18

Sie ließ Catherine weinen, obgleich sie aus Erfahrung wusste, dass Tränen die Wunde nicht auswaschen würden. Ebenso wie sie wusste, dass sie mit der Situation alleine nicht zurechtgekommen wäre. Es war Roarke, der Elizabeth und Richard ein wenig beruhigte, der den Droiden anwies, das zerbrochene Porzellan zusammenzukehren, der die Hände seiner fassungslosen Freunde tröstend umfasste und, als er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, leise vorschlug, dass man Catherine einen Tee bringe.

Elizabeth ging persönlich in die Küche, schloss nach ihrer Rückkehr sorgfältig die Tür und trug die Tasse zu ihrer Schwägerin hinüber. »Hier, meine Liebe, trink erst mal einen Schluck.«

»Es tut mir Leid.« Catherine legte ihre zitternden Hände um die Tasse und wärmte sie ein wenig daran auf. »Es tut mir Leid. Ich dachte, es hätte aufgehört. Ich habe mir eingeredet, es hätte aufgehört. Anders hätte ich nicht leben können.«

»Es ist gut.« Mit starrer Miene kehrte Elizabeth an die Seite ihres Ehemanns zurück.

»Ms. DeBlass, Sie müssen mir jetzt alles sagen. Kongressabgeordnete DeBlass?« Eve wartete, bis Catherine sie wieder ansah. »Verstehen Sie, dass unser Gespräch aufgezeichnet wird?«

»Er wird Sie aufhalten.«

»Nein, das wird er nicht. Und Sie haben mich angerufen, weil Sie wissen, dass ich ihn aufhalten werde.«

»Er fürchtet sich vor ihnen«, wisperte Catherine mit erstickter Stimme. »Er fürchtet sich vor ihnen. Das habe ich bemerkt. Er fürchtet sich vor Frauen. Deshalb tut er ihnen weh. Ich denke, dass er vielleicht sogar meiner Mutter irgendwas gegeben hat. Etwas, um sie zu brechen. Sie hat es nämlich gewusst.«

»Ihre Mutter hat gewusst, dass Ihr Vater Sie missbraucht hat?«

»Sie hat es gewusst. Sie tat so, als würde sie nichts merken, aber ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie etwas mitbekommen hat. Sie wollte es nicht wissen – für sie sollte alles ruhig und perfekt sein, damit sie weiter als Frau des Senators ihre Partys geben konnte.« Sie hob eine Hand vor ihre Augen. »Wenn er nachts in mein Zimmer kam, konnte ich es ihr am nächsten Morgen ansehen. Aber als ich versuchte, mit ihr zu reden, sie dazu zu bewegen, ihn aufzuhalten, tat sie, als wüsste sie nicht, wovon ich spreche. Sie hat gesagt, ich sollte aufhören, mir Dinge einzubilden. Sollte brav sein und die Familie respektieren.«

Wieder neigte sie den Kopf, wieder umfasste sie mit beiden Händen ihre Tasse, aber immer noch trank sie keinen Schluck. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, sieben oder acht, kam er nachts zu mir herüber und hat mich berührt. Er sagte, das wäre vollkommen in Ordnung, denn er wäre mein Daddy, und ich sollte so tun, als wäre ich Mommy. Er sagte, es wäre ein Spiel. Ein heimliches Spiel. Er sagte, ich müsste auch etwas tun – müsste ihn ebenfalls berühren. Müsste – «

»Schon gut«, besänftigte Eve die heftig bebende Catherine. »Sie brauchen es nicht zu erzählen. Sagen Sie nur die Dinge, die Sie sagen können.«

»Man musste ihm gehorchen. Man musste es einfach. Er war die Autoritätsperson in der Familie. Richard?«

»Ja.« Richard ergriff die Hand seiner Frau und zerdrückte sie beinahe. »Ich weiß.«

»Ich konnte es dir nicht sagen, weil ich mich so schämte und weil ich Angst hatte und weil Mom einfach nicht hinsah. Also dachte ich, ich müsste es tun.« Sie schluckte schwer. »An meinem zwölften Geburtstag veranstalteten wir eine Party. Es wurden jede Menge Freunde eingeladen, es gab eine riesige Torte und die Ponys. Erinnerst du dich an die Ponys, Richard?«

