52

An diesem dunkel bewölkten Dienstag waren um zwanzig vor acht die fünfzig Stühle im Sagarra-Saal des Ateneu von Jugendlichen besetzt, die verträumt der schnulzigen Hintergrundmusik zu lauschen schienen. Ein älterer Mann entschied sich nach langem Zögern für einen der hinteren Plätze, als fürchtete er, hinterher abgefragt zu werden. Zwei alte Damen in der ersten Reihe, die mit sichtlicher Enttäuschung festgestellt hatten, dass im Anschluss kein Imbiss vorgesehen war, tuschelten miteinander und bewegten ihre Fächer. Auf einem seitlichen Tisch waren die fünf Bücher aufgebaut, aus denen Bernat Plensas Gesamtwerk bestand. Zu Adriàs Verwunderung saß Tecla trotz allem in der ersten Reihe. Sie schaute um sich, als wollte sie genau wissen, wer hereinkam. Adrià näherte sich ihr und gab ihr einen Kuss, und seit er bei ihrem letzten Streit den Schlichter zu spielen versucht hatte, lächelte sie ihn zum ersten Mal wieder an. Es war eine ganze Weile her, dass sie sich gesehen hatten.

»Gut, was?«, sagte Adrià, und seine hochgezogenen Augenbrauen bezogen sich auf den ganzen Saal.

»Das habe ich nicht erwartet. Schon gar nicht so viele junge Leute.«

»Ja, nicht wahr?«

»Wie kommst du mit Llorenç voran?«

»Prima. Ich kann schon Textdokumente erstellen und auf einer CD abspeichern.« Adrià überlegte einen Moment. »Aber ich bin immer noch nicht imstande, direkt in den Computer zu tippen. Ich brauche Papier.«

»Das wird sich schon noch ändern.«

»Wenn es sich denn ändern muss.«

Das Telefon klingelte, und niemand kümmerte sich darum. Adrià hob den Kopf und die Brauen. Kein Mensch reagierte, als gäbe es dieses Klingeln überhaupt nicht.

Auf dem Rednertisch waren die fünf Bücher, die Bernat veröffentlicht hatte, so aufgestellt, dass das Publikum die Titel sehen konnte. Die süßliche Hintergrundmusik verstummte, doch das Telefon klingelte weiter. Bernat betrat das Podium, begleitet von Carlota Garriga. Adrià fand es befremdlich, ihn nicht mit der Geige in der Hand zu sehen, und musste über diesen Gedanken lächeln. Der Autor und die Moderatorin nahmen Platz. Bernat zwinkerte mir zu und ließ den Blick zufrieden über den vollbesetzten Saal schweifen. Carlota Garriga begann, indem sie sagte, sie habe die Literatur von Bernat Plensa schon immer bewundert, und der zwinkerte mir noch einmal zu, und einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, er könnte diesen ganzen Zirkus eigens für mich veranstaltet haben. Also beschloss ich, mich zu sammeln und mir aufmerksam anzuhören, was Frau Dr. Garriga zu sagen hatte.

Alltägliche Welten mit vorwiegend unglücklichen Figuren, die sich nicht entscheiden können, ob sie lieben oder aneinander vorbeischauen sollen, dargeboten mit einem außerordentlichen Stilgefühl – ein Aspekt, auf den ich später noch näher eingehen werde.

Als die Garriga eine halbe Stunde später auf alle Aspekte näher eingegangen war, sogar auf den der Einflüsse, hob Adrià die Hand und bat, den Autor fragen zu dürfen, warum sich die Figuren in den ersten vier Büchern physisch und psychologisch so ähnlich seien, und bereute die Frage sofort. Nach kurzem Nachdenken bestätigte Bernat, ja, ja, der Herr hat völlig recht. Das ist beabsichtigt. Ich würde sagen, sie sind in gewisser Weise die Vorläufer der Figuren des Romans, an dem ich zurzeit arbeite.

»Sie arbeiten an einem Roman?«, fragte ich überrascht.

