. Der gewaltsame Tod hatte sich nicht sehr verändert, dachte er. Im Hintergrund stieg eine Spirale aus Rauch und Dreck auf, während im Vordergrund drei Männer ihre Waffen und Patronengürtel wegwarfen und auf die Kamera zutaumelten. Ein vierter Mann fiel in einer Drehung tot zu Boden, von einem Schrapnell getroffen. Life hatte das Bild für tausendfünfhundert Dollar gekauft und im Redaktionsteil »Nachrichten aus aller Welt« gebracht. Tausendfünfhundert Dollar, dachte er, für den Bruchteil einer Sekunde innerhalb wochenlanger Entbehrungen, einem gewissen Maß an Furcht und viel Langeweile. Die Quintessenz des Fotojournalismus.

Er blickte wieder zu Anne Hampton hinunter.

Sie regte sich, und er sah, wie sie die Augen öffnete und in die Sonne blinzelte.

»Ah, Boswell kommt zu sich!«, begrüßte er sie.

Sie zuckte zusammen, saß augenblicklich senkrecht und rieb sich das Gesicht.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich, »ich wollte nicht eindösen.«

»Macht nichts«, antwortete er. »Du brauchst deine Ruhe. Deinen Schönheitsschlaf.«

Sie starrte aus dem Fenster. »Wo sind wir?«, fragte sie, doch im selben Moment fuhr ihr Kopf in Panik zu ihm herum. »Ich meine, nur wenn Sie es mir sagen wollen, es ist nicht so wichtig. Ich war nur neugierig, und Sie müssen nichts sagen, wenn Sie nicht wollen. Tut mir wirklich leid.«

»Es ist kein Geheimnis«, beruhigte er sie. »Die erste Station ist die Küste von Louisiana.«

Sie nickte und öffnete das Handschuhfach, um einen der Notizblöcke herauszuholen. »Soll ich das aufschreiben?«, fragte sie.

»Boswell«, erklärte er. »Sei Boswell.«

Sie nickte und machte eine Notiz.

Dann sah sie ihn mit gezücktem Bleistift an. Ihr entging nicht, dass er sie aus den Augenwinkeln heraus aufmerksam beobachtete, während er geradeaus auf den Highway blickte.

»Du hast mich an jemanden erinnert«, erzählte er. »Eine Frau, die ich vor ein paar Jahren in Guatemala kennengelernt habe.«

Sie sagte nichts, sondern schrieb weiter. »Erinnerung an Guatemala, vor einigen Jahren …«

»Die eigentliche Geschichte ist oben an der Grenze passiert, wo das Militär versucht hat, ein paar versprengte Guerillagruppen hochzunehmen. Das war einer dieser kleinen Kriege, in dem Amerikaner eigentlich nichts verloren hatten, dennoch mischten sie überall mit. Ich meine, Militärberater, Hightech-Waffen, Jungs von der CIA, die in Tarnkleidung und mit verspiegelten Sonnenbrillen herumliefen, US-Marinezerstörer bei Manövern vor der Küste …« Er lachte leise und fuhr fort: »Erinnere mich daran, dass ich dir was über Selbstbetrug erzähle. Darin sind wir am besten …«

Sie unterstrich das Wort Selbstbetrug dreimal.

»Na, jedenfalls, bei dieser ganzen aufgemotzten Jagd auf die Guerillas wurde eine klitzekleine Eigentümlichkeit der Situation in Guatemala übersehen. Jahrelang, was sag ich, wohl eher jahrhundertelang hat es die einheimischen Indios immer am übelsten erwischt. Ich meine, sie wurden nicht als Menschen betrachtet, verstehst du? Lag zum Beispiel ein Indio-Dorf zwischen den Fronten, hat sich keiner drum geschert …«

»Wie meinen Sie das, sich nicht drum geschert?«, fragte sie zaghaft.

Er lächelte. »Gut, ausgezeichnet, Boswell. Fragen, die der Klärung dienen, sind immer willkommen …«

Er schwieg und überlegte.

»Wenn beide Seiten in Stellung gegangen waren, zwischen ihnen aber irgendeine große, wichtige Estancia lag, na ja, dann haben sie einfach die Front verlegt. Es war, als hätten sich beide Seiten stillschweigend darauf geeinigt, dass dies Sperrgebiet war. So wie Kinder beim Football. Das Aus war ein Bereich, der weniger durch Grenzlinien als vielmehr durch eine Übereinkunft in den Köpfen markiert war …«

Er fuhr fort: »Für die Indio-Dörfer galt das nicht. Da haben sie einfach drauflos geballert. Wer ihnen zufällig in die Quere kam, nun ja, für den sah’s bös aus. So hatte ich das gemeint. Wir kamen nach einem solchen Gefecht durch eins dieser Dörfer. Ich glaube, die Regierungstruppen hatten ein paar Guerillas getötet und die umgekehrt ein paar Leute von den Regierungstruppen. Das war’s. Keine große Sache. Aber aus dem Dorf hatten sie Hackfleisch gemacht.«

Er zögerte.

»Babyblut. Das ist einzigartig. Es bringt nichts, Babyblut zu fotografieren, so was kauft dir keiner ab. Die Redakteure sehen sich deine Bilder an, versichern dir, wie ergreifend, wie aussagekräftig sie sind, aber sie wollen sie verflucht noch mal nicht bringen. Die Amerikaner wollen von Babyblut nichts wissen …«

Er sah sie von der Seite an.

»Da war eine Indio-Frau, die saß da und hielt ihr Kind im Arm. Sie sah auf, als ich sie fotografierte. Sie hatte dieselben Augen wie du. Daran musste ich denken …«

Wieder schwieg er.

»Ich stand neben diesem Kerl von der CIA namens, namens, verdammt, Jones oder Smith oder was weiß ich, was er mir aufgetischt hat. Er sieht die Frau und das Kind genau wie ich, und meint zu mir: ›Wurde wohl von der minderwertigen Munition der Rebellen getroffen.‹ Dann sieht er mich eindringlich an und sagt: ›Die verdammten Russen jubeln diesen hinterwäldlerischen Revolutionären immer schlechte Munition unter.‹ Schöner Mist, was?«

Jeffers schwieg, bevor er weiterredete. »Ich kann mich genau an seine Worte erinnern. Er war einer von den Jungs, die eigentlich gar nicht da waren.«

Eine Weile fuhr Jeffers schweigend weiter.

»Verstehst du, was er damit sagen wollte?«

»Nicht genau«, erwiderte sie.

Ohne zu zögern nahm Jeffers eine Hand vom Lenkrad und schlug ihr fest ins Gesicht. »Wach auf! Verdammt! Pass auf! Benutze deinen Verstand!«

Sie kauerte sich ängstlich im Sitz zusammen und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen schossen – nicht so sehr wegen des Schmerzes, der vergleichsweise gering war, sondern wegen der Unvorhersehbarkeit.

Sie holte tief Luft und rang um Fassung. Sie hörte, wie ihre Stimme zitterte, als sie ansetzte: »Er wollte damit sagen, wir waren das nicht …«

»Richtig. Und was noch?«

»Er hat den Mord jedem anderen in die Schuhe geschoben, nur nicht …«

»Wieder richtig!« Jeffers lächelte.

»Siehst du«, meinte er, »ist es nicht leichter, deinen Verstand zu benutzen?«

Sie nickte.

»Grundlose Grausamkeit. Selbsttäuschung. Wären wir nicht da gewesen, hätte es kein Gefecht gegeben, und das Kind wäre am Leben geblieben, zumindest noch ein paar Tage oder Wochen, wer weiß. Wir waren aber da. Nur mit dem Tod wollen wir nichts zu tun haben.«

Er lachte, aber nicht über einen Witz oder irgendetwas Komisches.

»Selbstbetrug, Selbstbetrug, Selbstbetrug.«

Sie schrieb es auf.

Anne Hampton schwirrten ein Dutzend Fragen durch den Kopf, doch sie biss die Zähne zusammen und schwieg.

Nach einer Weile fuhr Jeffers fort: »Der Tod ist das Einfachste von der Welt. Die meisten denken, es wäre schwer, jemanden zu töten. Das reden sie sich ein. In Wahrheit ist es das Einfachste von der Welt. Schlag an einem beliebigen Morgen die Zeitung auf, und was siehst du? Ehemänner töten ihre Frauen, Eltern ihre Kinder, Kinder bringen sich gegenseitig um. Schwarze töten Weiße, Weiße töten Schwarze. Wir töten heimlich, und wir töten in aller Öffentlichkeit, wir töten mit Absicht und aus Versehen. Wir töten mit Pistolen, Messern, Bomben, Gewehren – was immer wir in die Finger bekommen. Aber was passiert, wenn wir eine staatlich bezuschusste Getreidelieferung nach Äthiopien streichen? Wir töten, genauso sicher und präzise, als hätten wir eine Handfeuerwaffe mitgenommen und sie einem dieser Kinder mit aufgedunsenem Bauch an die Schläfe gehalten. Eigentlich läuft es bei der Einstellung unserer Nation zum Rest der Welt letztlich darauf hinaus, wen wir an irgendeinem beliebigen Tag töten oder nicht. Und mit welchen Waffen. Außenpolitik? Hah! Wir sollten besser von unserer Todespolitik reden. Dann könnte ein Sprecher bei irgendeiner netten Pressekonferenz in Wa shington vortreten und erklären: ›Der Präsident, das Kabinett und der Kongress haben heute beschlossen, dass Indio-Bauern in Guatemala, Demonstranten in Südafrika, gewisse Elemente im Nordirlandkonflikt – wohlgemerkt auf beiden Seiten – und in diversen anderen Ländern dieser Erde dem Tod geweiht sind. Und um es, wie schon gestern und vorgestern und vorvorgestern noch einmal zu sagen, die Russen sind in Ordnung. Nicht nötig, dass dort jemand stirbt.‹« Er starrte auf den Highway und lachte.