»Ich erinnere mich.« Über seine Wange rannen Tränen. »Ich erinnere mich.«

»In jener Nacht, in der Nacht meines Geburtstags, kam er wieder. Er sagte, jetzt wäre ich alt genug. Er sagte, er hätte ein Geschenk, ein besonderes Geschenk, weil ich jetzt erwachsen würde. Und dann hat er mich vergewaltigt.« Sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Händen und wiegte sich vor und zurück. »Er sagte, es wäre ein Geschenk. O Gott. Und ich habe ihn angefleht aufzuhören, weil es so wehtat. Und weil ich alt genug war, um zu wissen, dass es falsch war. Böse. Es war böse. Aber er hat nicht aufgehört. Und er kam immer wieder. All die Jahre, bis ich endlich fortgehen konnte. Dann ging ich aufs College, möglichst weit weg, wo er mich nicht berühren konnte. Und ich habe mir gesagt, es wäre nie passiert. Es wäre einfach nie passiert.«

»Ich habe versucht, stark zu sein, mir ein eigenes Leben einzurichten. Ich habe geheiratet, weil ich dachte, dann wäre ich sicher. Justin war so freundlich und so sanft. Er hat mir nie wehgetan. Ich habe es ihm nie erzählt. Ich dachte, wenn er es wüsste, würde er mich verachten. Also habe ich mir weiter eingeredet, es wäre nie passiert.«

Sie ließ ihre Hände sinken und sah Eve ins Gesicht. »Manchmal habe ich es wirklich geglaubt. Meistens. Ich konnte mich in meiner Arbeit, in meiner Familie verlieren. Aber dann konnte ich sehen, dass er das Gleiche mit Sharon machte. Ich wollte ihr helfen, aber ich wusste nicht, wie. Also habe ich es verdrängt, genau wie meine Mutter. Er hat sie umgebracht. Und jetzt wird er mich umbringen.«

»Warum glauben Sie, dass er Sharon getötet hat?«

»Sie war nicht schwach wie ich. Sie hat die Sache gegen ihn verwendet, hat sie als Waffe gegen ihn benutzt. Ich habe gehört, wie die beiden miteinander stritten. Weihnachten. Als wir alle bei ihm waren, um so zu tun, als seien wir eine glückliche Familie. Ich sah die beiden in sein Arbeitszimmer gehen und bin ihnen gefolgt. Ich habe die Tür aufgemacht und die beiden durch den Spalt beobachtet. Er war außer sich vor Zorn, weil sie sich öffentlich über alles, wofür er eintrat, lustig machte. Und sie hat völlig ungerührt geantwortet: ›Du Schwein hast mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin‹. Das zu hören, wärmte mir das Herz. Am liebsten hätte ich geklatscht. Sie hat sich gegen ihn behauptet. Sie hat ihm gedroht, ihn auffliegen zu lassen, wenn er sie nicht bezahlt. Sie sagte, sie habe alles aufgeschrieben, jedes schmutzige Detail. Also würde das Spiel von nun an nach ihren Regeln gespielt. Sie haben weitergestritten, haben sich weiter die übelsten Beschimpfungen an die Köpfe geworfen. Und dann…«

Catherine blickte hinüber zu Elizabeth und ihrem Bruder und wandte sich dann wieder ab. »Dann zog sie ihre Bluse aus.« Als Elizabeth vernehmlich stöhnte, begann Catherine abermals zu zittern. »Sie sagte, er könne sie haben wie jeder andere Kunde auch. Aber er müsse mehr bezahlen. Viel mehr. Er starrte sie an. Ich kannte diesen Blick. Glasige Augen und schlaffer, halb offener Mund. Als er ihre Brüste packte, sah sie zu mir herüber. Sah mir mitten ins Gesicht. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, dass ich sie belauschte, und ihr angewiderter, ja vielleicht sogar hasserfüllter Blick hat mir verraten, dass sie wusste, ich würde nicht das Geringste unternehmen, um dem Treiben endlich ein Ende zu machen. Und wirklich schloss ich einfach die Tür, schloss die Tür und rannte. Mir war so furchtbar übel. Oh, Elizabeth.«

»Es war nicht deine Schuld. Bestimmt hat sie versucht, es mir zu sagen. Ich habe es weder gesehen noch gehört. Ich wäre nie darauf gekommen. Ich war ihre Mutter und habe sie trotzdem nicht beschützt.«

»Ich habe versucht, mit ihr zu reden.« Catherine rang die Hände. »Als ich in New York war, um Spendengelder zu sammeln. Sie sagte, ich hätte meinen Weg gewählt und sie ihren. Sagte, ihr Weg sei besser. Sagte, ich spiele mit der Politik und stecke den Kopf in den Sand, während sie mit echter Macht spiele und die Augen offen halte.«

