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Kein Sperma. Fluchend überflog Eve den Autopsiebericht. Falls Sharon mit ihrem Mörder geschlafen hatte, hatte das von ihr gewählte Verhütungsmittel die kleinen Soldaten sofort bei der Berührung abgetötet und sämtliche Spuren innerhalb von dreißig Minuten nach Samenerguss vollkommen ausgewischt.

Auch das Ausmaß ihrer Verletzungen verhinderte zuverlässige Untersuchungen bezüglich möglicher sexueller Aktivitäten während der letzten Stunden ihres Lebens. Der Mörder hatte ihre Genitalien entweder aus Gründen der Symbolik oder aber, um sich selbst zu schützen, regelrecht zerfetzt.

Kein Sperma, kein Blut, außer dem des Opfers. Keine DNA.

Die Arbeit der Spurensicherung am Tatort brachte keine Fingerabdrücke zum Vorschein – keine: weder die des Opfers noch die ihrer wöchentlich erschienenen Putzfrau, und ganz gewiss nicht die des Mörders.

Jede Oberfläche einschließlich der der Tatwaffe war sorgfältig gereinigt worden.

Am aufschlussreichsten waren Eves Meinung nach demnach die Sicherheitsdisketten.

Noch einmal schob sie die Überwachungsdiskette des Fahrstuhls in ihren Computer.

Die Disketten waren initialisiert.

Gorham Komplex. Fahrstuhl A. 12. 2. 2058, 06.00 Uhr.

Eve stellte auf Schnelldurchlauf und beobachtete, wie die Stunden dahinflogen. Zum ersten Mal öffneten sich die Fahrstuhltüren mittags um zwölf. Sie verlangsamte das Tempo, schlug, als das Bild verwackelte, mit der flachen Hand gegen den Bildschirm, und studierte den nervösen kleinen Mann, der eintrat und den fünften Stock nannte.

Ziemlich schreckhaftes Kerlchen, dachte sie, und verfolgte halb belustigt, wie er an seinem Hemdkragen zerrte und sich ein Pfefferminz zwischen die Lippen schob. Wahrscheinlich hatte er eine Frau und zwei Kinder und einen ruhigen Job am Schreibtisch, der es ihm erlaubte, sich einmal die Woche für einen mittäglichen Quicky aus dem Büro zu stehlen.

In der fünften Etage stieg er aus.

Dann geschah mehrere Stunden lang so gut wie gar nichts. Hin und wieder fuhr eine Prostituierte mit dem Lift nach unten, während andere mit Einkaufstaschen und gelangweilten Gesichtern in ihre Wohnungen zurückkehrten. Ein paar wenige Kunden kamen und gingen, bis schließlich gegen acht ein wenig Leben in das Gebäude kam. Einige Bewohner gingen aus, elegant gekleidet für ein Essen in einem teuren Restaurant, andere kamen, weil Termine riefen.

Um zehn betrat ein elegantes Paar gemeinsam den Fahrstuhl, und die Frau gestattete dem Mann, ihren Pelzmantel zu öffnen, unter dem sie nichts trug außer Stöckelschuhen und der Tätowierung einer Rose, deren Stiel in Schritthöhe begann und deren Blüte spielerisch die linke Brustwarze lieb koste. Er knetete ihren Busen, was in überwachten Bereichen gesetzlich verboten war, und als der Fahrstuhl in der achtzehnten Etage schließlich hielt, zog die Frau ihren Mantel wieder zusammen, sie stiegen aus und begannen, angeregt über die Theatervorstellung zu plaudern, die sie zuvor besucht hatten.

Eve würde den Mann am nächsten Tag befragen. Er war der unmittelbare Nachbar und gleichzeitig Kollege des Mordopfers.

Dann sprang plötzlich, genau um null Uhr fünf, beinahe unmerklich, mit nur einem kleinen Blinken, die Zeitanzeige auf 2.46 Uhr.

Es fehlten zwei Stunden und einundvierzig Minuten.

Die Überwachungsdiskette aus dem Korridor der achtzehnten Etage wies dieselbe Lücke auf. Auch auf ihr hatte man beinahe drei Stunden gelöscht. Eve griff nach ihrer Tasse mit inzwischen kaltem Kaffee und grübelte darüber nach, was diese Löschungen verrieten. Der Kerl hatte eine gewisse Ahnung von Sicherheitsanlagen und kannte sich gut genug in dem Gebäude aus, um zu wissen, wo und wie er die Disketten manipulieren konnte. Außerdem hatte er sich Zeit gelassen. Der Autopsie zufolge war der Tod des Opfers gegen zwei Uhr eingetreten.

Er hatte vor ihrer Ermordung beinahe zwei und anschließend noch einmal fast eine Stunde in der Wohnung verbracht. Und trotzdem gab es nicht die geringste Spur.

Wirklich clever, dieser Bursche.

Falls Sharon DeBlass einen privaten oder beruflichen Termin für Mitternacht notiert hatte, so hatte er auch diesen Vermerk geschickt gelöscht.

Aus einem Gefühl heraus beugte sich Eve erneut über den Schreibtisch. »Gorham Komplex. Broadway, New York. Eigentümer.«

Gorham Komplex, Eigentum von Roarke Industries, Firmensitz 500, Fifth Avenue. Präsident und Vorstandsvorsitzender Roarke. New Yorker Adresse: 222, Central Park West.

»Roarke«, murmelte Eve. »Sie tauchen einfach immer wieder auf, nicht wahr? Roarke«, wiederholte sie ein wenig lauter. »Sämtliche Daten, auf dem Monitor und als Ausdruck.«

Ohne auf das Blinken des neben ihr stehenden Tele-Links zu achten, nippte Eve erneut an ihrem Kaffee und überflog den Text auf ihrem Bildschirm.