»Ich klinge wirklich verrückt.«

Er schielte zu ihr hinüber. »Mache ich dir Angst?«

Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, als sie fieberhaft überlegte, was er hören wollte. Sie schloss die Augen und sagte die Wahrheit. »Ja.«

»Na ja«, meinte er, »das ist wohl verständlich.«

Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: »Also, eigentlich wollte ich das Ganze nicht gerade mit Politik anfangen. Ich meine, wir können auf einem etwas höheren Niveau miteinander reden, wenn du mich erst mal ein bisschen besser kennengelernt hast. Deshalb fahren wir in diese Richtung.«

»Darf ich Sie was fragen?«, fing sie schüchtern an.

»Hör zu«, antwortete er einen Hauch gereizt. »Du kannst jederzeit fragen. Sagte ich bereits. Zwinge mich bitte nicht, mich dauernd zu wiederholen. Ob du eine Antwort bekommst oder« – er ballte die Faust und öffnete sie wieder – »eine andere Reaktion, hängt von meiner Stimmung ab.« Er beugte sich vor, packte plötzlich den Muskel über ihrem Knie und drückte schmerzhaft zu. Sie schnappte nach Luft. »Vergiss nicht, es gibt keine Regeln. Das Spiel nimmt einfach seinen Lauf, Zug um Zug, bis zum Ende.«

Er ließ ihr Bein los. Es brannte weiter. Sie hätte es am liebsten gerieben, um den Schmerz zu lindern, wagte es aber nicht.

»Frag!«, befahl er.

»Fahren wir an einen Ort, an dem Sie mir helfen werden, Sie besser zu verstehen?«

Er lächelte. »Kluger Boswell«, lobte er. »Ausgezeichneter Boswell.«

Jeffers legte eine wirkungsvolle Pause ein, dann fügte er hinzu: »Das sollte eigentlich offensichtlich sein. Darum geht es schließlich bei diesem kleinen Ausflug.« Er lächelte und wandte sich wieder ganz dem Highway zu.

 

Anne Hampton hing ihren Tagträumen nach, als sie auf der Interstate an einer Tankstelle vorbeirauschten. Es war immer noch früh, und sie dachte daran, wie angenehm es war, im Sommer frühmorgens aufzustehen – ein Gefühl, mit dem Tag im Einklang zu sein. Sie erinnerte sich, wie sie es als Kind genossen hatte, allein im Haus herumzutappen. Es war eine Zeit, die sie mit sich und ihren Sachen zubrachte. Manchmal öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern einen Spaltbreit und betrachtete sie in ihrem Bett. Wenn sie sicher war, dass sie fest schliefen, schlich sie im Flur zum Zimmer ihres Bruders. Er lag dann meist quer über seinem Bettzeug, das er im Schlaf zerwühlt hatte, und bekam nicht das Geringste von seiner Umgebung mit. Ihr Bruder war Langschläfer. Immer, ohne Ausnahme. Man hätte neben seinem Bett eine Bombe hochgehen lassen können, und der Kleine hätte nichts gemerkt. Es war, als hätte der Körper ihres Bruders gewusst, wie wichtig es war, Kraftreserven zu schöpfen, weil sich ihr Bruder Hals über Kopf ins Leben stürzte. Sie musste innerlich schmunzeln. Als Tommy starb, hat sich die Erde wahrscheinlich ein klitzekleines bisschen langsamer gedreht, so unfassbar wenig, dass nur die ältesten, weisesten Wissenschaftler an den größten Universitäten es mit den neuesten, präzisesten Instrumenten messen konnten. Wenn ich sterbe, dachte sie, kann ich froh sein, wenn sich irgendwo auf einem winzigen Teich das Wasser kräuselt oder eine kleine Bö durch die Bäume weht.

Sie kniff ein paarmal die Augen zu, um die Gedanken zu verdrängen. Meine Gedanken drehen sich nur ums Sterben, sagte sie sich. Und wieso auch nicht? Sie blickte vorsichtig zu Jeffers hinüber, der etwas pfiff, das sie nicht erkannte.

»Werden Sie nur über den Tod reden?«, fragte sie.

Er wandte sich kurz zu ihr um, bevor er wieder nach vorne schaute. Er lächelte. »Guter Boswell«, meinte er. »Sei eine Reporterin.« Er schwieg, dann fuhr er fort. »Nein. Ich werde versuchen, auch über andere Dinge zu reden. Da triffst du einen wichtigen Punkt. Das Problem ist nur« – er lachte, bevor er weitersprach – »meine Vorliebe fürs Morbide. Für Fatalismus. Dafür, wie etwas endet, und nicht so sehr, wie es anfängt.«

Wieder schwieg er und überlegte. Anne Hampton schrieb möglichst viel von dem, was er sagte, mit und starrte plötzlich verzweifelt auf ihre Handschrift. Sie war nicht sicher, ob man sie leicht entziffern konnte, und fragte sich in Panik, ob er es überprüfen würde.

Jeffers begann zu grinsen und lachte dann laut.

»Hier hätte ich eine Geschichte für dich. Die beste lebensbejahende Geschichte, die mir auf Anhieb einfällt. Mir fällt sicher ab und zu eine neue ein, aber die hier, also, das war in meiner Zeit bei dieser Zeitung in Dallas, dem Times-Herald, Mitte der siebziger Jahre. Die Leute nannten ihn den Crimes-Herald, aber das ist eine andere Geschichte …

An jenem Tag hatte ich Tagesbereitschaft, was normalerweise alles bedeutete – von Blumenausstellungen oder Schnappschüssen von irgendwelchen Industriebonzen für den Wirtschaftsteil bis hin zu Unfällen und Polizisten oder sonst was, das sich ergab. Und dann bekamen wir diesen Anruf. Das war einer dieser großartigen Momente bei einer Zeitung, was in dem Augenblick natürlich niemand weiß, aber dennoch. Da meldet sich dieser Kerl am Telefon und sagt, es sei eben was Unglaubliches passiert. Was denn?, fragt der Lokalredakteur, der sich zu Tode langweilt. Na ja, wie’s aussieht, hat sich dieses Ehepaar gestritten, häusliche Streitigkeiten halt. Sie steckten mitten in der Scheidung und bekamen sich wegen des Sorgerechts für das Kind in die Wolle. Sie packen beide das Baby, und der Blödmann versucht, es seiner Alten aus der Hand zu reißen, und hoppla – da saust das Baby aus dem Fenster im vierten Stock …

Also, der Lokalredakteur wird endlich wach, weil das nun wirklich ’ne tolle Geschichte ist, und er brüllt nach mir und einem Reporter, wir sollten gefälligst den Arsch in Bewegung setzen, weil ein Baby aus dem Fenster geworfen wurde, und plötzlich merkt der Redakteur, dass der Kerl am Telefon versucht, ihn zu unterbrechen. Ja, ja, schon gut, meint der Redakteur, geben Sie mir nur noch die Adresse. Sie verstehen nicht, antwortet der Mann in der Leitung und wird allmählich sauer. Was verstehe ich nicht?, fragt der Redakteur. Der Witz der Geschichte ist ja, dass jemand das Baby aufgefangen hat. Was?!, staunt der Redakteur. Ja, erklärt der Mann, da läuft genau in dem Moment ein Kerl vorbei, sieht, wie das Baby aus dem Fenster fällt … und fängt es doch wahrhaftig mitten im Sturzflug auf.«

Jeffers sah Anne Hampton an. Sie lächelte.

»Tatsächlich? Ich meine, er hat wirklich das Baby aufgefangen? Ich kann mir nicht vorstellen …«

»Nein, nein, das stimmt. Ich schwör’s …« Jeffers lachte. »Die vierte Geschichte. Genau wie ein Fair Catch beim Football.«

»Was ist ein Fair Catch?«

»Das ist, wenn der Kerl, der den Ball auffängt, die Hand hebt und der anderen Mannschaft ein Zeichen gibt, dass er den Ball schnappt, ohne dass er damit nach vorne will. Dann dürfen sie ihn nicht angreifen. Ein reiner Akt der Selbsterhaltung.«

»Aber wie …«

»Wüsste ich auch gerne.« Jeffers lachte wieder. »Ich meine, der Mann muss eine unglaubliche Geistesgegenwart besessen haben … ich glaube, die meisten von uns würden nach oben schauen, und wenn sie sehen, dass da was aus dem Fenster fliegt, so schnell wie möglich aus dem Weg springen. Der Mann nicht.«

»Haben Sie mit ihm geredet? Ich meine, was hat er dazu gesagt?«

»Er sagte, er hat nach oben geschaut und in einem Bruchteil von Sekunden begriffen, dass es ein Baby ist, und er hat sich direkt unter das Kind gestellt. In seinem Baseball-Team an der Highschool war er Centerfielder gewesen, was witzig war, denn als er das sagte, haben die Leute genickt, als ob das alles erklärte, obwohl es natürlich gar nichts erklärte, weil Baseballspieler normalerweise nicht allzu geübt darin sind, Babys aufzufangen.«

»Aber vielleicht hat er da zumindest gelernt, richtig zu fangen?«

»Vermutlich. Football, Baseball. Das war eine Geschichte, die nach Sportmetaphern schrie.«

Jeffers sah Anne Hampton von der Seite an. Sie erwiderte seinen Blick und schüttelte den Kopf. Dann lächelte sie, und ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Beide mussten sie laut lachen.

