Eve hasste Beerdigungen. Sie verabscheute die Rituale, auf denen die Menschen im Angesicht des Todes so beharrlich bestanden. Die Blumen, die Musik, die endlosen Worte und das jämmerliche Schluchzen.
Vielleicht gab es einen Gott. Diese Möglichkeit hatte sie noch nicht gänzlich verworfen. Falls es ihn tatsächlich gab, dann amüsierte er sich bestimmt köstlich über die sinnlosen Sitten und Gebräuche der von ihm geschaffenen Wesen.
Trotzdem war sie Sharon DeBlass’ Beerdigung wegen extra nach Virginia geflogen. Sie wollte die Verwandten und Freunde der Toten beobachten, analysieren und beurteilen.
Der Senator stand mit grimmiger Miene und trockenen Augen, seinen Schatten Rockman im Rücken, in der ersten Reihe neben seinem Sohn und seiner Schwiegertochter.
Sharons Eltern waren junge, attraktive, erfolgreiche Anwälte mit eigener Kanzlei.
Richard DeBlass wirkte mit dem gesenkten Kopf und den gesenkten Lidern wie eine schlankere, doch zugleich irgendwie weniger dynamische Ausgabe seines Vaters. War es Zufall oder Absicht, fragte sich Eve, dass er in gleichem Abstand zwischen seinem Vater und seiner Gattin stand?
Elizabeth Barrister war eine schlanke Frau mit dichtem, schimmerndem mahagonibraunem Haar in einem eleganten, dunklen Kostüm. Sie wirkte wie erstarrt, und aus ihren rot geränderten Augen rann ein beständiger Strom lautloser Tränen.
Was empfand eine Mutter, fragte sich Eve, wenn sie ein Kind verlor?
Senator DeBlass hatte auch eine Tochter, und die stand zu seiner Rechten. Kongressabgeordnete Catherine DeBlass war in die politischen Fußstapfen ihres Vaters getreten. Sie war geradezu schmerzlich dünn, hatte eine militärisch straffe Haltung, und ihre Arme wirkten in dem schwarzen Kleid wie dürre Zweige. Neben ihr stand ihr Ehemann John Summit und starrte auf den vorne in der Kirche aufgebahrten, mit Rosen geschmückten, schimmernden Sarg, während ihr gemeinsamer Sohn Franklin, gefangen im schlaksigen Körper eines Heranwachsenden, unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat.
Am Ende der Bank, irgendwie getrennt vom Rest der Familie, stand DeBlass’ Gattin Anna.
Sie stand vollkommen reglos und mit trockenen Augen etwas abseits und blickte nicht einmal in Richtung der blumenübersäten Kiste, die die Überreste ihrer einzigen Enkelin enthielt.
Natürlich waren noch mehr Menschen in der Kirche. Elizabeths Eltern standen nebeneinander und hielten sich hemmungslos weinend bei den Händen. Vettern und Cousinen, Bekannte und Freunde betupften sich die Augen oder sahen sich fasziniert oder entgeistert um. In der Kirche drängten sich mehr Politiker als in der Kantine des Senats. Selbst der Präsident hatte einen Vertreter nach Virginia geschickt.
Trotz der über hundert Gesichter hatte Eve kein Problem, Roarke in der Menge zu entdecken. Er war allein. Natürlich saßen auch andere in seiner Reihe, doch Eve erkannte die Aura des Einzelgängers, die ihn untrüglich umgab. Es hätten auch zehntausend Menschen in dem Gebäude versammelt sein können, und trotzdem hätte er sich sichtbar von ihnen distanziert.
Sein attraktives Gesicht war völlig unbewegt. Es verriet weder Schuld noch Trauer noch auch nur Interesse. Ebenso gut hätte er sich ein eher schlechtes Theaterstück ansehen können. Und eine bessere Beschreibung hätte Eve für eine Beerdigung tatsächlich nicht gehabt.
Mehr als ein Kopf drehte sich in seine Richtung, um ihn verhohlen zu studieren oder um wie eine wohl geformte Brünette aus der fünften Reihe wenig subtil mit ihm zu flirten. Roarke reagierte beide Male gleich: Er achtete ganz einfach nicht darauf.
