17

Eve ließ sich nicht anmerken, welche persönliche Befriedigung sie darüber empfand, zu dem Team zu gehören, von dem Simpson verhört wurde. Mit Rücksicht auf seine Position benutzten sie für das Verhör statt eines gewöhnlichen Befragungszimmers die Räumlichkeiten des Commanders.

Doch selbst die großen, hellen Fenster und der schimmernde Acryltisch konnten nicht kaschieren, dass Simpson in ernsten Schwierigkeiten steckte, und die feinen Schweißperlen auf seiner Oberlippe zeigten, dass es ihm bewusst war.

»Die Medien versuchen, uns zu schaden«, setzte Simpson zu der sorgfältig von seinem obersten Berater vorbereiteten Erklärung an. »Angesichts des unleugbaren Versagens bei den Ermittlungen zu den brutalen Morden an drei Frauen, versuchen sie jetzt, eine Hexenjagd zu inszenieren. Und dabei bin ich als Polizeipräsident eindeutig ein passendes Opfer.«

»Polizeipräsident Simpson.« Nicht einmal durch das Flattern eines Lides ließ sich Commander Whitney anmerken, wie sehr er innerlich frohlockte. Seine Stimme klang gemessen, und seine Augen blickten ernst. Sein Herz jedoch vollführte wahre Freudensprünge ob dieses Moments. »Ungeachtet des möglichen Motivs für die Enthüllungen wird es erforderlich sein, dass Sie uns für die offensichtlichen Unregelmäßigkeiten in Ihrer persönlichen Buchführung eine plausible Erklärung geben.«

Simpson saß wie erstarrt auf seinem Stuhl, während einer seiner Anwälte sich vorbeugte und ihm etwas ins Ohr raunte.

»Ich habe keinerlei Unregelmäßigkeiten zugegeben. Falls es welche gibt, sind sie mir nicht bewusst.«

»Polizeipräsident Simpson, Sie sind sich nicht bewusst, dass Sie einen Betrag von über zwei Millionen Dollar auf einem Schweizer Konto deponiert haben?«

»Ich habe bereits meine Steuerberater kontaktiert. Falls irgendwelche Fehler gemacht wurden, dann offensichtlich von ihnen.«

»Bestätigen Sie oder leugnen Sie, dass das Bankkonto mit der Nummer vier achtundsiebzig neun eins eins zwei sieben vier neunundneunzig Ihnen gehört?«

Nach einer weiteren kurzen Beratung nickte Simpson mit dem Kopf. »Ich bestätige es.« Zu lügen hätte geheißen, die um seinen Hals liegende Schlinge selbst noch enger zu ziehen.

Whitney blickte hinüber zu Eve. Sie waren darin übereingekommen, dass das Konto Sache des Finanzamts war. Alles, was sie gewollt hatten, war Simpsons offizielle Bestätigung, dass er der Eigentümer war.

»Polizeipräsident Simpson, würden Sie uns bitte eine Erklärung dafür geben, dass Sie im letzten Jahr alle drei Monate fünfundzwanzigtausend Dollar, das heißt insgesamt einhunderttausend Dollar, von diesem Konto abgehoben haben?«

Simpson lockerte den Knoten seiner Krawatte. »Ich sehe keinen Grund dafür, Ihnen zu erklären, wofür ich mein Geld ausgebe, Lieutenant Dallas.«

»Dann können Sie uns vielleicht erklären, weshalb genau diese Summe – ebenfalls in vier Teilbeträgen von jeweils fünfundzwanzigtausend Dollar – von Sharon DeBlass unter Ihrem Namen notiert wurde.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Wir haben Beweise dafür, dass Sie Sharon DeBlass im Verlauf des letzten Jahres einhunderttausend Dollar bezahlt haben, und zwar in vier Raten über jeweils ein Viertel des Betrages.« Eve wartete eine Sekunde. »Eine ziemlich große Summe, dafür, dass Sie nur flüchtig mit ihr bekannt waren.«

»Ich habe nichts dazu zu sagen.«

»Hat sie Sie erpresst?«

»Ich habe nichts dazu zu sagen.«

»Die Beweise sagen es an Ihrer Stelle«, erklärte Eve gelassen. »Sie hat Sie erpresst, und Sie haben bezahlt. Ich bin sicher, dass Sie sich der Tatsache bewusst sind, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, eine Erpressung zu beenden, Polizeipräsident Simpson. Entweder man hört auf zu bezahlen oder… man zieht den Erpresser aus dem Verkehr.«

»Das ist vollkommen absurd. Ich habe Sharon nicht getötet. Ich habe sie immer pünktlich bezahlt. Ich – «

»Polizeipräsident Simpson.« Der Altere der beiden Anwälte legte Simpson eine Hand auf den Arm und wandte sich an Eve. »Mein Mandant hat in Bezug auf Sharon DeBlass nichts weiter zu sagen. Natürlich werden wir dem Finanzamt bei der Überprüfung der Bücher unseres Mandanten in jeder erdenklichen Weise behilflich sein. Bisher jedoch wurde keine Anklage erhoben. Dass wir heute hier erschienen sind, ist demnach nichts weiter als eine Geste unseres guten Willens.«

»Kannten Sie eine gewisse Lola Starr?«

»Unser Mandant hat dazu nichts zu sagen.«

»Kannten Sie eine lizensierte Gesellschafterin namens Georgie Castle?«

»Darauf geben wir dieselbe Antwort«, erklärte der Anwalt in beinahe nachsichtigem Ton.

»Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan, um die Ermittlungen in diesen Mordfällen zu unterminieren. Warum?«

»Ist das eine Tatsachenerklärung, Lieutenant Dallas?«, fragte der Anwalt. »Oder ist das Ihre persönliche Meinung?«

»Ich werde Ihnen die Tatsachen nennen«, sprach Eve weiter direkt mit dem Verdächtigen. »Sie waren ein intimer Bekannter von Sharon DeBlass. Sie hat Ihnen jährlich hundert Riesen aus der Tasche gezogen. Sie ist tot, und irgendjemand lässt vertrauliche Informationen über die Ermittlungen in dem Mordfall durchsickern. Zwei weitere Frauen sind tot. Alle drei Opfer verdienten sich ihren Lebensunterhalt durch legale Prostitution – etwas, was Ihnen ein Dorn im Auge ist.«

»Ich lehne Prostitution aus politischer, moralischer und persönlicher Überzeugung ab«, erklärte Simpson mit gepresster Stimme. »Und ich werde jede Gesetzesvorlage, die ein Verbot jeglicher Form der Prostitution zum Ziel hat, von ganzem Herzen unterstützen. Aber ich würde wohl kaum versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen, indem ich nacheinander alle Prostituierten umbringe.«

Eve ließ sich nicht beirren. »Sie sind Besitzer einer Sammlung alter Waffen.«

»Das ist richtig«, gab Simpson, ohne auf seinen Anwalt zu achten, unumwunden zu. »Eine kleine, überschaubare Kollektion. Sämtliche Stücke sind registriert, gesichert und in einer Bestandsliste aufgeführt. Ich übergebe die Waffen gern Commander Whitney, damit dieser sie überprüfen lassen kann.«

»Das weiß ich zu schätzen«, schockierte Whitney Simpson durch die umgehende Annahme des Angebots. »Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, mit uns zu kooperieren.«

In Simpsons Gesicht spiegelten sich die widersprüchlichsten Gefühle, als er sich von seinem Platz erhob. »Wenn diese Sache erledigt ist, werde ich noch lange an diese Begegnung denken.« Er blickte auf Eve. »Ich werde nicht vergessen, wer den Polizeipräsidenten derart angegriffen hat.«

Commander Whitney wartete, bis Simpson, gefolgt von seinen Anwälten, aus dem Raum gesegelt war. »Wenn diese Sache erledigt ist, wird er nicht länger Polizeipräsident sein.«

»Ich hätte mehr Zeit gebraucht, um ihn zu bearbeiten. Warum haben Sie ihn einfach gehen lassen?«

»Es steht nicht nur sein Name auf der Liste von DeBlass«, erinnerte Whitney. »Und bisher gibt es keine nachweisbare Verbindung zwischen ihm und den beiden anderen Opfern. Gehen Sie die Liste durch, finden Sie weitere Beweise, und ich gebe Ihnen alle Zeit der Welt.« Er machte eine Pause und wühlte in den Ausdrucken, die auf seinem Schreibtisch verstreut waren. »Dallas, Sie waren überraschend gut vorbereitet auf diese Befragung. Beinahe, als hätten Sie sie schon erwartet. Ich glaube, ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass es gegen das Gesetz verstößt, wenn man in den privaten Dokumenten anderer herumschnüffelt.«

»Nein, Sir.«

»Das hätte ich auch nicht gedacht. Dann können Sie jetzt gehen.«

Als sie in Richtung Tür ging, meinte sie ein leises »Gut gemacht« zu hören, aber vielleicht irrte sie sich auch.

Gerade, als sie mit dem Fahrstuhl in ihre eigene Abteilung fahren wollte, summte mit einem Mal ihr Handy. »Dallas.«

»Hier Zentrale. Ein Anruf für Sie. Von einem gewissen Charles Monroe.«

»Ich rufe ihn zurück.«

Auf dem Weg durch die großräumige Registratur holte sie sich einen Becher der schwarzen Brühe, die vorgab, Kaffee zu sein, und etwas Ähnliches wie einen Doughnut, denn es dauerte beinahe zwanzig Minuten, bis sie die von ihr verlangten Kopien der Disketten zu den drei Mordfällen bekam.

Dann schloss sie sich in ihrem Arbeitszimmer ein, ging die Disketten noch mal einzeln durch, studierte ihre Aufzeichnungen und fügte neue Anmerkungen hinzu.

Jedes Mal hatte das Opfer auf dem Bett gelegen. Jedes Mal war das Bett zerwühlt, das Opfer nackt und seine Frisur zerzaust gewesen.

Mit zusammengekniffenen Augen befahl sie dem Computer, das Bild von Lola Starr erstarren zu lassen und es zu vergrößern.

»Die linke Pobacke ist eindeutig gerötet«, murmelte sie. »Das habe ich vorher nicht gesehen. Wurde ihr vielleicht das Hinterteil versohlt? Erregt es den Täter, seine Opfer zu dominieren? Scheint sich weder gestoßen zu haben noch wirklich verprügelt worden zu sein. Am besten sieht sich Feeney die Sache mal genauer an. Und jetzt die DeBlass-Diskette.«

Wieder ließ Eve den Film vor ihren Augen ablaufen. Sharon lachte in die Kamera, verspottete ihr Gegenüber, berührte sich, räkelte sich auf dem Bett. »Bild anhalten, vergrößern. Keine Rötung«, sagte sie. »Weiter. Komm schon, Sharon, zeig mir deine rechte Pobacke, damit ich sichergehen kann. Noch ein bisschen. Stopp. Vergrößerung des Quadranten zwölf. Nein, du hast keine Rötungen. Vielleicht hast ja du deinem Mörder den Hintern versohlt? Die Castle-Diskette. Los, Georgie, zeig mir deinen Hintern.«

Sie beobachtete die lächelnde, flirtende Frau, die sich mit einer Hand die wirren Haare glättete. Eve kannte den Dialog bereits auswendig. »Das war wunderbar. Du bist wirklich fantastisch. «

Sie kniete auf dem Bett, hockte sich dann auf ihre Fersen und bedachte ihr Gegenüber mit einem freundlichen, warmen Lächeln. Eve begann sie stumm zu drängen, sich herumzudrehen, nur ein bisschen, bis sie sie von hinten sehen konnte. Ja, Georgie gähnte und drehte sich um, um die Kissen auszuklopfen.