»Das ist unglaublich. Und irgendwie wundersam …«

»Im Grunde beschreibt es das, was Fotografen tun. Sie wandern mit schöner Regelmäßigkeit von einem wundersamen Vorfall zum nächsten …« Jeffers zögerte. »Schreib das lieber auf«, sagte er, und Anne Hampton machte sich weitere Notizen.

Als sie wieder aufsah, fuhr Jeffers fort. »Jedenfalls kann ich dir sagen, dass dieser Auftrag was ganz Besonderes für mich war, was sag ich, für uns alle, nicht nur an dem Tag, sondern für den ganzen Monat. Ich hab den Kerl abgelichtet, er hatte, weiß auch nicht, das entzückteste verlegene Grinsen. Wir lachten alle und kicherten – die Reporter, die Fotografen, Fernsehcrews, Passanten, Nachbarn, der Streifenpolizist, alle. Selbst der Vater des Kindes, dem sie Handschellen angelegt hatten, weil sie wohl dachten, irgendeiner müsste ja wohl verhaftet werden, wenn ein Baby aus dem Fenster geworfen wird. Das Komische war bloß, dass es ihm nichts auszumachen schien. Dann hab ich ein Foto von der Mutter gemacht. Hast du schon mal einen Menschen gesehen, dessen Leben sich in kurzer Zeit mehrmals hintereinander so drastisch verändert? Von Angst über Verzweiflung, Qual, Hoffnung zu unglaublichem Glück, und das alles binnen Sekunden? Das alles stand ihr in den Augen. Das war nicht schwer zu fotografieren. Leg ihr einfach das Baby in den Arm, setz sie neben den Kerl, der es aufgefangen hat, und drück auf den Auslöser. Bingo. Pathos und Freude in einem.«

»Unglaublich«, sagte sie.

»Ja, unglaublich.«

»Sie binden mir auch keinen Bären auf, nur damit ich mich besser fühle?«

»Nein, auf keinen Fall. Das ist nicht meine Art.«

»Was?«

»Etwas machen, nur damit sich jemand besser fühlt. Das gehört absolut nicht zur Jobbeschreibung.«

»Ich meinte nicht …«

Er unterbrach sie. »Ich weiß, was du meinst.«

Er sah sie an und lächelte. »Aber du solltest dich trotzdem besser fühlen.«

Sie empfand eine seltsame Wärme. »Das ist schön. Das ist wirklich eine schöne Geschichte.«

»Sieh zu, dass du sie aufschreibst«, sagte er.

Sie kritzelte eilig auf ihrem Block.

»Und das Baby hat überlebt«, schrieb sie.

Für einen Moment starrte sie auf das Wort: überlebt. Einen Augenblick lang wollte sie weinen, doch sie schaffte es, die Tränen zurückzuhalten.

Seit den letzten Stunden, die ihr wie Tage, ja Wochen erschienen, war dies die erste nicht bedrohliche Schweigepause auf ihrer Fahrt.

 

Als die Vormittagssonne schon hoch am Himmel stand, glitt Gulfport vorbei. Gelegentlich fiel die Straße zum Golf von Mexiko hin ab, und Anne Hampton hielt nach dem strahlenden Blau der Bucht Ausschau. Diese kurzen Ausblicke trösteten sie ebenso wie ein Möwenschwarm, der dicht über den Wellen auf einer Luftströmung schwebte. Sie sahen wie graue und weiße Segelboote aus, wie sie so schwerelos im Einklang mit den Instinkten und den Geboten der Natur dahinglitten.

Irgendwann im Verlauf des Vormittags sagte Jeffers: »Wir müs sen tanken.«

Er verließ auf einer schmalen Abfahrt die Interstate zur erstbesten Tankstelle, die er fand. In Anne Hamptons Augen war sie ziemlich heruntergekommen; das kleine weiße Schindelholzhaus des Tankwarts schien in der Morgenbrise zu schwanken und sich aus Schwäche an den quadratischen Klinkerbau anzulehnen, in dem sich die Pannenwerkstatt befand. Über den Zapfsäulen der altmodischen Sorte – die bei jedem vollen Liter klingelten, statt der moderneren, computergesteuerten, die sie besser kannte – flatterten zwei Reihen roter, blauer, grüner und gelber Banner. Die Tankstelle nannte sich »Ted’s Dixie Gas« und war bis auf drei Autos, die neben der Werkstatt standen, verlassen. Zwei der Fahrzeuge schienen schrottreif, ausgeschlachtet und verrostet, kaum noch als Wagen zu erkennen. Das dritte war ein kirschroter Straßenrenner mit aufgebocktem Heck, extragroßen Reifen und verchromten Rädern. Der Traum eines Mannes, dachte sie, der Traum eines Mannes, der für ein bisschen kleinstädtische Prahlerei viel Zeit, Geld und Mühe einsetzt.

Während Jeffers knirschend zu den Zapfsäulen fuhr, starrte sie auf das Auto und wusste, dass jeden Moment ein Teenager mit zurückgegeltem Haar herauskommen würde, um sie nach ihren Wünschen zu fragen.

»Geh aufs Klo«, befahl Jeffers.

Seine Stimme klang plötzlich grob. Sie zitterte.

»Du kennst die Regeln, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Ich brauche dir nichts zu erklären, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

Sie sah, dass er die kurzläufige Pistole in der Hand hielt und sie sich unter dem Hemd in den Gürtel steckte. Sie starrte darauf und drehte sich schließlich um.

»Gut«, sagte er. »Das erleichtert die Situation. Und jetzt bleib sitzen, bis ich zu dir rumkomme und dir aufmache.«

Sie wartete.

»Beeil dich«, wies er sie an, während er die Tür aufriss. Sie hob den Kopf und sah, wie ein schlaksiger Teenager mit glattem dunklem Haar, das ihm unter einer schäbigen, verblichenen Baseballkappe hervorsah, in ihre Richtung kam.

»Volltanken?«, fragte er mit schleppendem Südstaatenakzent. Für die zwei Worte brauchte er etwa so lange, wie für den kurzen Weg zwischen Werkstatt und Zapfsäulen.

»Randvoll«, antwortete Jeffers. »Wo ist die Damentoilette?«

»Brauchen Sie nicht eher die Herrentoilette?«, entgegnete der Junge grinsend. Für einen Moment dachte Anne Hampton, Jeffers würde ihn auf der Stelle erschießen. Doch stattdessen lachte er. Er formte die Finger zu einer Pistole und zielte auf den Teenager. »Peng«, machte er. »Der Punkt geht an Sie. Nein, ich meine, für die Dame hier.«

Der Tankwart schenkte sein breites Grinsen Anne Hampton, die schwach zurücklächelte. Der Junge deutete auf die Seitenfront des Gebäudes. »Der Schlüssel hängt innen an der Tür da. Der alte Mann wird es Ihnen zeigen.« Er winkte Richtung Kasse.

Anne Hampton sah Jeffers an, und er nickte.

Ihr wurde heiß, als sie die sieben Meter hinüberlief. Es war, als hätte sich ganz plötzlich der Wind gelegt, und zwar nur in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie starrte zu den Bannern hoch, die immer noch über ihr flatterten, und fragte sich, wieso sie die Brise nicht spürte. Ihr wurde schwindelig und flau im Magen. Sie trat aus der Sonne in den Verkaufsraum. Dort saß ein älterer Mann, unrasiert, mit ölverschmiertem Hemd, an der Registrierkasse und trank eine Dose Limonade. Ihr Blick blieb an einem eingestickten Namen oberhalb seiner Hemdtasche hängen. »Leroy« stand dort. »Der Toilettenschlüs sel?«, fragte sie.

»Direkt neben Ihnen«, erwiderte der Mann. »Fehlt Ihnen was, Miss? Sie sehen aus wie der Speck von gestern, der über Nacht in der Kasserolle geblieben ist. Kann ich Ihnen ein Kaltes bringen?«

»Ein was?«

»Eine Limo.« Er wies mit dem Kopf auf eine Kühlbox.

»Äh, nein. Nein. Das heißt, eigentlich doch. Danke, Leroy.«

»Ach, das Hemd gehört meinem Bruder. Der Taugenichts hat noch keinen Tag im Leben hart gearbeitet. Der Dreck ist von mir drangekommen. Ich heiße George. Cola?«

»Das wäre nett.«

Er reichte ihr die kalte Dose, und sie drückte sie sich an die Stirn. Er lächelte. »Das mach ich auch immer, wenn die Hitze zu doll wird. Geht einem direkt in den Schädel. Eine Bierflasche wirkt allerdings noch besser.«

Sie lächelte. »Was bin ich Ihnen schuldig?« Im selben Moment bekam sie fast keine Luft. Sie hatte kein Geld. Sie drehte sich um und suchte Jeffers.

