Eve studierte frustriert den Bericht über die Suche nach Sharon DeBlass’ Bankschließfach. Es schien es einfach nicht zu geben.
Weder in New York noch in New Jersey noch in Connecticut. Weder in East Washington noch in Virginia.
Aber irgendwo hatte sie ein Schließfach angemietet. Sie hatte Tagebücher besessen und hatte sie an einem Ort versteckt, von dem sie sie schnell und sicher hervorholen konnte.
In diesen Tagebüchern, davon war Eve überzeugt, fand sich das Motiv für ihre Ermordung.
Um nicht Feeney abermals mit der – verstärkten – Suche nach dem Schließfach zu beauftragen, machte sie sich persönlich an die Arbeit, wobei sie mit Pennsylvania begann und sich westwärts und nordwärts bis an die Grenzen nach Kanada und Quebec vorkämpfte. In etwas weniger als der doppelten Zeit, die Feeney gebraucht hätte, kam sie zu demselben Resultat wie er. Nach wie vor hatte sie nirgends auch nur die Spur von einem Bankschließfach entdeckt.
Also ging sie Richtung Süden über Maryland bis hinunter nach Florida. Ihr Computer begann, sich mit lautem Schnaufen über die Arbeit zu beklagen, worauf sie mit einem bösen Zischen und einem Schlag auf die Konsole reagierte. Sie schwor sich, tatsächlich den bürokratischen Papierkram auf sich zu nehmen und ein neues Gerät zu beantragen, wenn dieses bis zum Ende dieses Falles tapfer durchhielt.
Mehr aus Starrsinn denn aus Hoffnung überflog sie auch den Mittleren Westen bis hin zu den Rockies.
Sharon, du warst einfach zu clever, dachte sie angesichts der abermals negativen Resultate. Cleverer, als für dich gut war. Du hast doch sicher nicht das Land oder sogar den Planeten verlassen und jedes Mal, wenn du an die Tagebücher hast herankommen wollen, die Zollkontrollen über dich ergehen lassen. Weshalb hättest du so weit reisen sollen, an einen Ort, für dessen Besuch du extra ein Transportmittel und Reisedokumente gebraucht hättest? Sicher wolltest du doch jederzeit Zugang zu den Tagebüchern haben.
Wenn deine Mutter wusste, dass du Tagebuch geführt hast, dann wussten es vielleicht auch andere. Du hast damit geprahlt, weil es dir gefallen hat, die Menschen in Unruhe zu versetzen. Und weil du wusstest, dass niemand die Bücher jemals fände.
Aber sie waren bestimmt in der Nähe, dachte Eve erneut und schloss die Augen, um die Frau, die sie inzwischen so gut kannte, deutlicher vor sich zu sehen. Sie waren so nahe, dass du ihre Macht spüren und ausnutzen konntest, um mit den Menschen zu spielen.
Hundertprozentig hast du sie gut genug versteckt, als dass nicht einfach jeder sie aufspüren, einsehen und dir den Spaß hätte verderben können. Garantiert hast du einen anderen Namen verwendet. Hast das Schließfach unter einem Alias-Namen angemietet – denn schließlich konnte man nie wissen. Und wenn du clever genug warst, um einen falschen Namen zu benutzen, hast du einen verwendet, der, weil er dir vertraut, nicht leicht zu vergessen war. Einen Namen, mit dem du keine Schwierigkeiten hättest.
Es war vollkommen simpel. Eve gab den Namen Sharon Barrister in den Computer. Es war derart simpel, dass sie und Feeney es schlicht übersehen hatten.
Bei der Brinkstone International Bank and Finance, Newark, New Jersey, traf sie denn auch voll ins Schwarze.
Sharon Barrister hatte dort nicht nur ein Schließfach, sondern obendrein ein Konto mit einem Guthaben in Höhe von 326.000,85 Dollar.
Grinsend wählte sie die Nummer der Staatsanwaltschaft. »Ich brauche einen Durchsuchungsbefehl.«
Drei Stunden später war sie zurück in Commander Whitneys Büro und versuchte, ihn nicht hören zu lassen, wie sie mit den Zähnen knirschte. »Sie hatte noch ein zweites Schließfach irgendwo anders«, beharrte sie auf ihrer Meinung. »Und dort liegen die Tagebücher.«
»Niemand hält Sie davon ab, weiter danach zu suchen, Dallas.«
»Gut, das ist wirklich gut.« Während sie sprach, stapfte sie durch das Zimmer. Sie war von neuer Energie erfüllt, und sie musste etwas tun. »Und was machen wir damit?«
Sie wies auf die Akte auf dem Schreibtisch.