»Als ich hörte, dass sie tot ist, wusste ich, dass er es war. Auf der Beerdigung habe ich ihn beobachtet, und er hat es bemerkt. Er kam zu mir, legte mir den Arm um die Schultern und zog mich, als wollte er mich trösten, eng an seine Brust. Gleichzeitig flüsterte er mir ins Ohr, vorsichtig zu sein und stets daran zu denken, was passiert, wenn man Familiengeheimnisse auszuplaudern drohe. Und dann sagte er, was für ein feiner Junge Franklin wäre. Was für große Pläne er für ihn hätte. Und dass ich besser vorsichtig wäre.« Sie schloss ihre Augen. »Was hätte ich denn tun sollen? Er ist doch mein Kind.«

»Niemand wird Ihrem Sohn auch nur ein Haar krümmen.« Eve ergriff eine von Catherines starren Händen. »Das verspreche ich Ihnen.«

»Ich werde nie wissen, ob ich sie hätte retten können. Dein Kind, Richard.«

»Sie können immer noch tun, was in Ihrer Macht steht, um ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen.« Unbewusst verstärkte Eve den Griff um Catherines Finger. »Es wird sicher nicht leicht für Sie werden, das Ganze noch einmal durchzumachen, Ms. DeBlass, sich der Öffentlichkeit zu stellen und auszusagen, falls es zur Verhandlung kommt.«

»So weit wird er es niemals kommen lassen«, kam die müde Antwort.

»Ich werde ihm keine Wahl lassen.« Vielleicht würde er nicht wegen Mordes vor Gericht gestellt – das vielleicht noch nicht –, aber auf alle Fälle wegen sexuellen Missbrauchs. »Ms. Barrister, ich denke, Ihre Schwägerin sollte sich etwas hinlegen. Könnten Sie ihr vielleicht hinaufhelfen?«

»Ja, natürlich.« Elizabeth eilte durch das Zimmer und half Catherine auf die Beine. »Komm, meine Liebe, leg dich ein bisschen hin.«

»Es tut mir Leid.« Catherine lehnte sich schwer gegen Elizabeth, als diese sie aus dem Raum führte. »Gott möge mir verzeihen. Es tut mir so entsetzlich Leid.«

»Wir haben eine gute Polizeipsychologin, Mr. DeBlass. Ich denke, Ihre Schwester sollte mir ihr sprechen.«

»Ja«, erwiderte er geistesabwesend und starrte auf die inzwischen wieder geschlossene Wohnzimmertür. »Sie wird jemanden brauchen. Jemanden oder etwas, das ihr ein wenig Halt gibt.«

Das werden sie alle, dachte Eve. »Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

»Ich weiß nicht. Er war schon immer ein Tyrann, ein schwieriger Mensch. Aber das hier macht ihn zu einem Monster. Wie soll ich akzeptieren, dass mein eigener Vater ein Ungeheuer ist?«

»Er hat ein Alibi für die Nacht, in der Ihre Tochter getötet worden ist«, erklärte Eve in ruhigem Ton. »Wenn ich nicht mehr gegen ihn in die Hand bekomme, kann ich ihn wegen dieser Tat nicht vor Gericht bringen.«

»Ein Alibi?«

»Es heißt, er habe in der fraglichen Nacht zusammen mit Rockman bis beinahe zwei Uhr morgens in seinem Büro in East Washington an einer Gesetzesvorlage gearbeitet.«

»Rockman würde alles tun, was mein Vater verlangt.«

»Sogar einen Mord vertuschen?«

»Das wäre in diesem Fall nicht weiter schwer gewesen. Weshalb sollte irgendjemand glauben, mein Vater hätte etwas mit der Sache zu tun?« Er erschauderte, als bliese ihm mit einem Mal ein eisiger Wind entgegen. »Rockmans Erklärung sorgt demnach lediglich dafür, dass gar nicht erst irgendein Verdacht gegen ihn aufkommt.«

»Wie würde Ihr Vater von East Washington nach New York und wieder zurückreisen, wenn er nicht wollte, dass irgendjemand etwas davon erfährt?«

»Keine Ahnung. Falls er sein Flugzeug nehmen würde, würde das ihm Logbuch vermerkt.«

»Logbücher kann man manipulieren«, warf Roarke leise ein.