Roarke – Vorname unbekannt – geboren 6.10.2023, Dublin, Irland. Passnummer 33.492-ABR-50. Eltern unbekannt. Familienstand ledig. Präsident und Vorstandsvorsitzender von Roarke Industries, gegründet 2042. Hauptfilialen New York, Chicago, New Los Angeles, Dublin, London, Bonn, Paris, Frankfurt, Tokio, Mailand, Sydney. Außerplanetarische Filialen Station 45, Bridgestone-Kolonie, Vegas II, Free-Star One. Beteiligungen an Immobiliengeschäften, Import-Export-Unternehmen, Reedereien, Unterhaltungsindustrie, Fertigungsbetrieben, pharmazeutischen Unternehmen, Speditionen. Geschätzter Bruttowert drei Milliarden achthundert Millionen.

Geschäfstüchtiger Knabe, dachte Eve und zog, als ein Verzeichnis seiner Unternehmen auf dem Monitor erschien, die Brauen in die Höhe.

»Ausbildung«, wollte sie wissen.

Unbekannt.

»Strafregister?«

Keine Angaben.

»Zugang Datei Roarke, Dublin.«

Keine zusätzlichen Angaben.

»Scheiße. Der große Herr Geheimnisvoll. Beschreibung und Bild.«

Roarke. Schwarze Haare, blaue Augen, Größe ein Meter fünfundachtzig, Gewicht 78,5 kg.

Eve stöhnte, als sie die Beschreibung und anschließend das Foto sah. Sie musste zugeben, dass in Roarkes Fall ein Bild ebenso viel wert war wie Hunderte von Worten.

Sein Foto starrte ihr entgegen. Er war beinahe lächerlich attraktiv: Sein schmales Gesicht mit den geschwungenen Wangenknochen und dem wohl geformten, wie gemeißelten Mund war rundherum ästhetisch. Ja, sein Haar war schwarz, doch der Computer hatte nicht verraten, dass er es aus seiner starken Stirn gestrichen hatte und in dichten, dunklen Wellen über seine breiten Schultern fallen ließ. Seine Augen waren blau, doch das Wort war viel zu simpel für die Leuchtkraft dieser Farbe oder für die eindringliche Stärke seines Blicks.

Bereits anhand des Fotos konnte Eve erkennen, dass dieser Roarke ein Mann war, der sich einfach nahm, was oder wen er wollte, ohne dass er dabei etwas so Frivoles wie ein Trophäenjäger war.

Und, dachte sie weiter, er war auch ein Mann, der töten könnte, falls und wenn es ihm gelegen kommen sollte. Er täte es kühl, methodisch, ohne ins Schwitzen zu geraten.

Sie schob die Ausdrucke zusammen und beschloss, sich einmal mit diesem Roarke zu unterhalten. O nein, nicht irgendwann einmal, sondern in allernächster Zeit.

Als Eve die Wache verließ, um nach Hause zu fahren, rieselten feuchte Schneeflocken vom Himmel. Ohne große Hoffnung suchte sie in ihren Taschen und merkte, dass sie tatsächlich ihre Handschuhe in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte. Ohne Kopfbedeckung, mit nackten Händen und einzig ihrer Lederjacke als Schutz gegen den beißend kalten Wind, ging sie zu ihrem Auto und stieg ein.

Sie hatte die Kiste bereits seit Wochen reparieren lassen wollen, hatte jedoch einfach nie die Zeit dazu gehabt. Nun allerdings hatte sie jede Menge Zeit, sich selbst für diese Schlamperei zu schelten, als sie wegen der defekten Heizung zitternd vor Kälte hinter dem Lenkrad hockte und sich durch den dichten Verkehr kämpfte.

Sie schwor sich, falls sie tatsächlich ihre Wohnung erreichen sollte, ohne zuvor zu einem Eisblock erstarrt zu sein, umgehend einen Termin mit dem Mechaniker zu vereinbaren.

Doch als sie schließlich heimkam, galt ihr erster Gedanke ihrem knurrenden Magen. Bereits, als sie die Tür aufschloss, träumte sie von einer Schale heißer Suppe, vielleicht einem Haufen Pommes frites, falls sie noch welche hatte, und einer Tasse Kaffee, der nicht so schmeckte, als hätte jemand ihn mit Spülwasser gekocht.

Sofort sah sie das dünne, viereckige Päckchen hinter der Tür und hielt schon vor dem nächsten Atemzug die Waffe in der Hand. Waffe und Blick ins Wohnungsinnere gerichtet, trat sie die Tür hinter sich zu, ließ das Päckchen achtlos liegen und schob sich vorsichtig durch alle Räume, bis sie sicher wusste, dass sie vollkommen allein war.

Sie steckte die Waffe wieder in ihr Holster, schälte sich aus ihrer Jacke, warf sie achtlos auf das Sofa, bückte sich und griff vorsichtig nach der versiegelten Diskette. Sie war weder etikettiert noch war ein Brief oder ein Zettel angeheftet.

Eve trug die Diskette in die Küche, öffnete vorsichtig das Siegel, schob sie in ihren Computer.

Und vergaß jeden Gedanken an das Essen.

Sowohl die Bild- als auch die Tonaufnahmen hatten eine hervorragende Qualität, und während sie auf ihren Bildschirm starrte, sank sie leblos auf einen Sessel.

Sharon DeBlass lag nackt inmitten des raschelnden Satins auf ihrem riesengroßen Bett. Sie hob eine ihrer Hände und fuhr sich durch ihre prachtvolle leuchtend rote Mähne, während sie sanft von den wogenden Bewegungen des Bettes hin und her geschaukelt wurde.