»Sie haben die Diskette, die ich aus dem Schließfach geholt habe, ebenso wie den von mir angefertigten Ausdruck. Es liegt alles vor Ihnen, Commander. Eine Erpressungsliste vollständig mit Namen und Beträgen. Und wenn man die sorgsam alphabetisch geordneten Namen durchliest, stößt man ziemlich weit unten, aber dennoch unübersehbar auf den Namen Simpson.«
»Ich kann lesen, Dallas.« Er widerstand dem Drang, sich den schmerzenden Nacken zu massieren. »Allerdings ist der Polizeipräsident nicht der Einzige in der Stadt oder gar im Land, der den Namen Simpson trägt.«
»Er ist es.« Sie kochte und hatte keine Möglichkeit, Dampf abzulassen. »Das wissen wir beide. Außerdem stehen noch eine Reihe anderer interessanter Namen auf der Liste. Ein Gouverneur, ein katholischer Bischof, eine angesehene Führerin der Internationalen Frauenorganisation, zwei hochrangige Cops, ein Ex-Vizepräsident – «
»Ich kenne diese Namen«, unterbrach Whitney sie erschöpft. »Sind Sie sich über Ihre Position und die möglichen Konsequenzen Ihrer Entdeckung überhaupt im Klaren, Dallas?« Als sie etwas sagen wollte, hob er abwehrend die Hand. »Ein paar ordentliche Namen- und Zahlenreihen sind noch lange kein Beweis. Wenn diese Daten dieses Büro verlassen, ist alles vorbei. Dann sind Sie ebenso erledigt wie die Untersuchung. Ist es das, was Sie wollen?«
»Nein, Sir.«
»Finden Sie die Tagebücher, Dallas, finden Sie die Verbindung zwischen Sharon DeBlass und Lola Starr, und dann sehen wir weiter.«
»Simpson hat Dreck am Stecken.« Sie beugte sich über den Schreibtisch. »Er hat Sharon DeBlass gekannt. Er wurde von ihr erpresst. Und er unternimmt alles, was in seiner Macht steht, um die Ermittlungen zu stören.«
»Dann müssen wir eben an ihm vorbei arbeiten.« Whitney legte die Akte in eine abschließbare Schublade. »Niemand darf erfahren, was wir hier haben, Dallas. Noch nicht mal Feeney. Ist das klar?«
»Zu Befehl, Sir.« Da sie wusste, dass sie sich mit dem Erreichten zufrieden geben musste, wandte sie sich entschieden zum Gehen. »Commander, ich möchte feststellen, dass ein Name auf der Liste fehlt. Und zwar der Name Roarke.«
Whitney sah sie an und nickte. »Wie gesagt, Dallas. Ich bin des Lesens mächtig.«
Ihr Computer blinkte, als sie zurück in ihr Büro kam, und eine schnelle Überprüfung ihrer E-Mails zeigte, dass der Pathologe zweimal sein Glück versucht hatte. Ungeduldig setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch und rief den Mann zurück.
»Wir sind mit der Untersuchung Ihres Nachbarn fertig, Dallas. Sie haben tatsächlich ins Schwarze getroffen.«
»Verdammt.« Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Dann schicken Sie mir bitte die Ergebnisse herauf. Ich kümmere mich um alles Weitere.«
Hetta Finestein öffnete die Tür ihres Apartments, und sofort war Eve in eine Wolke aus Lavendelduft und dem Hefegeruch selbst gebackenen Brotes eingehüllt.
»Lieutenant Dallas.«
Sie lächelte ihr ruhiges Lächeln und trat einladend einen Schritt zurück. Im Fernseher lief eine Talkshow, in die sich interessierte Zuschauer zur Vertiefung der Interaktion von zu Hause durch Übersendung ihres holografischen Bildes einklinken konnten. Anscheinend war das Thema eine Erhöhung der Gehälter professioneller Mütter. Im Augenblick drängten sich auf dem Bildschirm eine Reihe von Frauen und Kindern in allen Altersstufen, die ihre Meinung lautstark zum Besten gaben.
»Sehr nett von Ihnen, bei mir vorbeizukommen. Ich hatte heute schon so viele Besucher. Es war wirklich tröstlich. Hätten Sie vielleicht gerne ein paar Plätzchen?«
»Sicher«, erwiderte Eve und fühlte sich wie ein schleimiger Wurm. »Danke.« Sie setzte sich aufs Sofa und sah sich in der aufgeräumten kleinen Wohnung um. »Sie und Mr. Finestein hatten eine Bäckerei?«
»Oh, ja.« Hettas Stimme kam aus der Küche, wo sie eifrig den kleinen Snack für ihren Gast bereitete. »Bis vor ein paar Jahren. Der Laden lief sehr gut. Wissen Sie, die Leute lieben selbst gebackene Dinge. Und falls ich so sagen darf, habe ich ein gutes Händchen für Kuchen und Pasteten.«
»Auch hier zu Hause kochen und backen Sie sehr viel.«
Hetta kam mit einem Teller voller goldener Plätzchen ins Wohnzimmer zurück. »Es ist eins meiner Hobbys. Allzu viele Menschen lernen das Vergnügen niemals kennen, ein selbst gebackenes Plätzchen zu probieren. Allzu viele Kinder dürfen niemals echten Zucker auch nur kosten. Natürlich ist er furchtbar teuer, aber die Ausgabe lohnt sich.«
Eve probierte einen Keks und musste Mrs. Finestein uneingeschränkt Recht geben. »Ich nehme an, Sie haben auch die Eierspeise zubereitet, die Ihr Mann gegessen hat, bevor er starb.«
»Fertiggerichte oder irgendwelche synthetischen Lebensmittel werden Sie in meinem Haus nicht finden«, erklärte Hetta stolz. »Meistens hat Joe stets alles sofort verschlungen, wenn es aus dem Ofen kam. Es gibt auf dem ganzen Markt nicht einen AutoChef, der es mit dem Instinkt und der Kreativität einer guten Bäckerin aufnehmen kann.«
»Sie haben auch die Eiercreme gemacht, Mrs. Finestein.«
Die Frau blinzelte und senkte ihren Blick. »Ja.«
»Mrs. Finestein, Sie wissen, woran Ihr Mann gestorben ist?«
»Ja.« Wieder lächelte sie sanft. »An seiner Fress-Sucht. Ich habe ihm gesagt, er soll die Eierspeise nicht anrühren. Ich habe ihm extra gesagt, er soll sie stehen lassen. Ich habe gesagt, sie wäre für Mrs. Hennessy am anderen Ende des Flurs.«
»Für Mrs. Hennessy.« Diese Antwort warf Eve in ihren Überlegungen um mehrere Schritte zurück. »Sie – «
»Natürlich wusste ich, dass er sie trotzdem essen würde. In Bezug auf Essen war er ein großer Egoist.«
Eve räusperte sich. »Könnten wir, ah, den Fernseher vielleicht abstellen?«
»Hmm? Oh, tut mir Leid.« Ihre Gastgeberin hob die Hände an die geröteten Wangen. »Wie unhöflich von mir. Ich bin es derart gewohnt, den Kasten den ganzen Tag lang laufen zu lassen, dass mir das gar nicht mehr auffällt. Hmm, Programm – nein, Bildschirm aus.«
»Bitte auch den Ton«, bat Eve sie geduldig.
