Ein Neuling bewachte die Tür von Lola Starrs Apartment. Eve stufte ihn als Neuling ein, weil er kaum alt genug wirkte, um sich ein Bier bestellen zu dürfen, weil seine Uniform aussah, als hätte er sie gerade erst aus der Kleiderkammer zugeteilt bekommen und weil er im Gesicht ein wenig grün war.
Ein paar Monate in dieser Umgebung, und ein Bulle musste sich beim Anblick einer Leiche nicht mehr übergeben. Junkies, Nutten und schlichte miese Typen schlugen sich in dieser widerlichen Gegend entweder aus Spaß oder aus Habgier regelmäßig gegenseitig die Schädel ein. Nach dem Geruch zu urteilen, der sie, als sie aus ihrem Wagen stieg, empfing, war entweder vor kurzem jemand hier gestorben oder aber die Müllabfuhr war in der letzten Woche nicht gekommen.
»Officer.« Sie blieb stehen und zückte ihre Dienstmarke. Er war furchtsam zusammengezuckt, als sie aus dem jämmerlichen Abklatsch eines Lifts getreten war, und sie war sich sicher gewesen, dass sie ohne das sofortige Vorzeigen ihres Ausweises nähere Bekanntschaft mit dem von ihm mit zitternden Händen auf sie gerichteten Stunner gemacht hätte.
»Sir.« In seinen Augen lag ein nervöses Flackern.
»Geben Sie mir einen kurzen Lagebericht.«
»Sir«, sagte er noch einmal und atmete vorsichtig ein. »Der Vermieter hat meine Einheit herangewinkt und erklärt, in der Wohnung liege eine tote Frau.«
»Und…« Ihr Blick fiel auf das Namensschild auf seiner Brusttasche. »Officer Prosky?«
»Ja, Sir, sie… « Eve hörte sein schweres Schlucken und sah das Entsetzen, das sich bei der Erinnerung auf seinem Gesicht abmalte.
»Und wie haben Sie ermittelt, dass sie tot war, Prosky? Haben Sie den Puls gefühlt?«
Die plötzlich seine Wangen überziehende Röte wirkte keinesfalls gesünder als die grünliche Verfärbung seiner Haut. »Nein, Sir. Ich habe die vorgeschriebene Verfahrensweise angewandt, habe den Tatort gesichert und meine Dienststelle verständigt. Der Tod des Opfers wurde durch Ansicht festgestellt, und in der Wohnung wurde nichts verändert.«
»War der Vermieter in der Wohnung?« All das könnte sie auch später noch erfragen, aber sie konnte sehen, dass die von ihr erzwungenen Erklärungen dem Jungen halfen, sich etwas zu beruhigen.
»Nein, Sir, er sagt, er habe sie nicht betreten. Nach einer Beschwerde von einem der Kunden des Opfers, der um neun Uhr einen Termin hatte, hat der Vermieter die Wohnung überprüft. Er hat die Tür aufgeschlossen und sie sofort gesehen. Es ist ein Ein-Zimmer-Apartment, Lieutenant Dallas, und sie – Sie können sie sehen, sobald Sie die Tür aufmachen. Nach der Entdeckung der Leiche ist der Vermieter vollkommen panisch auf die Straße gelaufen und hat meine Einheit angehalten. Ich habe ihn sofort in die Wohnung begleitet, habe den Tod durch Augenscheinnahme bestätigt und Meldung gemacht.«
»Haben Sie Ihren Posten seither irgendwann verlassen, Officer? Vielleicht nur für ein paar Minuten?«
Endlich wurde sein Blick ein wenig ruhiger, endlich sah er ihr in die Augen. »Nein, Sir, Lieutenant. Obwohl ich dachte, ich müsste es. Das ist meine erste Tote, und ich hatte einige Schwierigkeiten, die Fassung zu bewahren.«
»So, wie es für mich aussieht, haben Sie sogar hervorragend die Fassung bewahrt, Prosky.« Sie zog das Schutzspray aus ihrer mitgebrachten Untersuchungstüte und besprühte sich die Hände. »Machen Sie Meldung bei der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin. Das Zimmer muss durchsucht und die Leiche muss zur Untersuchung abtransportiert werden.«
»Zu Befehl, Sir. Soll ich danach wieder auf meinen Posten?«
»Bis die ersten Beamten kommen. Dann können Sie heimfahren.« Sie besprühte ihre Stiefel und blickte den Officer an. »Sind Sie verheiratet, Prosky?«, fragte sie, während sie ihr Aufnahmegerät an ihr Hemd klemmte.
