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Eine Ewigkeit war vergangen seit der Erschaffung der Welt nach dem Dezimalsystem, bei der ich alle Bücher in der Wohnung verteilt, aber Vaters Arbeitszimmer nicht näher erforscht hatte. Adrià hatte beschlossen, in der dritten Schublade des Manuskripttischs, fein säuberlich in Umschlägen geordnet, die Unterlagen seines Vaters zu verwahren, die er nicht einordnen konnte, weil sie nicht den Laden betrafen und nicht im Eingangsregister verzeichnet waren; Senyor Ardèvol hatte nämlich ein Eingangsregister aller wertvollen Dinge geführt, die er erwarb – eine genussvolle Inbesitznahme der Objekte, hinter denen er Tage und manchmal sogar Jahre her gewesen war. Alles in der Bibliothek war geordnet. Fast alles. Nur die unklassifizierbaren Unterlagen nicht, aber sie lagen alle beisammen. Als Adrià sie in die dritte Schublade verbannt hatte, hatte er sich fest vorgenommen, sie genauer anzusehen, sobald er einen Augenblick Zeit dafür fände. Doch es vergingen einige Jahre, ohne dass Adrià diesen Augenblick fand.

Unter den Unterlagen in der dritten Schublade war auch der Briefwechsel seines Vaters. Merkwürdig, dass ein so gewissenhafter Mann wie sein Vater seine Korrespondenz als unklassifizierbar eingestuft und keine Kopien der von ihm geschriebenen Briefe angefertigt hatte; er hatte nur die Briefe behalten, die er bekommen hatte. Sie füllten mehrere Mappen. Da gab es Antworten eines gewissen Morlin auf vermutlich berufliche Anfragen meines Vaters. Dann waren da fünf äußerst seltsame, in tadellosem Latein verfasste und mit schwer verständlichen Anspielungen gespickte Briefe von einem Priester namens Gradnik aus Ljubljana, der immer wieder von der unerträglichen Glaubenskrise schrieb, die ihn seit Jahren umtrieb. Offenbar war er ein Kommilitone meines Vaters an der Gregoriana gewesen und bat ihn nun dringend um seine Meinung in theologischen Fragen. Der letzte Brief klang allerdings anders. Er war im Herbst 1941 in Jesenice abgeschickt worden und begann mit den Worten, vermutlich wird Dich dieser Brief nie erreichen, aber es drängt mich trotzdem, Dir zu schreiben; Du bist der Einzige, der mir immer geantwortet hat, sogar in meiner einsamsten Zeit, als ich bei Schnee und Eis in einem Dorf bei Kamnik, dessen Namen ich für immer zu vergessen versuche, Pfarrer und Totengräber war. Vielleicht ist dies mein letzter Brief, denn ich kann jeden Augenblick sterben. Schon vor einem Jahr habe ich die Soutane an den Nagel gehängt. Schuld daran ist nicht etwa eine Frau, sondern schlicht und ergreifend die Tatsache, dass ich meinen Glauben verloren habe. Stück für Stück ist er mir unaufhaltsam entglitten. Es ist meine Schuld: confiteor. Seit meinem letzten Brief und Deinen aufmunternden Worten darauf, die mir sehr gut getan haben, kann ich objektiver darüber reden. Nach und nach ist mir klar geworden, dass das, was ich tat, vollkommen sinnlos war. Du musstest Dich zwischen einer unwiderstehlichen Liebe und einem Leben als Priester entscheiden. Mir ist keine Frau dazwischengekommen, die mir den Kopf verdreht hätte. Alle meine Probleme sind rein gedanklicher Art. Ein Jahr liegt meine große Entscheidung nun zurück, und heute, da in ganz Europa Krieg herrscht, stelle ich fest, dass ich recht hatte. Alles ist sinnlos, Gott existiert nicht, und die Menschen müssen den Verwüstungen der Zeit widerstehen, so gut sie können. Stell Dir vor, lieber Freund, ich bin mir so sicher, richtig gehandelt zu haben, dass ich vor ein paar Wochen konsequent den letzten Schritt gegangen bin und mich freiwillig bei der Volksarmee gemeldet habe. Man könnte sagen, ich habe die Soutane gegen das Gewehr eingetauscht. Ich bin nützlicher, indem ich versuche, mein Volk vor dem Bösen zu schützen. Meine Zweifel sind verflogen, Freund Ardèvol. Seit Jahren habe ich vom Bösen geredet, dem Übeltäter, dem Teufel … und doch konnte ich die Natur des Bösen nicht erfassen und habe versucht, lange Reden zu halten über das schuldhaft Böse, das Leid verursachende Böse, das Malum morale, das Malum physicum, das absolute und das relative Böse und vor allem über die wahre Ursache des Bösen. Und nach all diesen Forschungen und Überlegungen musste ich mir dann die alten Betschwestern meiner Gemeinde anhören, die die grässliche Sünde beichteten, das Fastengebot zwischen Mitternacht und Kommunion nicht streng genug gehalten zu haben. Mein Gott, sagte eine Stimme in meinem Inneren, das kann nicht sein, Drago, das kann nicht der Sinn deines Lebens sein, wenn du der Menschheit weiterhin nützlich sein willst. Das alles wurde mir bewusst, als eine Mutter mich fragte, wie kann Gott zulassen, dass meine kleine Tochter unter furchtbaren Qualen stirbt, Hochwürden; wieso tut Gott nichts, um das zu verhindern? Und ich hatte keine Antwort und ertappte mich dabei, wie ich ihr eine Predigt über die wahre Ursache des Bösen hielt, bis ich plötzlich beschämt verstummte, sie um Verzeihung bat und ihr gestand, dass ich es nicht wusste. Ich sagte ihr, ich weiß es nicht, Andreja, verzeih mir, aber ich weiß es nicht. Vielleicht findest Du es lächerlich, Freund Ardèvol, Du, der Du mir lange Briefe schreibst, in denen Du den egoistischen Zynismus verteidigst, dem Du Dich verschrieben hast, wie Du sagst. Die Zweifel ersticken mich, weil ich angesichts der Tränen keine Antwort fand; aber das ist jetzt vorbei. Jetzt weiß ich, wo das Böse zu finden ist. Sogar das absolute Böse. Es heißt Himmler. Es heißt Hitler. Es heißt Pavelić. Es heißt Luburić und seine makabre Erfindung Jasenovac. Es heißt Schutzstaffel und Abwehr. Der Krieg bringt die bestialische Seite der menschlichen Natur zum Vorschein. Aber das Böse gab es schon vor dem Krieg, und nicht irgendwelche Hirngespinste sind dafür verantwortlich, sondern die Menschen. Deshalb ist seit ein paar Wochen ein Gewehr mit Zielfernrohr mein treuester Begleiter, weil der Kommandant festgestellt hat, dass ich ein guter Schütze bin. Bald werden wir in den Kampf ziehen. Dann werde ich das Böse Schuss für Schuss beseitigen, und der Gedanke daran ist mir nicht zuwider. Hauptsache, ich habe einen Nazi, einen Ustascha oder – möge Gott mir verzeihen – einfach nur einen feindlichen Soldaten im Fadenkreuz. Das Böse bedient sich der Angst und der absoluten Grausamkeit. Unsere Befehlshaber erzählen uns grässliche Dinge über den Feind, wohl um sicherzustellen, dass uns der Zorn packt, und tatsächlich können wir es alle kaum erwarten, ihm endlich gegenüberzustehen. Eines Tages werde ich einen Mann töten, und ich hoffe, dass ich dann keinerlei Reue verspüre. Ich gehöre zu einem Trupp, in dem viele Serben sind, die in kroatischen Dörfern gelebt haben, aber aus Angst vor der Ustascha fliehen mussten; ein paar Slowenen wie ich sind auch darunter, und der eine oder andere der vielen Kroaten, die an die Freiheit glauben. Obwohl ich nur noch Korporal bin, nennen mich einige hier Hauptmann, vielleicht weil ich nicht zu übersehen bin: Ich bin immer noch so groß und kräftig wie früher. Und die Slowenen nennen mich Hochwürden, weil ich wohl eines Tages im Suff zu viel geredet habe; selber schuld. Ich bin entschlossen zu töten, bevor ich getötet werde. Ich habe keinerlei Gewissensbisse oder Skrupel bei dem, was ich tue. Wahrscheinlich werde ich jetzt, da die Deutschen offenbar nach Süden vorrücken, in irgendeinem Scharmützel fallen. Wir wissen alle, dass es bei jeder militärischen Aktion Tote gibt, auch unter unseren Leuten. Hier im Krieg vermeiden wir es, Freundschaften zu schließen: Wir sind wie ein Mann, weil wir alle aufeinander angewiesen sind, und ich beweine den Tod dessen, der gestern beim Frühstück neben mir saß, hatte aber keine Zeit, ihn nach seinem Namen zu fragen. Nun ja, offen gesagt, erfüllt mich der Gedanke zu töten mit Panik. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Aber das Böse sind konkrete Personen. Ich hoffe, ich werde tapfer sein und den Abzug betätigen können, ohne dass mir das Herz allzu sehr bebt.