»Natürlich.« Hetta schüttelte den Kopf und bedachte sie mit einem treuherzigen Blick. »Ich habe mich einfach nie umgewöhnen können, als die Fernbedienung durch die menschliche Stimme ersetzt wurde. Ton bitte ebenfalls aus. Da, so ist es besser, nicht wahr?«
Die Frau konnte eine vergiftete Eierspeise machen, aber kam nicht mit ihrem eigenen Fernseher zurecht. Es gab wirklich die merkwürdigsten Menschen. »Mrs. Finestein«, sagte Eve. »Ich möchte, dass Sie nichts mehr sagen, bevor ich Ihnen nicht Ihre Rechte vorgelesen habe. Bevor Sie nicht sicher sind, dass Sie das, was ich sage, auch wirklich verstehen. Sie sind nicht verpflichtet, eine Aussage zu machen«, setzte Eve an, während Hetta weiter freundlich lächelte.
Die alte Dame wartete, bis Eve ihre Ausführungen beendet hatte, ehe sie erklärte: »Ich habe nicht erwartet, mit der Sache durchzukommen. Zumindest nicht wirklich.«
»Womit durchzukommen, Mrs. Finestein?«
»Damit, dass ich Joe vergifte. Obwohl…« Sie presste ihre Lippen zusammen wie ein trotziges Kind. »Mein Enkel ist Anwalt – ein wirklich kluger Junge. Ich glaube, er würde jetzt sagen, da ich Joe ausdrücklich gebeten habe, die Eierspeise nicht zu essen, wäre eigentlich eher Joe selbst schuld an seinem Ableben, und nicht ich. Aber das ist jetzt egal.« Sie saß auf ihrem Stuhl und wartete geduldig ab.
»Mrs. Finestein, wollen Sie damit sagen, Sie hätten eine Eierspeise mit einem synthetischem Zyanidpräparat vergiftet, um Ihren Ehemann zu töten?«
»Nein, meine Liebe. Ich will damit lediglich sagen, dass ich Zyanid und eine Extradosis feinen Zucker in eine Eierspeise getan und meinem Mann ausdrücklich verboten habe, auch nur ein Löffelchen davon zu essen. ›Joe‹, habe ich gesagt. ›Am besten schnupperst du noch nicht einmal an dieser Eierspeise. Sie ist nämlich nicht für dich, Joe, hast du mich verstanden?‹«
Wieder sah Hetta Eve mit ihrem sanften Lächeln an. »Er sagte, er hätte mich verstanden, und dann, bevor ich losging, um meine Freundinnen zu treffen, habe ich es ihm extra noch einmal gesagt, nur um sicherzugehen. ›Ich meine es ernst, Joe. Du lässt die Eierspeise stehen.‹ Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass er sie essen würde, aber es war seine eigene Entscheidung, nicht wahr? Lassen Sie mich Ihnen von Joe erzählen«, bat sie Eve im Plauderton und hielt ihr noch einmal den Plätzchenteller hin. Als Eve sichtlich zögerte, lachte sie fröhlich auf. »Oh, meine Liebe, diese Plätzchen sind vollkommen ungefährlich, das verspreche ich Ihnen. Eben noch habe ich ein Dutzend davon dem netten kleinen Jungen von oben mitgegeben.«
Wie um das Gesagte zu beweisen, biss sie selbst in einen Keks.
»Nun, wo war ich stehen geblieben? O ja, bei Joe. Wissen Sie, er war mein zweiter Ehemann. Im April wären wir fünfzig Jahre verheiratet gewesen. Er war ein guter Partner und auch ein guter Bäcker. Es gibt Männer, die niemals aufhören sollten zu arbeiten. In den letzten Jahren hatte ich es sehr schwer mit ihm. Ständig war er schlecht gelaunt, ständig hat er sich über alles Mögliche beschwert, ständig an allem herumgenörgelt. Und er selbst hat in der Küche keinen Finger mehr gerührt, obwohl er derjenige war, der nicht an einem Mandeltörtchen vorübergehen konnte, ohne es sofort zu verschlingen.«
Weil das alles beinahe vernünftig klang, wartete Eve einen Moment, ehe sie fragte: »Mrs. Finestein, Sie haben ihn vergiftet, weil er zu viel aß?«
Hettas rosige Wangen wurden noch eine Nuance röter. »So könnte es scheinen. Aber es geht tiefer. Sie sind so jung, meine Liebe, und Sie haben keine Familie, nicht wahr?«
»Nein.«
»Eine Familie ist eine Quelle des Trostes und zugleich eine Quelle des ständigen Ärgers. Kein Außenstehender kann je wirklich verstehen, was sich innerhalb einer Familie abspielt. Es war nicht leicht, mit Joe zu leben, und obwohl ich nicht gern schlecht von einem Toten spreche, muss ich sagen, dass er in den letzten Jahren unangenehme Angewohnheiten entwickelte. Es bereitete ihm große Freude, mich traurig zu machen, mir das kleinste Vergnügen zu zerstören. Erst letzten Monat hat er die Hälfte des Kuchens aufgegessen, den ich für den Internationalen Betty Crocker Kochwettbewerb gebacken hatte. Zusätzlich hat er gesagt, er wäre sowieso zu trocken gewesen.« Ihre Stimme verriet ehrliche Empörung. »Können Sie sich das vorstellen?«
»Nein«, sagte Eve mit schwacher Stimme. »Das kann ich nicht.«:ix.