»Irgendwelche speziellen Wünsche, Schätzchen?« Lachend erhob sie sich auf ihre Knie und umfasste ihre Brüste. »Warum kommst du nicht zurück… « Verführerisch befeuchtete sie sich die Lippen mit der Zunge. »Dann können wir noch mal von vorn anfangen.« Sie senkte ihren Blick, und ihr Mund wurde von einem leisen, katzenhaften Lächeln umspielt. »Sieht aus, als könntest du schon wieder.« Abermals lachend schüttelte sie ihre Mähne. »Oh, wir wollen ein Spiel spielen.« Immer noch lächelnd hob Sharon ihre Hände in die Luft. »Aber tu mir bitte nicht weh.« Mit vor Erregung blitzenden Augen tat sie, als würde sie erschauern, und stieß ein leises Wimmern aus. »Ich werde alles tun, was du von mir verlangst. Alles. Komm her und zwing mich. Ich will, dass du mich zwingst.« Sie ließ ihre Hände wieder sinken und begann, sich überall zu streicheln. »Richte diese große, schlimme Waffe auf mich, während du mich vergewaltigst. Ich will, dass du das tust. Ich will, dass du – «

Ein lauter Knall, und Eve schreckte zurück. Ihr Magen zog sich schmerzlich zusammen, als sie sah, wie die Frau wie eine kaputte Puppe rücklings auf die Laken flog, während aus ihrer Stirn das Blut spritzte. Der zweite Schuss war weniger schockierend, aber Eve musste sich zwingen, weiter auf den Monitor zu sehen. Nach dem letzten Treffer herrschte Stille. Man hörte nur noch die dezente Hintergrundmusik und ein leises Keuchen. Das Keuchen des Killers.

Die Kamera rückte aus der Totalen auf den grässlich verstümmelten Körper der toten jungen Frau, und plötzlich lag, durch die Magie des Videos, DeBlass so auf dem Bett, wie Eve sie vorgefunden hatte, mit zu einem X gespreizten Gliedern auf dem blutgetränkten Bett. Der Film endete mit einer Aufnahme des Zettels.

 

EINE VON SECHS

 

Beim zweiten Mal war es schon leichter, die Bilder zu ertragen. Oder zumindest redete sich Eve es ein. Dieses Mal bemerkte sie nach dem ersten Schuss ein leichtes Wackeln der Kamera, hörte, wie der Täter leise zischend Luft holte. Sie ließ den Film zurücklaufen, lauschte genau auf jedes Wort, studierte genau jede Bewegung, in der Hoffnung, es fände sich vielleicht irgendein Hinweis. Doch dafür war der Mörder viel zu clever. Das wussten sie beide ganz genau.

Er hatte sie sehen lassen wollen, wie clever er war. Wie kaltblütig.

Und er hatte sie wissen lassen wollen, dass er wusste, wo er sie finden könnte. Wann auch immer er es wollte.

Wütend über das Zittern ihrer Hände erhob sie sich von ihrem Stuhl. Statt wie geplant Kaffee zu kochen, nahm Eve eine Weinflasche aus der kleinen Kühlzelle und schenkte sich ein halbes Glas voll ein.

Sie leerte es in einem Zug und versprach sich, auch die zweite Hälfte bald zu trinken, doch zunächst gab sie den Code ihres Commanders in ihren Computer ein.

Es war die Frau des Vorgesetzten, die auf dem Bildschirm erschien, und angesichts ihrer glitzernden, tropfenförmigen Ohrringe und ihrer perfekt frisierten Haare war sich Eve beinahe sicher, dass sie mit ihrem Anruf eine der berühmten Dinnerpartys der Frau gestört hatte.

»Lieutenant Dallas, Mrs. Whitney. Tut mir Leid, Sie abends noch zu stören, aber ich muss unbedingt mit dem Commander sprechen.«

»Wir haben gerade Gäste, Lieutenant.«

»Ja, Ma’am. Tut mir Leid.« Verdammte Politik, dachte Eve und zwang sich gleichzeitig zu einem Lächeln. »Aber es ist wirklich wichtig.«

»Ist es das nicht immer?«

Sie war dankbar, dass sie weder mit grässlicher Hintergrundmusik noch mit den neuesten Nachrichten berieselt wurde, während sie volle drei Minuten darauf warten musste, bis der Commander auf dem Monitor erschien.

»Dallas.«

»Commander, ich muss Ihnen etwas über eine gesicherte Leitung zuschicken.«

»Ich hoffe, es ist wirklich wichtig, Dallas. Meine Frau wird mich diese Unterbrechung ganz sicher teuer bezahlen lassen.«

»Ja, Sir.« Bullen, dachte sie, während sie sich daranmachte, die Bilder auf seinen Monitor zu übermitteln, sollten besser ledig bleiben.

Sie faltete ihre ruhelosen Hände auf der Tischplatte, wartete einen Augenblick, verfolgte abermals, wie die grässlichen Bilder vor ihren Augen heruntergespult wurden, unterdrückte das Flattern tief in ihrem Magen, und als alles vorbei war, erschien wieder Whitney auf dem Bildschirm. Seine Augen blickten grimmig.

»Wo haben Sie das her?«

»Er hat es mir geschickt. Als ich vorhin nach Hause kam, lag die Diskette hier in meiner Wohnung.« Sie verlieh ihrer Stimme einen betont neutralen Klang. »Er weiß ganz offensichtlich, wer ich bin, wo ich bin und was ich tue.«

Einen Augenblick lang sagte Whitney keinen Ton. »Mein Büro, null siebenhundert. Bringen Sie die Diskette mit, Lieutenant.«

»Zu Befehl, Sir.«

Als das Gespräch beendet war, tat sie die zwei Dinge, die ihr Instinkt ihr riet. Sie zog eine Kopie von der Diskette und genehmigte sich das zweite Gläschen Wein.