Ich schreibe Dir aus einem slowenischen Ort namens Jesenice. Ich werde eine Briefmarke kaufen, als ob kein Krieg wäre. Und dann werde ich den Brief auf unseren Lastwagen laden, der heute mit Postsäcken bestückt ist, denn solange der Konflikt noch nicht offen ausgebrochen ist, sorgen sie dafür, dass wir uns nützlich machen, damit wir nicht zur Ruhe kommen. Aber diesen Brief werde ich Jančar anvertrauen, dem Einzigen, der dafür sorgen kann, dass er Dich erreicht. Möge der Gott, an den ich nicht mehr glaube, ihm helfen. Bitte schicke Deine Antwort an die übliche Poststelle in Maribor. Wenn ich nicht falle, werde ich sie ungeduldig erwarten. Ich fühle mich so einsam, lieber Ardèvol. Der Tod ist kalt, und mich schaudert es immer öfter. Dein Freund Drago Gradnik, ehemaliger Priester, ehemaliger Theologe, der auf eine brillante Karriere bei der Kurie des Bistums Ljubljana und vielleicht in Rom verzichtet hat. Dein Freund, der jetzt Scharfschütze bei den Partisanen ist und es kaum erwarten kann, das Übel an der Wurzel auszurotten.

Außerdem gab es Antwortbriefe von acht oder zehn Antiquaren, Sammlern oder Antiquitätenhändlern aus ganz Europa auf konkrete Anfragen meines Vaters. Zwei Briefe von einem Doktor Wuang aus Shanghai, der in fehlerhaftem Englisch versicherte, das glückliche Manuskript (ohne nähere Angaben) sei nie in seinem Besitz gewesen, und er wünsche ihm ein langes und glückliches Leben, blühende Geschäfte und glücklichen Reichtum für die persönlichen Beziehungen, die Familie und sein Herz. Ich bezog Doktor Wuangs glückliche Wünsche für die Familie auf mich. Und da war noch ein Haufen anderer Papiere.

