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Pressekonferenzen hinterließen in Eves Mund von jeher einen ekligen Geschmack. Sie stand auf den Stufen der Stadthalle neben Simpson, der, eine Krawatte in den Landesfarben um den Hals und einen goldenen I-Love-New-York-Sticker am Revers, ganz der angesehene Bürger dieser wunderbaren Stadt, mit volltönender Stimme seine Erklärung verlas.

Eine Erklärung, in der es, wie Eve angewidert dachte, von Lügen, Halbwahrheiten und Beschönigungen nur so wimmelte. Simpson behauptete, er fände keine Ruhe, ehe nicht der Mörder der jungen Lola Starr gefasst und der Gerechtigkeit überführt wäre.

Auf die Frage nach irgendeiner Verbindung zwischen dem Mord an Starr und dem mysteriösen Tod der Enkelin von Senator DeBlass kam eine kategorische Verneinung.

Dies, dachte Eve düster, war nicht sein erster Fehler, und ganz sicher wäre es auch nicht sein letzter.

Die Worte waren kaum aus seinem Mund gekommen, als das Live-Ass von Kanal 75, Nadine Fürst, sie auch schon in Frage stellte.

»Polizeipräsident Simpson, ich verfüge über Informationen, denen zufolge der Mord an Starr durchaus in Zusammenhang mit dem Fall DeBlass steht – und zwar nicht nur, weil beide Frauen denselben Beruf hatten.«

»Bitte, Nadine.« Simpson bedachte die Frau mit seinem onkelhaften Lächeln. »Wir alle wissen, dass Sie und Ihre Kollegen häufig Informationen zugespielt bekommen und dass diese beinahe ebenso häufig falsch sind. Das ist der Grund, weshalb ich in meinem ersten Jahr als Polizeipräsident das Datenverifikationszentrum gegründet habe. Falls Sie also nicht sicher wissen, ob etwas, was man Ihnen mitteilt, stimmt, brauchen Sie nur dort anzufragen, um es zu überprüfen.«

Eve schaffte es, ein lautes Schnauben zu unterdrücken, aber Nadine mit ihren wachen Augen und ihrem schnellen Hirn übte sich nicht in einer derartigen Zurückhaltung. »Meinem Informanten zufolge war der Tod von Sharon DeBlass nicht – wie vom DVZ behauptet – ein Unfall, sondern ebenfalls ein Mord. Weiter sagt er, DeBlass und Starr wären von demselben Mann auf dieselbe Weise umgebracht worden.«

Was einen solchen Aufruhr unter den zahlreichen Nachrichtenteams verursachte, dass Simpson angesichts der auf ihn einprasselnden Fragen und Zwischenrufe unter seinem mit seinem Monogramm bestickten Seidenhemd der Schweiß ausbrach.

»Die ermittelnden Beamten bleiben dabei, dass es keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden unglücklichen Todesfällen gibt«, rief er mit lauter Stimme, aber Eve sah die gleichzeitige Panik in seinem zuvor eher herablassenden Blick. »Und mein Büro steht hinter diesen Leuten.«

Er wandte sich an Eve, und in dieser Sekunde erfuhr sie, was es hieß, gepackt und den Wölfen zum Fraß vorgeworfen zu werden.

»Lieutenant Dallas, eine erfahrene Beamtin, die seit über zehn Jahren bei der Polizei ist, leitet die Ermittlungen im Mordfall Lola Starr. Sie wird Ihnen weitere Fragen sicher gern beantworten.«

Eve blieb nichts anderes übrig, als einen Schritt nach vorn zu machen, während sich Simpson vornüber beugte, damit sein wieselflinker Berater ihm eine Salve guter Ratschläge ins Ohr feuern konnte.

Fragen regneten auf sie herab, und sie wartete, bis eine kam, mit der sie zurechtkäme. »Wie wurde Lola Starr ermordet?«

»Um meine Ermittlungen nicht zu gefährden, darf ich die Vorgehensweise des Täters nicht preisgeben.« Sie ertrug eine Reihe zorniger Schreie und verfluchte ihren Chef. »Ich kann nur so viel sagen, dass Lola Starr, eine achtzehnjährige lizensierte Gesellschafterin, mit Vorsatz und großer Brutalität ermordet worden ist. Den bisherigen Indizien zufolge scheint einer ihrer Kunden der Täter zu sein.«

Was die Meute einen Augenblick lang ruhig stellte.