Auf den ersten Blick wirkte er kalt. Kalt wie jemand, der sich gegen alles und jeden abschirmte. Doch irgendwo in diesem Menschen musste zugleich ein Feuer lodern. Man brauchte mehr als Intelligenz und Disziplin, um es so jung so weit zu bringen. Man brauchte ganz sicher Ehrgeiz, und Eve war der Überzeugung, dass Ehrgeiz eine heiße Flamme war.
Er schaute reglos geradeaus, doch dann wandte er ohne Vorwarnung den Kopf, blickte auf die andere Seite des Ganges fünf Reihen hinter sich und sah Eve direkt in die Augen.
Angesichts des Blickes, der sie traf wie ein Fausthieb in den Magen, wäre sie vor lauter Überraschung beinahe zusammengefahren. Nur unter Aufbietung ihrer gesamten Willenskraft gelang es ihr, weder zu blinzeln noch ihre Augen woandershin zu lenken. Während einer flirrenden Minute starrten sie einander an. Dann jedoch setzten sich die Menschen in Bewegung, und die ins Freie drängenden Trauergäste versperrten ihr die Sicht.
Als Eve in den Gang trat und sich nach ihm umsah, war er bereits fort.
Sie reihte sich mit ihrem Wagen in den Strom der Limousinen, der sich unter dem in gemessenem Tempo schwebenden Leichenflieger und den Flugzeugen der Familie in Richtung Friedhof wälzte. Nur die ganz Reichen konnten sich eine Friedhofbestattung leisten, und nur die von der Tradition Besessenen begruben tatsächlich noch ihre Toten in der Erde.
Eve runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad ihres Wagens, während sie ihre bisherigen Beobachtungen aufnahm. Als sie zu Roarke kam, vertiefte sich ihr Stirnrunzeln, und sie zögerte kurz.
»Weshalb sollte er sich die Mühe machen und die Beerdigung einer derart flüchtigen Bekannten besuchen?« murmelte sie in den in ihrer Tasche steckenden Rekorder. »Den vorliegenden Daten zufolge hatten sich die beiden gerade erst kennen gelernt und hatten nur eine einzige Verabredung. Sein Verhalten erscheint demnach widersprüchlich und fragwürdig.«
Sie erschauderte und war froh, dass sie allein war, als sie durch das geschwungene Tor des Friedhofs fuhr. Ihrer Meinung nach sollte es gesetzlich verboten werden, jemanden, selbst einen Toten, in ein kaltes, dunkles Loch zu stecken.
Wieder wurden feierliche Worte gesprochen, wieder brachen die Menschen in Tränen aus, wieder war der Sarg unter den Blumen beinahe nicht zu sehen. Es herrschte strahlender Sonnenschein, doch die Luft war schneidend wie die Stimme eines quengeligen Kindes, und so schob sie, da sie wieder einmal ihre Handschuhe vergessen hatte, die Hände in die Taschen des langen, dunklen Mantels, den sie sich geborgt hatte. Der darunter versteckte einzige graue Anzug, den sie je besessen hatte, hatte einen losen Knopf, der sie anzuflehen schien, ihn endlich abzureißen, und ihre Zehen fühlten sich in ihren dünnen Lederstiefeln an wie kleine Eiswürfel.
Doch das körperliche Unbehagen lenkte sie zumindest von dem durch die sie umgebenden Grabsteine zum Ausdruck gebrachten Elend und dem Geruch nach kalter, frischer Erde ab, während sie wartete, bis die letzten trübsinnigen Worte über das ewige Leben endlich irgendwann verklangen und sie sich dem Senator nähern konnte, ohne allzu aufdringlich zu wirken.
»Ich möchte Ihnen und Ihrer Familie mein Beileid aussprechen, Senator DeBlass.«
Seine scharfen, schwarzen Augen wirkten so hart wie die abgehackte Kante eines Steins. »Sparen Sie sich Ihr Mitleid, Lieutenant. Ich will Gerechtigkeit.«
»Die will ich genauso. Mrs. DeBlass.« Eve reichte der Gattin des Senators die Hand und merkte, wie ihre Finger ein Bündel trockener Zweige zu fassen bekamen.