An einem grauen, verregneten Nachmittag, als ich sämtliche Prüfungen korrigiert und keine Lust hatte, mich mit Sprachphilosophie zu beschäftigen, beschloss ich, mich zu Hause zu langweilen. Ich würde nicht lesen, sondern einfach gar nichts tun. Im Theater lief kaum was, das Konzertangebot überzeugte mich nicht, und ich war seit so vielen Jahren nicht mehr im Kino gewesen, dass ich keine Lust hatte, mich zu vergewissern, ob die Filme noch in Farbe waren. Also tat ich nichts. Da kam mir der Gedanke, dass dies ein guter Moment sei, endlich einmal Vaters Papiere zu sortieren. Ich legte den Nibelungenring auf und machte mich an die Arbeit. Das Erste, was mir in die Hände fiel, war einer der Briefe von Morlin, der in Rom lebte und anscheinend Priester war, obwohl ich das damals noch nicht sicher wusste. Plötzlich bekam ich Lust, mehr über Vaters Leben zu erfahren, ohne Grund, nicht etwa, weil ich gedacht hätte, so etwas über seinen Tod zu erfahren, sondern weil ich jedes Mal, wenn ich in seinen Papieren kramte, etwas entdeckte, was mich überraschte und berührte. Vielleicht schreibe ich dir deshalb seit Wochen unermüdlich, wie ich es noch nie im Leben getan habe. Wie sehr man doch merkt, dass mir der Hund, der mich jagt, dicht auf den Fersen ist. Vielleicht sammle ich deshalb Fetzen meiner Erinnerung, die ich, wenn es so weit ist, nur schwer so werde sortieren können, dass man sie vorzeigen kann. Jedenfalls bekam ich Lust, weiter die Papiere durchzusehen. Zwei Stunden lang – wir waren noch beim Vorabend (allerdings schon an der Stelle, an der der wütende Wotan mit Loge den Ring stiehlt und der Nibelunge jeden verflucht, der ihn sich an den Finger steckt) – sortierte ich die Korrespondenz und vermutlich von meinem Vater angefertigte Skizzen diverser Objekte. Weitere anderthalb Stunden später, als Brünnhilde Wotan den Gehorsam verweigert und der armen Sieglinde zur Flucht verhilft, fand ich zwei vergilbte Blätter in dem alten holländischen Format, das heute nicht mehr in Gebrauch ist. Sie waren mit einem mit Tinte geschriebenen hebräischen Text bedeckt, in dem ich die Handschrift meines Vaters erkannte. Ich vermutete, dass es um eine der tausend Angelegenheiten ging, für die er sich interessiert hatte, und als ich zu lesen begann, fürchtete ich erst, es läge an meinem eingerosteten Hebräisch, dass ich ihn nicht richtig verstand. Nach fünf fruchtlosen Minuten, in denen ich vergeblich mehrere Wörterbücher zu Rate gezogen hatte, erkannte ich zu meiner Überraschung, dass der Text gar nicht in Hebräisch geschrieben war, sondern in Aramäisch, allerdings verschlüsselt, in hebräischer Schrift. Anfangs war es ungewohnt, weil ich eher an das Aramäische in syrischer Schrift gewöhnt bin, aber wenn man sich anstrengte, ging es. Eine Minute später hatte ich zweierlei festgestellt: Erstens, dass Frau Dr. Gombreny ganze Arbeit geleistet hatte, weil ich das Aramäische gut verstand; und zweitens, dass es sich keineswegs um die Abschrift eines alten Textes handelte, sondern um einen Brief meines Vaters an mich. An mich! Mein Vater, der mich zu Lebzeiten vielleicht fünfzig Mal direkt angesprochen hatte, und zwar fast immer, um mir zu sagen, mach nicht so einen Krach, verdammt noch mal, hatte seinem unbeachteten Sohn einen Brief geschrieben. Und ich musste feststellen, dass mein Vater das Aramäische viel besser beherrschte als ich. Als ich ihn zu Ende gelesen hatte, erschlug Siegfried, Sieglindes furchtloser Sohn, mit der Grausamkeit des Helden den Nibelungen Mime, der ihn aufgezogen hatte und von dem er sich verraten glaubte. Der Wald der Helden, der Brief auf Aramäisch, alles schrie nach Blut. Ich war von Blut umgeben. Adrià saß über den Text gebeugt, ohne ihn zu sehen, dachte über all das Schreckliche nach, das er gelesen hatte, und ließ die Schallplatte eine gute halbe Stunde lang auf dem Plattenteller kreisen, ohne sie umzudrehen. Als ob die Figuren endlos die gleichen Bewegungen