Einige der Journalisten gaben die Erklärung gleich an ihre Redaktionen weiter, einer von ihnen rief jedoch: »War es ein Sexualverbrechen?«, worauf Eve eine Braue hochzog.

»Ich habe soeben erklärt, dass das Opfer eine Prostituierte war und dass sie anscheinend von einem Kunden getötet worden ist. Also können Sie sich die Antwort auf Ihre Frage doch sicher zusammenreimen.«

»Wurde Sharon DeBlass ebenfalls von einem Kunden umgebracht?«, wollte Nadine wissen.

Eve begegnete möglichst gelassen dem Blick aus ihren gerissenen Katzenaugen. »Es gibt keine offizielle Erklärung seitens der Polizei, dass Sharon DeBlass ermordet worden ist.«

»Mein Informant nennt Sie als Ermittlungsleiterin in beiden Fällen. Werden Sie das bestätigen?«

Dies war unsicheres Terrain. Trotzdem wagte Eve den Schritt nach vorn.

»Ja. Ich leite momentan mehrere Ermittlungen.«

»Weshalb sollte eine Polizistin mit zehn Jahren Erfahrung auf einen Unfall angesetzt werden?«

Eve bedachte sie mit einem Lächeln. »Brauchen Sie vielleicht eine Definition des Wortes Bürokratie?«

Bei dieser Antwort lachten einige der Journalisten leise auf, Nadine jedoch ließ sich nicht so leicht von ihrer Fährte abbringen.

»Dann ist der Fall DeBlass demnach noch nicht zu den Akten gelegt?«

Mit jeder der möglichen Antworten stäche sie in ein Hornissennest. Also entschied sie sich für die Wahrheit. »Nein. Und er wird so lange weiterverfolgt werden, bis ich als Leiterin der Ermittlungen mit den Ergebnissen der Untersuchungen zufrieden bin. Allerdings«, übertönte sie die aufgeregten Zwischenrufe, »wird dem Tod von Sharon DeBlass nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet als allen anderen Fällen. Einschließlich des Falles Lola Starr. Alle Fälle, die auf meinem Schreibtisch landen, werden gleich behandelt, ungeachtet des familiären oder sozialen Hintergrunds der Opfer. Lola Starr war eine junge Frau aus einer einfachen Familie. Sie hatte keinen besonderen sozialen Status, keine einflussreichen Verwandten, keine wichtigen Freunde. Nun, ein paar Monate nach ihrem Umzug nach New York, ist sie tot. Ermordet. Sie hat es verdient, dass ich alle Möglichkeiten ausschöpfe, um ihren Mörder ausfindig zu machen, und genau das werde ich auch tun.«

Eve überflog die Menge und wandte sich dann direkt an Nadine. »Sie wollen eine Story, Ms. Fürst. Ich will einen Mörder. Ich bin der Ansicht, dass das, was ich will, wichtiger ist, und deshalb habe ich nichts weiter zu sagen.«

Sie drehte sich um, bedachte Simpson mit einem zornschwelenden Blick und ging davon. Während sie in Richtung ihres Wagens stapfte, konnte sie hören, wie er verzweifelt versuchte, weitere Fragen abzuwehren.

»Dallas.« Nadine kam ihr auf eleganten und gleichzeitig bequemen, flachen Schuhen hinterhergerannt.

»Ich habe dem, was ich gesagt habe, nichts mehr hinzuzufügen. Wenden Sie sich also mit weiteren Fragen an Simpson.«

»He, wenn ich mir lauter Unsinn anhören wollte, könnte ich auch einfach das DVZ anrufen. Das war eine ganz schön leidenschaftliche Rede. Klang nicht so, als hätte einer von Simpsons Schreiberlingen sie verfasst.«

»Ich spreche lieber für mich selbst.« Eve erreichte ihren Wagen und begann, die Fahrertür zu öffnen, als Nadine sie an der Schulter berührte.