Zitternd, schweißnass und kurz davor zu schreien fuhr sie um drei Uhr aus dem Schlaf. Ein leises Wimmern drang aus ihrer Kehle, als sie mit krächzender Stimme das Licht angehen ließ. Im Dunkeln waren Träume noch beängstigender.

Noch immer zitternd lehnte sie sich gegen ihr Kissen. Dieser Traum war schlimmer, viel schlimmer gewesen als alle Träume, die sie zuvor geplagt hatten.

Sie hatte den Mann getötet. Sie hatte keine Wahl gehabt. Er war derart high gewesen, dass sie ihn nicht einfach hatte betäuben können. Himmel, sie hatte es versucht, aber er war einfach immer näher gekommen, näher, näher, näher, mit einem völlig irren Blick und dem bereits blutigen Messer in der Hand.

Das kleine Mädchen war schon tot gewesen. Eve hatte nichts tun können, um es zu verhindern. Bitte, lieber Gott, mach, dass ich wirklich nichts hätte tun können.

Der kleine, zerhackte Körper, der irre Kerl mit dem bluttriefenden Messer. Dann seine überraschten Augen, als sie abgedrückt hatte, und als das Leben aus seinem Blick gewichen war.

Doch das war noch nicht alles gewesen. Dieses Mal nicht. Dieses Mal war er immer weiter auf sie zugekommen. Und sie hatte nackt in einem Meer aus glänzendem Satin gekniet. Das Messer hatte sich in eine Pistole verwandelt und das Gesicht in das des Mannes, den sie ein paar Stunden zuvor so eingehend studiert hatte. Des Mannes namens Roarke.

Er hatte gelächelt, und sie hatte ihn begehrt. Ihr Körper hatte, selbst als er geschossen hatte – in ihren Kopf, ihr Herz und ihre Lenden –, noch vor Entsetzen und gleichzeitigem, verzweifeltem Verlangen nach dem Kerl geprickelt.

Und irgendwo im Hintergrund hatte das kleine Mädchen, das arme kleine Mädchen, um Hilfe geschrien.

Zu müde, um gegen den Traum zu kämpfen, rollte Eve sich auf den Bauch, vergrub den Kopf in ihrem Kissen und begann zu weinen.

»Lieutenant.« Um Punkt sieben winkte Commander Whitney Eve in Richtung eines Stuhls. Trotz oder vielleicht auch auf Grund der Tatsache, dass er seit zwölf Jahren hinter einem Schreibtisch hockte, blieb seinen Augen kaum je etwas verborgen.

Er konnte sehen, dass sie schlecht geschlafen hatte und sich nun bemühte, die Anzeichen einer durchwachten Nacht vor ihrem Vorgesetzten zu verbergen. Schweigend streckte er eine Hand aus.

Sie hatte die Diskette und den Umschlag in einen Plastikbeutel gesteckt, und Whitney bedachte ihn, ehe er ihn mitten auf den Tisch legte, mit einem beinahe beiläufigen Blick.

»Den Vorschriften entsprechend, bin ich verpflichtet, Sie zu fragen, ob Sie von dem Fall abgezogen werden möchten.« Er wartete eine Sekunde. »Also werden wir so tun, als hätte ich Ihnen die Frage gestellt.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Ist Ihre Wohnung sicher, Dallas?«

»Bisher ging ich davon aus.« Sie zog ein paar Ausdrucke aus ihrer Tasche. »Nach meinem Anruf bei Ihnen habe ich mir die Sicherheitsdisketten angesehen. Es gibt eine zehnminütige Aufnahmeunterbrechung. Wie Sie meinem Bericht entnehmen können werden, hat er die Fähigkeit, gängige Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und kennt sich mit Videos, der Aufbereitung von Disketten und natürlich mit antiken Waffen aus.«

Whitney nahm ihren Bericht und legte ihn neben den Beutel. »Was das Feld der Verdächtigen nicht gerade einengt.«

»Nein, Sir. Es gibt noch eine ganze Reihe von Leuten, die ich befragen muss. Bei einem Täter wie diesem sind elektronische Ermittlungen, auch wenn Captain Feeneys Hilfe nicht hoch genug geschätzt werden kann, eher zweitrangig. Dieser Kerl verwischt sämtliche Spuren. Wir haben keine anderen Beweise als die Waffe, die er absichtlich am Tatort zurückgelassen hat. Feeney konnte über seine normalen Kanäle nichts über ihre Herkunft herausfinden. Wir müssen also annehmen, dass sie auf dem Schwarzmarkt gekauft wurde. Ich habe angefangen, mir ihre Notizen und ihren persönlichen Terminkalender anzusehen, aber sie hat nicht gerade das geführt, was man ein zurückgezogenes Leben nennt, sodass es sicher eine Zeit lang dauern wird, bis ich mit den Dingern durch bin.«

»Zeit ist ein Teil unseres Problems. Eine von sechs, Lieutenant. Was sagt Ihnen das?«

»Dass er es noch auf fünf weitere Frauen abgesehen hat und dass er will, dass wir es wissen. Er hat Spaß an seiner Arbeit und genießt es, im Mittelpunkt unseres Interesses zu stehen.« Sie atmete langsam durch. »Für ein umfängliches psychiatrisches Täterprofil haben wir noch nicht genug in der Hand. Wir können nicht sagen, wie lange ihn die durch diesen Mord hervorgerufene Erregung befriedigen wird, wann es ihn nach dem nächsten Kick verlangt. Könnte schon heute sein oder aber erst in einem Jahr. Wir sollten besser nicht drauf hoffen, dass er unvorsichtig wird.«

Whitney nickte. »Haben Sie Probleme mit dem von Ihnen rechtmäßig angewandten gezielten Todesschuss?«

Das blutige Messer. Der kleine, zerfetzte, zu ihren Füßen liegende Körper. »Keine, mit denen ich nicht fertig würde.«