»Nein, Sir, aber so gut wie verlobt.«
»Dann fahren Sie, wenn Sie sich abgemeldet haben, zu Ihrer Verlobten. Diejenigen, die trinken, halten nie so lange durch wie diejenigen, die einen netten, warmen Körper haben, an den sie sich anschmiegen können. Wo finde ich den Vermieter?«, fragte sie und drehte den Knauf der nicht abgeschlossenen Tür.
»Er ist unten in iA.«
»Dann sagen Sie ihm, dass er dort bleiben soll. Ich protokolliere seine Aussage, wenn ich hier oben fertig bin.«
Sie betrat die Wohnung und schloss hinter sich die Tür. Da sie kein Neuling war in ihrem Beruf, drehte sich ihr Magen nicht um beim Anblick der Leiche, des zerfetzten Fleisches und der blutbespritzten Kinderspielsachen.
Doch ihr Herz zog sich zusammen.
Und dann kam der Zorn, der glühend heiße Zorn, als sie die antike Waffe erblickte, die einer der Teddys in den Armen hielt.
»Sie war noch ein Kind.«
Es war sieben Uhr morgens, und Eve hatte ihre Wohnung noch nicht wieder gesehen. Da auch in dem Mord an Lola Starr nach Code Five ermittelt werden sollte, hatte sie freien Zugang zu den Datenbanken des International Resource Center on Criminal Activity, des Internationalen Informationszentrums zur Verbrechensaufklärung. Bisher jedoch hatte sie in den Dateien der IRCCA keine vergleichbaren Verbrechen ausfindig gemacht.
Nachdem sie eine Stunde auf ihrem unbequemen Schreibtischstuhl zwischen Computerausdrucken und Berichten gedöst hatte, saß sie jetzt, bleich vor Erschöpfung und zittrig auf Grund der durch den unechten Kaffee hervorgerufenen unechten Energie, Feeney gegenüber.
»Sie war eine Professionelle, Dallas.«
»Ihre verdammte Lizenz war gerade mal drei Monate alt. Auf ihrem Bett saßen lauter Puppen herum, und in ihrer Küche stand eine Flasche Limo.«
Sie kam einfach nicht darüber hinweg – all die närrischen, mädchenhaften Dinge, die sie hatte durchsehen müssen, während der jämmerlich zugerichtete Körper des Opfers zwischen den billigen, rüschenverzierten Kissen und den Puppen lag – und so knallte sie wütend die offiziellen Fotos vom Tatort auf den Tisch.
»Sie sieht aus, als wäre sie noch auf die High School gegangen. Stattdessen hat sie sich an Männer verkauft und Bilder von schicken Apartments und noch schickeren Kleidern gesammelt. Meinst du, sie wusste, worauf sie sich mit dieser Sache einließ?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie damit gerechnet hat, derart schnell zu sterben«, kam Feeneys gemessene Erwiderung. »Willst du vielleicht eine Diskussion über den Sexualkodex in unserer Gesellschaft, Dallas?«
»Nein.« Müde blickte sie abermals auf die vor ihr liegenden Fotos. »Nein, aber es kotzt mich einfach an, Feeney. Schließlich war sie noch ein Kind.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt, Dallas.«
»Ja, ich weiß, dass das nicht stimmt.« Sie zwang ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. »Der Autopsiebericht kommt erst heute Vormittag, aber ich schätze, dass sie, als sie entdeckt wurde, bereits seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot war. Hast du die Waffe identifiziert?«
»Eine SIG zweihundertzehn – ein echter Rolls Royce unter den Handfeuerwaffen, hergestellt ungefähr 1980, Schweizer Import. Mit Schalldämpfer. Diese alten Dinger haben allerdings höchstens zwei, drei Schuss schadlos überstanden. Trotzdem hat er so ein Teil gebraucht, weil die Wohnung des Opfers anders als die von DeBlass ziemlich hellhörig war.«
»Und er hat die Sache nicht gemeldet, was bedeutet, dass er nicht wollte, dass sie allzu schnell entdeckt wird. Anscheinend musste er erst noch verschwinden«, sagte sie und griff nachdenklich nach einem kleinen, offiziell versiegelten Viereck aus Papier.