»Ach was, die spendier ich Ihnen. Wann krieg ich schon mal die Gelegenheit, ’nem hübschen Mädel was auszugeben? Außerdem mach ich den jungen Burschen da eifersüchtig.« Er lachte, und sie fiel ein. Vor Erleichterung platzte die Luft förmlich aus ihr heraus.

»Weiß ich zu schätzen, danke.« Sie steckte die Dose in ihre Handtasche.

»Gern geschehen. Wo soll’s denn hingehen?«

Wieder schluckte sie. Wohin?, fragte sie sich. Was soll ich am besten sagen?

»Louisiana«, antwortete sie. »Nur für’n paar Tage Urlaub.«

»Richtige Jahreszeit«, meinte der Tankwart. »Wenn auch ein kleines bisschen zu warm. Bei uns kommen ’ne Menge Leute auf der Durchreise vorbei. Die sollten lieber hierbleiben. Wir ham’n richtig schönen Sandstrand. Und gute Plätze zum Angeln, nur nicht so berühmt wie ’n paar andere Stellen. Das ist das Problem. Heutzutage läuft alles auf Publicity hinaus. Man muss es unters Volk bringen, nur so funktioniert das.«

»Unters Volk bringen«, pflichtete sie bei. »Das stimmt.«

»Muss allerdings auch drauf achten, was.«

»Sicher.«

»Zum Beispiel hier die Tankstelle«, fuhr der Mann fort. »Der Junge ist ’n richtig guter Mechaniker. Besser als sein Alter, so viel steht fest, auch wenn ich ihm das nicht sage. Setz ihm doch keine Flausen in den Kopf. Hab aber auch keine Möglichkeit, das unters Volk zu bringen. Am Ende bringen sie ihre dicken Schlitten zu den teuren Läden beim Einkaufszentrum, obwohl wir verdammt noch mal sauberere Arbeit fürs halbe Geld abliefern würden.«

»Davon bin ich überzeugt.«

Er lachte. »Geht’s schon besser?«

»Ja«, antwortete sie.

»Man muss es unter die Leute bringen. Egal, was Sie im Leben machen, ob Sie nun Autos reparieren oder Burger verkaufen oder zum Mond fliegen oder weiß der Himmel was. In diesem Land geht nix ohne Publicity. Wirklich, Ma’am. Sie müssen den Leuten sagen, was Sie zu bieten haben und was die anderen kriegen. Sie müssen es einfach weitersagen.«

Er reichte ihr den Toilettenschlüssel.

»Hab heute früh erst saubergemacht. Frische Seife und Handtücher innen an der Tür. Wenn Sie noch was brauchen, rufen Sie.«

Sie nickte und machte Anstalten zu gehen. Sie drehte sich um und zeigte mit einer fragenden Geste auf eine Tür, und er winkte sie um die Ecke.

Es war kühl in der Toilette, auch wenn die Luft alt und abgestanden war. Sie benutzte rasch das Klo und trat ans Waschbecken, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie schaute in den Spiegel und stellte fest, dass sie abgespannt und blass aussah. Ich hab diese Szene schon hundertmal gesehen, überlegte sie und nahm die Seife zur Hand. Gibt es in jedem Fernsehfilm. Sie dachte an Jimmy Cagney und Edmond O’Brien. »Sprung in den Tod«, sagte sie laut. Er schreibt an der Tankstelle etwas an den Spiegel. Sie dachte an Jeffers und stellte sich vor, dass er den Text sprach: »Hab’s geschafft, Ma! Ganz nach oben!« Sie schrieb das Wort HILFE auf den Spiegel. Dann ICH WURDE … was? Sie wischte es weg. Ihr war heiß, und ihre Hand zitterte. Muss es unters Volk bringen, ahmte sie in Gedanken den Akzent des Alten nach. RUFEN SIE DIE POLIZEI! schmierte sie hin und wischte auch das wieder weg, als sie merkte, dass sie es zu schnell und unleserlich geschrieben hatte. Und sagen Sie denen was?

Ihr wurde übel, und sie musste sich am Beckenrand festhalten. Sie betrachtete ihre Hände und flehte sie um Rat an, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. Ruhig, befahl sie sich, sei ganz ruhig.

Sie sah wieder nach oben. An der Stelle verstecken sie immer das Heroin, dachte sie. Der Tankwart kommt rein und ruft den gutaussehenden jungen Polizisten, der sie rettet. So funktionierte das immer. Jedes Mal. Sie wischte in Panik den Spiegel sauber. Und wenn es nun nicht klappt?, dachte sie. Plötzlich war sie wütend und ungeduldig, und sie schmierte Seife über den Spiegel. Das Seifenstück war nass geworden und hinterließ weiße Streifen auf dem Glas. Wie Tränen, dachte sie. Es läuft nie so wie in, ja was? Im Märchen. Im Film. In den Geschichten, die ihr Vater ihr erzählt hatte, als sie klein war. Sie betrachtete ihr Spiegelbild zwischen den Streifen. Sie sah die roten Ränder um ihre Augen. In ohnmächtiger Wut schüttelte sie die Fäuste. Zu dieser Tür kam jedenfalls kein schöner Prinz herein. Sondern er. Er wird reinkommen. Er wird es sehen. Er bringt mich um. Und George. Und den Jungen, der die Autos repariert. Er bringt uns alle um. Einen nach dem anderen.

Und dann kommt es vielleicht unters Volk.

Draußen hörte sie ein schabendes Geräusch.

Sie schmeckte Galle in der Kehle. O Gott, dachte sie. Da ist er.

Die Tür klapperte. Es ist der Wind, beruhigte sie sich. Dennoch wischte sie in Panik die Seifenreste vom Spiegel.

Was mache ich nur?, fragte sie sich. Willst du sterben?

Tu gar nichts. Spiel mit. Bis jetzt hat er dir nichts getan.

Sie wusste, dass das gelogen war, und die Gegenstimme meldete sich prompt. Er wird dich missbrauchen und dann töten, das hat er selbst gesagt.

Die Tür klapperte wieder.

Er ist überall, dachte sie auf einmal. Der Raum war fensterlos. Sie fuhr herum und starrte auf die weiß getünchten Wände. Er kann dich sehen!, warnte sie sich. Er weiß es. Er weiß es.

Marschier einfach ruhig hier raus und entschuldige dich, dachte sie.

Sie überprüfte sich in dem nunmehr sauberen Spiegel, als könnte sie Zeichen für Verrat in ihrem Gesicht erkennen, die ihm ins Auge fallen mussten. Dann drehte sie sich um und ging langsam nach draußen, während sie dachte: Ich bin innerlich wie leer. Sie hängte den Schlüssel wieder an den Haken neben der Tür und erstarrte vor Schreck.

Jeffers stand neben dem Wagen und sprach mit einem Staatspolizisten. Beide Männer trugen große Sonnenbrillen, und sie konnte ihre Augen nicht sehen. Sie blieb wie angewurzelt stehen.

Sie sah, wie Jeffers den Kopf hob und ihr entgegenlächelte. Er winkte ihr zu.

Sie konnte sich nicht rühren.

Jeffers winkte noch einmal.

Sie herrschte ihren Körper an, sich zu bewegen, doch sie war immer noch wie gelähmt. Sie zwang sich, an jedem Muskel zu zerren, und schaffte einen Schritt, dann einen zweiten. Der Weg über den Asphalt schien endlos, und sie hatte das seltsame Gefühl zu brennen.

Wir werden alle sterben, dachte sie. Sie sah schon, wie Jeffers sich unters Hemd griff und den schwarzen Revolver zog. Sie hörte den Schuss. Sie sah den Polizisten – die eigene, Feuer und Kugeln speiende Waffe in der Hand – nach hinten fallen. Sie sah, wie der Teenager und George, der Tankwart, sich wegduckten, während die Zapfsäulen explodierten und in Flammen aufgingen.

Sie machte noch einen Schritt und merkte, dass nichts dergleichen geschah.

Jeffers winkte wieder. »Spring rein, Annie, ich lass mir nur eben genau beschreiben, wie wir am besten fahren.« Er wandte sich an den Polizisten. »Also, wenn ich nach New Orleans reinkomme, gabelt sich die Straße, die Sechs-Zehn bringt mich ins Zentrum, und auf der Vier-Zehn geht’s zu den Naturparks an der Küste?«

»Genau«, sagte der Polizist. Er lächelte Anne Hampton zu und berührte zum Gruß seine Hutkrempe. Die kleine Höflichkeitsgeste schien sie innerlich zu versengen.

»Großartig«, meinte Jeffers. »Ich geh immer gerne auf Nummer sicher. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Gern geschehen«, entgegnete der Polizist. »Schönen Tag noch.«

Er machte kehrt und ging zu seinem eigenen Fahrzeug, während Jeffers hinters Lenkrad rutschte. Zuerst schwieg er, während er Gas gab und an dem Streifenwagen vorbei von der Tankstelle wegfuhr. Dann fragte er in sachlichem, strengem Ton: »Was hattest du mit dem alten Mann zu quasseln?«

»Ich muss mich übergeben«, stöhnte Anne Hampton.