»Sie sind ziemlich direkt. Ich auch. Hören Sie zu, Dallas, wir gehen die Dinge vielleicht verschieden an, aber wir haben durchaus ähnliche Ziele.« Als sie erkannte, dass sie endlich Eves Aufmerksamkeit besaß, verzog sie den Mund zu einem Lächeln. Dadurch bekam ihr Gesicht die Form von einem hübschen Dreieck, das von ihren schräg stehenden grünen Augen beherrscht wurde. »Ich werde also nicht extra das öffentliche Recht auf Informationen anführen, um etwas herauszubekommen.«

»Damit würden Sie sowieso nur Ihre Zeit vergeuden.«

»Was ich sage, ist, dass wir zwei Frauen haben, die innerhalb von einer Woche ums Leben gekommen sind. Mein Informant und mein Instinkt sagen mir, dass sie beide ermordet worden sind. Ich denke nicht, dass Sie mir das bestätigen?«

»Da denken Sie richtig.«

»Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Sie lassen mich wissen, ob ich auf der richtigen Fährte bin, und dafür halte ich alles zurück, was Ihre Ermittlungen gefährden könnte. Wenn Sie etwas Solides haben und im Begriff stehen zuzuschlagen, dann rufen Sie mich an. Ich bekomme also die Exklusivrechte an der Verhaftung – und zwar live.«

Beinahe amüsiert lehnte sich Eve gegen ihr Auto. »Und was wollen Sie mir dafür geben, Nadine? Vielleicht einen warmen Händedruck und ein freundliches Lächeln?«

»Im Gegenzug werde ich Ihnen alles geben, was mir von meinem Informanten zugespielt wurde. Alles.«

Eves Interesse war geweckt. »Einschließlich des Informanten selbst?«

»Das könnte ich selbst dann nicht, wenn man mich dazu zwingen würde. Die Sache ist die, ich kenne meinen Informanten selbst nicht. Was ich hingegen habe, Dallas, ist eine Diskette, die mir ins Studio geschickt wurde. Auf der Diskette befinden sich Kopien von Polizeiberichten einschließlich der Autopsieberichte beider Opfer sowie zwei hässliche kurze Videos von zwei toten Frauen.«

»Unsinn. Wenn Sie auch nur die Hälfte dieser Dinge hätten, wären Sie damit längst auf Sendung gegangen.«

»Ich habe es in Erwägung gezogen«, gab Nadine unumwunden zu. »Aber hier geht es um mehr als bloße Einschaltquoten. Um viel mehr. Ich will eine Story, Dallas, eine, die mir den Pulitzer, den International News Award und ein paar andere große Preise einbringt.«

Ihre Augen wurden dunkler, und ihr Lächeln schwand. »Außerdem habe ich gesehen, was jemand diesen Frauen angetan hat. Vielleicht ist mir meine Story wichtig, aber sie ist einfach nicht alles. Ich habe Simpson und auch Sie unter Beschuss genommen. Es hat mir gefallen, wie Sie zurückgeschossen haben. Entweder treffen wir beiden ein Abkommen oder ich ziehe die Sache allein durch. Sie haben die Wahl.«

Eve wartete einen Moment. Eine Reihe von Taxis und ein Maxibus mit summendem Elektromotor schoben sich an ihnen vorbei. »Wir treffen eine Abmachung.« Ehe Fursts Augen triumphierend blitzen konnten, sah Eve ihr reglos ins Gesicht. »Aber wenn Sie mir in dieser Sache auch nur ansatzweise in die Quere kommen sollten, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie beruflich nie wieder ein Bein auf den Boden bekommen werden.«

»Das klingt durchaus fair.«

»Ich bin in zwanzig Minuten im Blue Squirrel.«

Die nachmittäglichen Besucher des Clubs waren zu trübsinnig, um viel mehr zu tun, als über ihren Drinks zu hocken. Eve fand einen Tisch in einer Ecke und bestellte sich eine Pepsi Classic und vegetarische Spagetti. Nadine zwängte sich ihr gegenüber auf die Bank und wählte den Hähnchenteller mit den fettfreien Pommes frites. Ein Zeichen, wie Eve düster dachte, für die unterschiedlichen Gehälter einer Polizistin und einer Reporterin.

»Was haben Sie?«, fragte sie die Journalistin.

»Ein Bild wiegt mehr als hunderttausend Worte.« Nadine zog einen kleinen Handcomputer aus der Tasche – einer roten Ledertasche, wie Eve neidvoll feststellte. Leider konnte sie selbst ihrer Schwäche für Leder und leuchtende Farben nur selten frönen.