ZWEI VON SECHS
»Eine pro Woche«, sagte sie leise. »Himmel, Feeney, er lässt uns wirklich nicht viel Zeit.«
»Ich überprüfe gerade ihren Terminkalender und ihre Kundenlisten. Vorgestern Abend um acht hatte sie einen neuen Klienten eingetragen. Ich denke, er ist unser Mann.« Feeney setzte ein dünnes Lächeln auf. »John Smith.«
»Das Pseudonym ist ja noch älter als die Mordwaffe.« Sie fuhr sich mit den Händen durch das müde Gesicht. »Warum spuckt das IRCCA nicht endlich irgendetwas über dieses Ungeheuer aus?«
»Du hast noch nicht alle Dateien überprüft«, murmelte Feeney. Ihn verband eine geradezu zärtliche Liebe mit dem IRCCA.
»Ich bin sicher, dass ich dort nichts finde. Offenbar haben wir es mit einem Zeitreisenden zu tun, Feeney.«
Er schnaubte beinahe verächtlich. »Ja, ein echter Jules Verne.«
»Wir haben ein Verbrechen aus dem zwanzigsten Jahrhundert«, sagte sie. »Die Waffen, die exzessive Gewalt, die handgeschriebenen Nachrichten, die er an den Tatorten zurücklässt. Vielleicht ist unser Killer also irgendeine Art Historiker oder zumindest ein Geschichtsfan. Jemand, der sich wünscht, die Dinge wären noch wie früher.«
»Viele Leute denken, die Welt wäre anders besser. Das ist der Grund, warum so viele grauenhafte Themenparks angelegt werden.«
Stirnrunzelnd ließ sie ihre Hände sinken. »IRCCA wird uns nicht dabei helfen, uns in diesen Typen hineinzuversetzen. Man braucht immer noch das menschliche Hirn, um dieses Spiel zu spielen. Was tut er nur, Feeney? Und weshalb tut er es?«
»Er tötet Prostituierte.«
»Nutten waren von jeher ein besonders leichtes Ziel, schon zu Zeiten von Jack the Ripper, stimmt’s? Es ist ein gefährlicher Job. Selbst heute noch, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen haben wir es immer wieder mit Kerlen zu tun, die Prostituierte zusammenschlagen oder sogar umbringen.«
»Aber es passiert nicht mehr so oft«, widersprach ihr Feeney. »Im Sado-Maso-Bereich gibt es manchmal irgendwelche Partys, die aus dem Ruder laufen, aber im Allgemeinen leben Prostituierte heute sicherer als Lehrer.«
»Trotzdem ist ihre Arbeit nach wie vor mit einem gewissen Risiko verbunden. Scheint, als wäre das älteste Gewerbe der Welt einfach unlösbar mit dem ältesten Verbrechen der Welt verbunden. Aber ein paar Dinge haben sich wirklich geändert. Für gewöhnlich bringen die Menschen einander nicht mehr mit Pistolen um. Die Dinger sind einfach zu teuer und zu schwer zu bekommen. Und Sex ist inzwischen zu billig und zu einfach zu haben, als dass man deshalb töten müsste. Wir haben inzwischen andere Ermittlungsmethoden und ein völlig neues Spektrum von Motiven. Aber wenn man all das außer Acht lässt, bleibt die Tatsache bestehen, dass Menschen einander unverdrossen umbringen. So, und jetzt gehst du am besten weiter die Dateien unseres neuesten Opfers durch. Ich muss noch mit ein paar Leuten reden.«
»Was du musst, ist schlafen, Kleine.«
»Lass lieber ihn schlafen«, murmelte Eve. »Lass lieber diesen Bastard schlafen.« Sie atmete tief ein und wandte sich entschieden an ihr Tele-Link. Irgendjemand musste schließlich die Eltern des Mädchens kontaktieren.
