Sie wurde im Dunkeln wach. Durch die Spalten in den Fensterläden glitt trübes Dämmerlicht und warf schattige Streifen auf das Bett. Es war, als erwache sie in einer Zelle.
Einen Augenblick lang lag sie einfach da, erschaudernd, gefangen, während der Traum langsam verblasste. Nach zehn Jahren bei der Truppe wurde Eve immer noch gelegentlich von Träumen heimgesucht.
Sechs Stunden zuvor hatte sie einen Mann getötet, hatte gesehen, wie der Tod ihm in die Augen kroch. Es war nicht das erste Mal, dass sie den gezielten Todesschuss angewandt oder geträumt hatte. Sie hatte gelernt, diese Praxis und ihre Konsequenzen zu akzeptieren.
Es war das Kind, das sie verfolgte. Das Kind, das sie nicht hatte retten können. Das Kind, dessen Schreie sich in ihren Träumen mit ihren eigenen vermischten.
All das Blut, dachte Eve und wischte sich mit ihren Händen den Schweiß aus dem Gesicht. Dass ein so kleines Mädchen so viel Blut in seinem Körper hatte. Doch sie wusste, es war lebenswichtig, dass sie die Erinnerung verdrängte.
Der üblichen Vorgehensweise der Truppe entsprechend würde sie den Vormittag mit diversen Tests verbringen. Jeder Beamte, der durch Gebrauch seiner Waffe ein Leben beendete, benötigte vor Wiederaufnahme des Dienstes eine physische und psychische Unbedenklichkeitsbescheinigung. Eve empfand die Tests als ätzend.
Sie würde es ihnen zeigen, so wie sie es ihnen bereits zuvor gezeigt hatte.
Als sie schließlich aufstand, gingen automatisch gedämpft die Deckenlampen an und beleuchteten den Weg ins Bad. Als sie ihr Spiegelbild erblickte, zuckte sie zusammen. Ihre Augen waren vom Schlafmangel verquollen und ihre Haut beinahe so wächsern wie die der Leiche, die sie dem Pathologen überlassen hatte. Statt jedoch weiter darüber nachzudenken, trat sie gähnend unter die Dusche.
»Achtunddreißig Grad bei vollem Strahl«, sagte sie und stellte sich so, dass das Wasser ihr direkt ins Gesicht spritzte.
Eingehüllt in den heißen Nebel seifte sie sich müde ein, während sie die Ereignisse des Vorabends noch einmal in Gedanken durchging. Die Tests begannen erst um neun, sodass sie die nächsten drei Stunden nutzen würde, um zur Ruhe zu kommen und den Traum vollends verblassen zu lassen.
Auch die geringsten Zweifel und das kleinste Bedauern wurden oft genug entdeckt und konnten bedeuten, dass man eine zweite, intensivere Testrunde mit den Geräten und den eulenäugigen Technikern, die sie bedienten, über sich ergehen lassen musste.
Eve hatte jedoch nicht die Absicht, ihre Arbeit länger als einen Tag zu unterbrechen.
Sie hüllte sich in ihren Morgenmantel, ging hinüber in die Küche und programmierte ihren AutoChef auf schwarzen Kaffee und leicht gebräunten Toast. Durch das Fenster hörte sie das dumpfe Brummen der Flieger, die die frühen Pendler in die Büros und die späten heimbrachten. Sie hatte das Apartment vor Jahren gerade deshalb ausgesucht, weil es im Zentrum dichten Boden- und Luftverkehrs gelegen war und weil sie die Geräusche und das Gedränge mochte. Abermals gähnend blickte sie aus dem Fenster und verfolgte mit den Augen einen klappernden, alternden Airbus, mit dem Arbeiter, die nicht in der glücklichen Lage waren, entweder in der City oder aber an ihren Computern von zu Hause aus arbeiten zu können, durch die Gegend gekarrt wurden.
Sie lud die New York Times auf ihren Bildschirm und überflog die Schlagzeilen, während sie an ihrem Ersatzkaffee nippte. Wieder einmal hatte der AutoChef ihren Toast verbrennen lassen, und während sie lustlos daran knabberte, dachte sie flüchtig über die Anschaffung eines neuen Küchencomputers nach.
Als sie sich stirnrunzelnd in einen Artikel über den Massenrückruf von Cockerspaniel-Droiden vertiefen wollte, blinkte mit einem Mal ihr Tele-Link, sodass sie auf die Kommunikationsebene wechselte und sah, wie ihr Vorgesetzter auf dem Monitor erschien.
»Commander.«
»Lieutenant.« Obgleich er ihre noch nassen Haare und ihre müden Augen nicht übersehen konnte, nickte er, statt darauf einzugehen, brüsk mit seinem Kopf. »Vorkommnis in 27, West Broadway, achtzehnter Stock. Sie übernehmen die Leitung der Ermittlungen.«
Eve zog überrascht die Brauen hoch. »Ich muss zur Überprüfung. Gezielter Todesschuss um zweiundzwanzig fünfunddreißig.«
»Die Ermittlungen haben Vorrang vor den Tests«, erklärte er ihr reglos. »Holen Sie auf dem Weg zum Tatort Schild und Waffe bei uns ab. Code Five, Lieutenant.«
»Zu Befehl, Sir.« Noch während sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte, verschwand bereits sein Bild. Code Five bedeutete, dass sie ihrem Commander direkt Bericht erstatten, dass es keine unversiegelten Bericht für die anderen Abteilungen und keine Zusammenarbeit mit der Presse geben würde.