»Danke, dass Sie gekommen sind.«
Eve nickte wortlos mit dem Kopf. Ein kurzer Blick hatte genügt, um ihr zu zeigen, dass Anna DeBlass eindeutig unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stand. Ihre Augen wanderten über Eves Gesicht und verharrten oberhalb von ihrer Schulter, als sie ihr ihre Hand wieder entzog.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie mit genau derselben tonlosen Stimme zum nächsten Trauergast.
Ehe Eve noch etwas sagen konnte, packte jemand entschieden ihren Arm. Rockman bedachte sie mit einem ernsten Lächeln. »Lieutenant Dallas, der Senator und seine Familie wissen das Mitgefühl und die Anteilnahme zu schätzen, die Sie durch den Besuch des Gottesdienstes zum Ausdruck gebracht haben.« In der ihm eigenen ruhigen Art zog er sie diskret ein Stück zur Seite. »Trotzdem bin ich sicher, dass Sie verstehen, dass es für Sharons Eltern schwierig wäre, der mit den Ermittlungen betrauten Polizistin ausgerechnet über dem Grab ihrer Tochter zu begegnen.«
Eve ließ sich widerstandslos anderthalb Meter fortführen, ehe sie sich losriss. »Sie haben wirklich den passenden Beruf, Rockman. Das war ein wirklich dezenter und diplomatischer Weg, um mir zu sagen, dass ich von hier verschwinden soll.«
»Das wollte ich ganz und gar nicht.« Nach wie vor hatte er das für ihn typische aalglatte, höfliche Lächeln im Gesicht. »Aber es gibt eben für alles den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort. Sie genießen unsere uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft, Lieutenant. Wenn Sie den Wunsch haben, die Familie des Senators zu befragen, kann ich das gerne arrangieren.«
»Das mache ich lieber selbst, und zwar zu dem von mir gewählten Zeitpunkt und an dem von mir gewählten Ort.« Da sein selbstgefälliges Lächeln ihr auf die Nerven ging, beschloss sie, dafür zu sorgen, dass er es verlor. »Wie steht es mit Ihnen, Rockman? Haben Sie eigentlich ein Alibi für die fragliche Nacht?«
Tatsächlich legte sich sein Lächeln – was ihr eine gewisse Befriedigung verschaffte –, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Das Wort Alibi missfällt mir.«
»Mir auch«, erwiderte sie und lächelte ihrerseits. »Und genau das ist der Grund, weshalb es mir ein solches Vergnügen bereitet, Alibis zu zerstören. Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Rockman.«
»In der Nacht, in der Sharon ermordet wurde, war ich in East Washington. Der Senator und ich haben ziemlich lange an einer Gesetzesvorlage gearbeitet, die er in den nächsten Monaten einbringen will.«
»Von EW bis New York ist es nicht gerade weit.«
»Das stimmt. Trotzdem habe ich in jener Nacht keine Reise dorthin unternommen. Wir haben bis beinahe Mitternacht gearbeitet, und dann habe ich im Gästezimmer des Senators übernachtet. Um sieben Uhr am nächsten Morgen haben wir zusammen gefrühstückt. Da Sharon Ihren eigenen Berichten zufolge um zwei Uhr ermordet worden ist, schränkt das meine Möglichkeiten ziemlich ein.«
»Auch eingeschränkte Möglichkeiten können manchmal genügen.« Doch das sagte sie nur, um ihn zu ärgern, ehe sie sich abwandte. In der Akte, die sie DeBlass überlassen hatte, hatte nichts von den manipulierten Sicherheitsdisketten gestanden. Der Mörder war bereits um Mitternacht im Haus gewesen, und Rockman hätte sicher nicht ausgerechnet den Großvater des Opfers als Zeugen für ein falsches Alibi genannt. Die Tatsache, dass er bis Mitternacht in East Washington gearbeitet hatte, machte demnach auch noch die eingeschränkteste Möglichkeit zunichte, dass er der Täter sein könnte.
Dann sah sie wieder Roarke und verfolgte mit großem Interesse, wie sich Elizabeth Barrister an ihn klammerte, während er den Kopf neigte und leise mit ihr sprach. Nicht gerade die übliche Form der Beileidsbezeugung durch einen völlig Fremden, dachte sie verwundert.
Überrascht zog sie die Brauen in die Höhe, als Roarke eine Hand an Elizabeths rechte Wange legte und sie auf die linke küsste, ehe er einen Schritt zurücktrat und mit ruhiger Stimme etwas zu ihrem Gatten sagte.