»Wenn du dich übergibst«, erwiderte Jeffers, und sein Blick verengte sich, während seine Stimme so teilnahmslos klang, als diskutierten sie das Wetter oder die steigenden Preise, »dann müssen wir alle sterben.«

Sie biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu.

Sie schnappte gierig nach Luft.

»Wir haben über Publicity gesprochen«, brachte sie heraus.

»Darüber, dass man es unter die Leute bringen muss, wenn man etwas zu verkaufen hat. Wie die Mechanikerkünste dieses Jungen.«

»Publicity ist genauso ein Treibstoff«, überlegte Jeffers, »wie arabisches Öl.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie wandte sich ab und sah, wie sich vor ihnen die Straße dehnte. Er nahm wieder die Zufahrt zur Interstate.

»Geht schon wieder«, meinte sie und dachte, es muss.

Sie schaute Jeffers von der Seite an und sah, dass er sich zu entspannen schien. Er lächelte schwach.

»Braver Boswell«, lobte er. »Wenn du dich wieder so weit gut fühlst, schreib alles auf. Ist doch aufregend, oder? Vor allem das mit dem Polizisten, nicht? Da schießt das Adrenalin in die Adern.«

Jeffers summte vor sich hin und gab Vollgas. Wieder erkannte sie die Melodie nicht, doch sie hasste sie.

 

Unterwegs glitt Douglas Jeffers halbherzig in Tagträumereien hinein. Anne Hampton war neben ihm schweigsam geworden und starrte in einer wünschenswerten Leere aus dem Fenster. Er wollte ihre Phantasie nicht zu früh beflügeln. Sie hatte immer noch Kraftreserven in sich, die er nicht mobilisieren durfte. Es war durchaus typisch, dass sie sich dessen nicht bewusst war. Sie war immer noch in der Lage, den Bann zu durchbrechen und um ihre Freiheit zu kämpfen oder um etwas zu tun, das ihre Reise gefährdete, doch diese Energie würde nach und nach schwinden, das wusste er. Sie war bereits auf die Hälfte gesunken, vielleicht sogar auf ein Viertel. Binnen ein, zwei Tagen, schätzte er, ist sie ganz verflogen, außer einem gefährlichen Rest, vor dem er stets auf der Hut sein musste. Selbst ein gezähmtes, abgerichtetes, eingeschüchtertes Tier wird angesichts drohender Vernichtung irgendwann einmal zurückschlagen. Er beschloss, keine Anzeichen zu übersehen. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass sie nicht unbedingt in Erscheinung treten mussten. Für einen Moment fragte er sich, ob sie von der einschlägigen Literatur über Kontrolle und Macht die geringste Ahnung hatte. Bestimmt hatte sie zumindest John Fowles gelesen. Und sie konnte sich vielleicht an Rubaschow und seine Peiniger beim Verhör erinnern. Sollte er ihr etwas über das Stockholm-Syndrom erzählen? Vermutlich ja, zu gegebener Zeit. Wissen, überlegte er, konnte – geschickt und gezielt eingesetzt – die Wahrheit zusätzlich verwirren und verdunkeln. Es würde ihre Hilflosigkeit verstärken, wenn er ihr klarmachte, dass sie psychisch in einem Netz gefangen war, aus dem sie sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte. Stürze sie in noch tiefere Verzweiflung. Er blickte zu ihr hinüber und musterte ihr Profil, während sie unverwandt auf den Horizont starrte. Er versuchte, einen Hauch Unabhängigkeit und Entschlossenheit zu riechen. Nein, dachte er, die nicht.

Die hab ich ihr genommen. Ganz nach Plan.

Ich kann mit ihr machen, was ich will.

Beinahe hätte er aufgelacht, doch er unterdrückte den Laut, bevor er ihm über die Lippen kam, so wie ein Schuljunge, dem hinter dem Rücken des Lehrers ein schmutziges Bild zugesteckt wurde.

Sie ist jetzt wie Ton in meinen Händen. Ich kann daraus formen, was ich will. Wie beiläufig kam ihm die Frage in den Sinn, ob sie wohl wusste, dass sich ihr Leben vollkommen verändert hatte, dass sie nie wieder dieselbe sein würde und niemals wieder anknüpfen konnte an die Zeit, bevor er in ihr Leben getreten war.

Für keinen von uns beiden gibt es ein Zurück.

Er dachte an das betroffene Gesicht, das sie gemacht hatte, als sie den Polizisten sah. Das hat sie in Panik versetzt, dachte er. Bis morgen ist sie so am Ende, dass sie mehr Angst vor der Polizei hat als ich. Und ich habe nicht die geringste Angst.

Innerlich grinste er, auch wenn äußerlich nur ein leichtes Zucken um seine Mundwinkel spielte.

Sie gehört mir.

Jedenfalls in vierundzwanzig Stunden.

Ihm lachte das Herz, wenn er an die Möglichkeiten dachte. Was für Lektionen auf sie warten!

Auch nicht schlimmer als meine eigenen.

Plötzlich stand ihm eine Erinnerung plastisch vor Augen, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Er sah sich, wie er als Sechsjähriger vom Drogisten und seiner Frau durch die Nacht geführt wurde. Er erinnerte sich, wie überrascht er beim Anblick des Hauses gewesen war. In seinen Kinderaugen war es riesig und überwältigend. Er hatte Angst gehabt und wusste noch, wie wichtig es gewesen war, sich gegenüber Marty nicht anmerken zu lassen, wie groß seine Angst war. Das Haus war ganz anders als die Hotelzimmer und Wohnwagenparks, durch die ihre Mutter sie geschleift hatte. Seine erste Mutter, dachte er. Einen Moment lang glaubte er, die Mischung aus Parfüm und Alkoholdunst zu riechen, die ihn jedes Mal verfolgte, wenn er an sie denken musste. Er beugte sich vor und öffnete das Fenster einen Spalt, um Luft hereinzulassen, weil er fürchtete, dass sich ihm von all dem Hass der Magen umdrehte.

Die Luft vertrieb den Erinnerungsgeruch, und er dachte an seinen ersten Blick die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Er entsann sich, wie fest Marty seine Hand gepackt hatte. Es war dunkel gewesen, und die wenigen Lampen, die der Drogist eingeschaltet hatte, warfen seltsame Formen an die Wände. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie sie die Treppe hochgegangen waren. Dafür wusste er noch, wie sie in einen winzigen Raum halb geführt und halb geschoben wurden. Die Wände waren weiß getüncht, und die Einrichtung bestand aus zwei aufgeklappten Feldbetten. Die einzige Lampe hatte keinen Schirm. Das einzige Fenster war geöffnet und ließ die kalte Luft herein.

Es war trostlos und steril gewesen.

Er zwang sich zu einem Lächeln – nicht Ausdruck von Amüsement, sondern von Ironie. Sein erstes Gefecht, dachte er. Marty war so erschöpft gewesen, dass er augenblicklich eingeschlafen war. Aber ich starrte an die Wände. Er sah die Konfrontation am nächsten Morgen vor sich:

Können wir was an die Wände hängen?

Nein.

Wieso nicht?

Ihr macht sie nur kaputt.

Nein, wir sind vorsichtig.

Nein.

Bitte.

Hör auf, herumzuquengeln! Ich habe nein gesagt! Schluss jetzt.

Es ist aber nicht wie ein Zimmer. Es ist wie ein Gefängnis.

Ich werde dir zeigen, dass du so nicht mit mir reden darfst.

Er hatte seine ersten Prügel bezogen. Die ersten von vielen. Er fand es merkwürdig, dass ihm keine Emotionen hochkamen, als er daran dachte, wie er die ersten Fausthiebe spürte, die sein neuer Vater auf ihn niederprasseln ließ. Doch Hass stieg in ihm auf, wenn er daran dachte, wie seine neue Mutter seelenruhig daneben saß. Ihre Augen sollen verdammt sein!, dachte er plötzlich. Sie hat nichts unternommen! Einfach nur dagesessen und zugesehen. Sie hat immer nur dagesessen und zugesehen. Sie hat nichts gesagt und nichts getan.

Er stockte, als müsste er nach Luft schnappen.

Ihre Augen sollen zur Hölle gehen! Wieder füllte sich sein Kopf mit Erinnerungen, als hielte er eine Tasse unter einen Wasserhahn. Für den Rest des Tages wurde er in eine fremde, neue Schule abgeschoben. Das war an sich schon entsetzlich genug gewesen.

Am lebhaftesten war ihm allerdings der Kunst unterricht an diesem Morgen haftengeblieben, während dem er sich das größte weiße Blatt Papier geschnappt hatte, das es gab. Dann hatte er schnell und planvoll dicke Streifen in Blau, Orange, Rot, Gelb und Grün darauf gemalt, so dass er in Windeseile einen Regenbogen vor sich hatte. Anschließend hatte er sich noch ein Blatt genommen und ein Dampfschiff gemalt, das auf wilder, grauer See schaukelte. Schließlich ein drittes für einen Piratenkapitän mit roter Schärpe, schwarzem Bart und Totenkopfflagge in den Händen. Er hatte die Bilder trocknen lassen und war am Nachmittag zurückgekehrt, um die Lehrerin zu fragen, ob er sie behalten dürfe. Als sie es erlaubte, nahm er sie und rannte ins Klo. Er schloss sich in eine Kabine ein, ließ die Hose fallen und wickelte sich die Gemälde vorsichtig um Ober- und Unterschenkel.