wiederholten, nur vom leichten Kratzen der Nadel begleitet. Wie Siegfried war er von der Entdeckung, die er gemacht hatte, überwältigt. Denn in dem Brief stand, Adrià, mein geliebter Sohn. Ich vertraue Dir dieses Geheimnis in der ungewissen Hoffnung an, dass Du irgendwann einmal, viele Jahre nach dem heutigen Tag, erfahren wirst, was geschehen ist. Wahrscheinlich bleibt dieser Brief für immer unter den Papieren begraben, die nach und nach den gierigen Silberfischchen zum Opfer fallen werden, mit denen sich jeder herumplagen muss, der eine Bibliothek mit alten Büchern besitzt. Wenn Du diese Zeilen liest, heißt das, dass Du meine Papiere aufbewahrt und das getan hast, was ich für Dich verfügt habe, nämlich Hebräisch und Aramäisch gelernt. Und wenn Du Hebräisch und Aramäisch gelernt hast, mein Sohn, dann bist Du ein Gelehrter geworden, wie ich es mir immer erträumt habe. Und ich habe mich gegen Deine Mutter durchgesetzt, die aus Dir einen dekadenten Geiger machen will (auf Aramäisch stand da eigentlich einen dekadenten Rabecspieler, aber die Spitze meines Vaters verstand man auch so). Eines musst Du wissen: Wenn Du diese Zeilen liest, bedeutet das, dass ich es nicht mehr nach Hause geschafft habe, um sie zu vernichten. Ich weiß nicht, ob es von offizieller Seite heißen wird, es sei ein Unfall gewesen, aber Du sollst wissen, dass ich ermordet wurde und mein Mörder Aribert Voigt heißt, ein alter Naziarzt, der an Gräueltaten beteiligt war, deren Schilderung ich Dir ersparen will. Er will seine Storioni wiederhaben, die ich ihm einmal abgeluchst habe. Wie ein Vogel, der sich verletzt stellt, um das Raubtier von seinen Jungen wegzulocken, verlasse ich also jetzt das Haus, damit sein Zorn nicht Euch trifft. Such nicht nach dem Mörder. Wenn Du diese Zeilen liest, ist er sicher schon lange tot. Such auch nicht nach der Geige; es lohnt sich nicht. Und such nicht das, was ich in vielen Objekten meiner Sammlung gefunden habe: die Befriedigung, etwas Seltenes zu besitzen. Such es nicht, denn diese Suche frisst Dich auf, sie ist eine unersättliche Gier, die Dich zu Dingen treibt, von denen Du später wünschst, Du hättest sie nicht getan. Wenn Deine Mutter noch am Leben ist, verschweig ihr das, was ich Dir hier berichte. Leb wohl. Und darunter stand der Nachtrag, der mein Unglück gewesen ist: Aribert Voigt hat mich getötet. Ich habe Vial seinen blutbefleckten Klauen entrissen. Ich weiß, dass er aus der Haft entlassen wurde und mich finden und töten wird. Voigt ist das Böse. Auch ich bin das Böse, aber Voigt ist das absolute Böse. Sollte ich eines gewaltsamen Todes sterben, glaub denen nicht, die sagen, es sei ein Unfall gewesen. Voigt. Ich will nicht, dass Du Rache nimmst, mein Sohn. Du wirst es sowieso nicht können, denn wenn Du diese Zeilen liest – falls Du sie überhaupt liest –, wird Voigt schon seit Jahren in der Hölle schmoren. Wenn ich ermordet wurde, bedeutet das, dass Vial, unsere Storioni, aus unserem Haus verschwunden ist. Und sollte aus diesem Grund in der Öffentlichkeit über Voigt oder unsere Geige gesprochen werden, musst Du wissen, dass ich nachgeforscht habe, wem das Instrument gehörte, bevor Voigt es sich nahm: Es gehörte einer Belgierin namens Netje de Boeck. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es mit Voigt ein böses Ende nimmt und dass irgendjemand – ich weiß nicht wer – dafür sorgen wird, dass er bis zu seinem Tod keine Nacht ruhig schlafen kann. Aber ich will nicht, dass du derjenige bist, denn ich will Dich nicht mit meinen schmutzigen Geschichten besudeln. Und wie du mich besudelt hast, Vater, dachte Adrià, denn du hast mir das Familienübel vererbt, das Kribbeln in den Fingern, wenn ich ein Objekt begehre. Der aramäische Text endete mit einem lakonischen, leb wohl, Sohn. Das waren wahrscheinlich die letzten Worte, die er je geschrieben hat. Und nicht ein Wort wie, ich liebe dich, mein Sohn. Vielleicht hatte er ihn nicht geliebt.