»Tja, das hat er nur getan, um mich wütend zu machen. Es war seine Art, Macht zu demonstrieren. Also habe ich die Eierspeise zubereitet,’ ihm gesagt, er soll sie ja nicht anrühren und bin aus dem Haus gegangen, um mit meinen Freundinnen wie jede Woche Mah-Jongg zu spielen. Ich war nicht im Geringsten überrascht, als ich nach Hause kam und feststellte, dass er nicht auf mich gehört hatte. Wissen Sie, dafür war er viel zu verfressen.« Sie wedelte mit dem Rest von Ihrem Plätzchen und schob es sich dann vorsichtig in den Mund. »Dabei ist Völlerei eine der sieben Todsünden. Es erschien mir einfach richtig, dass er durch eine seiner Sünden sterben würde. Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch noch einen Keks möchten?«
Die Welt war eindeutig ein Irrenhaus, wenn alte Frauen Eierspeisen vergifteten, um sich ihrer nörgelnden Ehemänner zu entledigen. Wahrscheinlich, dachte Eve, als sie das Haus verließ, käme Hetta dank ihres ruhigen, altmodischen, großmütterlichen Gebarens sogar ungestraft davon. Falls man sie doch verurteilte, würde sie bestimmt Küchendienst bekommen und voller Freude Pasteten und Törtchen für die anderen Gefängnisinsassinnen backen.
Eve schrieb ihren Bericht, aß schnell etwas in der Kantine und kümmerte sich weiter um ihre heiße Spur.
Allerdings war sie erst die Hälfte der New Yorker Banken durchgegangen, als ein erneuter Anruf sie in der Arbeit unterbrach. »Ja, Dallas.«
Als Antwort erschien auf ihrem Monitor ein Bild. Das Bild von einer toten Frau, in der bereits allzu vertrauten Weise auf einem blutgetränkten Laken für die Kamera drapiert.
DREI VON SECHS
Sie starrte auf die Botschaft, die über der Leiche eingeblendet wurde, und schnauzte ihren Computer an.
»Verfolg den Absender zurück. Verdammt noch mal, sofort.«
Als die Kiste gehorchte, wandte sie sich an die Zentrale.
»Dallas, Lieutenant Eve. Passnummer 5347BQ. Alarmstufe eins. Sämtliche zur Verfügung stehenden Einheiten nach 156, West Neunundachtzigste, Apartment einundzwanzig-neun-zehn. Niemand darf die Wohnung betreten. Wiederhole, niemand darf die Wohnung betreten. Haltet sämtliche Personen auf, die das Gebäude verlassen wollen. Niemand, weder Beamter noch Zivilperson, betritt das Apartment. Meine geschätzte Ankunftszeit, zehn Minuten.«
»Verstanden, Dallas, Lieutenant Eve.« Der Dienst habende Droide sprach kühl und ohne Gefühl. »Einheiten fünf-null und drei-sechs stehen zur Verfügung. Werden Ihre Ankunft abwarten. Alarmstufe eins. Schalte mich jetzt aus.«
Sie schnappte sich ihre Tasche, eine Untersuchungstüte und war bereits aus dem Büro.
Mit schussbereit gezückter Waffe ging Eve zunächst allein in das Apartment. Das Wohnzimmer war aufgeräumt, ja regelrecht gemütlich mit seinen dicken Kissen und den fransengesäumten Teppichen. Auf dem Sofa lag ein Buch, und eine leichte Vertiefung in einem der Kissen zeigte, dass jemand hier gesessen und gelesen haben musste. Mit gerunzelter Stirn ging Eve eine Tür weiter.
Das kleine Zimmer diente als Büro. In dem Arbeitsbereich herrschte tadellose Ordnung, und ein Korb mit parfümierten Seidenblumen, eine Schale mit bunten Gummibärchen und ein schimmernder weißer Krug mit einem leuchtenden roten Herzdekor verliehen ihm eine persönliche Note.
Der Computer stand an einem Fenster, durch das man direkt in ein anderes Gebäude blicken konnte, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht, irgendwelche Jalousien aufzuhängen. An einer Wand stand ein helles Regal, in dem mehrere Bücher, eine große Diskettenbox, eine Ablage für elektronische Memos, eine kleine Sammlung kostbarer Bleistifte und eine Reihe von Blöcken aus Recycling-Papier nebeneinander, angeordnet waren. Mittendrin stand ein schiefer Klumpen gebackenen Tons, der vielleicht ein Pferd darstellen sollte und ganz sicher von einem Kind gefertigt worden war.
Eve verließ das Zimmer und öffnete die gegenüberliegende Tür.
Sie wusste, was sie dort erwartete, und trotz des noch sehr frischen, überall verspritzten Blutes drehte ihr Magen sich nicht um. Mit einem leisen Seufzer schob sie ihre Waffe wieder in das Holster, da sie wusste, dass sie mit der Toten allein war.
Ihre mit dem Schutzspray versiegelten Finger betasteten den noch warmen Körper. Er lag auf dem Bett, und die Waffe lag genau zwischen den Beinen.
Es war eine Ruger P-90, eine schlanke Pistole, die während der Innerstädtischen Revolten als private Verteidigungswaffe sehr beliebt gewesen war. Leicht, kompakt und vollautomatisch.
Dieses Mal hatte der Mörder keinen Schalldämpfer verwendet. Ganz sicher war das Schlafzimmer gedämmt – und der Killer hatte es gewusst.
Sie trat an den halbrunden, verspielt weiblichen Ankleideschrank, öffnete eine der zurzeit hochmodernen kleinen Sackleinentaschen und fand dort die Gesellschafterinnen-Lizenz der toten Frau.