Nadine gab die Diskette in das Laufwerk und schob Eve das Gerät über den Tisch. Es hatte keinen Sinn zu fluchen, beschloss Eve, als sie ihre eigenen Berichte auf dem kleinen Bildschirm sah. Grüblerisch überflog sie höchst geheime Akten, offizielle Arztberichte sowie die Ergebnisse der pathologischen Untersuchungen. Als die Videos begannen, stellte sie den Kasten aus. Es bestand keine Notwendigkeit, sich während einer Mahlzeit derart eingehend mit dem Tod zu befassen.

»Sind die Sachen authentisch?«, fragte Nadine, als Eve ihr das Gerät zurückgab.

»Ja.«

»Dann handelt es sich also um irgendeinen Waffennarren, der obendrein Sicherheitsexperte ist und gerne Prostituierte besucht.«

»Die bisherigen Indizien deuten darauf hin.«

»Wie weit haben Sie den möglichen Täterkreis einengen können?«

»Offensichtlich noch nicht weit genug.«

Nadine wartete, bis ihr Essen auf dem Tisch stand. »Sicher übt DeBlass ziemlichen politischen Druck auf Sie aus.«

»Ich interessiere mich nicht für Politik.«

»Aber Ihr Polizeipräsident tut es umso mehr.« Nadine kaute auf einem Stück ihres Hühnchens. »Himmel, das schmeckt ja furchtbar.« Statt sich weiter aufzuregen, hielt sie sich einfach an die Pommes frites. »Es ist kein Geheimnis, dass sich DeBlass im Sommer von seiner Partei als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen nominieren lassen will. Und dass dieses Arschloch Simpson auf den Gouverneursposten abzielt. Vor diesem Hintergrund wirkt die Vorstellung von heute Mittag wie der gezielte Versuch, etwas zu vertuschen.«

»Offiziell gibt es bisher keine Verbindung zwischen den beiden Fällen. Aber das, was ich vorhin über den Grundsatz der Gleichbehandlung gesagt habe, habe ich tatsächlich so gemeint. Es ist mir vollkommen egal, wer Sharons Opa ist. Ich werde den Kerl finden, der sie auf dem Gewissen hat.«

»Und wenn Sie ihn gefunden haben, wird er dann wegen beider Morde vor Gericht gestellt oder nur wegen des Mordes an Starr?«

»Das liegt ganz beim Staatsanwalt. Mir persönlich ist das total wurscht, solange der Typ nur lange genug im Knast landet.«

»Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.« Nadine fuhr mit einer der Fritten durch die Luft und steckte sie sich dann nahezu genüsslich in den Mund. »Ich will alles. Wenn Sie ihn erwischen und ich die Geschichte an die Öffentlichkeit bringe, hat der Staatsanwalt keine Wahl mehr. Und DeBlass wird monatelang mit nichts anderem als möglicher Schadensbegrenzung beschäftigt sein.«

»Wer von uns beiden mischt sich denn nun in die Politik?«

Nadine zuckte mit den Schultern. »He, ich bringe die Story nur heraus, ich mache sie nicht. Und in dieser Story ist einfach alles enthalten. Sex, Gewalt, Geld. Und die Tatsache, dass ein Name wie Roarke damit zu tun hat, wird die Einschaltquoten bis in den Himmel schießen lassen.«

Mühsam schluckte Eve ihre Spagetti. »Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Roarke etwas mit den Verbrechen zu tun hat.«

»Er kannte DeBlass – er ist ein Freund der Familie. Himmel, ihm gehört das Gebäude, in dem Sharon umgebracht wurde. Er hat eine der umfassendsten Waffensammlungen der Welt, und Gerüchte besagen, er wäre ein hervorragender Schütze.«

Eve griff nach ihrer Pepsi. »Keine der beiden Mordwaffen kann bis zu ihm zurückverfolgt werden. Und es gibt keine Verbindung zwischen ihm und Lola Starr.«

»Vielleicht nicht. Aber selbst als Nebendarsteller garantiert Roarke uns viele Zuschauer. Und es ist kein Staatsgeheimnis, dass er und der Senator schon einige Male aneinander geraten sind. Der Mann hat Eis in seinen Adern.« Sie zuckte nochmals mit den Schultern. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihm große Probleme bereiten würde, ein paar kaltblütige Morde zu begehen.«