Kurz gesagt, sie war auf sich allein gestellt.
Am Broadway herrschten Höllenlärm und furchtbares Gedränge. Es war wie auf einer Riesenparty, deren rüpelhafte Gäste niemals wieder gingen. Sowohl auf den Straßen als auch in der Luft herrschte ein so reger Verkehr, dass man inmitten der dicht gedrängten Leiber und Transportmittel nur noch mit Mühe Luft bekam. Sie erinnerte sich daran, dass die Gegend bereits in ihren alten Tagen als uniformierte Polizistin als Hot Spot, als gefährlicher Fleck, sowohl für menschliche Wracks als auch für Touristen gegolten hatte, die zu sehr damit beschäftigt waren, mit großen Augen das allgemeine Treiben zu verfolgen, um auf den Verkehr zu achten.
Selbst um diese frühe Uhrzeit lockten die Gerüche der fest installierten und der fahrbaren Essensstände, an denen von Reisnudeln bis hin zu Sojabohnen alles angeboten wurde, die zahllosen Besucher dieses Viertels an. Eve musste einen großen Schlenker machen, um nicht mit einem eifrigen Verkäufer und seinem qualmenden Schwebegrill zusammenzustoßen, und nahm seinen zornig ausgestreckten Mittelfinger eher gelassen hin.
Schließlich parkte sie in zweiter Reihe, wich einem Mann aus, der schlimmer stank als das Gebräu in seiner Flasche, und trat auf den Bürgersteig. Zuerst sah sie sich das Gebäude an – fünfzig Geschosse glitzernden Metalls, die von ihrem Betonsockel wie ein Messer in den Himmel aufragten – und bekam, ehe sie sich schließlich durch die Tür schob, zwei unsittliche Anträge. Doch da der fünf Häuserblöcke umfassende Broadway im Volksmund liebevoll Nuttenlaufsteg genannt wurde, war sie darüber nicht weiter überrascht.
Sie zeigte dem uniformierten Polizisten am Eingang des Gebäudes ihre Dienstmarke »Lieutenant Dallas.«
»Zu Befehl, Sir.« Er strich über das offizielle Computersiegel, das das Gebäude gegen die Schaulustigen abschirmte und führte sie in Richtung der Fahrstühle. »Achtzehnter Stock«, erklärte er, als sich die Türen lautlos hinter ihnen schlossen.
»Setzen Sie mich ins Bild, Officer.« Eve stellte den Rekorder an und wartete.
»Ich war nicht als Erster am Tatort, Lieutenant. Was auch immer dort oben vorgefallen ist, ist bisher nicht bis hier unten durchgedrungen. Aber Sie werden schon erwartet. Ich weiß nur, dass es in der Wohnung Nummer 1803 einen Todesfall gegeben hat, der nach Code Five behandelt werden soll.«
»Wer hat die Sache gemeldet?«
»Das kann ich nicht sagen.«
Als sich die Türen öffneten, blieb er im Fahrstuhl zurück, sodass Eve alleine einen schmalen Korridor betrat. Sicherheitskameras blickten auf sie herab, und ihre Füße bewegten sich beinahe lautlos auf dem abgewetzten Teppich, als sie sich in Richtung des Apartments 1803 begab. Ohne erst zu läuten, hielt sie ihre Dienstmarke in Augenhöhe des Spions, bis jemand ihr aufmachte.
»Dallas.«
»Feeney.« Froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen, verzog sie ihren Mund zu einem Lächeln. Ryan Feeney war ein alter Freund und ehemaliger Partner, der die Arbeit auf der Straße gegen einen Schreibtisch und einen Superposten in der Abteilung für elektronische Ermittlungen eingetauscht hatte. »Dann schicken Sie also heutzutage sofort die Computerheinis an die Tatorte.«
»Sie wollten hohe Tiere, und zwar möglichst die Besten.« Trotz der lächelnden Lippen in seinem breiten, zerknitterten Gesicht blieben seine Augen ernst. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit kleinen, kräftigen Händen und rostfarbenem Haar. »Du siehst geschafft aus.«
»Ich hatte eine ziemlich harte Nacht.«
»Das habe ich gehört.« Er bot ihr eine der gezuckerten Nüsse aus der Tüte an, die er für gewöhnlich mit sich herumtrug, und versuchte zu erkennen, ob sie bereit war für das, was sie in dem Schlafzimmer erwartete.
Mit ihren knapp dreißig Jahren war sie jung für einen Menschen ihres Ranges, doch ihre großen braunen Augen hatten nie Gelegenheit gehabt, kindlich-naiv zu blicken. Ihr rehbraunes Haar war kurz geschnitten, weniger schick als vielmehr praktisch, doch es passte zu ihrem dreieckigen Gesicht mit den rasiermesserscharfen Wangenknochen und dem von einem kleinen Grübchen verzierten, stolz gereckten Kinn.