Einer wirklich hübschen Frau. Einer Frau mit einem netten Lächeln, einem offenen Blick und einem wirklich hinreißenden kaffeebraunen Teint.
»Georgie Castle«, las Eve laut für den Rekorder. »Weiblich. Alter dreiundfünfzig. Lizensierte Gesellschafterin. Der Tod trat wahrscheinlich zwischen neunzehn und neunzehn Uhr fünfundvierzig ein. Todesursache, Schusswunden. Muss noch durch den Pathologen bestätigt werden. Drei sichtbare Einschuss-Stellen: Stirn, Brust, Genitalien. Höchstwahrscheinlich beigebracht mit einer antiken Pistole, die am Tatort zurückgelassen wurde. Keine Anzeichen eines Kampfes, keine Anzeichen eines Einbruchs oder Diebstahls.«
Ein flüsterndes Geräusch ließ Eve nach ihrer Waffe greifen und herumfahren. Sie ging in die Hocke und starrte mit harten, kalten Augen auf eine fette graue Katze, die in den Raum getapst kam.
»Himmel, wo kommst du denn her?« Aufatmend steckte sie ihre Waffe wieder ein. »Es gibt hier eine Katze«, sprach sie in den Rekorder, und als das Tier sie mit einem goldenen und einem grünen Auge anblinzelte, bückte sie sich und nahm es auf den Arm.
Das Schnurren klang wie ein kleiner, gut geölter Motor.
Eve zog ihr Handy aus der Tasche und rief nach der Spurensicherung.
Kurze Zeit später stand Eve in der Küche und beobachtete, wie die Katze mit vornehmer Verachtung an einer Schale mit Futter schnupperte, die sie gefunden hatte, als sie plötzlich laute Stimmen von der Eingangstür vernahm.
Als sie nachschauen ging, fand sie im Korridor die von ihr dort postierte uniformierte Polizistin, die vergeblich versuchte, eine verzweifelte und gleichzeitig äußerst entschlossene Frau daran zu hindern, die Wohnung zu betreten.
»Was ist los, Officer?«
»Lieutenant.« Offensichtlich erleichtert wandte sich die Polizistin an ihre Vorgesetzte. »Diese Zivilperson verlangt unbedingten Zugang. Ich – «
»Natürlich verlange ich Zugang.« Die dunkelroten, perfekt geschnittenen Haare der Frau wippten bei ihren ruckhaften Bewegungen um ihr rundes Gesicht. »Das hier ist die Wohnung meiner Mutter. Ich will wissen, was Sie darin machen.«
»Und wer ist Ihre Mutter?«
»Mrs. Castle. Mrs. Georgie Castle. Gab es vielleicht einen Einbruch?« Der Zorn der jungen Dame wurde durch Besorgnis ersetzt, als sie versuchte, sich an Eve vorbeizuschieben. »Ist mit ihr alles in Ordnung? Mit Mom?«
»Kommen Sie mit.« Eve packte ihren Arm und führte sie direkt in die Küche. »Wie heißen Sie?«
»Samantha Bennett.«
Die Katze wandte sich von ihrer Schüssel ab, strich zärtlich um Samanthas Beine, und in einer, wie Eve erkannte, automatischen, gewohnheitsmäßigen Geste kraulte diese sie kurz zwischen den Ohren.
»Wo ist meine Mutter?« Die Besorgnis steigerte sich zu ehrlicher Panik, und Samanthas Stimme brach.
Nichts fürchtete Eve mehr als diesen Teil von ihrer Arbeit, kein Aspekt der Polizeiarbeit schnitt ihr auch nur ähnlich tief ins Herz.
»Es tut mir Leid, Ms. Bennett. Es tut mir wirklich Leid. Ihre Mutter ist tot.«
Samantha sagte nichts. Ihre Augen, die denselben warmen Honigton wie die ihrer Mutter hatten, wurden trübe, und ehe sie zusammenbrechen konnte, drückte Eve sie sanft auf einen Stuhl. »Das ist sicher ein Irrtum«, brachte sie schließlich hervor. »Dass muss einfach ein Irrtum sein. Wir wollen ins Kino. Die Neun-Uhr-Vorstellung. Wie gehen jeden Dienstag ins Kino.« Sie bedachte Eve mit einem verzweifelt hoffnungsvollen Blick. »Sie kann nicht tot sein. Sie ist kaum fünfzig und vollkommen gesund. Sie ist eine starke Frau.«
»Es ist kein Irrtum. Tut mir Leid.«
»Dann gab es also einen Unfall?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Hatte sie einen Unfall?«
»Es war kein Unfall.« Es gab keinen Ausweg, sie musste direkt auf den Punkt kommen. »Ihre Mutter wurde ermordet.«
»Nein, das ist vollkommen unmöglich.« Die Tränen rannen ihr ungehindert über das Gesicht, und ihre Stimme kam in Schluchzern, während sie gleichzeitig entschieden den Kopf schüttelte. »Alle haben sie gemocht. Alle. Niemand hätte ihr je etwas getan. Ich will sie sehen. Ich will sie sofort sehen.«
»Das kann ich nicht zulassen.«
»Sie ist meine Mutter.« Tränen tropften ihr in den Schoß, und ihre Stimme wurde schrill. »Ich habe das Recht dazu. Ich will sie sehen.«
Eve legte beide Hände auf Samanthas Schultern und zwang sie zurück auf den Stuhl, von dem sie aufgesprungen war. »Sie werden sie nicht sehen. Das würde weder ihr noch Ihnen helfen. Was sie stattdessen tun werden, ist, meine Fragen zu beantworten und mir dadurch zu helfen, denjenigen zu finden, der ihr das angetan hat. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Kann ich irgendjemanden für Sie anrufen?«