»Aber…«, sie machte eine Pause und griff ebenfalls nach ihrem Glas, »davon abgesehen ist ihm seine Privatsphäre derart heilig, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, dass er mit den Morden angeben würde, indem er Disketten an Reporter schickt. Wenn jemand so etwas tut, dann will er zwar ungeschoren davonkommen, gleichzeitig aber verlangt es ihn offensichtlich über alle Maßen nach Publicity.«

»Eine interessante Theorie.« Eve hatte genug. Allmählich braute sich hinter ihren Augen eine Migräne zusammen, und die Spagetti lagen ihr bleischwer im Magen, sodass sie sich erhob und sich über den Tisch in Richtung von Nadine beugte. »Ich habe ebenfalls eine bestimmte Theorie. Wollen Sie wissen, wer Ihr Informant ist?«

Nadines Augen begannen zu glitzern. »Natürlich will ich das.«

»Ihr Informant ist der Killer.« Eve machte eine Pause und beobachtete, wie das Glitzern in den Augen der Reporterin erlosch. »Ich an Ihrer Stelle wäre also lieber etwas vorsichtig.«

Dann schlenderte Eve gemächlich davon und ging hinter die Bühne. Sie hoffte, Mavis in der winzigen Kammer anzutreffen, in der sie sich für gewöhnlich umzog. Momentan brauchte sie einfach eine Freundin.

Sie fand sie tatsächlich, zusammengekauert unter einer Decke, ein riesiges, wenig ansehnliches Taschentuch vor ihrer Nase.

»Ich habe einen verdammten Schnupfen.« Mavis’ Augen waren verquollen, und ehe sie weitersprechen konnte, musste sie sich hörbar schnauzen. »Ich muss verrückt gewesen sein, mitten im Februar zwölf Stunden lang mit nichts als Farbe am Körper durch die Gegend zu laufen.«

Um sich nicht anzustecken, hielt Eve einen gewissen Abstand. »Nimmst du irgendwelche Medikamente?«

»Ich nehme alles Mögliche.« Sie winkte in Richtung des Schminktischs, auf dem es vor nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten nur so wimmelte. »Das Ganze ist eindeutig eine Verschwörung der Pharmaindustrie. Inzwischen haben wir es geschafft, beinahe jede bekannte Seuche, Krankheit und Infektion auszurotten. Oh, natürlich kommt immer mal wieder etwas Neues, damit die Forscher auch weiterhin etwas zu tun haben. Aber keiner dieser Typen und keiner dieser hochgerüsteten medizinischen Computer findet etwas gegen Schnupfen. Und weißt du auch, warum?«

Eve konnte ihr Lächeln nicht länger unterdrücken. Trotzdem wartete sie geduldig, bis Mavis eine erneute Niesattacke überwunden hatte, bevor sie fragte: »Nein, warum?«

»Weil die Pharmaunternehmen auch weiterhin Medikamente verkaufen müssen. Weißt du, was diese verdammten Schnupfenmittel kosten? Krebsvorsorgespritzen sind deutlich billiger. Das kannst du mir glauben.«

»Du könntest doch einfach zum Arzt gehen und dir ein Rezept für etwas geben lassen, was die Symptome unterdrückt.«

»Habe ich schon längst gemacht. Aber das verdammte Zeug wirkt gerade mal acht Stunden, und ich habe heute Abend einen Auftritt. Also muss ich bis sieben warten, bevor ich das Zeug nehmen kann.«

»Du solltest zu Hause im Bett liegen.«

»Dort sind gerade die Kammerjäger. Irgendein Schlaumeier hat behauptet, er hätte in unserem Haus eine Kakerlake gesehen.« Sie nieste erneut und blinzelte Eve wie eine Eule unter ihren ungeschminkten Lidern hervor an. »Was machst du überhaupt hier?«

»Ich hatte hier zu tun. Hör zu, du solltest dich wirklich etwas ausruhen. Am besten komme ich später noch mal wieder.«

»Nein, warte. Alleine ist es so furchtbar langweilig.« Sie griff nach einer Flasche mit einer widerlich aussehenden pinkfarbenen Flüssigkeit und setzte sie an ihre Lippen. »He, hübsches Hemd. Hast du vielleicht eine Gehaltserhöhung bekommen oder so?«

»Oder so.«

»Jetzt setz dich endlich hin. Ich wollte dich schon anrufen, aber ich hatte zu viel damit zu tun, mir die Lunge aus dem Hals zu husten. Das war Roarke, der unserem eleganten Club gestern Abend so unverhofft die Ehre gegeben hat, nicht wahr?«

»Ja, das war Roarke.«

»Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als er plötzlich an deinen Tisch kam. Was hat er von dir gewollt? Hilfst du ihm vielleicht bei der Verbesserung der Sicherheitsanlagen in seinem Haus?«

»Ich habe mit ihm geschlafen«, platzte es aus Eve heraus, und Mavis reagierte mit einem regelrechten Erstickungsanfall.