»Das will ich hoffen, Dallas. In einem brisanten Fall wie diesem kann ich niemanden brauchen, der sich Gedanken darüber macht, ob er seine Waffe in einer Extremsituation benutzen soll oder nicht.«

»Das ist mir bewusst.«

Sie war das Beste, was er hatte, und er konnte es sich ganz einfach nicht leisten, auch nur die geringsten Zweifel an ihr in sich aufkommen zu lassen. »Sind Sie dafür gewappnet, sich in die Politik zu stürzen?« Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. »Senator DeBlass ist auf dem Weg hierher. Er kam gestern Abend nach New York.«

»Diplomatie ist nicht unbedingt eine meiner Stärken.«

»Das ist mir bewusst. Aber Sie werden daran arbeiten. Er will mit dem Leiter der Ermittlungen sprechen und hat alles über meinen Kopf hinweg arrangiert. Der Befehl kommt direkt vom Polizeipräsidenten. Sie sollen mit dem Senator umfänglich kooperieren.«

»Das hier ist eine Ermittlung nach Code Five«, kam Eves steife Erwiderung. »Es ist mir egal, ob der Befehl direkt von Gott dem Allmächtigen kommt. Ich werde ganz sicher keine vertraulichen Informationen an einen Zivilisten weitergeben.«

Whitneys Lächeln wurde breiter. Er hatte ein nettes, durchschnittliches Gesicht, wahrscheinlich das, mit dem er auf die Welt gekommen war. Doch wenn er lächelte und dieses Lächeln ernst meinte, dann verwandelten die aufblitzenden, sich von seiner kakaofarbenen Haut abhebenden, strahlend weißen Zahnreihen seine eher schlichten Züge in etwas Besonderes.

»Das habe ich nicht gehört. Ebenso wenig wie Sie gehört haben, dass ich Ihnen gesagt habe, Sie wollen ihm nicht mehr als die offensichtlichen Tatsachen enthüllen. Was Sie von mir hören, Lieutenant Dallas, ist, dass der Gentleman aus Virginia ein aufgeblasenes, arrogantes Arschloch ist. Doch unglücklicherweise ist dieses Arschloch mächtig. Also seien Sie besser auf der Hut.«

»Sehr wohl, Sir.«

Whitney sah auf seine Uhr und ließ dann die Akte zusammen mit der Diskette in seine abschließbare Schreibtischschublade gleiten. »Sie haben noch Zeit für eine Tasse Kaffee… und, Lieutenant«, fügte er, während sie sich schon erhob, entschieden hinzu: »Falls Sie Schlafprobleme haben, nehmen Sie die zugelassenen Beruhigungsmittel ein. Ich möchte, dass meine Leute voll auf ihrem Posten sind.«

»Das bin ich auch so.«

Senator Gerald DeBlass war ohne jeden Zweifel aufgeblasen, fraglos arrogant, und nach einer Minute in seiner Gesellschaft stimmte Eve mit ihrem Commander darin überein, dass er unleugbar zusätzlich ein Arschloch war.

Er war kompakt und bullig, ungefähr einen Meter achtzig groß und sicher beinahe hundert Kilo schwer. Seine dichten weißen Haare waren wie mit dem Rasiermesser geschnitten, sodass sein Schädel wie eine riesige, glatte Billardkugel wirkte. Seine Augen waren wie die dichten Brauen beinahe schwarz und ebenso groß wie seine Nase und sein Mund.

Auch seine Hände waren riesig, und als er sie bei der gegenseitigen Vorstellung kurz um Eves Finger legte, fiel ihr auf, dass sie glatt und weich waren wie die von einem Baby.

Er hatte seinen Adjutanten mitgebracht. Derrick Rockman war ein drahtiger Kerl von Anfang vierzig, der trotz seiner Größe von gut einem Meter fünfundneunzig ganz sicher gute zehn Kilo weniger wog als der Senator. Er wirkte adrett und gepflegt, und sein dunkler Nadelstreifenanzug wies ebenso wie die stahlgraue Krawatte nicht die kleinste Falte auf. Er hatte ein ernstes, attraktives, ebenmäßiges Gesicht und gab sich gemessen und zurückhaltend, als er dem wesentlich eindrucksvoller auftretenden DeBlass aus dessen Kaschmirmantel half.

»Was zum Teufel haben Sie bisher unternommen, um das Monster ausfindig zu machen, das meine Enkelin ermordet hat?«, fragte der Senator ohne Umschweife.

»Alles, was im Bereich unserer Möglichkeiten stand.« Commander Whitney stand neben seinem Schreibtisch. Obgleich er DeBlass einen Sitzplatz angeboten hatte, stapfte dieser durch das kleine Zimmer, wie er es gewöhnlich in der Galerie des Neuen Senats in East Washington zu tun pflegte.

»Sie hatten über vierundzwanzig Stunden Zeit«, schnauzte DeBlass mit tiefer, dröhnender Bass-Stimme. »Und meines Wissens nach haben Sie gerade mal zwei Beamte mit den Ermittlungen betraut.«

»Ja, und zwar aus Gründen der Diskretion. Zwei meiner besten Leute«, fügte der Commander ungefragt hinzu. »Lieutenant Dallas leitet die streng vertraulichen Untersuchungen und erstattet außer mir niemandem Bericht.«

DeBlass richtete seine harten schwarzen Augen auf Eve. »Welche Fortschritte haben Sie bisher erzielt?«

»Wir haben die Tatwaffe identifiziert und die genaue Todeszeit bestimmt. Wir sammeln weitere Beweise, befragen die Bewohner in dem Gebäude, in dem Ms. DeBlass’ Apartment liegt, und gehen den Namen in ihrem persönlichen Adressbuch und ihrem beruflichen Terminkalender nach. Ich arbeitete gerade daran, die letzten vierundzwanzig Stunden ihres Lebens zu rekonstruieren.«

»Es sollte selbst dem begriffsstutzigsten Wesen klar sein, dass sie von einem ihrer Kunden ermordet worden ist.« Das Wort Kunde sprach er mit einem bösartigen Zischen.