»Nein. Nein.« Samantha fummelte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. »Mein Mann, meine Kinder. Ich muss es ihnen sagen. Meinem Vater. Wie soll ich es ihnen nur erklären?«
»Wo ist Ihr Vater, Samantha?«
»Er – er lebt in Westchester. Sie wurden vor ungefähr zwei Jahren geschieden. Er hat das Haus behalten, weil sie in die Stadt ziehen wollte. Sie wollte Bücher schreiben. Sie wollte Schriftstellerin werden.«
Eve trat vor den auf der Anrichte stehenden Wasserfilter, füllte ein Glas und drückte es Samantha in die Hand. »Wissen Sie, wie Ihre Mutter ihren Lebensunterhalt verdient hat?«
»Ja.« Samantha presste ihre Lippen zusammen und zerknüllte das feuchte Taschentuch zwischen ihren kalten Fingern. »Niemand konnte sie davon abbringen. Wenn wir es versucht haben, hat sie nur gelacht und gesagt, es wäre allerhöchste Zeit, dass sie endlich einmal etwas tut, was die Leute schockiert, und diese Arbeit böte wunderbares Material für das von ihr geplante Buch. Meine Mutter – « Samantha unterbrach sich und trank einen Schluck Wasser. »Sie hat sehr jung geheiratet. Vor ein paar Jahren sagte sie, sie müsse sehen, was das Leben noch zu bieten habe. Auch das konnte ihr niemand ausreden. Man konnte sie nie von etwas abbringen, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.«
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und begann leise zu schluchzen. Eve nahm das fast noch volle Glas und wartete darauf, dass die erste Woge der Trauer und des Schocks abflaute. »War es eine problematische Scheidung? War Ihr Vater wütend?«
»Betroffen. Verwirrt. Traurig. Er wollte sie zurück und sagte immer, es wäre nur eine ihrer Phasen. Er – « Plötzlich erkannte sie den Sinn der Frage und ließ ihre Hände sinken. »Er hätte ihr niemals wehtun können. Nie, nie, nie. Er hat sie geliebt. Alle haben sie geliebt. Man konnte einfach nicht anders.«
»Also gut.« Den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung würde Eve zu einem späteren Zeitpunkt überprüfen. »Standen Sie und Ihre Mutter sich nahe?«
»Sehr nahe.«
»Hat sie Ihnen jemals etwas von ihren Klienten erzählt?«
»Manchmal. Es machte mich verlegen, aber sie fand stets einen Weg, das Ganze klingen zu lassen, als wäre es ein ungeheurer Spaß. Sie hatte das Talent dazu. Nannte sich selbst die sexy Oma, und dann musste man lachen.«
»Hat sie jemals von jemandem gesprochen, bei dessen Besuchen ihr vielleicht ein wenig unbehaglich zu Mute gewesen sein könnte?«
»Nein. Sie konnte mit Menschen umgehen. Das war ein Teil von ihrem Charme. Sie wollte diesen Job nur machen, bis sie ihr Buch herausgebracht hätte.«
»Hat sie Ihnen gegenüber jemals die Namen Sharon De-Blass oder Lola Starr erwähnt?«
»Nein.« Samantha wollte sich gerade durch die Haare fahren, als plötzlich ihre Hand mitten in der Bewegung erstarrte. »Starr, Lola Starr. Ich habe von ihr gehört. Ich habe in den Nachrichten von ihr gehört. Sie wurde ermordet. O Gott. O Gott.« Sie ließ den Kopf sinken, und ihre Haare fielen wie ein Vorhang vor ihr erschüttertes Gesicht.
»Ich lasse Sie von einem Beamten nach Hause bringen, Samantha.«
»Ich kann nicht einfach gehen. Ich kann sie nicht einfach allein lassen.«
»Doch, Sie können. Ich werde mich um sie kümmern.« Eve nahm Samanthas Hand. »Ich verspreche Ihnen, dass ich mich an Ihrer Stelle um sie kümmern werde. Und jetzt kommen Sie.« Vorsichtig half sie Samantha auf die Füße, schlang einen Arm um ihre Taille und führte sie zurück zur Tür. Sie wollte, dass sie fort war, ehe die Spurensicherung das Schlafzimmer verließ. »Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Ja. Er ist zu Hause bei den Kindern. Wir haben zwei Kinder. Zwei Jahre und sechs Monate. Tony ist zu Hause bei den Kindern.«
»Gut. Wie lautet die Adresse?«
Während Samantha eine Adresse in einer angesehenen Wohngegend in Westchester nannte, gewann der Schock die Oberhand. Eve hoffte, die Taubheit, die sich auf ihr Gesicht legte, würde ein wenig helfen.
»Officer Banks.«
»Ja, Lieutenant.«
»Bringen Sie Mrs. Bennett nach Hause. Ich werde einen Ihrer Kollegen hier Posten beziehen lassen. Bleiben Sie bei der Familie, solange Sie gebraucht werden.«
»Zu Befehl.« Mitfühlend führte Banks Samantha in Richtung des Fahrstuhls. »Hier entlang, Mrs. Bennett.«
Samantha lehnte sich, als wäre sie betrunken, gegen ihre Schulter. »Sie kümmern sich um sie?«
Eve blickte in Samanthas schmerzerfüllte Augen. »Ich verspreche es.«
Eine Stunde später betrat Eve die Wache mit einer Katze auf dem Arm.
»Aber hallo, Lieutenant, haben Sie vielleicht ein bisschen viel getrunken, dass Sie mit einem Kater zum Dienst kommen?« Der Dienst habende Polizist schnaubte vor Vergnügen.