Als Eve schließlich das luxuriöse Foyer von Roarkes New Yorker Firmensitz betrat, war sie seit über zweiunddreißig Stunden auf den Beinen. Sie hatte das Elend überstanden, zwei schockierten, schluchzenden Eltern erklären zu müssen, dass ihre einzige Tochter nicht mehr lebte, sie hatte auf ihren Monitor gestarrt, bis die Daten vor ihren Augen verschwammen, und dann hatte sie noch ein temperamentvolles Gespräch mit Lolas Vermieter hinter sich gebracht. Da der Mann inzwischen Zeit gehabt hatte, sich halbwegs zu erholen, hatte er geschlagene dreißig Minuten damit zugebracht, die negative Publicity und mögliche daraus resultierende Mietverluste zu beklagen.
So viel zum menschlichen Mitgefühl, sagte sich Eve.
Roarke Industries, New York, entsprach genau ihren Erwartungen. Strahlend, schimmernd und beinahe geschmeidig ragte das einhundertfünfzig Stockwerke hohe, von Transportröhren und diamanthellen Hochwegen umringte Gebäude ähnlich einer glänzenden elfenbeinernen Lanze in den Himmel über Manhattan.
Es gab keine stinkenden, rußenden Schwebegrillstationen und keine Straßenhändler, die heiße Taschencomputer feilboten und auf ihren farbenfrohen Luftbrettern den Bullen entwischten, denn in diesem Abschnitt der Fünften Straße war der Straßenverkauf untersagt. Die Gegend war ruhiger, wenn auch etwas weniger abenteuerlich als viele andere Teile der Stadt.
Im Inneren des einen vollen Häuserblock umfassenden Foyers gab es drei elegante Restaurants, eine exklusive Boutique, eine Hand voll Spezialitätengeschäfte und ein kleines, auf Kunstfilme spezialisiertes Kino.
Der Boden war mit riesigen, weiß schimmernden Fliesen ausgelegt, gläserne Fahrstühle verbanden die verschiedenen Etagen miteinander, und Laufbänder führten die Menschen im Zickzack nach links oder nach rechts, während körperlose Stimmen Besucher in Richtung verschiedener interessanter Stellen oder, falls sie geschäftlich das Haus betreten hatten, in das richtige Büro lenkten.
Denjenigen, die lieber allein herumliefen, wurden über ein Dutzend beweglicher Karten zur Verfügung gestellt.
Eve marschierte entschieden in Richtung eines Bildschirms, von dem ihr höflich Hilfe angeboten wurde.
»Roarke«, sagte sie, wütend, weil sein Name nicht im Hauptverzeichnis aufgelistet war.
»Tut mir Leid.« Die übertrieben höfliche Stimme des Computers sollte sicherlich beruhigen, doch Eve ging sie auf die bereits angespannten Nerven. »Ich bin nicht befugt, diese Information weiterzugeben.«
»Roarke«, wiederholte Eve, hielt ihre Dienstmarke vor den Scanner des Geräts und wartete ungeduldig, während der Computer summend ihren Ausweis überprüfte und sicher den von ihr gewünschten Gesprächspartner verständigte.
»Bitte begeben Sie sich in den Ostflügel, Lieutenant Dallas. Sie werden dort erwartet.«
»Genau.«
Eve ging einen langen, mit Marmor ausgelegten und mit einem Wald aus weißen Impatiens bepflanzten Korridor hinunter.