Der Plattenteller drehte sich lautlos, während Adrià verwirrt und ein wenig verwundert darüber war, wie wenig es ihn verwunderte, dass sein Vater das Bild bestätigte, das er sich von ihm gemacht hatte. Lange saß er einfach nur da, bevor er anfing, sich Fragen zu stellen, wie zum Beispiel, warum sein Vater die Information, dass ihn ein Nazi wie dieser Voigt auf dem Gewissen hatte, nicht hatte bekannt werden lassen wollen. Wollte er vielleicht nicht, dass dadurch andere Geschichten ans Licht kamen? Ich fürchte, genau das war der Grund. Weißt du, wie ich mich fühlte, Sara? Wie ein Idiot. Da hatte ich mir immer eingebildet, ich hätte mein Leben gegen die Erwartungen der anderen gelebt, und nun musste ich feststellen, dass ich genau das getan hatte, was mein autoritärer Vater von allem Anfang an verfügt hatte. Zur musikalischen Untermalung dieses seltsamen Gefühls legte ich noch einmal die Götterdämmerung auf, und die drei Nornen, die Töchter Erdas, sammelten sich um Brünnhildes Felsen und spannen den Schicksalsfaden, wie mein Vater beharrlich den meinen gesponnen hatte, ohne mich oder meine Mutter nach unserer Meinung zu fragen. Aber einer der Schicksalsfäden, die mein Vater mit Hinblick auf die Zeit nach seinem Tod gesponnen hatte, war unerwartet gekappt worden und bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Ich war schuld an seinem gewaltsamen Tod.