»Sie sind wirklich ein Scherzkeks, Riley. Ist der Commander noch da?«
»Er wartet schon auf Sie. Sie sollen sofort raufkommen.« Er beugte sich über den Tresen und kraulte die schnurrende Katze hinter dem Ohr. »Schon wieder ein neuer Mordfall?«
»Ja.«
Ein schmatzendes Geräusch ließ sie in Richtung eines lüstern dreinblickenden, aufreizenden Typen in einem Spandex-Overall blicken. Der Overall und der dünne, aus seinem Mundwinkel rinnende Blutsfaden hatten ungefähr dieselbe Farbe. Neben dem Overall trug er lediglich noch ein Paar dünner, schwarzer Handschellen, mit denen einer seiner Arme an der Rückenlehne einer Bank befestigt war. Mit der freien Hand rieb er sich, wie er dachte, verführerisch die Genitalien und zwinkerte ihr zu.
»He, Baby. Ich hab hier etwas für dich.«
»Sagen Sie Commander Whitney, ich wäre unterwegs«, erklärte Eve Riley, der mit den Augen rollte.
Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, trat sie vor die Bank und beugte sich dicht genug über den Typen, um den von ihm ausgehenden säuerlichen Gestank von Erbrochenem zu riechen. »Das war eine wirklich charmante Einladung«, säuselte sie und zog die Brauen in die Höhe, als der Kerl seinen Hosenstall tatsächlich öffnete und mit dem Beweis seiner Männlichkeit vor ihr herumzufuchteln begann. »Guck mal, Mieze, ein winzig kleiner, süßer Penis.« Lächelnd beugte sie sich noch ein Stückchen vor. »Pass besser auf das Prunkstück auf, du Arschloch, sonst hält meine kleine schnurrende Mieze hier das Ding noch für ein klitzekleines Mäuschen und beißt es dir ab.«
Es erfüllte sie mit einer gewissen Befriedigung, zu sehen, wie der Gegenstand seines männlichen Stolzes sichtbar in sich zusammenschrumpfte, bevor er eilig seine Hose wieder schloss. Ihre dadurch gewonnene gute Laune hielt beinahe, bis sie den Fahrstuhl betrat und sich in die Etage bringen ließ, in der sich Commander Whitneys Büro befand.
Er wartete zusammen mit Feeney und hielt den von ihr direkt vom Tatort an ihn geschickten Bericht in seinen Händen. Gemäß der in der Natur der Polizeiarbeit liegenden Notwendigkeit häufiger Wiederholungen, erzählte sie den beiden trotzdem auch jetzt noch einmal alles mündlich.
»Das also ist die Katze«, stellte Feeney am Ende ihrer Ausführungen fest.
»Ich habe es einfach nicht über mich gebracht, sie der Tochter in ihrem Zustand aufs Auge zu drücken.« Eve zuckte mit den Schultern. »Und ebenso wenig konnte ich sie einfach dort lassen.« Mit ihrer freien Hand griff sie in ihre Tasche. »Ihre Disketten. Allesamt sorgfältig beschriftet. Ich bin ihre Termine durchgegangen. Der letzte Kunde kam um achtzehn Uhr dreißig. John Smith. Und das hier ist die Waffe.« Sie legte die in einer Tüte befindliche Pistole vor Whitney auf den Schreibtisch. »Sieht aus wie eine Ruger P-90.«
Feeney warf einen kurzen Blick auf die Pistole und nickte. »Du hast schnell gelernt.«
»Ich habe mich auch eingehend damit beschäftigt.«
»Frühes einundzwanzigstes Jahrhundert, vielleicht null acht oder null neun«, erklärte Feeney, während er die versiegelte Waffe in seinen Händen drehte. »Hervorragender Zustand. Seriennummer intakt. Wird nicht lange dauern, sie zu überprüfen«, fügte er hinzu, zuckte jedoch zugleich mit den Schultern. »Aber ganz sicher ist er zu clever, um eine registrierte Waffe zu verwenden.«
»Überprüfen Sie sie trotzdem«, wies Whitney Feeney an und winkte in Richtung des Computers. »Ich lasse Ihr Gebäude überwachen, Dallas. Falls er versucht, Ihnen abermals eine Diskette zukommen zu lassen, werden wir ihn dabei erwischen.«
»Wenn er sich an sein altes Schema hält, müsste die Diskette innerhalb von vierundzwanzig Stunden bei mir eintreffen. Bisher verfährt er stets nach demselben Muster, obwohl die drei Opfer vollkommen unterschiedlich waren: DeBlass war glamourös und elegant, Starr war unverbraucht und kindlich, und diese hier war eher der mütterliche Typ, immer noch jung, aber zugleich von einer gewissen ansprechenden Reife.«
»Wir sind noch dabei, die Nachbarn zu befragen, und ich nehme morgen die Familie und vor allem den Ex-Mann etwas genauer unter die Lupe. Sieht aus, als hätte sie den Termin mit diesem Typen eher spontan vereinbart. Für gewöhnlich traf sie sich jeden Dienstag mit ihrer Tochter. Ich hätte gern, dass Feeney sich ihr Tele-Link ansieht, um zu gucken, ob der Kerl vielleicht direkt bei ihr angerufen hat. Wir werden die Sache nicht geheim halten können, Commander. Und ganz sicher werden die Medien uns nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen.«
»Darum kümmere ich mich bereits.«
»Vielleicht ist die Sache heißer als wir denken.« Feeney hob den Kopf von seinem Bildschirm, und sein Blick ließ Eve das Blut in den Adern gefrieren.
»Die Mordwaffe ist tatsächlich registriert. Sie wurde letzten Herbst bei Sotheby’s per Computer ersteigert. Und zwar unter dem Namen Roarke.«
Eve schwieg einen Moment, ehe sie schließlich herausbrachte: »Das entspricht nicht dem bisherigen Verhaltensmuster. Und es wäre ziemlich dämlich. Roarke jedoch ist alles andere als dämlich.«
»Lieutenant – «
»Das Ding wurde ihm untergejubelt. Ganz eindeutig. Per Computer ersteigert. Jeder zweitklassige Hacker kann unter Verwendung der Passnummer eines anderen mitbieten. Wie wurde die Waffe bezahlt?«, schnauzte sie Feeney an.