»Ja.« Richard hob den Kopf, als fiele ihm jetzt erst wieder ein, dass auch sein Freund im Raum war. »Mit diesen Dingen kennst du dich natürlich besser aus als ich.«

»Damit bezieht er sich auf meine Tage als Schmuggler«, sagte Roarke zu Eve. »Aber das ist schon ziemlich lange her. Die Manipulation eines Logbuchs ist natürlich möglich, aber sie würde ein paar Zahlungen erforderlich machen. An den Piloten, vielleicht den Mechaniker und ganz sicher den Menschen im Tower.«

»Dann weiß ich zumindest, wo ich ein bisschen Druck ausüben muss.« Wenn Eve beweisen könnte, dass sein Flugzeug in der Nacht gestartet war, hätte sie neben einem möglichen Motiv auch die Möglichkeit der Tatbegehung eruiert. Ganz sicher genug, um den Kerl endlich zu knacken. »Was wissen Sie über die Waffensammlung Ihres Vaters?«

»Mehr als mir lieb ist.« Richard stand unsicher auf, trat an die Bar, schenkte sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug. »Er liebt seine Waffen und gibt ziemlich mit seiner Sammlung an. Als ich noch jünger war, hat er versucht, mein Interesse an den Dingern zu wecken. Roarke kann Ihnen bestätigen, dass er damit keinen sonderlichen Erfolg hatte.«

»Richard betrachtet Waffen als gefährliches Symbol des Machtmissbrauchs. Und ich kann sagen, dass DeBlass tatsächlich hin und wieder Waffen auf dem Schwarzmarkt erstanden hat.«

»Warum hast du das nicht vorher schon erwähnt?«

»Du hast mich nicht danach gefragt.«

Sie ließ das Thema fallen. »Kennt sich Ihr Vater mit den technischen Aspekten von Sicherheitsanlagen aus?«

»Natürlich. Er ist stolz darauf zu wissen, wie er sich am besten schützt. Das ist eins der wenigen Themen, über die wir miteinander reden können, ohne uns in die Haare zu geraten.«

»Würden Sie sagen, er ist ein Experte auf diesem Gebiet?«

»Nein«, antwortete Richard langsam. »Eher ein talentierter Amateur.«

»Seine Beziehung zu Polizeipräsident Simpson. Wie würden Sie die charakterisieren?«

»Eigennützig. Seiner Meinung nach ist Simpson ein Idiot. Mein Vater bedient sich gerne irgendwelcher Narren.« Er sank schwer in seinen Sessel. »Entschuldigung. Ich kann nicht mehr. Ich brauche etwas Zeit. Ich brauche meine Frau.«

»In Ordnung. Mr. DeBlass, ich werde die Überwachung Ihres Vaters beantragen. Sie werden nicht an ihn herankommen, ohne dabei gesehen zu werden. Bitte versuchen Sie es also gar nicht erst.«

»Sie denken, ich könnte versuchen, ihn umzubringen?« Mit einem humorlosen Lachen starrte Richard auf seine schlaffen Hände. »Ich würde es wirklich gerne tun. Für das, was er meiner Tochter, meiner Schwester und dadurch indirekt auch mir angetan hat. Aber ich hätte ganz sicher nicht den Mut.«

Als sie wieder draußen waren, marschierte Eve, ohne Roarke auch nur eines Blickes zu würdigen, schnurstracks in Richtung ihres Wagens. »Du hast also etwas Derartiges vermutet?«, fragte sie erbost.

»Dass DeBlass mit der Sache zu tun hat? Ja.«

»Aber du hast mir nichts davon gesagt.«

»Nein.« Ehe sie die Tür aufreißen konnte, baute er sich vor ihr auf. »Es war nur so ein Gefühl, Eve. Von der Sache mit Catherine hatte ich nicht die geringste Ahnung. Ich hatte den Verdacht, Sharon und DeBlass hätten ein Verhältnis.«

»Das ist ein viel zu sauberes Wort für eine derart schmutzige Angelegenheit.«

»Ich hatte den Verdacht«, ging er achtlos über ihren Einwand hinweg, »weil sie während unseres einzigen gemeinsamen Abendessens ein paar seltsame Bemerkungen über den Senator fallen gelassen hat. Aber es war nur so ein Gefühl, ich wusste nichts Konkretes. Ein bloßes Gefühl hätte dich nicht weitergebracht. Und« – er drehte ihr Gesicht so, dass sie ihn ansehen musste – »nachdem ich dich etwas näher kennen gelernt hatte, habe ich dieses Gefühl für mich behalten, um dich nicht zu verletzen.« Sie wandte sich ruckartig von ihm ab, doch mit sanften Fingern zwang er sie, ihn weiter anzusehen. »Du hattest niemanden, der dir geholfen hätte, stimmt’s?«