»He, du hast gesagt, du lässt sie mir für drei Tage!« Noch nie hatte ich Bernat so empört erlebt. »Und jetzt habe ich sie erst seit drei Stunden!«

»Es tut mir leid, ehrlich. Aber ich brauche sie jetzt, sofort, oder die bringen mich um, ich schwör’s.«

»Du hältst dein Wort nicht. Ich habe dir das Vibrato beigebracht.«

»Das Vibrato kann man nicht lernen, man muss es finden«, entgegnete ich verzweifelt. Mit zwölf war ich nicht sehr geschickt im Argumentieren. Ängstlich fuhr ich fort: »Sie finden es raus, und dann steckt mein Vater mich ins Gefängnis. Und dich auch. Ich erklär’s dir später. Versprochen.«

Beide legten gleichzeitig auf. Er musste Lola Xica oder seiner Mutter erklären, dass er noch mal zu Bernat musste, um seine Geigenübungen abzuholen.

»Bleib schön auf dem Gehsteig.«

»Klar«, sagte er beleidigt.

Sie trafen sich vor der Konditorei Solà, öffneten ihre Geigenkästen und nahmen den Austausch vor, auf dem Boden, an der Ecke València und Llúria, ohne auf das Rasseln der Straßenbahn zu achten, die sich den Carrer Llúria hinaufquälte. Bernat gab ihm die Storioni zurück und er ihm die Geige der Madame d’Angoulême, und er erzählte ihm, dass sein Vater plötzlich ins Arbeitszimmer gestürmt war und die Tür offen gelassen hatte. Und dass Adrià von seinem Zimmer aus voller Entsetzen gesehen hatte, wie sein Vater den Tresor öffnete, den Geigenkasten herausnahm und den Tresor wieder verschloss, ohne nachzusehen, ob die richtige Geige im Kasten lag, und ich schwöre dir, ich wusste nicht, was ich tun soll, denn wenn ich ihm erzählt hätte, dass du die Geige hast, hätte er mich vom Balkon geworfen, weißt du, und jetzt weiß ich nicht, was passiert, aber …

Bernat sah ihn kühl an: »Das sind alles Lügenmärchen.«

»Nein, ehrlich! In den Geigenkasten habe ich meine Übungsgeige gelegt, damit er nicht misstrauisch wird, wenn er…«

»Du hältst mich wohl für völlig bescheuert.«

»Ich schwör’s!« Adrià war verzweifelt.