»Anhalten. O ja, er hat dir den Hintern versohlt, stimmt’s? Ein paar der Typen haben eben ein Faible dafür, böses Mädchen und Daddy zu spielen.«

Plötzlich traf die Erinnerung sie wie ein Messerstich ins Hirn. Sie spürte das Klatschen einer Hand auf ihrem Hintern, das Brennen der Haut, hörte den keuchenden Atem. »Du musst bestraft werden, kleines Mädchen. Und dann wird Daddy dich küssen, damit es wieder gut wird. Er wird dich küssen, und dann ist alles wieder gut.«

»Himmel.« Sie fuhr sich mit zitternden Händen durchs Gesicht. »Stopp. Aus. Aus.«

Sie griff nach ihrer Tasse Kaffee und fand darin nur noch den kalten Bodensatz. Die Vergangenheit war endgültig vorüber, sagte sie sich verzweifelt. Sie hatte nichts mehr mit ihr oder mit den momentanen Ermittlungen zu tun.

»Opfer zwei und drei weisen Rötungen auf den Pobacken auf. Opfer eins hingegen nicht.« Sie atmete langsam aus und wieder ein. »Dann hat sich die Vorgehensweise des Täters also doch geändert. Während des ersten Mordes zeigte er noch eine emotionale Reaktion, während der folgenden zwei Taten jedoch nicht mehr.«

Ihr Tele-Link summte, doch sie ignorierte das Geräusch.

»Mögliche Theorie: Der Täter wurde selbstbewusster, fand Gefallen an den nächsten beiden Morden. Anmerkung: Die Wohnung des Opfers Nummer zwei war so gut wie nicht gesichert. Die gelöschte Zeit auf den Überwachungskameras im Haus des dritten Opfers betrug dreiunddreißig Minuten weniger als bei Opfer Nummer eins. Mögliche Theorie: Der Täter wurde geschickter, wurde selbstbewusster, hatte weniger Lust, mit dem Opfer zu spielen. Es verlangt ihn immer schneller nach dem Kick.«

Es wäre durchaus möglich, dachte sie, und nach kurzem, von gequältem Summen begleiteten Rechnen, stimmte ihr Computer ihr mit einem Wahrscheinlichkeitsquotienten von sechsundneunzig Komma drei von hundert zu.

»Aufteilen des Bildschirms«, wies sie den Kasten an. »Opfer eins und zwei, noch einmal von vorne.«

Sharons arrogantes Lächeln, Lolas unbedarftes Schmollen. Beide Frauen blickten in Richtung des hinter der Kamera stehenden Mannes. Beide sagten etwas zu ihm.

»Anhalten«, sagte Eve so leise, dass nur die scharfen Ohren des Computers sie verstehen konnten. »O Gott, was ist denn das?«

Es war eine Kleinigkeit, eine beinahe unmerkliche Kleinigkeit, die man, wenn man sich auf die Brutalität der Morde konzentrierte, sehr leicht übersah. Aber jetzt sah sie es doch, erst durch Sharons und dann durch Lolas Augen.

Lolas Blick war höher gerichtet.

Es mochte an der unterschiedlichen Höhe der beiden Betten liegen, sagte sich Eve, während sie gleichzeitig das Bild von Georgie neben die beiden anderen auf den Monitor befahl. Jede der Frauen hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Schließlich hockten sie alle auf dem Bett, während er wahrscheinlich stand. Aber die Stelle, der Punkt, auf den die Frauen blickten… nur Sharon schien woanders hinzusehen.

Ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden, rief sie bei Dr. Mira an.

»Es ist mir egal, was sie gerade macht«, schnauzte sie die Drohne hinter dem Empfangstisch an. »Es ist dringend.«

Immer noch schnaubend vernahm sie die hirnlose, süßliche Musik, die die Anrufer in der Warteschleife berieselte.

»Eine Frage«, sagte sie, sobald sie Mira in der Leitung hatte.

»Ja, Lieutenant.«

»Ist es möglich, dass wir es mit zwei Killern zu tun haben?«

»Sie denken an einen so genannten Trittbrettfahrer? Das halte ich angesichts der Tatsache, dass die Vorgehensweise des Mörders geheim gehalten wurde, für eher unwahrscheinlich.«

»Mit der Geheimhaltung ist es in diesen Fällen nicht allzu weit her. Ich habe Veränderungen im Verhaltensmuster entdeckt. Beinahe unmerklich, aber eindeutig.« Ungeduldig erklärte sie, was ihr aufgefallen war. »Nun zu meiner Theorie, Doktor. Der erste Mord wurde von jemandem begangen, der Sharon sehr gut kannte, von jemandem, der zwar die Tat aus einem Impuls heraus beging, dann aber genug Selbstbeherrschung hatte, um seine Spuren zu verwischen. Die nächsten beiden Morde sind Spiegelbilder des ersten Verbrechens, allerdings verfeinert, genauestens durchdacht, begangen von jemand Kaltem, Berechnendem, der keinerlei Beziehung zu seinen Opfern hatte. Und, verdammt, er ist ein Stückchen größer.«