Sie war groß, drahtig, versteckte unter ihrer Lederjacke, auch wenn sie beinahe mager wirkte, harte, feste Muskeln, besaß ein gut funktionierendes Gehirn und obendrein ein Herz.
»Die Sache ist ziemlich heikel, Dallas.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Wer ist das Opfer?«
»Sharon DeBlass, Enkelin von Senator DeBlass.«
Keiner der beiden Namen sagte ihr etwas. »Politik ist nicht gerade meine Stärke, Feeney.«
»Der Gentleman aus Virginia, ultrarechts, altes Geld. Die Enkelin nahm vor ein paar Jahren eine scharfe Linkskurve, zog hierher nach New York und erwarb die Lizenz als Gesellschafterin.«
»Dann war sie also eine Nutte.« Dallas sah sich in der Wohnung um. Die Einrichtung war sehr modern – Glas und dünnes Chrom, an den Wänden signierte Hologramme, eine dunkelrote, in die Wand eingelassene Bar. Auf dem breiten Stimmungsmonitor hinter der Theke verschwammen verschiedene, kühl pastellfarbene Formen miteinander.
Adrett wie eine Jungfrau, dachte Eve, und kalt wie eine Hure. »Was angesichts ihrer Wohnungswahl nicht weiter überrascht.«
»Die Politik macht den Fall so delikat. Das Opfer war eine vierundzwanzig Jahre alte weiße Frau. Der Tod hat sie im Bett ereilt.«
Eve zog eine Braue in die Höhe. »Klingt beinahe poetisch, vor allem, nachdem sie ihr Leben anscheinend ebenfalls größtenteils dort verbracht hat. Wie ist sie gestorben?«
»Das ist das nächste Problem. Ich möchte, dass du dir die Sache selbst ansiehst.«
Als sie das Zimmer durchquerten, nahm jeder von ihnen eine schlanke Dose, besprühte sich die Hände, um Fett und Fingerabdrücke zu versiegeln, und vor der Tür des Schlafzimmers besprühte Eve auch noch die Sohlen ihrer Stiefel, damit keine Fasern, Haare oder Hautreste daran kleben bleiben würden.
Ihr Argwohn war geweckt. Normalerweise wären außer ihr zwei weitere Ermittler am Tatort, um Geräusche und Bilder aufzunehmen, und die Spurensuche würde mit der ihr eigenen Ungeduld längst darauf warten, alles genauestens untersuchen zu können.
Die Tatsache, dass man außer ihr nur noch Feeney auf den Fall angesetzt hatte, zeigte, welche Diskretion und Vorsicht geboten zu sein schienen.
»Es gibt Sicherheitskameras im Eingang, in den Fahrstühlen und in den Korridoren«, stellte sie jetzt fest.
»Ich habe die Disketten bereits sichergestellt.« Feeney öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt.
Es war kein hübscher Anblick. Eve vertrat die Ansicht, dass der Tod nur selten eine friedliche, religiöse Erfahrung für den Menschen war. Er war ein widerliches Ende, das Heilige und Sünder gleichermaßen traf. Dieser Tod jedoch war regelrecht schockierend, als hätte jemand ihn absichtlich derart inszeniert, um andere zu beleidigen.
Das riesige Bett war mit offenbar echtem Satin in der Farbe reifer Pfirsiche bezogen, und kleine, sanfte Strahler waren auf die nackte Frau gerichtet, die in einer kleinen Mulde auf dem schimmernden Laken lag.
Die Matratze machte geradezu obszön geschmeidige Wellenbewegungen im Rhythmus der aus den Lautsprechern im Kopfteil des Bettes ertönenden Musik.
Sie war immer noch eine Schönheit mit ihrem Kameengesicht, den langen, dichten, flammend roten Haaren, den smaragdgrünen Augen, die glasig unter die verspiegelte Decke des Schlafzimmers starrten, und den langen, milchig weißen, sanft schaukelnden Gliedern, bei deren Anblick man unwillkürlich an Schwanensee dachte.
Allerdings waren Arme und Beine der Toten nicht gerade künstlerisch drapiert, sondern dergestalt lüstern ausgestreckt, dass die Tote genau in der Mitte des Bettes ein X formte.
Sie hatte ein Loch in der Stirn, ein zweites in der Brust und ein drittes, das grässlich zwischen ihren offenen Schenkeln klaffte. Blut war auf das schimmernde Laken gespritzt, an ihr heruntergelaufen, hatte regelrechte Pfützen gebildet und überall widerliche Flecken hinterlassen.
Selbst die lackierten Wände waren dunkelrot bespritzt, als hätte irgendein bösartiges Kind dort ein tödliches Gemälde angebracht.
Sie musste schwer schlucken und sich zwingen, das Bild eines kleinen Kindes zu verdrängen.