Dann ging er hinüber zum Senator, doch sie gaben sich nicht einmal die Hand, während sie kurz miteinander sprachen, ehe er, wie von Eve vermutet, alleine über das harte Wintergras zwischen den kalten Monumenten hindurchging, die die Lebenden für die Toten errichteten.
»Roarke.«
Er blieb stehen, drehte sich wie während des Gottesdienstes um und musterte sie. Sie hatte das Gefühl, als verrieten seine Augen eine Spur von Ärger, Trauer oder simpler Ungeduld, ehe sie sie erneut kalt, blau und unergründlich anstarrten.
Ohne jede Eile ging sie zu ihm hinüber. Etwas sagte ihr, dass er es gewohnt war, dass die Menschen – vor allem die Frauen – in seiner Umgebung sich stets beeilten, um zu ihm zu kommen, und so ließ sie den langen, geborgten Mantel um ihre kalten Beine flattern, während sie mit großen, doch langsamen Schritten in seine Richtung schlenderte.
»Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten«, sagte sie, als sie ihn schließlich erreicht hatte, zog ihre Dienstmarke hervor und beobachtete, wie er einen flüchtigen Blick darauf warf, ehe er ihr wieder ins Gesicht sah. »Ich untersuche den Mord an Sharon DeBlass.«
»Besuchen Sie immer die Beerdigungen der Opfer der Morde, die Sie untersuchen, Lieutenant Dallas?«
Über seiner wohlklingenden Stimme lag ein Hauch des Zaubers seiner irischen Heimat, wie eine Haube cremig weißer Sahne auf einem Glas mit warmem Whiskey.
»Besuchen Sie immer die Beerdigungen von Frauen, die Sie kaum gekannt haben?«
»Ich bin ein Freund der Familie«, erwiderte er schlicht. »Sie frieren, Lieutenant.«
Sie schob ihre eiskalten Finger in die Tasche ihres Mantels. »Wie gut kennen Sie die Familie des Opfers?«
»Gut genug.« Er legte seinen Kopf auf die Seite und betrachtete sie. Noch eine Minute, und ihre Zähne würden anfangen zu klappern. Der widerlich beißende Wind blies ihr die schlecht geschnittenen Haare um ein äußerst interessantes Gesicht. Intelligent, starrsinnig und sexy. Drei sehr gute Gründe, um sich eine Frau genauer anzusehen. »Wäre es nicht vielleicht angenehmer, irgendwo zu reden, wo es wärmer ist?«
»Ich konnte Sie nirgendwo erreichen.«
»Ich war unterwegs, aber jetzt haben Sie mich ja erreicht. Ich nehme an, Sie müssen zurück nach New York? Heute?«
»Ja. Ich habe noch ein paar Minuten, bis ich zu meinem Flieger muss. Also… «
»Fliegen wir besser gemeinsam. Dann haben Sie genug Zeit, um mich auseinander zu nehmen.«
»Um Sie zu befragen«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wütend, weil er sich einfach von ihr abwandte und losging, sodass sie ihm nachlaufen musste. »Ein paar kurze Antworten jetzt, Roarke, und dann können wir eine ausführlichere Befragung in New York durchführen.«
»Ich hasse es, Zeit zu vergeuden«, erklärte er in leichtem Ton. »Und ich habe den Eindruck, als ginge es Ihnen nicht anders. Haben Sie einen Wagen gemietet?«
»Ja.«
»Ich werde seine Rückgabe veranlassen.« Er streckte seine Hand aus, damit sie ihm die Schlüsselkarte überreichte.
»Das ist nicht erforderlich.«
»Es ist einfacher. Ich mag es nicht, wenn man die Dinge unnötig verkompliziert, Lieutnant. Sie und ich wollen ungefähr zur selben Zeit ans selbe Ziel. Sie wollen mich befragen, und ich bin willens, Ihnen zu antworten.« Neben einer schwarzen Limousine, deren Hintertür von einem uniformierten Fahrer aufgehalten wurde, blieb er stehen und sah sie an. »Ich fliege nachher nach New York. Natürlich können Sie mir zum Flugplatz folgen, von dort aus ein öffentliches Flugzeug nehmen und in meinem Büro anrufen, um einen Termin zu vereinbaren. Oder aber Sie fahren jetzt mit mir und genießen anschließend die Ungestörtheit meines Jets und meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
Sie zögerte nicht lange, ehe sie die Schlüsselkarte des Mietwagens aus ihrer Manteltasche zog, in seine Hand fallen ließ, unter seinem Lächeln in die Limousine stieg und es sich, während er seinen Fahrer anwies, ihren Wagen zu der Verleihfirma zurückzubringen, in den dicken Polstern bequem machte.