»Das ist eine durchaus plausible Theorie, Lieutenant. Tut mir Leid, aber ebenso wahrscheinlich oder sogar wahrscheinlicher ist es, dass alle drei Morde von einem Mann begangen wurden, der von Tat zu Tat nüchterner, berechnender vorgeht. Meiner Meinung als Psychologin zufolge hätte niemand, der nicht bei dem ersten Verbrechen anwesend war, die Vorgehensweise des Täters beim zweiten Mord derart genau kopieren können.«

Ihr Computer hatte ihre Theorie ebenfalls mit einem Wahrscheinlichkeitsquotienten von achtundvierzig Komma fünf verworfen. »Okay, danke.« Ernüchtert klinkte sie sich aus. Es war dämlich, Enttäuschung zu empfinden, sagte sie sich erbost. Wie viel schlimmer wäre es schließlich, zwei Männer zu jagen anstatt einem?

Abermals summte ihr Tele-Link, und mit vor Verärgerung gebleckten Zähnen drückte sie auf den Knopf. »Dallas. Was ist?«

»He, Lieutenant Sugar, man könnte beinahe glauben, ich wäre Ihnen vollkommen egal.«

»Ich habe keine Zeit für irgendwelche Spielchen, Charles.«

»He, gehen Sie nicht gleich wieder aus der Leitung. Ich habe was für Sie.«

»Und auch nicht für irgendwelche lahmen Anspielungen – «

»Nein, wirklich. Junge, da flirtet man ein-, zweimal mit einer Frau und schon nimmt sie einen nicht mehr ernst.« Er verzog schmerzlich sein makelloses Gesicht. »Sie haben mich gebeten anzurufen, falls mir noch irgendetwas einfällt, oder etwa nicht?«

»Doch.« Nur nicht die Geduld verlieren, warnte sie sich. »Also, was ist Ihnen eingefallen?«

»Ihre Bemerkung zu den Tagebüchern hat mich ins Grübeln gebracht. Sie wissen, dass ich gesagt habe, Sharon hätte immer alles haargenau notiert. Da Sie nach den Tagebüchern suchen, gehe ich mal davon aus, dass sie nicht in ihrer Wohnung waren.«

»Sie hätten Detektiv werden sollen.«

»Mir gefällt meine Arbeit. Tja, ich habe angefangen, mich zu fragen, wo sie sie wohl untergebracht haben könnte. Und dabei fiel mir ihr Schließfach wieder ein.«

»Das haben wir schon überprüft. Trotzdem vielen Dank.«

»Oh. Aber wie sind Sie ohne mich an das Ding herangekommen? Sie ist schießlich tot.«

Eve hatte sich gerade ausklinken wollen, als sie plötzlich innehielt. »Ohne Sie?«

»Ja. Vor zwei, drei Jahren bat sie mich, ein Schließfach für sie anzumieten. Sie sagte, sie wollte nicht, dass ihr Name in den Unterlagen auftaucht.«

Eves Herz begann zu trommeln. »Und wie kam sie dann an das Ding heran?«

Charles’ Lächeln war charmant und treuherzig zugleich. »Nun, ich habe sie als meine Schwester ausgegeben. Ich habe tatsächlich eine Schwester, die in Kansas City lebt. Also haben wir Sharon als Annie Monroe eingetragen. Sie hat die Miete bezahlt, und ich habe die ganze Sache vergessen. Ich kann noch nicht mal mit Gewissheit sagen, ob sie das Schließfach überhaupt noch hatte, aber ich dachte, Sie wüssten vielleicht trotzdem gern darüber Bescheid.«

»Wo ist die Bank?«

»First Manhattan, direkt am Madison Square Garden.«

»Hören Sie mir zu, Charles. Sie sind zu Hause, richtig?«

»Richtig.«

»Sie bleiben, wo Sie sind. Sie rühren sich nicht von der Stelle. Ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen. Und dann fahren wir beide, Sie und ich, zusammen zu der Bank.«

»Wenn das alles ist, was ich für Sie tun kann. He, habe ich Sie vielleicht auf eine heiße Spur gebracht, Lieutenant Sugar?«

»Bleiben Sie einfach, wo Sie sind.«

Sie war bereits aufgesprungen und schob die Arme in die Jacke, als ihr Tele-Link erneut zu summen begann. »Dallas.«

»Wir haben ein Gespräch für Sie, Dallas. Nur Audio. Die Anruferin weigert sich, ihren Namen zu nennen.«

»Kann man den Anruf zurückverfolgen?«

»Wir sind bereits dabei.«

»Dann stellen Sie jetzt zu mir durch.« Sie schwang sich bereits ihre Tasche über die Schulter, als sich die Sprechanlage ihres Links einschaltete. »Hier spricht Lieutenant Dallas.«

»Sind Sie allein?« Die Frauenstimme zitterte.