»Ihr habt das Szenarium auf Band?«
»Ja.«
»Dann stell das verdammte Ding doch bitte endlich ab.« Als Feeney die Musik zum Verstummen und das schaukelnde Bett zum Stehen brachte, atmete sie aus. »Die Wunden«, murmelte sie und trat, um sie sich genauer anzusehen, näher an die tote Frau heran. »Zu sauber für ein Messer. Zu ausgefranst für einen Laser.« Plötzlich blitzte die Erkenntnis in ihr auf – alte Ausbildungsfilme, alte Videos hatten ihr diese alte Form der Grausamkeit gezeigt.
»Himmel, Feeney, die Löcher sehen aus wie Schussverletzungen.«
Feeney zog eine versiegelte Tüte aus der Tasche. »Wer auch immer das getan hat, hat ein Andenken zurückgelassen.« Er drückte Eve die Tüte in die Hand. »Für ein antikes Ding wie das hier kriegt man von einem legalen Sammler acht- bis zehntausend, und auf dem Schwarzmarkt problemlos mindestens das Doppelte.«
Fasziniert drehte Eve den versiegelten Revolver in der Hand. »Er ist schwer«, sagte sie beinahe zu sich selbst. »Klobig.«
»Kaliber achtunddreißig«, erklärte ihr Feeney. »Die erste derartige Waffe, die ich außerhalb eines Museums zu sehen bekommen habe. Das hier ist ein Smith & Wesson, Modell zehn, gebläuter Stahl.« Er bedachte den Revolver mit einem beinahe liebevollen Blick. »Ein echter Klassiker, bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Standardwaffe der Polizei. Die Produktion wurde zweiundzwanzig, dreiundzwanzig herum eingestellt, als das Waffenverbot durchkam.«
»Du bist wirklich ein erstaunlich guter Historiker.« Was erklärte, weshalb man ihn ihr zugeteilt hatte. »Sieht neu aus.« Sie schnupperte an der Tüte und erhaschte den Geruch von Öl und von Verbranntem. »Irgendjemand hat das Ding hervorragend gepflegt. Stahl in Fleisch«, dachte sie laut, während sie Feeney die Tüte zurückgab. »Eine wirklich unschöne Art zu sterben und das erste Mal in meinen zehn Jahren bei der Truppe, dass ich so etwas zu sehen bekomme.«
»Für mich ist es das zweite Mal. Vor ungefähr fünfzehn Jahren geriet in der Lower East Side eine Party aus dem Ruder. Einer der Typen hat mit einer Zweiundzwanziger fünf Leute erschossen, bevor ihm endlich klar wurde, dass er kein Spielzeug in der Hand hatte. Eine wirklich widerliche Sache.«
»Hauptsache, er hatte sein Vergnügen«, murmelte Eve sarkastisch. »Am besten überprüfen wir zuerst die Sammler, um zu sehen, wie viele von ihnen ein solches Ding besitzen. Vielleicht hat ja auch einer von ihnen einen Einbruch oder Diebstahl gemeldet.«
»Vielleicht.«
»Allerdings halte ich es für wahrscheinlicher, dass das Ding auf dem Schwarzmarkt erworben worden ist.« Eve blickte zurück auf die Leiche. »Wenn sie bereits seit ein paar Jahren im Geschäft war, hat sie sicher Disketten, Kundenlisten, irgendwelche Bücher.« Sie runzelte die Stirn. »Da dies ein Code Five ist, werde ich die Laufarbeit selbst erledigen müssen.
Ganz offensichtlich handelt es sich hier um keinen gewöhnlichen Sexualmord«, erklärte sie seufzend. »Wer auch immer das getan hat, hat alles sorgfältig inszeniert. Die antike Waffe, die beinahe wie mit dem Lineal gezogene Einschusslinie, das Licht, die Pose der Toten. Feeney, wer hat die Tote gemeldet?«
»Der Killer.« Er wartete, bis sie ihn wieder ansah. »Von hier aus. Hat direkt auf der Wache angerufen. Siehst du, wie die Kamera direkt auf ihr Gesicht gelenkt wurde? Das war es, was bei unseren Jungs ankam. Kein Ton, einzig Bilder.«
»Dann findet er also Gefallen an Effekthascherei.« Eve atmete hörbar aus. »Ein wirklich cleverer Bastard, arrogant und anmaßend. Zuvor hat er mit ihr geschlafen. Darauf verwette ich meine Dienstmarke. Und dann ist er aufgestanden und hat sie erledigt.« Sie hob ihren Arm, zielte und ließ ihn, während sie zählte, wieder sinken. »Eins, zwei, drei.«
»Das nenne ich ziemlich kaltblütig«, murmelte Feeney.