»Hier geht es nicht um mich.« Trotzdem atmete sie leise keuchend aus. »Ich kann nicht darüber nachdenken. Ich kann es einfach nicht. Wenn ich es tue, verpfusche ich die Sache. Und wenn das passiert, kommt er vielleicht damit durch. Mit Vergewaltigung und Mord, mit dem Missbrauch der Kinder, die er hätte schützen sollen. Und das lasse ich nicht zu.«

»Hast du nicht zu Catherine gesagt, der einzige Weg, sich zur Wehr zu setzen, wäre der, über die Sache zu reden?«

»Ich habe noch jede Menge Arbeit.«

Er unterdrückte seine Frustration. »Ich nehme an, du willst zum Washingtoner Flughafen, wo DeBlass’ Flieger steht.«

»Ja.« Sie kletterte in den Wagen, während Roarke um die Motorhaube herum in Richtung der Fahrerseite ging. »Du kannst mich am nächsten Flughafen absetzen.«

»So leicht wirst du mich nicht los.«

»Also gut, in Ordnung. Als Erstes muss ich mit meinem Kollegen sprechen.«

Während er den Wagen die gewundene Einfahrt hinunterlenkte, rief sie Ryan Feeney an. »Ich bin auf einer heißen Spur«, erklärte sie, ehe er etwas sagen konnte. »Ich bin auf dem Weg nach East Washington.«

»Du bist auf einer heißen Spur?« Feeneys Stimme überschlug sich beinahe vor Enthusiasmus. »Das kann ich von mir ebenfalls behaupten. Ich brauchte mir nur ihren letzten Eintrag anzusehen, vom Morgen vor ihrer Ermordung. Nur der liebe Gott weiß, weshalb sie das Tagebuch sofort danach wieder auf die Bank getragen hat. Manchmal braucht man einfach Glück. Sie hatte um Punkt Mitternacht einen Termin. Du rätst niemals, mit wem.«

»Mit ihrem Großvater?«

Feeney rang hörbar nach Luft. »Verdammt, Dallas, wie bist du darauf gekommen?«

Eve schloss kurz die Augen. »Sag mir, dass sie es dokumentiert hat. Sag mir, dass sie ihn bei seinem Namen nennt.«

»Sie nennt ihn den Senator – den alten Sesselfurzer von Großvater. Und sie schreibt ausführlich über die fünf Riesen, die sie ihn für jedes Schäferstündchen blechen lässt. Zitat: ›Es ist es beinahe wert, mich von ihm vollsabbern zu lassen – der gute alte Opa hat wirklich noch ein erstaunliches Maß an Energie. Dieses Schwein. Aber alle paar Wochen fünf Riesen sind kein so schlechtes Geschäft. Wobei er etwas für sein Geld bekommt. Es ist anders als damals, als ich noch ein Kind war. Jetzt hat sich das Blatt gewendet. Ich werde ganz sicher nicht als alte vertrocknete Pflaume enden wie die arme Tante Catherine. Ich nutze die Situation einfach zu meinem Vorteil. Und eines Tages, wenn mich die Sache langweilt, schicke ich meine Tagebücher an die Medien. In mehrfacher Ausführung. Es macht den alten Bastard wahnsinnig, wenn ich ihm damit drohe. Vielleicht drehe ich das Messer heute Abend noch ein bisschen in der Wunde. Vielleicht kommt es mir ja in den Sinn, dem ehrenwerten Senator einen gehörigen Schrecken einzujagen? Himmel, es ist wunderbar, die Macht zu besitzen, nach allem, was er mir angetan hat, dafür sorgen zu können, dass er sich windet wie ein Wurm‹.«

Feeney schüttelte den Kopf. »Das Ganze ging über Jahre, Dallas. Ich habe mir mehrere Einträge angesehen. Sie hat ein hübsches Sümmchen durch Erpressung verdient, und hat diverse Namen und Taten genauestens notiert. Aber dieser letzte Eintrag lenkt den Verdacht eindeutig gegen den Senator. Und reicht ganz sicher aus, um ihn bei den Eiern zu packen.«

»Kannst du mir einen Haftbefehl besorgen?«

»Der Commander hat mich bereits angewiesen, dir das Ding zu schicken, sobald du dich bei mir meldest. Er sagt, du sollst ihn dir schnappen. Wegen des dringenden Verdachts des dreifachen Mordes.«

Sie atmete hörbar aus. »Wo finde ich den Bastard?«

»Im Senatsgebäude, wo er seine Gesetzesvorlage zur Stärkung der öffentlichen Moral durchzupeitschen versucht.«

»Perfekt. Bin schon unterwegs.« Sie schaltete ihr Handy aus und wandte sich an Roarke. »Wie viel schneller kann diese Kiste fahren?«

»Das werden wir gleich herausfinden.«

Wenn nicht zusammen mit dem Haftbefehl Whitneys Anweisung sie erreicht hätte, Diskretion walten zu lassen, wäre Eve schnurstracks in den Senat hineinmarschiert und hätte DeBlass vor den Augen seiner politischen Freunde Handschellen angelegt. Doch auch so empfand sie das Geschehen als durchaus befriedigend.