»Ja. Kann ich Ihnen helfen?«

»Es war nicht meine Schuld. Ich muss wissen, dass es nicht meine Schuld gewesen ist.«

»Niemand macht Ihnen irgendwelche Vorwürfe.« Eve hörte die Angst und die Verzweiflung in der Stimme der unbekannten Frau. »Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.«

»Er hat mich vergewaltigt. Ich konnte ihn nicht daran hindern. Er hat mich vergewaltigt. Sie hat er auch vergewaltigt. Dann hat er sie umgebracht, und vielleicht bringt er bald auch mich um.«

»Sagen Sie mir, wo Sie sind.« Sie blickte auf den Bildschirm und wartete darauf, dass endlich die Meldung über den Anschluss ihrer Gesprächspartnerin erschien. »Ich will Ihnen ja helfen, aber dazu muss ich wissen, wo Sie sind.«

Der Atem der Fremden stockte, und dann wimmerte sie leise. »Er hat gesagt, es wäre ein Geheimnis. Ich dürfe niemandem davon erzählen. Er hat sie getötet, damit sie nichts verrät. Also gibt es als Zeugin nur noch mich. Aber niemand wird mir glauben.«

»Ich glaube Ihnen. Ich werde Ihnen helfen. Nun sagen Sie mir – « Sie fluchte, als die Verbindung abbrach, rief in der Zentrale an und fragte eilig: »Wo?«

»Front Royal, Virginia. Nummer sieben null drei, fünf fünf fünf, neununddreißig null acht. Adresse – «

»Brauche ich nicht. Verbinden Sie mich mit Captain Ryan Feeney bei der elektronischen Ermittlung. Und zwar möglichst schnell.«

Zwei Minuten waren einfach nicht schnell genug. Vor lauter Ungeduld hätte sich Eve beinahe ein Loch in ihre Schläfe gebohrt, ehe Feeney endlich auf dem Bildschirm erschien. »Feeney, ich habe da eine Sache, die ist einfach unglaublich.«

»Was?«

»Das kann ich jetzt nicht sagen, aber du musst an meiner Stelle Charles Monroe in seiner Wohnung abholen.«

»Himmel, Eve, haben wir ihn endlich erwischt?«

»Noch nicht. Monroe wird dich zu Sharons zweitem Schließfach führen. Pass gut auf ihn auf, Feeney. Wir werden ihn noch brauchen. Und pass verdammt gut auf das auf, was auch immer du in dem Schließfach findest.«

»Was hast du vor?«

»Ich muss dringend weg.« Sie brach die Unterbrechung ab und wählte die Nummer von Roarke. Wieder verrannen drei kostbare Minuten, ehe er auf dem Monitor auftauchte.

»Ich wollte dich gerade anrufen, Eve. Sieht aus, als müsste ich nach Dublin. Kannst du vielleicht mitkommen?«

»Roarke, ich brauche dein Flugzeug. Jetzt. Ich muss sofort nach Virginia. Wenn ich erst ein Transportmittel beantrage oder einen der öffentlichen Flieger nehme – «

»Die Maschine ist startklar. Terminal C, Gate 22.«

Sie schloss ihre Augen. »Danke. Dafür bin ich dir etwas schuldig.«

Ihre Dankbarkeit hielt, bis sie am Terminal ankam und entdeckte, dass Roarke sie dort erwartete.

»Ich habe keine Zeit zum Reden«, erklärte sie mit barscher Stimme, während ihre langen Beine hastig die Distanz vom Gate zum Fahrstuhl überwanden.

»Dann reden wir einfach während des Fluges.«

»Du kommst nicht mit. Das hier ist eine offizielle – «

»Das hier ist mein Flugzeug, Lieutenant«, unterbrach er sie gelassen, während sich die Türen des Fahrstuhls hinter ihnen schlossen.

»Kannst du nicht mal irgendetwas tun, ohne dafür gleich eine Gegenleistung zu verlangen?«

»Doch. Aber nicht ausgerechnet jetzt.« Die Einstiegsluke wurde geöffnet, und die Stewardess nahm sie höflich in Empfang.

»Willkommen an Bord, Sir, Lieutenant. Darf ich Ihnen vielleicht eine Erfrischung anbieten?«

»Nein, danke. Sagen Sie dem Piloten, dass er starten soll, sobald er die Erlaubnis dazu bekommen kann.« Roarke setzte sich in einen Sessel, während Eve immer noch kochend mitten im Gang verharrte. »Wir können nicht eher starten, als bis du auf deinem Platz sitzt und dich angegurtet hast.«

»Ich dachte, du wolltest nach Irland.« Sie konnte ebenso gut im Sitzen mit ihm streiten.

»Anders als dein Anliegen ist mein Irland-Flug nicht weiter wichtig. Eve, bevor du mir die Ohren anlegst, lass mich dir erklären, wie die Sache für mich aussieht. Du fliegst überstürzt nach Virginia. Das lässt mich darauf schließen, dass es um den Fall DeBlass geht und dass du irgendwelche neuen Informationen hast. Beth und Richard sind enge Freunde von mir. Ich habe nicht viele enge Freunde. Ebenso wenig wie du. Jetzt sieh die Sache mal andersherum. Was würdest du an meiner Stelle machen?«

Sie trommelte mit den Fingern auf der Armlehne ihres Sessels, als das Flugzeug auf die Startbahn zu rollen begann. »Ich darf die Sache nicht persönlich nehmen.«

»Du nicht. Ich hingegen schon. Gerade, als ich das Flugzeug bestellte, rief Beth mich nämlich an und bat mich, zu ihnen zu kommen.«

»Warum?«

»Das hat sie nicht gesagt. Aber das war auch nicht nötig – es reichte, dass sie mich darum bat.«

Loyalität war ein Wesenszug, gegen den Eve nur schwer etwas einwenden konnte. »Ich kann dich nicht darin hindern, zu ihnen zu fliegen, aber ich warne dich davor, dich in meine Arbeit einzumischen.«