»Du – Roarke.« Tränen schossen ihr in die Augen, und eilig griff sie nach einem neuen Taschentuch. »Himmel, Eve. Himmel, du schläfst doch nie mit jemandem. Und jetzt willst du mir erzählen, du hättest ausgerechnet Roarke diese Ehre zuteil werden lassen?«

»Das ist nicht ganz präzise. Geschlafen haben wir im Grunde nicht.«

Mavis entfuhr ein Stöhnen. »Geschlafen habt ihr im Grunde nicht. Und wie lange habt ihr nicht geschlafen?«

Eve zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich bin über Nacht bei ihm geblieben. Ich würde sagen, acht, neun Stunden.«

»Stunden.« Mavis durchlief ein leichter Schauder. »Und es gab keine Pausen?«

»Wenn, dann nur kurz.«

»Ist er gut? Dämliche Frage«, schalt sie sich sofort selbst. »Andernfalls wärst du nicht die ganze Nacht geblieben. Wow, Eve, was ist bloß in dich gefahren? Ich meine, außer seinem anscheinend unglaublich energischen Schniedel?«

»Keine Ahnung. Es war dumm.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich hätte nicht gedacht, dass es – dass ich – so sein könnte. Bisher war es mir nie wichtig, und jetzt plötzlich – Scheiße.«

»Schätzchen.« Mavis schob eine Hand unter der Decke hervor und umfasste Eves erstarrte Finger. »Wegen irgendwelcher Dinge, an die du dich kaum erinnerst, hast du dein Leben lang sämtliche normalen Bedürfnisse verdrängt. Jetzt hat endlich jemand eine Möglichkeit gefunden, zu dir durchzudringen. Darüber solltest du froh sein.«

»Es gibt ihm die Oberhand, nicht wahr?«

»Was für ein Unsinn«, unterbrach Mavis, ehe Eve fortfahren konnte. »Sex muss nicht unbedingt etwas mit Macht zu tun haben. Und ganz sicher muss es keine Strafe sein. Eigentlich soll es Spaß machen. Und wenn man Glück hat, ist es hin und wieder sogar etwas ganz Besonderes.«

»Vielleicht.« Eve schloss müde ihre Augen. »O Gott, Mavis, durch diese Sache habe ich meine gesamte Karriere aufs Spiel gesetzt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Roarke hat etwas mit einem Fall zu tun, den ich bearbeite.«

»Verdammt.« Mavis musste sich unterbrechen, um sich wieder zu schnauzen. »Aber du musst ihn doch wohl hoffentlich nicht wegen irgendetwas hochnehmen?«

»Nein.« Und dann noch einmal, energischer. »Nein. Aber wenn ich den Fall nicht möglichst schnell und möglichst gründlich aufkläre, werde ich garantiert davon abgezogen. Dann wäre ich erledigt. Jemand benutzt mich, Mavis.« Ihr Blick wurde schärfer. »Irgendjemand macht mir den Weg in eine Richtung frei und wirft mir in der anderen Richtung lauter Steine vor die Füße. Ich weiß einfach nicht, warum, und wenn ich es nicht bald herausfinde, wird mich das alles kosten, was ich habe.«

»Dann wirst du es eben herausfinden müssen, meinst du nicht?«

Erneut drückte Mavis Eve mitfühlend die Finger.

Sie würde es herausfinden, versprach sich Eve, als sie nach zehn Uhr abends endlich die Eingangshalle ihres Wohnhauses betrat. Selbst wenn sie momentan nicht darüber nachdenken wollte, war das noch lange kein Verbrechen. Schließlich hatte sie gerade erst einen Rüffel vom Büro des Polizeipräsidenten bekommen, weil sie sich während der Pressekonferenz nicht mit dem Verlesen der offiziellen Erklärung begnügt hatte.

Auch die inoffizielle Unterstützung durch ihren Commander hatte ihren Zorn darüber nicht gänzlich zu mildern vermocht.