»Nun denn.« Roarke glitt neben sie und griff nach einer Karaffe. »Hätten Sie gegen die Kälte vielleicht gerne einen Brandy?«
»Nein.« Sie spürte, wie sich die Wärme des Wagens von ihren Füßen her in ihrem Körper auszubreiten begann und fürchtete, als Reaktion würde sie anfangen zu zittern.
»Ah, verstehe. Schließlich sind Sie im Dienst. Dann vielleicht Kaffee.«
»Sehr gern.«
Als er den in das Seitenpaneel eingelassenen AutoChef auf zwei Kaffee programmierte, blitzte an seinem Handgelenk eine teure goldene Uhr.
»Sahne?«
»Schwarz.«
»Eine Frau nach meinem Herzen.« Sekunden später öffnete er die Schutztür und reichte ihr eine Porzellantasse auf einer zerbrechlich wirkenden Untertasse. »Im Flugzeug ist die Auswahl etwas größer«, sagte er und lehnte sich mit seinem eigenen Kaffee behaglich in die Polster.
»Darauf hätte ich gewettet.« Aus ihrer Tasse stieg ein verführerischer Duft, sie nippte vorsichtig an dem dampfend heißen Gebräu und hätte um ein Haar geseufzt.
Es war tatsächlich echter Kaffee. Keins der Gemüsekonzentrate, mit denen man sich seit der Abholzung der Regenwälder Ende des zwanzigsten Jahrhunderts meistens begnügen musste. Dies hier war echter Kaffee aus echten kolumbianischen Bohnen mit echtem Koffein.
Sie nippte ein zweites Mal und hätte beinahe geweint.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Er genoss das Flattern ihrer Lider, die leichte Röte ihrer Wangen, ihre sich verdunkelnden Augen – eine Reaktion ähnlich der, die eine Frau unter den Händen eines guten Mannes an den Tag legte.
»Wissen Sie, wie lange es her ist, seit ich zum letzten Mal echten Kaffee getrunken habe?«
Er lächelte. »Nein.«
»Ich auch nicht.« Schamlos schloss sie ihre Augen und hob die Tasse erneut an ihren Mund. »Sie müssen entschuldigen, dies ist ein bedeutender Moment. Wir unterhalten uns im Flugzeug.«
»Wie Sie wollen.«
Während der Wagen lautlos über die Straße glitt, gestattete er sich das Vergnügen, sie einfach zu beobachten.
Seltsam, dachte er, er hatte sie nicht sofort als Bullen erkannt. Normalerweise besaß er in derartigen Dingen einen untrüglichen Instinkt. Auf der Beerdigung jedoch hatte er einzig daran gedacht, was für eine schreckliche Vergeudung es doch war, dass ein so junger, so närrischer, so lebendiger Mensch wie Sharon plötzlich tot war.
Dann hatte er etwas gespürt, hatte gemerkt, wie sich seine Nackenhaare gesträubt und sich seine Muskeln angespannt hatten. Er hatte ihren Blick gespürt, körperlich, wie einen Schlag. Als er sich umgedreht und sie entdeckt hatte, war das der zweite Schlag gewesen. Ein wie in Zeitlupe ablaufender Doppelhaken, dem er einfach nicht hatte ausweichen können.
Doch das Warnlämpchen hatte versagt. Das Warnlämpchen, das ihm die Polizistin verraten hätte, hatte ganz einfach nicht geblinkt. Er hatte einzig eine große, gertenschlanke Frau mit kurzen, wirren braunen Haaren, honiggelben Augen und sinnlichen Lippen hinter sich gesehen.
Wenn sie ihn nicht aufgespürt hätte, dann hätte er sich auf die Suche gemacht.
Zu schade, dass sie ein Bulle war.
Sie sprach erst wieder, als sie den Flugplatz erreicht hatten und sich an Bord seines JetStar 6000 begaben.