Er wusste noch, wie er mit steifen Beinen nach Hause gegangen war. Wieso hinkst du, fragte seine neue Mutter. Ich bin in der Schule hingefallen, erklärte er. Es ist nichts weiter. Geht schon wieder. Er war die Treppe hoch in sein Zimmer gestakst, wo Marty versuchte, auf dem Boden mit einem leeren Schuhkarton zu spielen. Er sah die Freude in den Augen seines Bruders vor sich, als er die Bilder herausholte und sie mit Reißzwecken, die er in der Schule hatte mitgehen lassen, an die sorgsam getünchten Wände heftete. Wenn er daran dachte, wie Martys ganzes Gesicht vor Begeisterung strahlte, musste er selbst grinsen: Ein Boot, hatte sein Bruder gerufen, das bringt uns zu Mammi zurück!

Ist eine lange Seefahrt daraus geworden, dachte Jeffers.

Wir sind immer noch nicht angekommen.

Er überholte mühelos einen großen Laster, dessen ohrenbetäubender Motorenlärm in die Stille des Wagens dröhnte. Er sah, wie Anne Hampton erschrocken zusammenzuckte. Als der Laster hinter ihnen verschwand, schwenkte Jeffers elegant auf die rechte Spur und fuhr weiter. Er zwang sich, an nichts zu denken, als ob er in seinem Kopf zu einer so grässlichen Leere fähig wäre wie diese verfluchten weißen Wände – leer, ohne sich an das zu erinnern, was er gesehen hatte, was er getan hatte und was er zu tun beabsichtigte.

 

Sie rauschten am frühen Nachmittag an den ersten Ausläufern von New Orleans vorbei, als der Himmel sich verdunkelte. Anne Hampton sah, wie sich große, graue Gewitterwolken am Horizont zusammenballten. Ihr entging nicht, dass Jeffers mit zunehmend schlechtem Wetter schneller fuhr; als die ersten großen Regentropfen an die Windschutzscheibe spritzten, murmelte er gereizt einen Fluch und griff nach dem Schalter für die Scheibenwischer.

Sie hatte gelernt, dass er redete, wenn er wollte, und sagte nichts. Wenig später brach er das Schweigen, und ihre Vorsicht erwies sich als gerechtfertigt.

»Verdammt«, fluchte er. »Dieser Scheißregen macht Schwierigkeiten.«

»Wieso?«

»Bei Regen ist es schwerer, markante Stellen wiederzufinden. Ist lange her, dass ich das letzte Mal hier gewesen bin.«

»Könnten Sie mir sagen, wohin wir fahren?«

»Ja.«

Er schwieg.

»Sagen Sie es mir? Aber nur, wenn Sie wollen …«

»Nein«, meinte er, »ich sag’s dir. Wir fahren zu einem Ort namens Terrebonne, einem Dorf an der Küste. Ein Stück hinter einer Kleinstadt namens Ashland. Das letzte Mal war ich, ähm, am achten August vierundsiebzig da. Deshalb kann mich jede Kleinigkeit, der Wetterumschwung oder eine neue Straße – und die scheinen wahrhaftig alle neu zu sein – aus dem Konzept bringen.«

Anne Hampton sah aus den Fenstern auf das sumpfige Marschland, das mit Piniengruppen und wenigen Weiden durchzogen war. Es schien ein Ort prähistorischer Schrecken zu sein, und sie zitterte.

»Es sieht ziemlich wild aus.«

»Ist es auch. Es ist phantastisch, wie auf einem anderen Planeten. Einsam. Verloren. Abgelegen. Es hat mir wirklich gefallen, als ich das erste Mal hier war.«

Für Sekunden glaubte sie, ihr stünde das Herz still. Ihre Kehle schien so eng, als hätte ihr jemand die Hände um den Hals gelegt. Ihr Gaumen fühlte sich staubtrocken an.

Hier will er mich töten, dachte sie.

Sie versuchte den Mund zu öffnen, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Sie wusste, dass sie die plötzlich eingetretene Stille füllen musste, und sie zermarterte sich den Kopf, was sie sagen sollte, obwohl sie in Wahrheit nur schreien wollte. Schließlich brachte sie eine Frage heraus, bereute aber augenblicklich, wie dürftig sie ausfiel.

»Müssen wir dahin?«, fragte sie.

Sie hörte sich an wie ein wimmerndes Kind.

»Wieso nicht?«, fragte er zurück.

»Ich weiß nicht, es kommt mir nur, na ja, sehr abgelegen vor.«

»Deshalb hab ich es ja ausgesucht.«

Sie sah, wie er ihr einen Blick zuwarf.

»Du schreibst das ja gar nicht auf«, sagte er gereizt.

Sie griff nach dem Stift und dem Notizbuch, doch ihr zitterten erneut die Hände, und die Worte auf den Seiten waren verschwommen und unleserlich.

In diesem Moment schlug er zu, blitzschnell, so dass sie kaum sah, wie er die flache Hand vom Lenkrad hob. Sie keuchte und ließ den Stift fallen, griff aber, indem sie den letzten Rest an Geistesgegenwart zusammennahm, nach unten und hob ihn auf. Den Schmerz registrierte sie kaum.

»Ich bin so weit«, versicherte sie hastig.

»Wie lange willst du dich noch so dumm anstellen?«, herrschte er sie an.

»Ich bemühe mich.«

»Bemühe dich mehr.«

»Ich versprech’s. Ich werde mich bemühen.«

»Gut. Es gibt immer noch Hoffnung für dich.«

»Danke. Es ist nur, nur …«

Sie brachte die Worte nicht über die Lippen und fügte sich in die eintretende Stille. Sie lauschte auf das Motorengeräusch und das Quietschen der Scheibenwischer und fragte sich, wie es sich anfühlen würde, wenn es passierte.

»Begriffsstutziger Boswell«, meinte Jeffers, nachdem einige Zeit verstrichen war.

Er überlegte einen Moment, ob er sie beruhigen, ob er ihr verraten sollte, dass er noch Pläne mit ihr hatte, doch dann besann er sich eines Besseren. Lieber gelegentliche Tränen, als dass sie Hoffnung schöpfte.

»Du solltest mehr an die Qualität des Lebens denken als daran, wie lang es ist.«

Sie nickte.

»Schreib das auf«, befahl er. »Aphorismen. Jeffers – und wie er die Welt sah. Des armen Douglas Jeffers’ Almanach. Die Weisheiten des Douglas Jeffers. Das ist deine Aufgabe.«

»Selbstverständlich«, fügte sie sich.

Sie fuhren weiter, und sie fühlte sich vom Regen, von der Dunkelheit und der Angst vollkommen überschwemmt.

»Weißt du, wohin wir fahren, Boswell?«, fragte Jeffers. Dann beantwortete er seine Frage selbst. »Wir werden eine alte Freun din besuchen. Meinst du nicht auch, dass Erinnerungen wie alte Freunde sind? Du kannst sie dir ins Gedächtnis rufen, so wie du eine Telefonnummer wählst. Sie melden sich und trösten dich.«

»Und wenn es nun schlechte Erinnerungen sind?«, erkundigte sich Anne Hampton zaghaft.

»Gute Frage«, antwortete er. »Aber ich glaube, schlechte Erinnerungen sind auf ihre Art genauso hilfreich und gut. Du legst sie auf deine eigene innere Waage, setzt deine eigenen Gewichtungen. Das Gute an schlechten Erinnerungen ist zumindest, na ja, dass sie nur Erinnerungen sind. Du hast sie hinter dir gelassen. Auf zu neuen Ufern … Ich denke, ich taxiere Erinnerungen nicht. Ich sehe sie als Teil eines Gesamtbilds. Als ob ich zum Beispiel eine lange Belichtungszeit nehme, wie bei einem dieser ausgefallenen Fotos auf dem National Geographic, weißt du, wo die Kamera das Aufblühen einer Blume festhält oder das Ausbrüten eines Eis.«

Sie schrieb das auf.

Jeffers lachte kalt.

»Wir fahren dahin, wo der neue Douglas Jeffers etwas ausgebrütet hat.« Er reckte sich auf seinem Sitz vor und spähte in den grauen Himmel. »Einer der dunklen Orte der Erde«, zitierte er. Er sah zu Anne Hampton hinüber. »Weißt du, von wem das ist?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das heißt, jemand hat es geschrieben, aber eine Romanfigur sagt es. Wer?«

Er schnaubte, fast ein wenig amüsiert.

»Du bist Anglistin im Hauptfach, komm schon! Kannst doch nicht auf dir sitzenlassen, dass dich ein angeschlagener alter Reporter mit Zitaten übertrumpft.«

Sie kramte fieberhaft in ihrem Gedächtnis.

»Shakespeare?«

Er lachte. »Zu offensichtlich. Modern.«

»Melville?«

»Nicht schlecht. Schon wärmer.«

»Faulkner? Nein, zu kurz … ähm, Hemingway?«

»Denk ans Meer.«

»Conrad!«

Jeffers lachte, und sie fiel ein.