»Lieutenant.« Eine Frau in einem leuchtend roten Anzug und mit Haaren so weiß wie die Blumen nahm sie mit einem kühlen Lächeln in Empfang. »Bitte kommen Sie mit.«
Die Frau schob eine dünne Sicherheitskarte in einen schmalen Schlitz und legte ihre Hand auf einen schwarz glänzenden Scanner. Lautlos glitt die Wand zur Seite, gemeinsam betraten beide Frauen einen privaten Fahrstuhl, und Eve war nicht besonders überrascht, als ihre Begleiterin die oberste Etage verlangte.
Ganz sicher gäbe sich Roarke niemals mit etwas Geringerem zufrieden.
Ihre schweigende Führerin verströmte einen diskreten, vernünftigen Geruch, der zu ihren vernünftigen Schuhen und der ordentlichen, schlichten Frisur passte. Insgeheim empfand Eve Bewunderung für die Frauen, die es schafften, sich, offensichtlich ohne jede Mühe, vom Kopf bis zu den Zehen derart perfekt zu stylen.
Beinahe schuldbewusst zog sie an ihrer abgetragenen Jacke und überlegte, ob es vielleicht an der Zeit war, endlich einmal Geld für einen Haarschnitt auszugeben, statt immer eigenhändig an sich herumzusäbeln.
Ehe sie jedoch zu einem Schluss kam, öffneten sich lautlos die Türen ihres Fahrstuhls, und sie betrat einen mit einem dicken Teppich ausgelegten Flur in der Größe eines kleinen Hauses. Überall standen üppige grüne Pflanzen – echte Pflanzen: Fikusbäume, Palmen sowie ein offensichtlich außerhalb der Saison blühender Hartriegel –, und ein Bett zart rosafarbener bis hin zu leuchtend violetten Nelken erfüllte die Umgebung mit einem scharfen, würzigen Geruch.
Inmitten des Gartens fand sich ein komfortabler, mit malvenfarbenen Sofas, schimmernden Holztischen und soliden Messinglampen ausgestatteter Wartebereich, in dessen Mitte eine runde Arbeitsstation eingerichtet war. Zwei Männer und eine Frau saßen geschäftig hinter den mit seinen zahllosen Monitoren, Keyboards, Knöpfen und Tele-Links ähnlich einem Cockpit ausgestatteten Tischen und verströmten ruhige Kompetenz.
Eve wurde an ihnen vorbei in Richtung eines mit Glaswänden versehenen Durchgangs geführt. Ein Blick nach unten, und sie sah Manhattan. Im Hintergrund erklang Musik, die anscheinend etwas anderes als Mozart war. Für Eve gab es Musik erst seit ihrem zehnten Geburtstag.
Die Frau in dem leuchtend roten Anzug machte Halt, bedachte sie erneut mit einem kühlen, doch perfekten Lächeln und sprach in einen versteckten Lautsprecher. »Lieutenant Dallas, Sir.«
»Schicken Sie sie rein, Caro. Danke.«
Wieder legte Caro die Hand auf einen schimmernd schwarzen Scanner. »Gehen Sie durch, Lieutenant«, wandte sie sich an Eve, als eine der Paneelen sich öffnete.
»Danke.« Neugierig verfolgte Eve, wie sie erstaunlich elegant auf ihren mörderischen Stöckelabsätzen den Flur hinunterschlenderte, und betrat dann Roarkes Büro.
Wie erwartet, war der Raum nicht minder beeindruckend als der Rest seines New Yorker Sitzes. Doch trotz der sich nach drei Seiten bietenden Aussicht auf die Stadt, trotz der hohen Decken mit den eingelassenen Strahlern, trotz der mit leuchtenden topazfarbenen und smaragdgrünen Stoffen bezogenen, dick gepolsterten Sofas, war es der Mann hinter dem elfenbeinfarbenen Schreibtisch, der das Zimmer dominierte.
Was zum Teufel hatte er, was sie so faszinierte, fragte sich Eve zum x-ten Male, als er sich erhob und sie anlächelte.