Abermals war sie gegen ihren Willen tatsächlich beeindruckt. Kaffee war eine Sache, und eine kleine Schwäche war jedem Menschen gestattet, doch fand sie es wirklich übertrieben, dass ihr, als sie die luxuriöse Kabine mit den tiefen Sesseln, den bequemen Sofas, dem antiken Teppich und den mit Blumen gefüllten Kristallvasen erblickte, beinahe die Augen aus dem Gesicht kullerten.
Die Vorderwand war durchgängig verglast, und es gab eine uniformierte Flugbegleiterin, die sich nicht die geringste Überraschung darüber anmerken ließ, dass Roarke mit einer Fremden an Bord des Flugzeugs kam.
»Brandy, Sir?«
»Meine Begleiterin hätte lieber schwarzen Kaffee, Diana.« Mit hochgezogener Braue wartete er darauf, dass die Polizistin nickte. »Aber ich nehme einen Brandy, vielen Dank.«
»Ich habe bereits vom JetStar gehört.« Eve schälte sich aus ihrem Mantel, den die Stewardess zusammen mit Roarkes Mantel in einem Schrank verschwinden ließ. »Angenehme Form zu reisen.«
»Danke. Wir haben auch zwei Jahre lang an seinem Design gefeilt.«
»Roarke Industries?«, fragte sie, während sie Platz nahm.
»Genau. Wann immer es möglich ist, benutze ich unsere eigenen Produkte. Sie müssen sich vor dem Start anschnallen«, erklärte er ihr, beugte sich ein wenig vor und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Wir wären bereit.«
»Die Starterlaubnis wurde bereits erteilt«, kam die Entgegnung. »Dreißig Sekunden bis zum Abheben.«
Beinahe ehe Eve nur blinzeln konnte, waren sie schon in der Luft, und zwar derart geschmeidig, dass sie kaum etwas davon gemerkt hatte. Tatsächlich kein Vergleich zu den kommerziellen Flügen, bei denen man während der ersten fünf Minuten unangenehm in seinen Sitz gepresst wurde.
Diana brachte die Getränke und einen kleinen Teller mit Obst und Käse, dessen Anblick Eve das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Trotzdem war es an der Zeit, mit der Arbeit zu beginnen, sagte sie sich streng.
»Wie lange kannten Sie Sharon DeBlass?«
»Ich habe sie erst vor kurzem im Haus eines gemeinsamen Bekannten kennen gelernt.«
»Sie sagten, Sie wären ein Freund der Familie.«
»Ein Freund ihrer Eltern«, erwiderte er leicht. »Ich kenne Beth und Richard seit mehreren Jahren. Zunächst hatten wir geschäftlich und dann auch privat miteinander zu tun. Sharon war erst in der Schule und dann in Europa, sodass sich unsere Wege niemals kreuzten. Zum ersten Mal sah ich sie vor ein paar Tagen. Ich habe sie einmal zum Essen ausgeführt, und dann war sie tot.«
Er zog eine flache goldene Schachtel aus der Innentasche seiner Jacke, und Eve verfolgte mit zusammengekniffenen Augen, wie er sich eine Zigarette anzündete. »Tabak ist verboten, Roarke.«
»Nicht im freien Luftraum, in internationalen Gewässern oder auf privatem Grund.« Durch eine Rauchwolke hindurch lächelte er sie an. »Lieutenant, meinen Sie nicht auch, dass die Polizei schon genug zu tun hat, ohne dass sie versucht, unsere Moral und unseren persönlichen Lebensstil zu überwachen?«
Sie hasste es, auch nur sich selbst gegenüber eingestehen zu müssen, dass der Tabak köstlich roch. »Ist das der Grund, weshalb Sie Waffen sammeln? Ist es Teil Ihres persönlichen Lebensstils?«