»Für die letzten Stunden vor ihrem Tod war kein Termin vermerkt, und ihr letzter notierter Kunde hat ein Alibi für die fraglichen Stunden.«

»Nehmen Sie das Alibi sorgfältig auseinander«, verlangte DeBlass in herrischem Ton. »Ein Mann, der für sexuelle Dienste bezahlt, schreckt ganz sicher auch nicht vor einem Mord zurück.«

Obgleich Eve den Satz nicht ganz verstand, dachte sie an ihr Gespräch mit Whitney und nickte mit dem Kopf. »Ich arbeite daran, Senator.«

»Ich will eine Kopie ihres Terminkalenders.«

»Das ist leider nicht möglich, Senator«, erklärte Whitney milde. »Bei einem Kapitalverbrechen sind sämtliche Beweismittel vertraulich.«

DeBlass schnaubte verächtlich und winkte in Richtung seines Assistenten.

»Commander.« Rockman griff in seine linke Brusttasche und zog ein mit einem holografischen Siegel versehenes Stück Papier daraus hervor. »Dieses von Ihrem Polizeipräsidenten unterzeichnete Schreiben gibt dem Senator die Befugnis, sich sämtliche Beweismaterialien und Ermittlungsdaten im Fall seiner Enkeltochter einzusehen.«

Whitney blickte flüchtig auf den Zettel und legte ihn dann achtlos auf die Seite. Seiner Meinung nach war Politik von jeher ein Spiel für Feiglinge gewesen, und er hasste es, sich ihm nicht immer entziehen zu können. »Ich werde persönlich mit dem Polizeipräsidenten reden. Wenn er seine Genehmigung auch nach dem Gespräch aufrechterhält, stellen wir Ihnen bis heute Nachmittag sämtliche Kopien zur Verfügung.« Ohne weiter auf Rockman zu achten, wandte er sich wieder an DeBlass. »Die Vertraulichkeit der Beweismittel ist ein wichtiger Bestandteil des Ermittlungsprozesses. Wenn Sie weiter auf Einsicht in die Materialien drängen, laufen Sie dadurch Gefahr, unsere Arbeit in dem Fall zu behindern.«

»Der Fall, wie Sie es nennen, Commander, war mein eigen Fleisch und Blut.«

»Und genau deshalb hätte ich gehofft, dass es Ihr wichtigstes Anliegen wäre, uns dabei zu helfen, ihren Mörder der Gerechtigkeit zu überführen.«

»Ich diene seit über fünfzig Jahren der Gerechtigkeit. Ich will die Informationen bis heute Mittag.« Er nahm seinen Mantel und warf ihn sich über einen seiner fleischigen Arme. »Wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass Sie nicht alles in Ihrer Macht Stehende unternehmen, um diesen Irren zur Strecke zu bringen, werde ich dafür sorgen, dass man Sie Ihres Postens enthebt.« Er sah Eve direkt in die Augen. »Und dass das Nächste, was Sie untersuchen werden, Lieutenant, irgendwelche pubertierenden Jünglinge mit klebrigen Fingern sind, die sich heimlich mit irgendwelchen schmutzigen Videos vergnügen.«

Nachdem er aus dem Raum gestürmt war, wandte sich Rockman mit ruhigen, ernsten Augen an die beiden Polizisten. »Sie müssen den Senator entschuldigen. Er ist einfach erschöpft. Was für Spannungen es auch immer zwischen ihm und seiner Enkeltochter gab, war sie doch eine enge Verwandte. Und nichts ist dem Senator wichtiger als seine Familie. Ihr Tod, dieser gewaltsame, sinnlose Tod, hat ihn am Boden zerstört.«

»Ja«, murmelte Eve. »Er wirkte auch vollkommen fertig.«

Rockman bedachte sie mit einem Lächeln, das gleichermaßen amüsiert wie traurig wirkte. »Stolze Männer verbergen ihre Trauer häufig hinter Aggressionen. Wir haben das vollste Vertrauen in Ihre Fähigkeiten und Ihre Zielstrebigkeit, Lieutenant. Commander.« Er nickte mit dem Kopf. »Wir erwarten die Unterlagen dann heute Nachmittag. Danke, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben.«

»Ein aalglatter Typ«, murmelte Eve, als Rockman leise die Tür hinter sich schloss. »Aber Sie werden ja wohl nicht weich werden, Commander.«

»Ich werde ihnen geben, was ich ihnen geben muss.« Seine barsche Stimme verriet seinen mühsam unterdrückten Zorn. »Und jetzt machen Sie sich auf die Socken und bringen mir mehr Material.«

Die Polizeiarbeit war häufig stumpfe Plackerei. Nachdem sie fünf Stunden lang auf ihren Monitor gestarrt und nacheinander zahllose Namen aus DeBlass’ Terminkalender überprüft hatte, war Eve erschöpfter als nach einem Marathon.

Obgleich Feeney ihr einen Teil der Namen abgenommen hatte, um sie innerhalb wesentlich kürzerer Zeit an seinem deutlich leistungsstärkeren Kasten zu überprüfen, würde es eine Weile dauern, bis die Liste vollständig wäre.

Sharon war anscheinend sehr beliebt gewesen.

In der Überzeugung, dass Diskretion sie weiter brächte als aggressives Auftreten, kontaktierte Eve Sharons Kunden persönlich per Tele-Link, erklärte ihnen, worum es ihr ging, und bat diejenigen, die sich über ihren Anruf echauffierten, wegen der von ihnen versuchten Behinderung der Polizeiarbeit freundlich auf die Wache.