Sie wartete, während er seine leidenschaftliche Rede über den moralischen Verfall des Landes und die schleichende, aus Promiskuität, Empfängniskontrolle und Genforschung erwachsende Korruption beendete. Er schimpfte auf das Fehlen jeglicher Moral, vor allem bei den jungen Leuten, und predigte die wohltuende Wirkung von organisierter Religion zu Hause, in der Schule und am Arbeitsplatz. Er erklärte, die von Gott gegebene Nation wäre gottlos geworden, und das einst verfassungsmäßige Recht der Menschen, Waffen zu tragen, hätten die liberalen Linken unterminiert. Er sprach über Gewaltverbrechen, den innerstädtischen Verfall, geschmuggelte Drogen. Alles, wie er sagte, eine Folge des zunehmenden moralischen Verfalls, des allzu sanften Umgangs mit Verbrechern und des verantwortungslosen Genusses sexueller Freiheit.

Eve wurde bei seinen Worten übel.

»Im Jahr zwanzighundertsechzehn«, sagte sie leise, »am Ende der Innerstädtischen Revolten, vor der Einführung des Waffenverbots, gab es allein im Bezirk Manhattan über zehntausend Tote und Verletzte durch Schusswaffen.«

Roarke legte eine Hand auf ihren Rücken, während sie weiter verfolgte, wie DeBlass sein Gift verspritzte, jedoch Roarke ebenso zuhörte.

»Vor der Legalisierung der Prostitution gab es alle drei Sekunden eine tatsächliche oder eine versuchte Vergewaltigung. Natürlich wird auch jetzt noch vergewaltigt, denn dabei geht es weniger um Sex als vielmehr um Macht, aber die Zahlen sind gesunken. Lizensierte Gesellschafterinnen haben keine Zuhälter, sie werden demnach weniger häufig bedroht, geschlagen, umgebracht. Und sie können keine Drogen nehmen. Es gab eine Zeit, in der Frauen zu Schlachtern gingen, um eine ungewollte Schwangerschaft beenden zu lassen. In der sie gezwungen waren, ihre Leben zu riskieren oder zu ruinieren. Babys wurden blind, taub oder deformiert geboren, bevor die Genforschung In-Vitro-Operationen möglich machte. Unsere Welt mag nicht perfekt sein, aber wenn man ihn hört, wird einem klar, dass sie viel schlimmer sein könnte.«

»Weißt du, was die Medien mit ihm machen werden, wenn die Sache herauskommt?«

»Sie werden ihn kreuzigen«, murmelte Eve gehässig. »Ich hoffe nur, sie machen ihn dadurch nicht zu einem Märtyrer.«

»Die Stimme der Moral, die des Inzests, des Besuchs von Prostituierten und des Mordes verdächtigt, wird ein Märtyrer? Das kann ich mir nicht vorstellen. Er ist fertig.« Roarke nickte zufrieden mit dem Kopf. »Und zwar in mehr als einer Hinsicht.«

Eve hörte den donnernden Applaus von der Galerie. Der Lautstärke nach zu urteilen, hatte DeBlass’ Mannschaft die Zuschauerränge mit eigenen Anhängern besetzt.

Zur Hölle mit der Diskretion, dachte sie, als der Hammer fiel und eine einstündige Beratungspause angeordnet wurde, und schob sich durch das Gedränge von Beratern, Assistenten und Lakaien in Richtung von DeBlass, dem gerade in Anerkennung seiner Rede von seinen Anhängern auf den Rücken geklopft wurde.