»Er ist kaltblütig. Anscheinend hat er sogar noch die Laken glatt gestrichen. Siehst du, wie ordentlich sie sind? Er legt sie zurecht, spreizt ihre Beine, um sicherzugehen, dass niemand auch nur den geringsten Zweifel daran hegt, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdient hat. Er geht sorgsam zu Werke, vermisst sie praktisch, bis sie schließlich perfekt vor der Kamera liegt. Genau in der Mitte des Bettes, Arme und Beine identisch gespreizt. Lässt das Bett weiterschaukeln, denn das ist Teil der Show. Er lässt die Waffe zurück, weil wir sofort erkennen sollen, dass er kein gewöhnlicher Mann ist. Er hat ein ausgeprägtes Ego. Er will keine Zeit verlieren, bis die Leiche endlich entdeckt wird. Er will, dass es sofort geschieht. Er will die umgehende Befriedigung.«
»Sie hatte eine Lizenz für Männer und Frauen«, kam Feeneys Einwurf, doch Eve schüttelte den Kopf.
»Das war keine Frau. Eine Frau hätte sie nicht derart schön und gleichzeitig obszön zurückgelassen. Nein, ich glaube nicht, dass das eine Frau getan hat. Lass uns gucken, was wir hier alles finden. Warst du schon in ihrem Computer?«
»Nein. Es ist dein Fall, Dallas. Ich bin einzig hier, um dir zu assistieren.«
»Guck, ob du in ihre Kundendateien reinkommst.« Eve selbst trat an die Kommode und begann, die einzelnen Schubladen vorsichtig zu durchsuchen.
Teurer Geschmack, dachte sie, als sie die Wäschestücke sah. Es gab mehrere Stücke aus echter Seide, dem Stoff, mit dem es kein künstliches Gewebe aufnehmen konnte. Die Flasche Parfum war exklusiv, und der Inhalt roch nach teurem Sex.
In den Schubladen herrschte ebenso wie in den Schränken eine geradezu auffällige Ordnung. Die Dessous waren ordentlich gefaltet, die Pullover nach Farbe und Material sortiert.
Offensichtlich hatte das Opfer eine Schwäche für Garderobe gehabt, hatte sich immer nur die allerbesten Stücke zugelegt und diese sorgfältig gepflegt.
Doch gestorben war sie nackt.
»Sie hat wirklich genau Buch geführt«, rief Feeney durch das Zimmer. »Es ist alles da. Ihre Kundenliste, ihre Termine – sogar die erforderliche monatliche Gesundheitsuntersuchung und der wöchentliche Besuch des Schönheitssalons. Den Gesundheitscheck hat sie in der Trident Klinik durchführen lassen und die optische Verschönerung bei Paradise.«
»Beides hervorragende Adressen. Ich habe eine Freundin, die ein Jahr lang gespart hat, um sich einen Tag bei Paradise leisten zu können. Sie bewirken dort tatsächlich wahre Wunder.«
»Die Schwester meiner Frau war anlässlich ihrer Silberhochzeit dort. Hat beinahe so viel gekostet wie die Hochzeit meiner Tochter. Aber hallo, hier ist sogar ihr persönliches Adressbuch.«
»Gut. Zieh von allem eine Kopie, ja, Feeney?« Als sie ein leises Pfeifen hörte, blickte sie über die Schulter auf den kleinen goldgerandeten Handcomputer, den er zwischen den Fingern hielt. »Was ist?«
»Hier stehen jede Menge wirklich bekannter Namen. Politik, Showbusiness, Geld, Geld, Geld. Interessanterweise hatte die Kleine sogar Roarkes Privatnummer.«
»Roarke wer?«
»Soweit ich weiß, nur Roarke. Das wirklich große Geld. Einer dieser seltenen Typen, die Scheiße nur anzufassen brauchen, damit sie sich in Geld verwandelt. Du solltest wirklich langsam anfangen, auch etwas anderes als die Sportseiten der Zeitungen zu lesen, Dallas.«
»He, ich überfliege dauernd sämtliche Schlagzeilen. Hast du vom Rückruf der Cockerspaniel gehört?«
»Roarke sorgt immer wieder für ziemlichen Wirbel«, erklärte Feeney ihr geduldig. »Er hat eine der besten Kunstsammlungen der Welt. Kunst und Antiquitäten«, fuhr er fort, als er merkte, dass Eve ihm endlich zuhörte. »Er hat eine Genehmigung zum Sammeln von Schusswaffen aller Art, und den Gerüchten zufolge kann er mit den Dingern auch umgehen.«
»Dann werde ich ihn wohl mal besuchen.«
»Du kannst schon von Glück reden, wenn du es schaffst, dich ihm bis auf einen Abstand von einer Meile zu nähern.«
»Tja, manchmal braucht man eben Glück.« Eve ging hinüber zu der Leiche und schob ihre Hand unter die Decke.
»Der Mann hat mächtige Freunde, Dallas. Du kannst es dir nicht leisten, von einer möglichen Verbindung zwischen ihm und dieser Sache auch nur zu flüstern, so lange du keine handfesten Beweise dafür hast.«
»Feeney, du weißt, es ist ein Fehler, mir so etwas zu sagen.« Doch noch während sie den Mund zu einem Lächeln verzog, strichen ihre Finger über etwas anderes als kaltes Fleisch und blutstarrende Laken. »Sie liegt auf etwas drauf.« Vorsichtig hob Eve eine Schulter des Opfers und streckte ihre Finger aus.