Bis Mitte des Nachmittags hatte sie mit dem ersten Dutzend Männer gesprochen, fuhr noch einmal ins Gorham und besuchte Charles Monroe – DeBlass’ Nachbar und gleichzeitig der elegante Mann aus dem Fahrstuhl –, der ganz offensichtlich gerade eine Kundin unterhielt.

Eingehüllt in einen schwarzen Seidenmorgenmantel und in den Geruch nach heißem, schwülem Sex, öffnete ihr Charles die Tür und bedachte sie mit einem warmen Lächeln.

»Tut mir furchtbar Leid, Lieutenant. Meiner Drei-Uhr-Verabredung stehen noch fünfzehn Minuten zu.«

»Ich werde so lange warten.« Ohne eingeladen worden zu sein, trat Eve über die Schwelle. Anders als DeBlass’ Apartment war dieses hier mit tiefen, weichen Ledersesseln und dicken Teppichen bestückt.

»Ah… « Belustigt blickte Charles in Richtung einer diskret geschlossenen Tür am Ende eins kurzen Flurs. »Wissen Sie, Diskretion ist das A und O meines Berufs. Meine Klientin wäre sicher einigermaßen beunruhigt, wenn sie wüsste, dass ich die Polizei in der Wohnung habe.«

»Kein Problem. Sie haben doch sicher eine Küche?«

Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Aber sicher. Immer geradeaus. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Es wird nicht lange dauern.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Eve schlenderte in die Küche, die im Gegensatz zum Wohnbereich eher spartanisch eingerichtet war. Es schien, als verbrächte Charles nur wenig Zeit damit, daheim zu essen. Trotzdem besaß er statt einer Kühlzelle einen ausgewachsenen Kühlschrank, in dem Eve zu ihrer großen Freude tatsächlich eine kalte Pepsi fand. Zufrieden setzte sie sich an den Tisch, um den Drink zu genießen, während Charles seine Drei-Uhr-Klientin weiter glücklich machte.

Bald schon hörte sie das leise Murmeln eines Mannes und das helle Lachen einer Frau, bevor sich Charles mit seinem nonchalanten Lächeln zu ihr in die Küche gesellte.

»Tut mir Leid, dass ich Sie habe warten lassen.«

»Kein Problem. Erwarten Sie noch jemanden?«

»Nicht vor heute Abend.« Er holte sich ebenfalls eine Pepsi, brach das Frischesiegel am Ende der Tube und schüttete den Inhalt in ein hohes Glas. Dann rollte er die Tube zu einem Ball zusammen und warf diesen in den automatischen Recycler. »Gemeinsames Dinner, Oper und anschließend romantisches Rendezvous.«

»Mögen Sie das Zeug? Ich meine, die Oper?«, fragte sie, worauf er grinste.

»Ich hasse es. Können Sie sich etwas Nervtötenderes vorstellen als eine dickbusige Frau, die den halben Abend über deutsche Arien kreischt?«

Eve dachte ernsthaft darüber nach. »Nein.«

»Aber da haben wir’s mal wieder. Geschmäcker sind nun mal verschieden.« Sein Lächeln schwand, als er sich zu ihr an den Tisch in der kleinen Nische unter dem Fenster setzte. »Das mit Sharon habe ich heute Morgen in den Nachrichten gehört. Ich habe also schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass jemand bei mir erscheint. Es ist schrecklich. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie tot ist.«

»Sie kannten sie gut?«

»Wir haben seit über drei Jahren nebeneinander gewohnt – und außerdem haben wir gelegentlich zusammen gearbeitet. Hin und wieder wollte einer unserer Kunden einen Dreier, und dann haben wir uns die Sache geteilt.«

»Haben Sie auch privat das Bett mit ihr geteilt?«

»Sie war eine wunderschöne Frau, und sie fand mich attraktiv.« Er zuckte mit seinen in Seide gehüllten straffen Schultern und blickte durch das getönte Fenster auf eine vorbeifahrende Bahn voller Touristen. »Falls einer von uns beiden in der Stimmung für eine kleine Unterbrechung des grauen Berufsalltages war, hat ihm der andere für gewöhnlich den Gefallen getan.« Sein Lächeln kehrte zurück. »Aber das war selten. Wenn man in einem Süßwarengeschäft arbeitet, verliert man schließlich nach einer Weile auch den Appetit auf Schokolade. Sie war eine Freundin, Lieutenant. Ich hatte sie wirklich gern.«

»Können Sie mir sagen, was Sie in der Nacht ihres Todes zwischen Mitternacht und Morgen gemacht haben?«

Seine Brauen schossen hoch. Falls ihm nicht tatsächlich gerade erst der Gedanke gekommen war, er könnte als Verdächtiger betrachtet werden, war er ein exzellenter Schauspieler. Aber, dachte Eve, das musste man in seiner Berufssparte wohl auch ganz sicher sein.

»Ich war mit einer Klientin zusammen, hier in meiner Wohnung. Sie blieb die ganze Nacht.«

»Ist das normal?«

»Diese Klientin möchte es so haben. Lieutenant, wenn es unbedingt sein muss, gebe ich Ihnen natürlich ihren Namen, aber es wäre mir lieber, wenn es nicht sein müsste. Zumindest nicht, so lange ich ihr die Sache nicht erklärt habe.«

»Es geht hier um Mord, Mr. Monroe, also muss es unbedingt sein. Um wie viel Uhr haben Sie diese Klientin mit hierher gebracht?«

»Gegen zehn. Vorher haben wir im Miranda’s, dem Schwebecafe über der Sechsten Straße zu Abend gegessen.«

»Gegen zehn.« Eve nickte und bemerkte den Moment, in dem er sich erinnerte.