»Lieutenant Dallas«, sagte er mit seinem leichten, betörenden irischen Akzent. »Wie immer ist es mir ein großes Vergnügen, Sie zu sehen.«
»Der Meinung sind Sie vielleicht nicht mehr, wenn ich fertig bin.«
Er zog eine seiner Brauen in die Höhe. »Warum kommen Sie nicht ganz rein und sagen mir, weshalb Sie hier sind? Dann werden wir ja sehen. Kaffee?«
»Versuchen Sie nicht, mich abzulenken, Roarke.« Trotzdem trat sie näher und sah sich, um ihre Neugier zu befriedigen, in dem Zimmer um. Es war groß wie ein Hubschrauberlandeplatz und verfügte über sämtliche Annehmlichkeiten eines Hotels der ersten Klasse: eine automatische Service-Bar, einen gepolsterten Entspannungssessel, komplett mit Virtual-Reality-Einheit und Stimulierungsanlage sowie einem überdimensionalen, momentan schwarzen Wandschirm. Linker Hand befand sich ein vollständiges Bad einschließlich Whirlpool und Trockenröhre, und natürlich waren sämtliche eingebauten Standard-Büro-Einrichtungsgegenstände technisch auf dem neuesten Stand.
Roarke verfolgte reglos ihre Blicke. Er bewunderte die Art, in der sie sich bewegte, die Art, in der ihre kühlen, wachen Augen alles in sich aufnahmen.
»Hätten Sie Interesse an einer Führung?«
»Nein. Wie können Sie bloß arbeiten in einer solchen…« Sie wedelte mit beiden Händen in Richtung der verglasten Wände. »Offenheit?«
»Ich bin nicht gerne eingeschlossen. Wollen Sie sich vielleicht setzen oder tigern Sie lieber weiter durch den Raum?«
»Ich bleibe lieber stehen. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, Roarke. Sie dürfen selbstverständlich einen Anwalt zu dem Gespräch hinzuziehen.«
»Wollen Sie mich verhaften?«
»Im Augenblick noch nicht.«
»Dann sparen wir uns die Anwälte, bis es so weit ist. Schießen Sie also einfach los.«
Obwohl sie ihm ins Gesicht sah, wusste sie, dass er seine Hände in die Taschen seiner Hose gesteckt hatte. Wirklich clever, denn Hände verrieten häufig die Gefühle eines Menschen.
»Wo waren Sie vorgestern Abend zwischen acht und zehn? Und können Sie Ihre Angaben belegen?«
»Ich glaube, bis kurz nach acht war ich hier in meinem Büro.« Er drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Ich habe den Monitor um genau siebzehn Minuten nach acht heruntergefahren. Dann habe ich das Gebäude verlassen und bin nach Hause gefahren.«
»Sind Sie selbst gefahren, oder wurden Sie gefahren?«, unterbrach sie die Erklärung.
»Ich bin selbst gefahren. Ich habe immer einen Wagen hier. Ich halte nicht besonders viel davon, meine Angestellten ständig nach meiner Pfeife tanzen zu lassen.«
»Verdammt demokratisch von Ihnen.« Und verdammt unpraktisch, denn sie wollte, dass er ein Alibi hatte. »Und dann?«
»Dann habe ich mir einen Brandy eingeschenkt, habe geduscht, mich umgezogen und später mit einer Freundin zu Abend gegessen.«
»Wie spät und mit welcher Freundin?«
»Ich bin gerne pünktlich, also kam ich sicher gegen zehn dort an. Im Stadthaus von Madeline Montmart.«
Vor Eves geistigem Auge tauchte eine üppige Blondine mit mandelförmigen Augen und einem vollen Schmollmund auf. »Madeline Montmart, die Schauspielerin?«
»Ja. Ich glaube, es gab gebratene Taube, falls Ihnen das hilft.«
Sie ignorierte den Sarkasmus. »Dann kann also niemand bestätigen, was Sie zwischen acht Uhr siebzehn und zehn Uhr gemacht haben?«
»Vielleicht hat einer meiner Angestellten mich bemerkt, aber ich bezahle meine Leute gut, und deshalb würden sie sowieso immer das sagen, was ich von ihnen hören möchte.« Seine Stimme wurde schärfer. »Dann hat es also einen zweiten Mord gegeben.«
»Lola Starr, lizensierte Gesellschafterin. Bestimmte Details werden noch in dieser Stunde an die Presse weitergegeben.«
»Andere Details hingegen nicht.«
»Besitzen Sie einen Schalldämpfer, Roarke?«
Seine Miene blieb vollkommen reglos. »Mehrere. Sie sehen erschöpft aus, Eve. Waren Sie etwa die ganze Nacht auf den Beinen?«
»Das ist Teil meines Jobs. Besitzen Sie eine Schweizer SIG zweihundertzehn, Baujahr circa 1980?«
»Ich habe vor ungefähr sechs Wochen eine gekauft. Setzen Sie sich doch.«
»Waren Sie mit Lola Starr bekannt?« Sie zog ein Foto, das sie in Lolas Wohnung gefunden hatte, aus der Tasche. Das hübsche, elfengleiche Mädchen hatte ein kesses, fröhliches Lachen im Gesicht.