»Papier!«, murmelte sie. »Versiegelt.« Mit ihrem durch das Spray ebenfalls versiegelten Daumen wischte sie das Blut von dem Wasser abweisenden Blatt, bis sie lesen konnte, was darauf geschrieben stand.
EINE VON SECHS
»Siehst du, als wäre es von Hand geschrieben«, sagte sie zu Feeney und hielt ihm den Zettel hin. »Unser Junge ist mehr als clever und mehr als arrogant. Und ganz offensichtlich ist er noch nicht fertig.«
Eve verbrachte den Rest des Vormittags mit einer Arbeit, die normalerweise von Drohnen erledigt worden wäre: Sie befragte persönlich die Nachbarn und Nachbarinnen des Opfers und zeichnete Erklärungen und Eindrücke der Leute auf.
Schnell holte sie sich noch ein Sandwich von einem Schwebegrill, mit dem sie zuvor beinahe zusammengeprallt wäre, und fuhr dann quer durch die Stadt. Nach der quälenden Nacht und dem anstrengenden Morgen, die sie hinter sich hatte, konnte sie es der Empfangsdame bei Paradise wohl kaum verdenken, dass diese sie mit einem Blick bedachte, als hätte sie sich selbst erst vor wenigen Minuten vom Bürgersteig gekratzt.
Wasserfälle plätscherten melodisch zwischen den üppigen Pflanzen im Empfangsbereich des exklusivsten Salons der Stadt. Winzige Tassen echten Kaffees und schlanke Gläser mit Mineralwasser oder Champagner wurden denjenigen serviert, die es sich in den dick gepolsterten Sesseln oder auf den Sofas bequem machten. Mit kostenlosen Kopfhörern und Mode-Disketten wurde die Wartezeit auf angenehme Art verkürzt.
Der prachtvolle Busen der Empfangsdame war Zeugnis der erfolgreich im Salon angewandten Figur-Umformungs-Techniken. Sie trug ein eng anliegendes, kurzes Kleid im Rot des Salons, und hatte ihre ebenholzschwarzen Haare zu eleganten Schlangen aufgedreht.
Eve war regelrecht begeistert.
»Tut mir Leid«, erklärte die Frau mit einer wohlklingenden Stimme, die ebenso emotionslos war wie die eines Computers. »Ohne Termin können wir niemanden bedienen.«
»Kein Problem.« Eve lächelte, und es widerstrebte ihr fast, an der kühlen, herablassenden Fassade ihres Gegenübers kratzen zu müssen. Aber eben nur fast. »Damit bekomme ich sicher sofort einen Termin.« Sie zeigte ihre Dienstmarke. »Ich brauche die für Sharon DeBlass zuständige Person.«
Entgeistert starrte die Empfangsdame in Richtung des Wartebereichs. »Die Bedürfnisse unserer Klienten sind streng vertraulich.«
»Da bin ich mir ganz sicher.« Gut gelaunt lehnte sich Eve gegen den U-förmigen Tresen. »Ich kann nett und leise sprechen, so wie jetzt, damit nur Sie mich verstehen – Denise?« Sie warf einen kurzen Blick auf das diskret mit falschen Juwelen besetzte, an der Brust der jungen Dame festgemachte Namensschild. »Oder ich kann lauter sprechen, sodass alle mitbekommen, was ich von Ihnen will. Falls Ihnen der erste Vorschlag besser gefällt, bringen Sie mich vielleicht in ein hübsches, ruhiges Zimmer, in dem wir keinen Ihrer Klienten stören, oder Sie schicken mir den für Sharon DeBlass zuständigen Kosmetiker oder wie auch immer Sie die Leute nennen.«
»Berater«, kam die schwache Antwort. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
Und ein Vergnügen war es wirklich.
Außer in Kinofilmen oder Videos hatte Eve nie zuvor einen derartigen Luxus zu sehen bekommen. Der Teppich unter ihren Füßen war dick wie ein Kissen, sodass man lautlos beinahe bis zu den Knöcheln in dem weichen Flausch versank. Kristalltropfen hingen von der Decke und brachen tausendfach das Licht, und überall duftete es nach frischen Blumen und nach verwöhnter Haut.
Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, Stunden damit zu verbringen, sich eincremen, einölen, massieren und umformen zu lassen, wäre es sicher interessant, unter derart zivilisierten Bedingungen so viel Zeit auf Ihre Eitelkeit zu verwenden.
An einer der Wände des kleinen Zimmers, in das Denise sie führte, hing ein riesiges Hologramm von einer Sommerwiese, und leises Vogelzwitschern und eine angenehme, kühle Brise versüßten die Luft.
»Wenn Sie hier bitte warten wollen.«
»Kein Problem.« Eve wartete, bis die Tür geschlossen wurde, und sank dann mit einem wohligen Seufzer in einen tiefen, weichen Sessel. Sofort blinkte der neben dem Sessel angebrachte Bildschirm, und ein freundliches, nachsichtiges Antlitz, das nur das eines Droiden sein konnte, blickte ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegen.