»Die Sicherheitskamera im Fahrstuhl.« Wieder war sein Lächeln durch und durch charmant. »Es ist ein vollkommen antiquiertes Gesetz. Ich nehme an, Sie könnten mich dafür drankriegen, aber ich denke, der Aufwand würde sich für Sie nicht lohnen.«

»Jede sexuelle Handlung in einem überwachten Bereich ist ein Vergehen, Mr. Monroe.«

»Bitte nennen Sie mich doch einfach Charles.«

»Es ist eine Kleinigkeit, Charles, aber trotzdem könnte man Ihnen deshalb Ihre Lizenz für sechs Monate entziehen. Geben Sir mir also einfach ihren Namen, und wir klären die Sache so schnell es geht.«

»Dadurch verliere ich eine meiner besten Kundinnen«, murmelte er beinahe gekränkt. »Darleen Lowe. Ich hole Ihnen die Adresse.« Er erhob sich, holte seinen elektronischen Kalender und las die Anschrift ab.

»Danke. Hat Sharon mit Ihnen über ihre Klienten gesprochen?«

»Wir waren Freunde«, sagte er mit müder Stimme. »Ja, natürlich haben wir uns auch über unsere Arbeit unterhalten, auch wenn das unter dem ethischen Gesichtspunkt sicher nicht vollkommen richtig war. Sie hatte stets ein paar lustige Geschichten auf Lager. Ich bin eher der konventionelle Typ. Sharon hingegen war… offen für das Ungewöhnliche. Manchmal waren wir zusammen einen trinken, und dann hat sie erzählt. Natürlich ohne Namen. Sie hatte ihre eigenen kleinen Spitznamen für die Leute. Der Kaiser, der Wiesel, das Milchmädchen, so in der Art.«

»Hat sie je von irgend)emandem gesprochen, vor dem sie Angst hatte, bei dem ihr unbehaglich, der vielleicht gewalttätig war?«

»Von Gewalt war nie die Rede, und nein, sie hatte vor niemandem Angst. Sharon hatte das Gefühl, ständig alles unter Kontrolle zu haben. So wollte sie es haben, denn sie meinte, die meiste Zeit ihres Lebens wäre sie von jemand anderem kontrolliert worden. Sie empfand eine ziemliche Bitterkeit gegenüber ihrer Familie. Einmal hat sie mir erzählt, sie hätte nie die Absicht gehabt, ihren Lebensunterhalt durch professionellen Sex zu bestreiten. Sie hätte es nur getan, um ihre Familie wahnsinnig zu machen. Aber nachdem sie damit angefangen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass es ihr sogar Spaß machte.«

Wieder zuckte er mit seinen Schultern und nippte nachdenklich an seinem Glas. »Also ist sie dabei geblieben und hat, wie sie selbst es so schön ausdrückte, zwei Fliegen mit einem Fick geschlagen.«

Er sah Eve in die Augen. »Und jetzt sieht es so aus, als hätte einer dieser Ficks zurückgeschlagen.«

»Ja.« Eve erhob sich und steckte den Rekorder ein. »Verlassen Sie bitte nicht die Stadt, Charles. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«

»Das war alles?«

»Im Moment ja.«

Er erhob sich ebenfalls und blickte sie lächelnd an. »Für einen Bullen sind Sie eine erstaunlich angenehme Gesprächspartnerin… Eve.« Forschend strich er mit einer Fingerspitze über ihren Arm, und als sie ihre Brauen hochzog, umfasste er zärtlich ihr Gesicht. »Haben Sie es eilig?«

»Warum?«

»Tja, ich hätte ein paar Stunden Zeit, und Sie sind äußerst attraktiv. Große goldene Augen«, murmelte er sanft. »Und dann noch dieses kleine Grübchen im Kinn. Warum nehmen wir uns nicht einfach beide ein paar Stunden frei?«

Sie wartete, bis er den Kopf neigte, um sie zu küssen. »Wollen Sie mich etwa bestechen, Charles? Wenn ja, und wenn Sie auch nur halb so gut sind, wie Sie glauben…«

»Ich bin sogar noch besser.« Er nagte an ihrer Unterlippe und ließ seine Hand auf ihre Brust gleiten. »Ich bin sogar viel besser.«

»Dann… müsste ich Sie wegen Unzucht anzeigen.« Sie lächelte, als er zurückfuhr, als hätte er sich an ihr verbrannt. »Und das würde uns beide sicher sehr, sehr traurig machen.« Belustigt tätschelte sie ihm die Wange. »Aber trotzdem danke, dass Sie daran gedacht haben.«

Er folgte ihr zur Tür und kratzte sich am Kinn. »Eve?«

Die Hand bereits am Türgriff, blieb sie stehen. »Ja?«

»Ungeachtet der Möglichkeit, dass ich versuchen könnte, Sie ganz einfach zu bestechen, hätte ich, falls Sie es sich anders überlegen sollten, durchaus ehrliches Interesse daran, Sie wiederzusehen.«

»Dann gebe ich Ihnen Bescheid.« Sie schloss die Tür und ging in Richtung Fahrstuhl.

Es wäre für Charles Monroe ein Kinderspiel gewesen, heimlich aus seiner Wohnung zu schleichen und zu Sharon hinüberzugehen, während seine Kundin schlief. Ein bisschen Sex mit ihr zu haben, sie einfach zu erschießen…

Nachdenklich bestieg sie den Lift.

Die Disketten zu manipulieren. Als Bewohner des Gebäudes hatte er sicher problemlos Zugang zu den Sicherheitsbereichen. Und dann hätte er einfach zu seiner Kundin in sein eigenes Bett zurückkehren können.

Zu schade, dass das Szenarium durchaus plausibel war, sagte sich Eve, als der Fahrstuhl unten ankam. Sie fand ihn wirklich nett. Aber bis sie sein Alibi überprüft hätte, stünde Charles Monroe ganz oben auf der Liste der Verdächtigen.