Nach einer Weile fragte sie: »Wieso gehen wir an einen der dunklen Orte der Erde?«

»Weil«, antwortete Jeffers in sachlichem Ton, »ich dort mein Herz entdeckt habe.«

Sie fuhren schweigend weiter. Anne Hampton sah, dass Jeffers’ Augen funkelten, als er ein Ausfahrtschild zu einer Landstraße entdeckte. »Verflucht«, sagte er. »Das ist die Straße.« Er verließ den Highway, und wenig später erkannte sie, dass sie auf einer schmalen Nebenstraße waren, über die sich große Bäume wölbten und den Himmel verdeckten, sich aber in der Mitte teilten, so dass der Regen herunterschüttete. Sie gingen rasant in eine Kurve, und Anne spürte, dass sie ein wenig ins Schleudern gerieten, so dass die Hinterräder sekundenlang durchdrehten und auf dem regennassen Asphalt quietschten. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass Jeffers die Straße hinunterraste und kaum noch Kontrolle über den Wagen hatte.

»Liebe ist Schmerz«, erklärte Jeffers.

Er wartete einen Moment.

»Als ich klein war, habe ich immer die Männer meiner Mutter gehört. Sie stolperten und stapften herum und machten mehr Lärm, wenn sie versuchten, leise zu sein, als wenn sie sich einfach normal bewegt hätten. Es war spätnachts, und sie dachte wohl, ich schliefe. Ich kniff die Augen fest zu. Es war ein kleines rotes Lämpchen im Raum, so dass ich die Lider einen Spaltbreit öffnen und sie sehen konnte. Ich erinnere mich, wie sie stöhnte und sich beklagte und am Ende vor Schmerz aufschrie. Hab ich nie vergessen … Erscheint ganz einfach, nicht wahr? Je mehr Liebe, desto mehr Verletzung. Klingt wie ein Doowop-Song aus den Fünfzigern, was?« Er schnulzte: »You always love the one you hurt …«

Er warf Anne Hampton einen Blick zu.

Dann sang er weiter: »You always kill the one you love …«

Er wandte sich wieder ab und konzentrierte sich auf die Straße.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte er.

Doch vor Angst konnte sie ihn kaum hören.

Sie drangen immer weiter in das sumpfige Dunkel zwischen den Bäumen vor. Nirgends sah sie Lebenszeichen abgesehen von vereinzelten, unscheinbaren Behausungen, die sich weiß vom immer dichter werdenden Grau des Tages abhoben. Im Verlauf der weiteren Fahrt war wieder mehr Himmel zu se hen, der sich mit noch dunkleren Wolken füllte, und sie wusste, dass sie sich der Küste näherten. Jeffers sagte nichts und kon zentrierte sich, wie sie hoffte, auf die Straße, denn er starrte mit mürrischem Gesicht geradeaus. In der Ferne sah sie gewaltige Blitze, die quer über den Himmel geschleudert wurden, gefolgt vom Donnergrollen, das den Wagen erfüllte. Der Regen war noch stärker geworden; er prasselte auf das Blechdach nieder und überflutete zwischen den Schlägen der Wischer die Scheibe. Sie betete, dass sie nicht aussteigen würden, obwohl sie wusste, dass sie es nicht verhindern konnte. Dann dachte sie, dass es wahrscheinlich keinen Unterschied machte, nass zu werden. Dennoch hatte sie die seltsame Vorstellung, dass sie, wenn es dazu kam, nicht zitternd und durchnässt ein jämmerliches Bild abgeben wollte.

Jeffers bog erneut ab, und sie befanden sich auf einer noch kleineren, noch verlasseneren Straße.

Sie schwieg und versuchte, an zu Hause zu denken, an ihre Mutter, ihren Vater, ihre Freunde, an die Sonne und den Sommer, der in der grauen Flut aus Wind und Regen untergegangen war.

Wieder bog Jeffers ab, und der Weg wurde holprig. Er war ungeteert. Jeffers fluchte. »Wir bleiben stecken, wenn wir da runterfahren. Verflucht, es ist nur noch eine halbe Meile …«

Er fuhr auf eine grasbewachsene Stelle und hielt an.

Sie hasste das plötzliche Verstummen des Motorengeräuschs. Die Stille hüllte sie von allen Seiten ein.

»Douglas Jeffers denkt doch an alles«, sagte er, griff hinter sich und nahm eine kleine Reisetasche vom Rücksitz. Er zog den Reißverschluss auf und schob ihr ein gelbes Regencape hin. Dann zog er eine dunkelgrüne, regenfeste Jacke mit passender Hose heraus. »Das Beste aus dem L.-L.-Bean-Katalog«, erklärte er. »Einen großen Teil des Fotografierens macht die Vorwegnahme künftiger Unannehmlichkeiten aus. Ich hoffe, es passt. Setz die Kapuze auf.«

Er half ihr dabei, das Cape überzuziehen, dann schlüpfte er selbst in den Regenanzug. »Also«, meinte er, »gehen wir.«

Es donnerte, und ein neuer, heftiger Regenguss prasselte auf den Wagen nieder. Jeffers lächelte und stieg aus. Eine Sekunde später öffnete sich Anne Hamptons Tür. Sie war klug genug, um nicht zu zögern.

Von der Wucht des Regens schien ihr für einen Moment die Luft wegzubleiben, und sie stand desorientiert und von Wind und Wetter benommen da. Sie merkte, wie Jeffers mit der gewohnten Kraft ihren Arm nahm, und sie ließ sich von ihm mitzerren. Der Weg war sandig und unbefestigt, und sie rutschte in ihren Laufschuhen, während Jeffers sie schob. Für Sekunden wünschte sie sich, wenigstens an einem trockenen, vertrauten Ort zu sterben. Das hier war besonders unfair. Sie konnte nichts sehen. Sie hatte das Gefühl, dass er einen Moment hinter ihr war und den nächsten neben ihr, um gleich danach vor ihr herzulaufen und sie mitzuziehen. Sie versuchte, in Gedanken Ideen und Schlussfolgerungen zu formulieren. Wieso sollte er mir ein Regencape geben, wenn er mich töten will?, dachte sie. Am meisten Angst machte ihr allerdings die unabweisbare Tatsache, dass es ein Fehler war, irgendetwas von dem, das ihr geschah, eine Logik zuzuschreiben.

Sie schloss die Augen vor den Blitzen und dem Regen und fing an, im Takt ihrer Füße Gebetsfetzen zu murmeln, um in den vergessen geglaubten Rhythmen etwas Trost zu finden. »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name …« Und dann: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …« Jeffers stieß sie ein wenig fester an, und sie keuchte: »Und ob ich schon wandelte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück …«

»Komm schon!«, drängte Jeffers. »Es müsste direkt da vorne sein.«

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden, gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Gegrüßet seist du, Maria, gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Gegrüßet seist du, Maria …«

»Nun komm endlich, verdammt! Schneller!«

»Gegrüßet seist du, Maria, volldergnaden, volldergnaden, volldergnaden, gegrüßet …« Sie kniff im Gehen die Augen zu und versuchte, an irgendetwas anderes als den Regen, den Wind und den Druck von Douglas Jeffers’ Griff an ihrem Arm zu denken. Sie fragte sich, ob er ihr wie bei einer Militärexekution die Augen verbinden und ihr eine Zigarette geben würde. Tränen liefen ihr zusammen mit dem Regen die Wangen hinunter.

Als sie das nächste Mal auftrat, gab der sandige Boden unter ihren Füßen nach, sie rutschte aus und fiel vornüber. Während sie stürzte, entfuhr ihr ein unfreiwilliges »Autsch« – eher ein verärgerter, als schmerzlicher Laut. Dann drehte sie sich wieder zu Jeffers um, der dastand und sich die Hand über die Augen legte, als blendete ihn die Sonne. Er spähte angestrengt in die Umgebung.

»Verdammt!«, fluchte er.

Er trat mit dem Fuß in den Sand.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Er stapfte in einem kleinen Kreis herum und boxte wütend in die Luft. »Verdammt! Verdammt! Verdammt!«

Sie gab keinen Laut von sich.

Schließlich drehte er sich zu ihr um und sah sie an.

Sie glaubte, keine Luft zu bekommen.

Dann lachte er. Sein Lachen wurde lauter und verlor sich in Wind und Donner.

Ein paar Sekunden stand er über ihr und lachte. »Na ja«, meinte er und rieb sich die Augen. »Was für ein Schlamassel. Wir sind an der falschen Stelle, ich sag’s ja, es ist Jahre her … Da unten müsste eine große, ich meine, eine richtig große Weide sein, ist sie aber nicht. Ich muss die falsche Straße erwischt haben.«

Er half ihr auf.

»Zurück zum Wagen«, sagte er.

»Das war’s?«, fragte sie und bereute es augenblicklich.

Jeffers schien es gar nicht zu bemerken. »Das war’s«, bestätigte er. Er warf ihr einen Arm um die Schulter und half ihr, den Weg zum Wagen zurückzulaufen.

Die Enge im Fahrzeug schien ihr tröstlich. Jeffers reichte ihr ein kleines Handtuch, und beide trockneten sich ab, so gut es ging. Jeffers lachte leise weiter, als ob ihn etwas schrecklich amüsierte. Er startete den Motor, und sie fuhren Richtung Highway zurück.

»Hättest nicht gedacht, dass jemand wie ich etwas vermasselt, was?«

»Nein«, erwiderte sie.