Sobald sie in ihrer Wohnung war, sah sie nach ihren E-Mails. Sie wusste, es war geradezu idiotisch, zu hoffen, sie fände vielleicht eine Nachricht von Roarke.

Natürlich hatte er sich nicht gemeldet. Doch sie merkte, dass sie stattdessen eine Gänsehaut bekam.

Die Videonachricht hatte als Absender irgendein öffentlich zugängliches Gerät. Das kleine Mädchen. Sein toter Vater. All das leuchtend rote Blut.

Eve erkannte anhand des Blickwinkels der Kamera, dass es sich um die offiziellen Aufnahmen der Polizei handelte, die der Dokumentation des Mordes und des von ihr rechtmäßig angewandten gezielten Todesschusses dienten.

Dann kamen die Geräusche. Ihre eigene Aufnahme von den Schreien des Kindes, von ihrem wilden Klopfen an der Tür der Wohnung, von der ausgesprochenen Warnung und von all dem darauf folgenden Grauen.

»Du Bastard«, wisperte sie mit erstickter Stimme. »Aber damit wirst du mich nicht kriegen. Du wirst nicht dieses Baby dazu missbrauchen, um mich fertig zu machen.«

Doch ihre Finger zitterten, als sie sich aus dem Film ausklinkte, und als plötzlich jemand bei ihr klopfte, fuhr sie erschreckt zusammen.

»Wer ist da?«

»Hennessy aus Apartment 2-D.« Auf dem Bildschirm neben der Wohnungstür erschien das bleiche, ernste Gesicht des unter ihr wohnenden Nachbarn. »Tut mir Leid, Lieutenant Dallas. Ich wusste einfach nicht genau, was ich tun sollte. Hier unten in der Wohnung der Finesteins gibt es ein Problem.«

Seufzend dachte Eve an das ältere Ehepaar. Ruhig, freundlich, fernsehsüchtig. »Was ist denn passiert?«

»Mr. Finestein ist tot, Lieutenant. Einfach in der Küche umgefallen, während seine Frau fort war, um mit ein paar Freundinnen Mah-Jongg zu spielen. Ich dachte, vielleicht könnten Sie herunterkommen.«

»Ja.« Sie seufzte noch einmal. »Ich bin sofort da. Fassen Sie nichts an, Mr. Hennessy, und versuchen Sie dafür zu sorgen, dass niemand die Wohnung betritt.«

Aus reiner Gewohnheit meldete sie auf der Wache einen ungeklärten Todesfall und ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens.

In der Wohnung der Finesteins war es vollkommen ruhig. Mrs. Finestein saß mit ordentlich im Schoß gefalteten schneeweißen Händen auf dem Sofa im Wohnzimmer, hob ihr von ebenfalls schneeweißem Haar gerahmtes] jtrotz Anti-Aging-Cremes und regelmäßiger Besuche im Schöhheitssalon inzwischen von feinen Falten durchzogenes Gesicht und bedachte Eve mit einem sanften Lächeln.

»Es tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite, meine Liebe.«

»Kein Problem. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

»Ja, mit mir ist alles in Ordnung.« Ihre sanften blauen Augen ruhten weiterhin auf Eve. »Heute hatten meine Freundinnen und ich unseren allwöchentlichen Spielabend. Als ich heimkam, fand ich ihn in der Küche. Er hatte Eiercreme gegessen. Joe hatte eine allzu große Vorliebe für alles Süße.«

Sie blickte hinüber zu Hennessy, der in der Tür stand und unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. »Ich wusste nicht genau, was ich tun sollte, also habe ich bei Mr. Hennessy geklopft.«

»Das war durchaus richtig. Wenn Sie vielleicht eine Minute bei ihr bleiben würden«, wandte sich Eve an den Nachbarn.

Die Wohnung war ähnlich eingeteilt wie ihre. Trotz des Übermaßes an Schnickschnack und Erinnerungsstücken war sie in einem tadellosen Zustand.

Am Küchentisch mit dem Aufsatz aus Porzellanblumen hatte Joe Finestein sein Leben und einen beachtlichen Teil seiner Würde verloren.

Sein Kopf war zur Hälfte in die Eiercreme gesunken. Eve tastete nach seinem Puls, doch es war nichts zu spüren. Seine Haut war bereits deutlich abgekühlt. Eve schätzte ihn auf vielleicht einhundertfünfzehn Jahre.