Sie wartete, bis er sie entdeckte, bis sein Blick erst auf sie und dann auf Roarke fiel und er die Lippen aufeinander presste. »Lieutenant. Falls Sie unbedingt mit mir sprechen müssen, gehen wir vielleicht kurz in mein Büro. Allein. Ich kann zehn Minuten erübrigen.«

»Oh, von nun an haben Sie jede Menge Zeit. Senator DeBlass, ich nehme Sie fest auf Grund des Verdachts, Sharon DeBlass, Lola Starr und Georgie Castle ermordet zu haben.« Als er wütend schnaubte und die Umstehenden in lautes Raunen ausbrachen, erhob sie ihre Stimme über den allgemeinen Lärm. »Weiter wird der Vorwurf gegen Sie erhoben, sowohl Ihre Tochter Catherine DeBlass als auch Ihre Enkelin Sharon DeBlass wiederholte Male vergewaltigt zu haben.«

Vollkommen erstarrt ließ er sich von ihr die Hände auf den Rücken drehen und Handschellen anlegen. »Sie sind nicht verpflichtet, irgendeine Aussage zu machen.«

»Das ist ja wohl empörend«, unterbrach er plötzlich polternd die standardmäßige Verlesung seiner Rechte. »Ich bin ein Senator der Vereinigten Staaten. Sie befinden sich hier auf staatseigenem Terrain.«

»Und diese beiden Mitglieder der Bundespolizei werden Sie begleiten«, ergänzte sie seine theatralischen Ausführungen. »Sie haben das Recht, sich mit einem Anwalt in Verbindung zu setzen.« Das Blitzen ihrer Augen ließ sämtliche Umstehenden zurückweichen. »Haben Sie verstanden?«

»Das kostet dich deine Dienstmarke, du Hexe.« Er begann zu keuchen, als sie ihn durch das Gedränge schob.

»Ich nehme diese Antwort als ein Ja. Bleiben Sie gelassen, Senator. Wir wollen doch nicht, dass Sie gerade jetzt eine Herzattacke kriegen.« Sie schob sich dichter an sein Ohr. »Diese Sache wird nicht mich meine Dienstmarke kosten, du Schwein, sondern dich den Kopf.« Sie übergab ihn den beiden Bundespolizisten. »Er wird in New York erwartet.«

Ihre Stimme war kaum noch zu hören, denn inzwischen verlangte der Senator brüllend, losgemacht zu werden, und überall im Saal brachen die Menschen in aufgeregtes Flüstern aus.

Durch das Gedränge kämpfte sich plötzlich Rockman auf sie zu. Sein Gesicht war eine Maske kalten Zorns.

»Sie machen einen Fehler, Lieutenant.«

»Nein, mache ich nicht. Aber Sie haben mit Ihrer Aussage einen Fehler gemacht. So, wie ich die Sache sehe, haben Sie sich durch Ihre Falschaussage zumindest der Mithilfe schuldig gemacht. Aber damit werde ich mich genauer befassen, wenn ich wieder in New York bin.«

»Senator DeBlass ist ein wahrhaft großer Mann. Sie hingegen sind doch nichts anderes als eine jämmerliche Schachfigur der Liberalen, die versuchen, ihn mit Ihrer Hilfe zu vernichten.«

»Senator DeBlass ist ein inzestuöser Kinderschänder, ein Vergewaltiger und Mörder. Und ich, mein Freund, bin die Polizistin, die ihm endlich das Handwerk legt. Wenn Sie nicht zusammen mit ihm untergehen wollen, setzen Sie sich am besten sofort mit einem Anwalt in Verbindung.«

Roarke musste sich zwingen, sie nicht einfach in die Arme zu nehmen, als sie durch die geheiligte Senatshalle in Richtung Ausgang fegte, ohne die sie bedrängenden Journalisten auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Mir gefällt dein Stil.« Neben ihr boxte er sich in Richtung ihres Wagens durch. »Und zwar sehr. Außerdem glaube ich nicht länger, dass ich in dich verliebt bin. Inzwischen bin ich mir ganz sicher.«

Sie schluckte die in ihr aufwallende Übelkeit herunter. »Lass uns von hier verschwinden. Lass uns, verdammt noch mal, von hier verschwinden.«

Reine Willenskraft hielt sie auf ihren Beinen, bis sie endlich das Flugzeug erreicht hatten. Mit ausdrucksloser Stimme erstattete sie Whitney kurz Bericht, bevor sie Roarkes helfend ausgestreckte Arme von sich wedelte, in Richtung der Toilette stürzte und sich dort übergab.

Roarke stand hilflos vor der Tür. Wie er sie kannte, würde jeder Trost die Sache nur noch verschlimmern, und so murmelte er ein paar Anweisungen in Richtung der Stewardess, setzte sich auf seinen Platz und starrte aus dem Fenster.

Als sie wieder herauskam, hob er fragend seinen Kopf. Sie war kreidebleich, ihre Augen waren viel zu groß und viel zu dunkel, und sie bewegte sich ungewöhnlich steif.