»Um das herauszufinden, muss ich mich direkt an Sotheby’s wenden, wenn sie morgen öffnen.«
»Ich wette, bar, per elektronischer Überweisung. Das Auktionshaus kriegt das Geld, weshalb also sollte man dort etwas hinterfragen?« Ihre Stimme mochte ruhig sein, doch ihre Gedanken überschlugen sich förmlich. »Und die Lieferung. Sicher elektronisch postlagernd. Dafür braucht man noch nicht mal eine Passnummer. Es genügt, wenn man den Liefercode eingibt.«
»Dallas«, sagte Whitney in geduldigem Ton. »Holen Sie ihn zum Verhör.«
»Ich kann nicht.«
Seine Augen blieben reglos. »Das ist ein direkter Befehl. Falls Sie irgendein persönliches Problem haben, heben Sie sich das für Ihre Freizeit auf.«
»Ich kann ihn nicht abholen«, wiederholte sie. »Er ist in der Raumstation FreeStar One, was ziemlich weit entfernt ist von unserem neuen Tatort.«
»Wenn er behauptet hat, er ist auf FreeStar One – «
»Das hat er nicht getan«, unterbrach sie ihren Chef. »Und genau in diesem Punkt hat der Killer einen Fehler gemacht. Roarkes Reise ist geheim, nur sehr wenige Leute wissen überhaupt davon. Offiziell ist er hier in New York.«
Commander Whitney nickte. »Dann überprüfen wir besser, wo er sich tatsächlich aufhält. Und zwar auf der Stelle.«
Ihr Magen zog sich zusammen, als sie vor Whitneys Tele-Link Platz nahm und innerhalb von Sekunden Summersets affektierte Stimme an ihre Ohren drang. »Summerset, hier ist Lieutenant Dallas. Ich brauche sofortigen Kontakt zu Roarke.«
»Roarke ist in einer wichtigen Besprechung, Lieutenant. Ich kann ihn also unmöglich stören.«
»Verdammt, er hat Ihnen gesagt, dass Sie mich zu ihm durchstellen sollen. Das hier ist eine polizeiliche Ermittlung. Geben Sie mir die Durchwahl, oder ich komme persönlich zu Ihnen rüber und schleife Ihren knochigen Arsch wegen Behinderung der Justiz vor ein Gericht.«
Summersets Miene wurde noch verschlossener. »Ich bin nicht befugt, Ihnen die Nummer zu geben. Aber ich werde Sie durchstellen. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld.«
Eves Handflächen begannen zu schwitzen, während sie darauf wartete, dass etwas geschah. Sie fragte sich, wessen Idee es wohl gewesen war, während der Wartezeit derart zuckersüße Musik spielen zu lassen. Ganz sicher nicht die von Roarke. Dafür hatte er einfach zu viel Klasse.
O Gott, was würde sie machen, wenn er nicht dort war, wo er sich ihrer Meinung nach befand?
Das Blau des Bildschirms zog sich zu einem Punkt zusammen, öffnete sich wieder, und sie erblickte Roarke, eine Spur von Ungeduld in seinen Augen, ein halbes Lächeln im Gesicht.
»Du rufst zu einem ungünstigen Zeitpunkt bei mir an. Kann ich vielleicht später zurückrufen?«
»Nein.« Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass Feeney bereits den Übertragungspartner ermittelte. »Ich muss überprüfen, wo du dich augenblicklich befindest.«
»Wo ich mich befinde?« Er zog die Brauen in die Höhe. Offensichtlich hatte er ihr etwas angesehen, obwohl Eve geschworen hätte, dass sie völlig unbeteiligt blickte. »Was ist los, Eve? Was ist passiert?«
»Sag mir, wo du dich gerade aufhältst. Bitte sag mir, wo du bist.«
Er sah sie schweigend an. Eve hörte, wie jemand etwas zu ihm sagte und wie er ungeduldig abwinkte. »Ich bin zur Zeit mitten in einem Treffen mit dem Präsidium der Raumstation FreeStar, Quadrant sechs, Abschnitt Alpha. Weitwinkel«, befahl er, und das Tele-Link zeigte ein Dutzend Männer und Frauen an einem großen, runden Tisch.
Durch eine der verglasten Wände sah man hell blitzende Sterne und das perfekte blau-grüne Rund der Erde.
»Meine Ermittlungen bestätigen seine Behauptung«, flüsterte Feeney. »Er ist tatsächlich im Moment auf FreeStar One.«
»Roarke, bitte schalte einen Augenblick um auf Privatmodus.«
Mit steinerner Miene griff er nach einem Kopfhörer. »Ja, Lieutenant?«
»Eine auf deinen Namen registrierte Waffe wurde am Schauplatz eines Mordes sichergestellt. Ich muss dich bitten, bei der nächstmöglichen Gelegenheit zu einem Verhör zu erscheinen. Es steht dir frei, einen Anwalt mitzubringen. Ich rate dir, einen Anwalt mitzubringen«, fügte sie in der Hoffnung, dass er die Bedeutung ihres Ratschlages verstand, eindringlich hinzu. »Wenn du nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden vorstellig wirst, wirst du von der Garde der Raumstation auf die Erde zurückeskortiert. Verstehst du, welche Rechte und Pflichten du in dieser Sache hast?«
»Natürlich. Ich werde die notwendigen Vorkehrungen treffen. Auf Wiedersehen, Lieutenant.«
Dann wurde der Bildschirm schwarz.