»Joseph Finestein«, sprach sie pflichtgemäß in den Rekorder. »Männlich, Alter ungefähr einhundertfünfzehn Jahre, keine Anzeichen eines Einbruchs oder der Anwendung von Gewalt. Der Körper weist keinerlei Spuren auf.« Sie beugte sich ein wenig dichter über den Tisch, blickte in Joes weit aufgerissene Augen und schnupperte an der Creme.

Nachdem sie ihre ersten Eindrücke geschildert hatte, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, um Hennessy zu entlassen und die Witwe zu befragen.

Es war Mitternacht, als sie endlich in ihr Bett kam. Die Erschöpfung zog an ihren Gliedern wie ein trotziges, gieriges Kind. Sie ersehnte und betete um Ruhe.

Keine Träume, befahl sie ihrem Unterbewusstsein. Nimm dir heute einfach einmal frei.

Doch als sie endlich die Augen schließen wollte, blinkte das Tele-Link auf ihrem Nachttisch.

»Schmor doch in der Hölle, wer auch immer du bist«, knurrte sie, bevor sie sich ein Laken um die nackten Schultern legte und das Gerät einschaltete.

»Lieutenant.« Roarke blickte lächelnd vom Bildschirm. »Habe ich dich etwa geweckt?«

»In fünf Minuten hättest du es getan.« Sie rutschte auf dem Bett herum, als es aus dem Lautsprecher auf Grund irgendwelcher atmosphärischer Störungen ein wenig rauschte. »Ich nehme an, dass du gut angekommen bist.«

»Allerdings. Es gab nur eine kurze Verspätung. Ich dachte, ich würde dich vielleicht noch erwischen, bevor du schläfst.«

»Gibt es irgendeinen besonderen Grund für diesen Anruf?«

»Nur den, dass ich dich gerne ansehe.« Sein Lächeln verflog, als er sie genauer betrachtete. »Was ist los, Eve?«

Wo soll ich anfangen, dachte sie, zuckte jedoch möglichst gelassen mit den Schultern. »Ich hatte einfach einen langen Tag – der damit geendet hat, dass einer deiner anderen Mieter aus diesem Haus tot in seinem spätabendlichen Snack gelandet ist. Er fiel kopfüber in eine Eiercreme.«

»Ich denke, es gibt schlimmere Arten, aus dem Leben zu scheiden.« Er drehte seinen Kopf, murmelte jemandem etwas zu, und Eve sah, wie eine Frau hinter Roarke durch den Raum ging und eilig verschwand. »Ich wollte allein sein, wenn ich dich frage, ob du unter dem Laken noch etwas trägst.«

Sie blickte an sich herab und zog eine ihrer Brauen in die Höhe. »Sieht nicht so aus.«

»Warum legst du es nicht einfach ab?«

»Ich werde deine lüsternen Begierden ganz sicher nicht über den Bildschirm befriedigen, Roarke. Du musst dich schon mit deiner Fantasie begnügen.«

»Das tue ich bereits, seit wir uns voneinander verabschiedet haben. Ich stelle mir vor, was ich alles mit dir machen werde, wenn ich dich das nächste Mal in die Finger bekomme. Ich würde dir also raten, Kräfte zu sammeln, Lieutenant.«

Sie hätte gern gelächelt, schaffte es jedoch nicht. »Roarke, wenn du wieder da bist, müssen wir miteinander reden.«

»Das können wir ebenfalls tun. Bisher habe ich sämtliche Gespräche mit dir als durchaus anregend empfunden. Und jetzt sieh zu, dass du ein wenig Schlaf bekommst.«

»Ja, das werde ich. Bis dann, Roarke.«

»Denk an mich, Eve.«

Er beendete die Übertragung und saß dann allein und grübelnd vor dem Bildschirm. Etwas hatte mit ihren Augen nicht gestimmt. Inzwischen kannte er ihre Stimmungen, konnte er hinter der reglosen, kühlen Fassade ihre Gefühle erkennen.

Und das Gefühl, das er eben entdeckt hatte, war ehrliche Sorge gewesen.

Er drehte seinen Stuhl um und blickte durch das Fenster in den mit Sternen übersäten Weltraum. Sie war zu weit von ihm entfernt, als dass er etwas anderes hätte tun können als an sie zu denken.

Und sich abermals zu fragen, weshalb sie ihm so wichtig war.