»Ja. Es wird noch dauern, aber ich bin dabei.«

Eine Hand in der letzten Reihe: Das Mädchen mit dem mächtigen Zopf wollte erklärt haben, nach welchem Muster er seine Geschichten erfinde, und Bernat schnaufte voller Genugtuung und sagte, puh, was für eine Frage, ich weiß nicht, ob ich in der Lage sein werde, sie zu beantworten. Doch dann redete er fünf Minuten darüber, wie er sich seine Erzählungen ausdachte. Dann fasste sich der Junge mit dem Quäkerbart ein Herz und erkundigte sich nach Bernats literarischen Vorbildern. Ich drehte mich um und betrachtete zufrieden das Publikum und erstarrte, denn in diesem Moment betrat Laura den Saal. Ich hatte sie einige Monate nicht gesehen, weil sie irgendwo in Schweden gewesen war, und wusste nicht einmal, dass sie zurück war. Sie war ausgesprochen hübsch. Aber was hatte sie hier verloren? Dann stand der blonde Junge, der Schwarm der beiden Mädchen, auf und sagte, Bernat oder die Dame …

»Frau Dr. Garriga«, warf Bernat ein.

»Ja, genau«, bestätigte der blonde Junge. »Einer von Ihnen beiden hat jedenfalls beiläufig erwähnt, Sie seien Musiker, und ich verstehe nicht, wie Sie Musiker und zugleich Schriftsteller sein können. Was ich wissen will, ist, ob man mehrere Künste nebeneinander betreiben kann. Könnte ja sein, dass Sie auch noch heimlich malen oder bildhauern.«

Die beiden Mädchen lachten über den spritzigen Einfall ihres blonden Schwarms, und Bernat antwortete, das alles habe seine Wurzeln in der tiefen Unzufriedenheit der menschlichen Seele. Dann kreuzte sich sein Blick mit dem Teclas, und ich spürte ein kleines, ein winziges Zögern, doch dann fuhr Bernat rasch fort, verstehst du, was ich sagen will: Kunst wird aus der Unzufriedenheit geboren. Mit vollem Bauch macht man keine Kunst, sondern ein Nickerchen. Und einige der Anwesenden schmunzelten.

Nach der Veranstaltung ging Adrià Bernat begrüßen, und dieser sagte, siehst du? Volles Haus. Und Adrià antwortete, ja, mein Lieber, gratuliere. Tecla gab Adrià einen Kuss. Sie wirkte gelöster, als sei ihr ein Stein vom Herzen gefallen, und ehe die Garriga zu ihnen stieß, sagte sie, du, ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute kommen. Und Adrià wagte nicht zu fragen, warum ist mein Freund Llorenç nicht gekommen. Dann schloss die Garriga sich der Gruppe an und wollte Dr. Ardèvol begrüßen, den sie noch nicht persönlich kannte, und Bernat schlug vor, alle zusammen essen zu gehen.

»Ich kann nicht. Tut mir leid. Ehrlich. Feiert noch schön, ihr habt es euch verdient.«

Als Adrià herauskam, war der Saal bereits leer. Im Vorraum stand Laura, tat, als studierte sie das Programm der nächsten Veranstaltungen, und kaum hörte sie Adriàs Schritte, wandte sie sich ihm zu.

»Hallo.«

»Hallo.«

»Ich lade dich zum Essen ein«, sagte sie ernst.

»Ich kann nicht.«

»Ach, komm …«

»Ich kann nicht. Wirklich nicht. Ich muss zum Arzt.«

Laura sah ihn mit offenem Mund an, als wäre ihr das Wort im Hals stecken geblieben. Sie sah auf die Uhr, sagte aber nichts. Ein wenig eingeschnappt sagte sie, na schön, in Ordnung, dann eben nicht, auch gut. Und mit erzwungenem Lächeln: Geht es dir gut?

»Nein. Und dir?«

»Auch nicht. Vielleicht ziehe ich nach Uppsala.«

»Sag bloß. Aber wenn du dich dort wohler fühlst …«

»Ich weiß nicht.«

»Können wir uns ein andermal darüber unterhalten?«, fragte Adrià und hielt ihr entschuldigend das Handgelenk mit der Armbanduhr entgegen.

»Geh zum Arzt, geh schon.«

Adrià küsste sie auf die Wange und eilte hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken. Hinter sich hörte er noch Bernats erleichtertes Gelächter, und ich war glücklich, im Ernst, denn Bernat hatte es mehr als verdient. Draußen regnete es, und mit Wassertropfen auf der Brille machte Adrià sich auf die aussichtslose Suche nach einem Taxi.