»Ich meine«, erklärte er grinsend, »ich halte mir was darauf zugute, dass ich so ziemlich an alles denke. Nichts dem verdammten Zufall überlasse. Womit mal wieder bewiesen wäre, dass selbst die besten Pläne …«

Er lächelte. »Das Komische ist nur, dass dieser Ort mir wirklich wichtig ist. Zumindest die Erinnerung daran.«

Er lächelte und fuhr langsam.

»Na ja, ist wohl einfach zu viele Jahre her. Sind zu viele Straßen.«

»Ich weiß immer noch nicht, wonach wir gesucht haben«, sagte sie.

Er überlegte einen Moment und zuckte dann die Achseln. »Mein erstes Date«, antwortete er. »Meine erste richtige Liebe.«

»Ein Mädchen?«

»Was denn sonst?«

Wieder schwieg er.

»Einen von diesen blöden Feldwegen runter, die alle gleich aussehen«, erzählte er, »da ist so eine schattige Weide, ein Stück ins Gebüsch hinein …«

Sie nickte.

»Und da hab ich sie begraben.«

Die letzten Worte sprach er in einer unerwarteten, klirrenden Kälte, die sich tief in Anne Hamptons Herz eingrub.

Sie merkte einen plötzlichen Anfall von Übelkeit. Sie biss die Zähne zusammen und gestikulierte wild in Jeffers’ Richtung. Er verstand sofort, hielt an, warf die Tür an seiner Seite auf, zog sie über seinen Schoß herüber und hielt ihren Kopf in den Regen, wo sie sich heftig übergab.

 

Während ihrer Fahrt nach New Orleans zurück brach der Abend herein. Sie hatten den restlichen Nachmittag in völligem Schweigen verbracht. Jeffers war in seine Erinnerungen vertieft. Er versuchte, sich den Namen des Mädchens ins Gedächtnis zu rufen. Er wusste nur, dass es etwas Südliches war, Billie Jo oder Bobbi Jo, und er sah ihr silbern glitzerndes Kleid vor sich, das zu kurz und zu eng geschnitten war und wenig Zweifel daran ließ, welchem Erwerbszweig sie nachging. Er gabelte sie auf und verhielt sich nonchalant, großzügig und beherrscht, wohl wissend, was er mit ihr machen würde. Zuerst hatte sie sich beschwert, als er Richtung Stadtrand fuhr, doch dann hatte er ihr einen zusätzlichen Zwanzig-Dollar-Schein in den Ausschnitt geschoben und versprochen, es würde sich für sie lohnen. Sie hatte weitergeplappert und ihn mit ihrem schleppenden, leeren Südstaatengeschwafel in seinen Gedanken gestört. Also hatte er an der erstbesten einsamen Stelle angehalten, sich zu ihr umgedreht und sie, sobald sie sich im Sitz zurückgelehnt hatte, zusammengeschlagen. Dann war er zu der Stelle weitergefahren, die er sich auf der Landkarte ausgesucht hatte, mit dem verballhornten französischen Namen: gute Erde. Allein mit seinen Gedanken, war die weitere Strecke in die Dunkelheit ein Leichtes gewesen. Ihm war es egal, ob sie bei Bewusstsein war oder nicht. Die Tat als solche war es, die ihn faszinierte.

»Sie war eine Hure«, erklärte er.

Anne Hampton nickte verzweifelt.

»Was war so kostbar an ihrem Leben?«, fragte er wütend.

Sie antwortete nicht.

»Du hast all diese antiquierten Vorstellungen von richtig und falsch und von Moral«, schnauzte er.

»Du verstehst das nicht«, fuhr er nach einer Weile fort. »Sie war dazu geboren, so zu sterben. Ich war dazu geboren, sie zu töten. Wir mussten uns nur noch finden.«

Sie drehte sich zu ihm um und wollte etwas erwidern, biss sich aber auf die Zunge.

Er sprach aus, was sie dachte. »Du willst sagen, dass es unrecht ist, jemandem das Leben zu nehmen, richtig?«

Sie nickte.

»Na schön, mag sein. Aber was macht das schon?«

Sie wusste nichts zu erwidern.

»Ich will’s dir sagen: Nichts.«

Wieder sah er sie an.

»Regierungen töten aus politischen Motiven. Ich töte aus Vergnügen. So verschieden ist das nicht.«

»So einfach ist das bestimmt nicht«, entgegnete sie. »Das kann es nicht sein.«

»Nicht? Du meinst, es ist so schwer zu töten? Du meinst wirklich, es ist so verdammt schwer? Na schön«, fuhr er fort, »na schön, verdammt. Na schön.«

Der Regen hatte nachgelassen, im leichten Nieseln schnitten die Scheinwerfer Streifen in die schwarze Nacht. Vor ihnen schimmerte New Orleans, und Jeffers fuhr schneller auf die Lichter zu. Er sagte nichts, bis sie die Stadt erreichten, wo die Hochleistungsdampflampen gegen das Dunkel kämpften. Die Stadt war nicht tröstlicher als das Moor, und Anne Hampton wurde plötzlich bewusst, dass für einen Menschen wie Jeffers zwischen beidem kein Unterschied bestand. Sie warf einen Seitenblick auf den Mann mit der ehernen Miene, dem angespannten Kinn und merkte, wie sich ihr der Magen verkrampfte.

Sie schlängelten sich durch die Straßen der Metropole. Jeffers spähte – offenbar auf der Suche nach etwas – angestrengt aus den Fenstern. Plötzlich trat er auf die Bremse und fuhr an den Bürgersteig heran.

»Du meinst, es ist so verdammt schwer«, knurrte er wütend.

»Ist es aber nicht.«

Er spähte in beide Richtungen der Straße, griff dann in seine Waffentasche und zog den kurzläufigen Revolver heraus. Er hielt ihn ihr unter die Nase. »Schwer? Dann sieh genau hin. Kurble deine Scheibe runter.« Sie gehorchte, und ein Schwall stickiger, feuchter Luft drang ins Wageninnere. Sie zitterte. Sie hatte keine Ahnung, was passieren würde. Jeffers stieg aus und lief zu ihrer Seite herum.

Er steckte den Kopf ins Fenster und befahl: »Sieh genau hin.« Sie nickte.

Er trat beiseite, und sie entdeckte eine Gestalt, die in einem unbeleuchteten Hauseingang an der Wand kauerte. Sie sah, wie Jeffers noch einmal in beide Richtungen der Straße blickte und dann den Bürgersteig überquerte.

Jeffers stieß den Obdachlosen mit dem Fuß an.

»Wach auf, alter Knabe.«

Der Mann hob benommen den angegrauten Kopf.

Jeffers drehte sich wieder zu Anne Hampton um. Sie sah, dass der Mann einen Bart hatte und mit freundlicher Neugier, ohne über die Störung verärgert zu sein, aufblickte. Sie begegnete Jeffers’ hartem Blick. Sie hatte das Gefühl, in einen unerklärlichen Abwind zu geraten und hilflos von einer unsichtbaren Kraft in die Tiefe gerissen zu werden. Sie sah, wie sich Jeffers wieder zu dem Obdachlosen umwandte, der offenbar versuchte, aus der Vergangenheit irgendwelche längst vergessenen Worte hervorzukramen, um etwas zu fragen.

»Gute Nacht, alter Knabe. Tut mir leid, dass es auf diese Weise sein muss«, sagte Jeffers.

Er beugte sich blitzschnell vor und steckte dem Mann in einer einzigen Bewegung den Pistolenlauf in den leicht geöffneten Mund. Jeffers hob die linke Hand, um sich vor dem Rückstoß zu schützen.

Dann drückte er ab.

Es gab einen einzigen, gedämpften Knall, der Mann schien sich kurz aufzubäumen, dann sackte er zusammen, als sei er wieder eingeschlafen.

Anne Hampton öffnete den Mund, um zu schreien, konnte es aber nicht.

Jeffers machte einen Schritt nach hinten, sah noch einmal in beide Richtungen die Straße hinunter und kehrte zügig zum Wagen zurück. Langsam fuhren sie vom Bordstein, bogen um eine Ecke, dann um die nächste und die übernächste und immer so weiter durch die Nacht.

»Kurble deine Scheibe hoch«, forderte Jeffers sie auf.

Ihre Hand zitterte auf dem Griff. Ihr Atem kam in kurzen, krampfartigen Stößen. Statt Worte drangen ihr nur klägliche Wimmerlaute über die Lippen.

»Du siehst also, wie leicht es ist«, sagte Jeffers.

Er sah sie von der Seite an.

»Das ist deine Schuld«, stellte er fest.

Er schwieg.

»Hättest du mich nicht provoziert, hätte ich nicht etwas so Verabscheuenswürdiges tun müssen.«

Er sah sie mit einem kurzen, durchdringenden Blick an.

»Das ist ganz allein deine Schuld. Es ist so, als hättest du selbst die Pistole genommen und abgedrückt, als hättest du selbst diesen Mann ermordet. Dieses Leben ausgelöscht. Siehst du? Jetzt bist du nicht besser als ich. Verstehst du? Verstehst du, Mörderin?«

Anne Hampton nickte in Tränen aufgelöst.

»Wie fühlt man sich so als Killer?«

Sie fand keine Worte, und er bedrängte sie nicht.

Sie fuhren in die tiefe Nacht.