»Guten Tag. Willkommen bei Paradise. Die Erfüllung Ihrer Wünsche und Ihre Bequemlichkeit sind unsere größten Anliegen. Hätten Sie vielleicht gerne eine Erfrischung, während Sie auf Ihren persönlichen Berater warten?«
»Sicher. Kaffee. Schwarzen Kaffee.«
»Natürlich. Welche Sorte hätten Sie gern? Drücken Sie bitte Knopf A für Auswahl.«
Eve unterdrückte ein Grinsen, als sie die Anweisung befolgte, verbrachte die nächsten zwei Minuten damit, über das Angebot zu grübeln, und begrenzte es schließlich auf die Optionen Französische Riviera und Caribbean Cream.
Ehe sie jedoch eine endgültige Entscheidung treffen konnte, öffnete sich abermals die Tür, sodass sie sich resigniert erhob und der schrill gekleideten Vogelscheuche entgegensah, die den Raum betrat.
Über dem fuchsienroten Hemd und der pflaumenfarbenen Hose trug das Wesen einen offenen, schlaff an ihm herunterhängenden Kittel in Paradise-Rot. Seine aus dem geradezu schmerzlich hageren Gesicht gekämmten Haare hatten dieselbe Farbe wie die Hose. Er bot Eve seine Hand und bedachte sie mit einem fragenden Blick aus seinen sanften Rehaugen.
»Tut mir furchtbar Leid, Officer. Ich bin einigermaßen verwirrt.«
»Ich brauche Informationen über Sharon DeBlass.« Wieder zog Eve ihre Dienstmarke hervor und hielt sie ihrem Gegenüber hin.
»Ja, ah, Lieutenant Dallas. So sagte man mir bereits. Sie müssen natürlich wissen, dass unsere Klientendateien streng vertraulich sind. Wir hier bei Paradise sind nicht nur für unsere exzellente Arbeit, sondern auch für unsere Diskretion berühmt.«
»Und Sie müssen natürlich wissen, dass ich jederzeit einen Durchsuchungsbefehl besorgen kann, Mr. -?«
»Oh, Sebastian. Einfach nur Sebastian.« Er winkte mit einer seiner dünnen Hände, und an seinen schmalen Fingern blitzten mehrere diamantbesetzte Ringe. »Ich möchte Ihre Autorität ganz sicher nicht in Frage stellen, Lieutenant. Aber falls Sie mir vielleicht verraten können, aus welchen Gründen Sie nach Sharon fragen?«
»Ich versuche herauszufinden, aus welchen Gründen man sie ermordet haben könnte.« Sie wartete einen Moment, während er sie entgeistert anstarrte und sein bereits zuvor bleiches Gesicht auch noch den letzten Rest Farbe verlor. »Mehr kann ich nicht sagen.«
»Ermordet. Großer Gott, wollen Sie damit etwa sagen, unsere liebreizende Sharon wäre tot? Das muss ein Irrtum sein.« Er ließ sich in einen der Sessel sinken, lehnte seinen Kopf gegen die Lehne und schloss seine Augen. Als der Monitor ihm ebenfalls eine Erfrischung anbieten wollte, winkte er müde ab. Wieder blitzten die Ringe an seinen Fingern. »Gott, ja. Ich brauche einen Brandy, Darling. Einen doppelten Trevalli.«
Eve setzte sich neben ihn und zog ihren Rekorder aus der Tasche. »Erzählen Sie mir von Sharon.«
»Ein prachtvolles Geschöpf. Natürlich hatte sie einen wunderbaren Körper, aber das war längst nicht alles.« Lautlos brachte ein automatischer Rollwagen den Brandy. Sebastian hob ihn an seine Lippen und nahm einen großen Schluck. »Sie hatte einen tadellosen Geschmack, ein großes Herz und einen messerscharfen Verstand.«
Wieder bedachte er Eve mit einem traurigen Blick aus seinen Rehaugen. »Ich habe sie erst vor zwei Tagen noch gesehen.«
»Beruflich?«
»Sie kam regelmäßig jede Woche für einen halben Tag. Und alle zwei Wochen erschien sie ganztägig.« Er zog einen buttergelben Schal aus seiner Tasche und betupfte sich damit die Augen. »Sharon hat sehr auf ihr Äußeres geachtet, sie war der festen Überzeugung, dass man sich stets von seiner besten Seite zeigen soll.«
»Was in ihrem Beruf ganz sicher nicht von Nachteil war.«
»Natürlich nicht. Allerdings hat sie nur zum Spaß gearbeitet. Mit ihrem familiären Hintergrund hat es ihr nie an Geld gefehlt. Sie hatte einfach Spaß am Sex.«
»Auch mit Ihnen?«
Er verzog das Künstlergesicht und presste die Lippen entweder zum Zeichen seines Schmerzes oder zum Zeichen des Gekränktseins fest zusammen. »Ich war ihr Berater, ihr Vertrauter und gleichzeitig ihr Freund«, erklärte er steif, während er sich lässig den Schal über die linke Schulter drapierte. »Es wäre indiskret und unprofessionell gewesen, wenn wir darüber hinaus auch Sexualpartner geworden wären.«