»Eine Arbeit, die heute Morgen, nachdem den Medien von unbekannter Seite gewisse Informationen zugespielt worden sind, ganz sicher ziemlich aufregend gewesen ist.«

Sie atmete zischend aus. Es gab doch kaum ein schöneres Gefühl, als mit dem Rücken zur Wand zu stehen, dachte sie erbost. »Für deine Hilfe bin ich dir auch wirklich dankbar.«

»Dankbar genug, um mir zu erzählen, was bei der Sache herausgekommen ist?«

»Ich nehme an, spätestens heute Abend wird die Öffentlichkeit sowieso davon erfahren.« Sie bewegte rastlos ihre Schultern, starrte aus dem Fenster und wünschte sich, sie flögen schneller. »Simpson wird versuchen, die ganze Sache seinen Steuerberatern in die Schuhe zu schieben. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass er damit durchkommt. Die Finanzbehörden werden ihn ganz sicher wegen Steuerhinterziehung drankriegen. Ich nehme an, sie werden auch herausfinden, woher er das Geld hatte. In Anbetracht von Simpsons wenig ausgeprägtem Einfallsreichtum wette ich, dass er ganz einfach stinknormale Schmier- oder Bestechungsgelder auf dem Konto angesammelt hat.«

»Und die Erpressung?«

»Oh, er hat ihr wirklich Geld gegeben. Das hat er gestanden, bevor sein Anwalt ihn daran hindern konnte. Und er wird dabei bleiben, wenn er erst kapiert hat, dass die Bezahlung einer Erpresserin wesentlich weniger heikel ist als der Vorwurf der Beihilfe zum Mord.«

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und verlangte Feeney.

»Ja, Dallas?«

»Hast du sie gefunden?«

Feeney hielt einen kleinen Kasten weit genug in die Höhe, dass sie ihn auf ihrem winzigen Bildschirm sehen konnte. »Alle sorgsam beschriftet und mit Datum versehen. Die Aufzeichnungen betreffen einen Zeitraum von beinahe zwanzig Jahren.«

»Fang mit dem letzten Eintrag an und arbeite dich dann zurück. Ich müsste in ungefähr zwanzig Minuten am Ziel sein. Ich werde dich sobald wie möglich kontaktieren, um dir einen Zwischenbericht zu geben.«

»He, Lieutenant Sugar.« Strahlend schob sich Charles ins Bild. »Wie habe ich das gemacht?«

»Wirklich gut. Danke. Und jetzt vergessen Sie das Schließfach, die Tagebücher, alles, bis ich etwas anderes sage.«

»Was für Tagebücher?«, fragte er sie augenzwinkernd und schickte ihr eine Kusshand, bevor Feeney ihn rüde zur Seite schob.

»Ich fahre jetzt zurück ins Büro. Aber wir bleiben in Verbindung.«

»In Ordnung.« Eve schaltete das Handy wieder aus und schob es zurück in ihre Tasche.

Roarke wartete ein paar Sekunden. »Lieutenant Sugar?«

»Halt die Klappe.« Trotzdem schaffte sie es nicht ganz, das selbstzufriedene Grinsen aus ihrem Gesicht zu wischen, ehe sie die Augen schloss.

Nach der Landung war sie gezwungen zuzugeben, dass Roarkes Name sie schneller weiterbrachte als ihre Dienstmarke. Innerhalb weniger Minuten saßen sie in einem leistungsstarken Mietwagen, der die Kilometer bis Front Royal regelrecht zu fressen schien. Sie hätte dagegen protestieren können, auf den Beifahrersitz verbannt worden zu sein, aber er fuhr wirklich gut.

»Bist du jemals beim Indy-Race gefahren?«

»Nein.« Der Wagen preschte mit beinahe hundertsechzig über die Route 95. »Aber bei ein paar Grand-Prix-Rennen.«

»Hätte ich mir denken können.« Sie klopfte mit dem Finger auf den Schalthebel, als er den Wagen eine steile Anhöhe hinauftrieb und dann gewagt – und verbotenerweise – über eine kurze Autoschlange hinwegfliegen ließ. »Du sagst, Richard ist ein guter Freund. Wie würdest du ihn beschreiben?«

»Intelligent, treu sorgend, ruhig. Er macht nur dann den Mund auf, wenn er wirklich etwas zu sagen hat. Steht im Schatten seines Vaters, mit dem er ziemlich häufig Streit hat.«

»Wie würdest du seine Beziehung zum Vater charakterisieren?«

Er brachte das Fahrzeug wieder auf den Boden, raste jedoch in einem solchen Tempo weiter, dass die Reifen kaum Kontakt mit der Straße hatten. »Den wenigen Äußerungen zufolge, die er selbst und Beth jemals über den Senator gemacht haben, würde ich sagen, dass es für Richard ein ständiger, frustrierender Machtkampf ist.«

»Und seine Beziehung zur Tochter?«

»Das Leben, das sie gewählt hat, stand in direktem Kontrast zu seinem eigenen Leben, seinen eigenen – wie soll ich sagen? – Vorstellungen von Moral. Er ist ein überzeugter Verfechter des Rechts auf freie persönliche Entfaltung und freie Meinungsäußerung. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendein Vater glücklich darüber ist, wenn seine Tochter ihren Lebensunterhalt dadurch verdient, dass sie sich an andere verkauft.«

»War er während der letzten Senatswahlen nicht der Sicherheitsbeauftragte seines Vaters?«

Wieder erhöhte er das Tempo, lenkte das Fahrzeug, während er etwas von einer Abkürzung murmelte, von der Straße und schwebte schweigend über ein kleines Wäldchen und ein paar Wohnhäuser in Richtung einer ruhigen Vorortstraße.