»Tut mir Leid. Schätze, das Ganze ist mir doch ziemlich nahe gegangen.«

Als sie Platz nahm, reichte er ihr einen Becher. »Trink das. Es wird dir sicher helfen.«

»Was ist das?«

»Tee, mit einem Schuss Whiskey.«

»Ich bin im Dienst«, setzte sie an, aber ein plötzlicher, vehementer Wutausbruch ließ sie verstummen.

»Trink, verdammt, oder ich schütte es dir in die Kehle.« Er betätigte einen kleinen Hebel und wies den Piloten an zu starten.

Da trinken sicher leichter wäre als zu streiten, hob sie den Becher an die Lippen, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nur mit großer Mühe einen Schluck zwischen die klappernden Zähne gießen konnte, ehe sie den Becher wieder abstellte.

Sie konnte einfach nicht aufhören zu zittern. Als Roarke eine Hand nach ihr ausstreckte, zog sie sich vor ihm zurück. Immer noch war ihr übel, und obendrein hatte sie bohrende Kopfschmerzen.

»Mein Vater hat mich vergewaltigt«, hörte sie sich plötzlich sagen. Der Schock darüber, dass ihre eigene Stimme diese Worte herausgebracht hatte, war ihr deutlich anzusehen. »Wiederholte Male. Und er hat mich geschlagen. Auch das öfter als einmal. Egal, ob ich mich zur Wehr setzte oder nicht, hat er mich vergewaltigt und geschlagen. Und es gab nichts, was ich hätte tun können. Es gibt nichts, was man tun kann, wenn die Menschen, die einen eigentlich schützen sollten, die sind, die einen missbrauchen. Benutzen. Verletzen.«

»Eve.« Er griff nach ihrer Hand und hielt sie, als sie sie ihm entziehen wollte, unnachgiebig fest. »Es tut mir Leid. Es tut mir furchtbar Leid.«

»Ich war ungefähr acht, als sie mich in irgendeiner Gasse in Dallas fanden. Ich blutete, und einer meiner Arme war gebrochen. Er muss mich einfach dort zurückgelassen haben. Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich auch weggelaufen. Ich erinnere mich nicht. Aber er hat nie nach mir gesucht. Niemand hat jemals nach mir gesucht.«

»Und deine Mutter?«

»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Vielleicht war sie tot. Vielleicht war sie wie Catherines Mutter und tat, als würde sie nichts merken. Ich sehe immer nur einzelne Bilder, durchlebe nur die schlimmsten Situationen ständig wieder in irgendwelchen Albträumen. Ich kenne noch nicht mal meinen richtigen Namen. Sie konnten mich nicht identifizieren.«

»Aber zumindest warst du sicher.«

»Du hast dieses System niemals durchlaufen. Dort gibt es kein Gefühl von Sicherheit. Nur Ohnmacht. Voller guter Absichten ziehen Sie dich dort aus bis auf die Haut.« Seufzend legte sie ihren Kopf gegen die Lehne und machte die Augen zu. »Ich wollte DeBlass nicht verhaften, Roarke. Ich wollte ihn umbringen. Auf Grund meiner eigenen Vergangenheit wollte ich ihn mit meinen eigenen Händen umbringen. Ich habe das Ganze zu einer persönlichen Sache werden lassen.«

»Du hast deinen Job gemacht.«

»Ja. Ich habe meinen Job gemacht. Und ich werde auch weiter meinen Job machen.« Aber jetzt dachte sie nicht an ihren Job. Sie dachte an ihr Leben. Ihr Leben und das Leben Roarkes. »Roarke, du musst wissen, dass ich ein paar schlechte Dinge in mir habe. Es ist wie ein Virus, das in einem herumschleicht und immer, wenn das Immunsystem geschwächt ist, zuschlägt. Es ist also sicher nicht besonders klug, auf mich zu setzen.«

»Ich habe eine Vorliebe für langfristige Wetten.« Er hob ihre Hand an seinen Mund. »Warum warten wir es also nicht ganz einfach ab? Warum versuchen wir nicht einfach herauszufinden, ob wir nicht vielleicht beide bei dieser Wette etwas gewinnen können?«

»Ich habe nie zuvor einem Menschen etwas davon erzählt.«

»Hat es dir geholfen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Himmel, ich bin so furchtbar müde.«

»Du könntest dich ja ein wenig an mich anlehnen.« Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog ihren Kopf an seine Brust.

»Nur einen Moment«, murmelte sie. »Bis wir in New York sind.«

»Nur einen Moment.« Er presste seine Lippen auf ihre kurzen, wirren Haare und hoffte, sie fände etwas Schlaf.