»Dann fühlten Sie sich also sexuell nicht von ihr angezogen?«
»Es war unmöglich, dass sich irgendjemand nicht sexuell von ihr angezogen fühlte. Sie… «, er machte eine große Geste, »verströmte Sex wie andere ein teures Parfum. Mein Gott.« Wieder nippte er an seinem Brandy. »Und damit ist es jetzt vorbei. Ich kann es einfach nicht glauben. Tot. Ermordet.« Er lenkte seinen Blick wieder auf Eve. »Sie haben gesagt, dass sie ermordet worden ist.«
»Das ist richtig.«
»Diese Gegend, in der sie gelebt hat«, stellte er beinahe grimmig fest. »Niemand konnte sie dazu überreden, endlich in eine etwas respektablere Umgebung zu ziehen. Sie hat es genossen, ein verruchtes Leben zu führen und es den Mitgliedern ihrer Familie unter die aristokratischen Nasen zu reiben.«
»Dann verstand sie sich mit ihrer Familie also nicht unbedingt gut?«
»Sie verstanden sich nicht im Geringsten. Es hat ihr gefallen, sie zu schocken. Sie war ein solcher Freigeist, ihre Familie hingegen war einfach… gewöhnlich.« Er sagte es in einem Ton, der zeigen sollte, dass gewöhnlich zu sein eine größere Sünde als selbst Mord war. »Ihr Großvater versucht immer wieder, die Prostitution per Gesetz verbieten zu lassen. Als hätte das vergangene Jahrhundert nicht gezeigt, dass solche Dinge aus Gründen der Gesundheit und der Vorbeugung von Verbrechen wegen gesetzlich geregelt werden müssen. Außerdem ist er gegen Geburtenregelung, Geschlechtsumwandlung, chemische Stimmungsaufheller und das Waffenverbot.«
Eve spitzte ihre Ohren. »Der Senator ist gegen das Waffenverbot?«
»Das ist eines seiner Lieblingsthemen. Sharon hat mir erzählt, er hätte eine ganze Reihe dieser widerlichen alten Dinger und würde sich regelmäßig über das antiquierte Recht, Waffen zu tragen, ereifern. Wenn es nach ihm ginge, würden wir alle auf der Stelle ins zwanzigste Jahrhundert zurückkehren und einander wahllos umbringen.«
»Auch heute gibt es noch Morde«, murmelte Eve. »Hat sie jemals Freunde oder Klienten erwähnt, die vielleicht unzufrieden oder übermäßig aggressiv waren?«
»Sharon hatte Dutzende von Freunden. Sie hat die Menschen angezogen wie… « Er suchte nach einer passenden Metapher, und wieder betupfte er sich die Augen mit einem Zipfel seines Schals. »Wie eine exotische, duftende Blume. Und ihre Klienten waren, soweit ich weiß, allesamt mehr als zufrieden. Sie hat sie sorgsam ausgewählt. All ihre Sexualpartner mussten gewissen Ansprüchen genügen, und zwar in Bezug auf ihre äußere Erscheinung, ihren Intellekt, ihre Bildung und ihr Können. Wie gesagt, sie hatte einfach Spaß am Sex, in allen seinen Formen. Sie war eine… Abenteuerin.«
Was zu den Spielzeugen passte, die Eve in dem Apartment entdeckt hatte, zu den samtenen Handschellen und Peitschen, den Duftölen und Halluzinogenen. Die Angebote auf den beiden miteinander verbundenen Virtual-Reality-Kopfhö-rern hatten selbst eine abgebrühte Polizistin wie sie kurzfristig aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Hatte sie zu irgendjemandem eine persönliche Beziehung?«
»Hin und wieder gab es irgendwelche Männer, aber sie verlor immer schnell das Interesse an den Typen. In letzter Zeit jedoch sprach sie öfter von Roarke. Sie hatte ihn auf einer Party kennen gelernt und fühlte sich zu ihm hingezogen. In der Tat hatte sie an dem Abend, nachdem sie zum letzten Mal hier bei mir war, eine Verabredung zum Abendessen mit ihm. Sie bat mich um etwas Exotisches, denn sie wollten zum Dinner nach Mexiko.«
»Nach Mexiko. Das war dann anscheinend vorgestern Abend.«
»Ja. Sie war richtiggehend aufgeregt. Wir haben ihre Haare im Zigeunerstil frisiert, ihre Haut ein bisschen vergoldet – den ganzen Körper, vom Kopf bis zu den Zehen. Knallrote Fingernägel und eine reizende kleine, ablösbare Tätowierung von einem rot geflügelten Schmetterling auf der linken Pobacke. Außerdem Vierundzwanzig-Stunden-Make-up, damit nichts verschmiert. Sie sah einfach fantastisch aus«, sagte er mit erstickter Stimme. »Und dann hat sie mich geküsst und gesagt, vielleicht wäre sie dieses Mal wirklich verliebt. ›Wünsch mir Glück, Sebastian‹ hat sie mich gebeten, als sie sich von mir verabschiedete. Es war das Letzte, was ich von ihr gehört habe.«