Inzwischen hatte Eve aufgehört zu zählen, wie viele Verkehrsverstöße er beging.

»Die Loyalität gegenüber der Familie ist ihm wichtiger als Politik. Ein Mann mit DeBlass’ Ansichten wird entweder inbrünstig geliebt oder aber aus tiefstem Herzen gehasst. Richard mag politisch anderer Meinung sein als er, aber trotzdem würde er kaum wollen, dass jemand den Senator ermordet. Und da er sich auf Sicherheitsrecht spezialisiert hat, ist es nur allzu logisch, wenn er seinen Vater in diesen Belangen unterstützt.«

Ein Sohn, der seinen Vater schützte, überlegte Eve. »Und wie weit würde DeBlass gehen, um seinen Sohn zu schützen?«

»Wovor? Richard ist ein durch und durch moderater Mensch. Er hält sich immer diskret im Hintergrund und erledigt seine Arbeit gut, aber ohne jedes Aufheben. Er – « Plötzlich wurde Roarke die Bedeutung der Frage bewusst. »Du liegst falsch«, knurrte er regelrecht erbost. »Du liegst vollkommen falsch.«

»Das werden wir ja sehen.«

Das Haus auf dem Hügel wirkte friedlich. Unter dem kalten blauen Himmel lag es ruhig und warm inmitten der ausgedehnten winterlichen Rasenflächen, aus denen sich allmählich ein paar mutige Krokusse hervorwagten.

Doch wie so häufig trog auch hier der angenehme Schein. Eve wusste, das hier war nicht das Zuhause einer wohlhabenden, glücklichen, geordneten Familie. Sie wusste, was hinter den rosigen Mauern und den hellen Fenstern vorgegangen war.

Elizabeth persönlich machte ihnen auf. Wenn es überhaupt sein konnte, so war sie noch bleicher und noch ausgezehrter als bei Eves vorherigem Besuch. Ihre Augen waren vom Weinen verquollen und der männlich geschnittene Anzug hing ihr auf Grund ihres Gewichtsverlustes lose um die Hüften.

»Oh, Roarke.« Als sich Elizabeth an seine Brust warf, meinte Eve beinahe zu hören, wie ihre zarten Knochen klapperten. »Es tut mir Leid, dass ich dich extra hierher gebeten habe. Ich hätte dir keine solchen Umstände bereiten sollen.«

»Red keinen Unsinn.« Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie derart zärtlich, ihm ins Gesicht zu blicken, dass es Eve große Mühe bereitete, sich weiter von ihrem Verstand lenken zu lassen, statt von ihrem Gefühl. »Beth, du solltest besser auf dich achten.«

»Ich scheine ganz einfach nicht mehr funktionieren zu können. Ich kann nicht mehr denken, ich bin vollkommen gelähmt. Alles bricht unter mir zusammen und ich – « Sie brach ab, denn plötzlich fiel ihr ein, dass sie nicht allein waren. »Lieutenant Dallas.«

Eve bemerkte den flüchtigen Vorwurf in Elizabeth’ Augen, als diese sich wieder an Roarke wandte. »Er hat mich nicht mitgebracht, Ms. Barrister. Es war eher andersherum. Ich bekam heute Morgen einen Anruf von jemandem aus diesem Haus. Haben vielleicht Sie mit mir gesprochen?«

»Nein.« Elizabeth trat einen Schritt zurück. Ihre Hände suchten einander, und sie verschränkte zitternd ihre Finger. »Nein, das habe ich nicht. Es muss Catherine gewesen sein. Sie tauchte gestern Abend plötzlich bei uns auf. Vollkommen hysterisch, am Ende ihrer Kräfte. Ihre Mutter wurde ins Krankenhaus gebracht, und die Aussichten sind schlecht. Bestimmt ist der Stress der letzten Wochen einfach zu viel für sie gewesen. Deshalb habe ich dich auch angerufen, Roarke. Richard ist am Ende seiner Weisheit, und auch ich bin völlig hilflos. Wir brauchen einfach jemanden, der die Sache in die Hand nimmt.«

»Warum gehen wir nicht rein und setzen uns irgendwo hin?«

»Sie sind im Wohnzimmer.« Mit einer ruckhaften Bewegung wandte Elizabeth den Kopf und blickte ans andere Ende der Eingangshalle. »Sie weigert sich, ein Beruhigungsmittel zu nehmen und gibt uns auch keine Erklärung für ihren grauenhaften Zustand. Wir durften nur ihren Mann und ihren Sohn anrufen, um ihnen zu sagen, sie wäre bei uns, und sie sollten bleiben, wo sie sind. Sie ist außer sich vor Sorge, die beiden könnten sich in irgendeiner Gefahr befinden. Ich nehme an, dass das, was Sharon zugestoßen ist, in ihr die Sorge um ihr eigenes Kind geweckt hat. Sie ist geradezu besessen von dem Gedanken, den Jungen vor Gott weiß was zu beschützen.«

»Wenn sie mich angerufen hat«, unterbrach Eve Elizabeth’ Ausführungen, »dann redet sie vielleicht mit mir.«

»Ja. Ja, das wäre möglich.«

Sie führte ihre Gäste durch die Eingangshalle in das geräumige, sonnendurchflutete Wohnzimmer. Catherine DeBlass saß, schwer gegen ihren Bruder gelehnt, auf einem der Sofas. Eve war sich nicht sicher, ob Richards Umarmung tröstlich oder beklemmend war.