»Ich finde die Dinger faszinierend. Unser beider Großväter betrachteten den Besitz einer Waffe als verfassungsmäßiges Recht. Anscheinend haben wir, während wir uns zivilisiert haben, ein bisschen mit den Grundrechten herumgespielt.«
»Morde und Verletzungen mit dieser besonderen Art von Waffe sind inzwischen nicht mehr die Norm, sondern die Ausnahme.«
»Sie mögen Regeln, Lieutenant?«
Sein Ton war ebenso mild wie die Beleidigung, die sich hinter der Frage verbarg. Eve straffte ihre Schultern. »Das Fehlen von Regeln bedeutet Chaos.«
»Und Chaos bedeutet Leben.«
Scheiß Philosophie, dachte sie verärgert. »Besitzen Sie einen Smith & Wesson, Kaliber achtunddreißig, Modell zehn, Baujahr circa 1990?«
Abermals zog er langsam und nachdenklich an seiner Zigarette, und der teure Tabak verbrannte zwischen seinen langen, eleganten Fingern, als er erklärte: »Ich glaube, ich besitze ein solches Modell. Wurde sie damit umgebracht?«
»Wären Sie bereit, mir die Waffe zu zeigen?«
»Natürlich, jederzeit.«
Zu simpel, dachte sie. Sie hegte einen ausgeprägten Argwohn gegen alles Simple. »Am Abend ihres Todes haben Sie mit der Verstorbenen zu Abend gegessen. In Mexiko.«
»Das stimmt.« Roarke drückte seine Zigarette aus und lehnte sich mit seinem Brandy in seinem Sitz zurück. »Ich besitze eine kleine Villa an der Westküste. Ich dachte, es würde ihr dort gefallen. Und so war es.«
»Hatten Sie eine körperliche Beziehung zu Sharon De-Blass?«
Seine Augen begannen zu glitzern, ob jedoch belustigt oder eher verärgert, konnte sie nicht sagen. »Ich nehme an, damit wollen Sie fragen, ob ich mit ihr Sex hatte. Nein, Lieutenant, obwohl das meiner Meinung nach bar jeder Bedeutung ist. Wir haben lediglich miteinander zu Abend gegessen.«
»Sie haben eine schöne Frau, eine lizenzierte Gesellschafterin, mit in Ihre Villa nach Mexiko genommen und alles, was Sie dort mit ihr geteilt haben, war das Abendessen?«
Bedächtig wählte er eine der schimmernd grünen Trauben von dem Teller. »Ich weiß schöne Frauen aus einer ganzen Reihe von Gründen zu schätzen, und ich verbringe auch gerne Zeit mit ihnen. Allerdings beschäftige ich niemals professionelle Begleiterinnen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens erachte ich es nicht als notwendig, für Sex zu bezahlen.« Er nippte an seinem Brandy und beobachtete sie über den Rand des Glases. »Und zweitens teile ich nicht gern.« Er machte eine minimale Pause. »Sie vielleicht?«
Sie beschloss, das Flattern in ihrem Magen einfach zu ignorieren. »Hier geht es nicht um mich.«
»Mir schon. Sie sind eine schöne Frau, und wir sind vollkommen allein, zumindest für die nächsten fünfzehn Minuten. Trotzdem war alles, was wir bisher geteilt haben, Kaffee und Brandy.« Er lächelte, als er das zornige Blitzen ihrer Augen sah. »Wirklich heldenhaft, nicht wahr, wie sehr ich mich beherrsche.«
»Ich würde sagen, Ihre Beziehung zu Sharon DeBlass war anderer Art.«
»Oh, da haben Sie ganz sicher Recht.« Er nahm eine weitere Traube und bot sie ihr an.