Roarke betrachtete das Foto, seine Augen begannen zu flackern, und seine Stimme bekam einen, wie Eve dachte, mitleidigen Klang.
»Sie war doch gar nicht alt genug, um die Lizenz zu kriegen.«
»Sie wurde vor vier Monaten achtzehn und hat die Lizenz an ihrem Geburtstag beantragt.«
»Dann hatte sie also gar keine Zeit, um es sich noch mal zu überlegen.« Er hob seinen Kopf und, ja, auch in seinen Augen lag ehrliches Mitleid. »Ich habe sie nicht gekannt. Ich halte mich weder an Prostituierte noch an Kinder.« Er nahm das Foto von der Platte seines Schreibtischs, umrundete das Möbel und gab Eve das Bild zurück. »Setzen Sie sich.«
»Haben Sie jemals – «
»Verdammt, setzen Sie sich hin.« Plötzlich wütend, packte er sie bei den Schultern und drückte sie auf einen Stuhl. Dabei öffnete sich ihre Tasche, und eine Reihe von Fotos von Lola ergoss sich auf den Boden, die nichts mit Kessheit und Amüsement zu tun hatten.
Sie hätte sie als Erste erreichen können – ihre Reflexe waren nicht schlechter als die seinen. Vielleicht hatte sie sie ihn sehen lassen wollen. Vielleicht brauchte sie es, dass auch er die Bilder sah.
Roarke ging in die Hocke, griff nach einem der Fotos, die am Tatort aufgenommen worden waren, und starrte es entgeistert an. »Himmel«, murmelte er leise. »Sie glauben allen Ernstes, dass ich zu so etwas fähig sein könnte?«
»Es geht nicht darum, was ich glaube. Unsere Ermittlungen – « Sie brach ab, als er sie zornig anstarrte.
»Sie glauben, ich wäre in der Lage, so etwas zu tun?«, wiederholte er mit schneidender Stimme.
»Nein, aber ich muss meinen Job machen.«
»Scheiß-Job.«
Sie nahm ihm die Fotos wieder ab und schob sie zurück in die Tasche. »Manchmal schon.«
»Wie können Sie nachts schlafen, nachdem Sie so etwas gesehen haben?«
Sie zuckte zusammen, und obgleich sie sich sofort wieder in der Gewalt hatte, hatte er es doch bemerkt, und so fasziniert er auch war von ihrer instinktiven, emotionalen Reaktion, tat es ihm Leid, dass er sie hervorgerufen hatte.