Mit ernster Miene wandte er sich an seinen Freund. »Roarke. Gut, dass du kommen konntest. Wir sind vollkommen am Ende.« Seine Stimme bebte und wäre um ein Haar gebrochen. »Wir sind einfach am Ende.«

»Elizabeth.« Roarke ging vor Catherine in die Hocke. »Warum klingelst du nicht nach einer Kanne Kaffee?«

»Oh, natürlich. Sofort.«

»Catherine«, sagte er mit sanfter Stimme und legte zärtlich eine Hand auf ihren Arm. Trotzdem fuhr Catherine unter der Berührung zusammen und riss entsetzt die Augen auf.

»Nicht. Was – was machst du hier?«

»Ich bin gekommen, um Beth und Richard zu besuchen. Es tut mir Leid, dass es dir nicht gut geht.«

»Gut?«, fragte sie mit einem harten Lachen und rollte sich zusammen. »Keinem von uns wird es je wieder gut gehen. Wie könnte es? Wir sind alle besudelt. Wir sind alle schuldig.«

»Woran?«

Sie schüttelte den Kopf und zog sich in die entfernteste Ecke des Sofas zurück. »Das kann ich dir nicht sagen.«

»Kongressabgeordnete DeBlass. Ich bin Lieutenant Dallas. Sie haben mich vorhin angerufen.«

»Nein, nein, das habe ich bestimmt nicht.« Panisch schlang sich Catherine die Arme um die Brust. »Ich habe Sie nicht angerufen. Ich habe nichts gesagt.«

Als sich Richard vorbeugte, um sie zu berühren, schob sich Eve mit einem warnenden Blick in seine Richtung zwischen die Geschwister und ergriff Catherines starre Hand. »Sie wollten, dass ich Ihnen helfe. Und das werde ich jetzt auch tun.«

»Das können Sie nicht. Das kann niemand. Es war falsch, dass ich angerufen habe. Wir müssen diese Sache innerhalb der Familie klären. Ich habe einen Mann, ich habe einen kleinen Jungen.« In ihren Augen schwammen Tränen. »Ich muss die beiden schützen. Ich muss weggehen, weit weggehen, um die beiden zu schützen.«

»Wir werden die beiden schützen«, sagte Eve mit ruhiger Stimme. »Und wir werden auch Sie schützen. Um Sharon noch zu schützen, war es einfach zu spät. Sie dürfen sich deshalb keine Vorwürfe machen.«

»Ich habe gar nicht erst versucht, ihn aufzuhalten«, brachte Catherine im Flüsterton heraus. »Vielleicht war ich sogar froh, weil ich aus dem Spiel war. Weil ich endlich aus dem Spiel war.«

»Ms. DeBlass, ich kann Ihnen helfen. Ich kann Sie und Ihre Familie beschützen. Sagen Sie mir, wer Sie vergewaltigt hat.«

Richard atmete zischend aus. »Mein Gott, was sagen Sie da? Was – «

Eve blickte ihn zornig an. »Seien Sie ruhig. Hier gibt es keine Geheimnisse mehr.«

»Geheimnis«, sagte Catherine mit bebenden Lippen. »Es muss ein Geheimnis bleiben.«

»Nein, das muss es nicht. Diese Art von Geheimnis ist verletzend. Sie kriecht in einen hinein und frisst einen von innen auf. Sie macht einem Angst, und sie ruft Schuldgefühle wach. Die Menschen, die wollen, dass es ein Geheimnis bleibt, nutzen diese Dinge aus – die Schuldgefühle, die Angst, die Scham. Die einzige Möglichkeit, dagegen anzukämpfen, besteht darin, dass Sie es mir sagen. Dass Sie mir sagen, wer Sie vergewaltigt hat.«

Catherine atmete zitternd aus und blickte mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf ihren Bruder. Eve jedoch drehte ihr Gesicht wieder zu sich herum und hielt es zwischen ihren Fingern.

»Sehen Sie mich an. Nur mich. Und sagen Sie mir, wer Sie vergewaltigt hat. Wer Sie und Sharon vergewaltigt hat.«

»Mein Vater.« Die Worte platzten wie ein Schmerzensschrei aus ihr heraus. »Mein Vater. Mein Vater. Mein Vater.« Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und begann hemmungslos zu schluchzen.

»O Gott.« Am anderen Ende des Raums stolperte Elizabeth rücklings gegen den hereinrollenden Droiden. Porzellan zerbrach klirrend auf dem Boden, und Kaffee tränkte dunkel den wunderbaren Teppich. »Oh, mein Gott. Mein Baby.«

Richard sprang vom Sofa, lief in Richtung seiner schwankenden Frau und zog sie eng an seine Brust. »Dafür bringe ich ihn um. Dafür bringe ich ihn um.« Dann vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar. »Beth. Oh, Beth.«

»Hilf ihnen, so gut du kannst«, murmelte Eve an Roarke gewandt, während sie Catherine mitfühlend umarmte.

»Du dachtest, es wäre Richard«, sagte Roarke so leise, dass außer ihr niemand ihn verstand.

»Ja.« Sie blickte ihn reglos an. »Ich dachte, es wäre Sharons Vater gewesen. Vielleicht wollte ich einfach nicht denken, dass etwas derart Böses über zwei Generationen hinweg gedeihen kann.«

Mit ebenfalls steinerner Miene beugte Roarke sich etwas vor. »So oder so ist DeBlass ein toter Mann.«

»Hilf du deinen Freunden«, erwiderte Eve. »Ich habe mit Catherine zu tun.«