Appetit war eine Schwäche, erinnerte sich Eve, während sie die Traube nahm und ihre Zähne in der dünnen, straffen Haut vergrub. »Haben Sie sie nach dem Abendessen in Mexiko noch einmal gesehen?«
»Nein, ich habe sie gegen drei Uhr morgens heimgebracht und bin dann nach Hause gefahren. Allein.«
»Können Sie mir sagen, wo Sie die achtundvierzig Stunden, nachdem Sie – allein – nach Hause gefahren sind, verbracht haben?«
»Während der ersten fünf Stunden lag ich im Bett. Dann habe ich während des Frühstücks einen Konferenzanruf entgegengenommen. Das war so gegen acht Uhr fünfzehn. Sie können es gerne überprüfen.«
»Das werde ich auch tun.«
Als er grinste, versprühte er einen derart ungetrübten Charme, dass ihr Pulsschlag einmal aussetzte. »Da bin ich mir ganz sicher. Sie faszinieren mich, Lieutenant Dallas.«
»Und nach dem Gespräch?«
»Es endete gegen neun. Dann habe ich bis zehn Uhr meine Morgengymnastik gemacht und anschließend mehrere Stunden mit diversen Terminen in meinem Büro in der City zugebracht.« Er zog eine schmale, dünne Karte aus der Tasche, die, wie sie erkannte, ein Terminkalender war. »Soll ich die Termine einzeln auflisten?«
»Ich würde es vorziehen, wenn Sie mir einen Ausdruck ins Büro schicken könnten.«
»Kein Problem. Gegen sieben war ich wieder zu Hause und habe dort mit mehreren Mitarbeitern aus meiner japanischen Firma zu Abend gegessen. Das Essen begann um acht. Soll ich Ihnen die Speisekarte schicken?«
»Machen Sie sich nicht über mich lustig, Roarke.«
»Ich versuche lediglich, gründlich zu sein, Lieutenant. Der Abend endete recht früh. Gegen elf war ich allein, mit einem Buch und einem Brandy, bis ungefähr sieben Uhr morgens, als ich meine erste Tasse Kaffee getrunken habe. Hätten Sie vielleicht gerne noch eine?«
Sie hätte einen Mord begangen für eine weitere Tasse echten Kaffees, doch sie schüttelte den Kopf. »Dann waren Sie also acht Stunden lang allein. Haben Sie während der Zeit mit irgendwem gesprochen, irgendwen gesehen?«
»Nein. Niemanden. Ich musste am nächsten Tag in Paris sein und wollte einfach einen ruhigen Abend verbringen. Offenbar ein ziemlich schlechtes Timing. Andererseits, wenn ich jemanden hätte umbringen wollen, wäre ich wohl ziemlich schlecht beraten gewesen, wenn ich mir nicht gleichzeitig ein schützendes Alibi besorgt hätte.«
»Oder aber Sie wären derart von sich überzeugt gewesen, dass Sie es schlicht nicht als notwendig erachtet hätten«, erwiderte sie bissig. »Sammeln Sie nur antike Waffen, Roarke, oder benutzen Sie sie auch?«
»Ich bin ein hervorragender Schütze.« Er stellte seinen leeren Schwenker an die Seite. »Ich gebe Ihnen gern eine Kostprobe meines Könnens, wenn Sie kommen, um sich meine Sammlung anzusehen. Wäre Ihnen morgen recht?«
»Fein.«
»Sieben Uhr? Ich nehme an, Sie haben die Adresse.« Als er sich ein wenig vorbeugte, wurde sie starr, und als er mit einer seiner Hände über ihren Arm strich, hätte sie beinahe gezischt. Statt etwas zu sagen, lächelte er jedoch nur. »Sie müssen sich anschnallen«, erklärte er ihr leise. »Wir werden gleich landen.«
Er schloss ihren Gurt persönlich, wobei er sich fragte, ob er sie als Mann oder als Mordverdächtiger oder als Mischung aus beidem derart nervös machte. Nun, jede dieser Möglichkeiten war für sich genommen interessant – und jede dieser Möglichkeiten bot anregende Perspektiven.
»Eve«, murmelte er beinahe verträumt. »Was für ein schlichter, femininer Name. Ich frage mich, ob er zu Ihnen passt.«
Sie enthielt sich einer Antwort, als die Stewardess erschien, um die Teller, Tassen und Gläser fortzuräumen. »Waren Sie jemals in Sharon DeBlass’ Apartment?«
Sie hatte wirklich eine harte Schale, doch er war sich sicher, darunter säße ein weicher, heißer Kern, und er fragte sich, ob – nein, wann – er die Gelegenheit bekäme, sich diesen Kern genauer anzusehen.
»Nicht, solange sie dort Mieterin war«, erklärte er und lehnte sich erneut in seinem Sitz zurück. »Soweit ich mich entsinne, überhaupt niemals, obgleich es natürlich sein könnte.« Abermals lächelnd schloss er auch seinen Gurt. »Wie Sie bestimmt längst wissen, bin ich schließlich der Eigentümer des Hauses.«
Er blickte aus dem Fenster und verfolgte, wie ihnen die Erde entgegenzufliegen schien. »Haben Sie einen Wagen am Flughafen, Lieutenant, oder kann ich Sie vielleicht mitnehmen?«