»Indem ich weiß, dass ich den Bastard, der so etwas getan hat, zur Strecke bringen werde. Gehen Sie mir aus dem Weg.«
Er rührte sich nicht von der Stelle und legte darüber hinaus sogar noch seine Hand auf ihren starren Arm. »Ein Mann in meiner Position muss Menschen schnell und akkurat beurteilen können, Eve. Und in Ihnen sehe ich jemanden, der dicht an einem Abgrund steht.«
»Ich habe gesagt, Sie sollen mir aus dem Weg gehen.«
Er erhob sich, doch zugleich verstärkte er den Griff um ihren Arm, zog sie ebenfalls auf ihre Füße – und stand ihr immer noch im Weg. »Er wird es wieder tun«, sagte er ruhig. »Und es macht Sie verrückt, nicht zu wissen, wann und wo und wer das nächste Opfer ist.«
»Analysieren Sie mich nicht. Für solche Dinge werden bei uns eine ganze Reihe von Psycho-Fritzen extra bezahlt.«
»Warum waren Sie nicht bei einem von ihnen? Anscheinend setzen Sie alles daran, die vorgeschriebene Überprüfung zu umgehen.«
Sie kniff die Augen zusammen.
Sein Lächeln wirkte nicht im Geringsten amüsiert.
»Ich habe meine Beziehungen, Lieutenant. Gemäß der Vorgehensweise Ihrer Abteilung hätten Sie, nachdem Sie am Vorabend von Sharons Ermordung gerechtfertigterweise einen gezielten Todesschuss abgefeuert hatten, bereits vor ein paar Tagen zur Überprüfung gesollt.«
»Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten«, fauchte sie ihn wütend an. »Und zum Teufel mit Ihren Beziehungen.«
»Wovor haben Sie Angst? Was sollen die in Ihrem Kopf, in Ihrem Herz nicht finden?«
»Ich habe keine Angst.« Sie riss ihren Arm los, worauf er seine Hand an ihr Gesicht legte. In einer derart unerwarteten, derart zärtlichen Geste, dass sie innerlich erbebte.
»Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
»Ich – « Wie zuvor die Fotos hätte sie jetzt beinah ihr Herz vor diesem Fremden ausgeschüttet. Dieses Mal jedoch setzten ihre Reflexe noch rechtzeitig ein. »Ich komme schon damit zurecht.« Sie wandte sich entschieden ab. »Sie können Ihr Eigentum morgen ab neun bei uns abholen.«
»Eve.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie in Richtung Tür. »Was?«
»Ich möchte, dass wir uns heute Abend sehen.«
»Nein.«
Er war versucht – wirklich versucht – ihr hinterherzulaufen. Doch er zwang sich, stehen zu bleiben. »Ich könnte Ihnen bei Ihren Nachforschungen helfen.«
Vorsichtig blieb sie stehen und wandte ihren Kopf. Hätte ihn nicht plötzlich eine beinahe schmerzliche sexuelle Frustration befallen, hätte er angesichts ihres halb argwöhnischen und halb verächtlichen Blickes vielleicht sogar laut gelacht.
»Wie?«
»Ich kenne Leute, die Sharon kannte.« Während er sprach, merkte er, wie sich die Verachtung in ihren Augen in Interesse kehrte. Doch der Argwohn blieb. »Man braucht nicht besonders helle zu sein, um zu erkennen, dass Sie sicher nach einer Verbindung zwischen Sharon und dem Mädchen, dessen Fotos Sie mit sich herumschleppen, suchen werden. Ich werde sehen, ob ich etwas herausfinde.«
»Informationen von einem Verdächtigen haben bei unseren Nachforschungen kein besonderes Gewicht. Aber«, fügte sie, ehe er etwas erwidern konnte, schnell hinzu, »Sie könnten es mich trotzdem wissen lassen.«
Endlich lächelte er doch. »Ist es ein Wunder, dass ich Sie nackt in meinem Bett haben möchte? Ich werde es Sie wissen lassen, wenn ich etwas herausfinde, Lieutenant.« Er trat entschieden hinter seinen Schreibtisch. »Bis dahin sollten Sie gucken, dass Sie ein bisschen Schlaf kriegen.«
Als sich die Tür hinter ihr schloss, schwand das Lächeln aus seinen blauen Augen, und ein paar Minuten saß er reglos in seinem Sessel und betastete den Knopf in seiner Tasche, ehe er schließlich über seine private, gesicherte Leitung eine bestimmte Nummer wählte.
Er wollte nicht, dass dieses Gespräch irgendwo registriert würde.