»Entschuldige, mein Lieber.« Adrià trat sich die nassen Schuhe auf der Fußmatte ab.

»Macht nichts.« Der Arzt führte ihn nach links direkt zum Sprechzimmer. »Ich dachte schon, du hättest es verschwitzt.«

Von rechts war das Klappern von Geschirr und Besteck zu hören. Doktor Dalmau ließ ihn eintreten und lehnte die Tür an. Zuerst streckte er die Hand nach seinem Kittel aus, überlegte es sich dann aber anders. Sie sahen sich schweigend an. Hinter dem Arzt die Reproduktion eines Modigliani-Gemäldes mit viel Gelb. Draußen das Pladdern des Frühlingsregens.

»Also, was hast du für Beschwerden?«

Adrià hob eine Hand, um ihn auf etwas aufmerksam zu machen.

»Hörst du nicht?«

»Was?«

»Das Telefon.«

»Ja. Es wird gleich jemand drangehen. Ist sicher für meine Tochter, und wir sind wieder stundenlang nicht erreichbar.«

»Ah.«

Tatsächlich brach das Läuten in der Privatwohnung ab, und man hörte eine weibliche Stimme sagen, hallo, ja, ich bin’s, wer denn sonst?

»Weiter«, sagte Doktor Dalmau.

»Das ist schon alles: das Telefon. Ich höre andauernd das Telefon klingeln.«

»Das musst du mir genauer erklären.«

»Ich höre ununterbrochen das Läuten des Telefons, ein Läuten, das mich anklagt und innerlich zerfrisst, und ich weiß nicht, wie ich es aus meinem Kopf vertreiben soll.«

»Seit wann ist das so?«

»Seit gut zwei Jahren. Fast drei. Seit dem vierzehnten Juli neunzehnhundertsechsundneunzig.«

»Quatorze juillet.«

»Oui.«

Seit dem Anruf am vierzehnten Juli neunzehnhundertsechsundneunzig. Das läutende Telefon stand auf Lauras Nachttisch in einem unordentlichen Schlafzimmer mit halb gepackten Koffern. Sie wechselten einen stummen, schuldbewussten Blick. Laura rührte sich nicht, ihr Kopf lag auf Adriàs Brust, und beide hörten zu, wie das Telefon monoton klingelte und klingelte und klingelte. Adrià schaute auf Lauras Haar und hoffte, sie würde etwas unternehmen. Sie tat nichts. Das Telefon schrillte unablässig. Und dann kehrte wundersamerweise endlich wieder Stille ein. Adrià entspannte sich und stellte fest, dass er sich während des Läutens immer mehr verkrampft hatte. Seine Hand fuhr durch Lauras Haar. Plötzlich stockte er mitten in der Bewegung, denn das Telefon schrillte aufs Neue los.

»Meine Güte, ist das eine Nervensäge«, sagte sie und schmiegte sich enger an ihn.

Wieder klingelte es eine ganze Weile.

»Geh dran«, sagte er.

»Ich bin nicht da. Ich bin bei dir.«

»Geh dran.«

Laura richtete sich unwillig auf, nahm den Hörer ab und sagte mit schläfriger Stimme: hallo. Sekundenlange Stille. Dann drehte sie sich zu ihm um, hielt ihm das Telefon hin und hatte Mühe, ihre Überraschung zu verbergen, als sie sagte:

»Es ist für dich.«

Unmöglich, dachte Adrià. Trotzdem nahm er den Hörer. Verwundert stellte er fest, dass dieses Telefon keine Schnur hatte. Und es erschien ihm seltsam, dass ihm das ausgerechnet in dem Moment wieder einfiel, als er Doktor Dalmau gegenübersaß, gut drei Jahre später.

»Hallo?«

»Adrià?«

»Ja.«

»Hier ist Bernat.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»War nicht leicht. Hör zu …«

Mir war sofort klar, dass Bernats Zaudern nichts Gutes verhieß.

»Was ist?«

»Sara …«

Und damit war alles zu Ende, Liebste. Alles.

Das Schweigen des Sammlers
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