»Du bist ein Schisser und wortbrüchig noch dazu.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ohnmächtig sah ich meinen wütenden Freund an, der mich schon um eine Handbreit überragte. Er kam mir vor wie ein rachsüchtiger Riese. Aber vor Vater hatte ich noch mehr Angst. Der Riese öffnete wieder den Mund: »Und glaubst du nicht, dass er Fragen stellen wird, wenn er zurückkommt und die Storioni sieht?«

»Und was soll ich sonst machen?«

»Lass uns abhauen. Nach Amerika.«

Diese spontane Solidarität wiederum gefiel mir an Bernat. Wir beide nach Amerika abhauen, was für eine großartige Idee. Aber sie flohen nicht nach Amerika, und Adrià hatte keine Zeit, seinen Freund zu fragen, sag mal, Bernat, wie spielt es sich denn auf der Storioni, merkst du den Unterschied, lohnt es sich, eine historische Geige zu haben? Er erfuhr auch nicht, ob seine Eltern etwas gemerkt hatten oder … Er sagte nur, der bringt mich um, ehrlich, gib sie mir zurück. Bernat zog wortlos ab, und ihm war anzusehen, dass er ihm diese seltsame Geschichte nicht abnahm. Dabei fing sie gerade erst an, kompliziert zu werden.

Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Sechs eins fünf vier zwei acht. Adrià legte die Storioni in den Tresor zurück, schloss ihn wieder, verwischte alle Spuren seines heimlichen Tuns und ging hinaus. In seinem Zimmer schauten Carson und Schwarzer Adler in die andere Richtung, als hätten sie nichts gesehen. Vermutlich waren auch sie mit der Situation überfordert. Und sein Geigenkasten war leer, und um die Sache noch schlimmer zu machen, kam Lola Xica zweimal herein und sagte, deine Mutter fragt, ob du heute gar nicht übst. Beim zweiten Mal sagte er, ich habe da eine Schwiele am Finger … Siehst du? Damit kann man nicht spielen.

»Zeig mal den Finger her«, sagte die Mutter, die unerwartet ins Zimmer kam, als er gerade die drei Sammelbilder einklebte, die er am Sonntag auf dem Mercat de Sant Antoni erstanden hatte.

»Ich sehe nichts«, sagte sie unbarmherzig.

»Aber mir tut’s weh.«

Die Mutter sah sich forschend um, als könne sie nicht glauben, dass er sie nicht belog, und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Zum Glück hatte sie den Geigenkasten nicht geöffnet. Jetzt galt es, den Höllenkrach abzuwarten, den sein Vater schlagen würde.

Mea culpa. Ich bin schuld an seinem Tod. Auch wenn dieser Voigt ihn sowieso umgebracht hätte. Das Taxi hatte ihn bei Kilometer drei abgesetzt und war nach Barcelona zurückgefahren. Jetzt im Winter wurde es früh dunkel. Allein auf der Landstraße. Eine Falle, ein Hinterhalt. Hast du das nicht gesehen, Vater? Vielleicht hieltest du das Ganze nur für einen schlechten Scherz. Fèlix Ardèvol warf einen letzten Blick auf das unter ihm liegende Barcelona. Motorenlärm. Ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern kam vom Tibidabo herunter. Es hielt vor ihm an, und Signor Falegnami stieg aus, dünner, kahler, mit derselben großen Nase und leuchtenden Augen. Bei ihm waren zwei muskelbepackte Männer, und auch der Fahrer kam noch dazu. Alle musterten ihn angewidert. Falegnami streckte brüsk die Hand nach der Geige aus. Ardèvol gab sie ihm, und Falegnami stieg in den Wagen, um den Geigenkasten zu öffnen. Mit der Geige in der Hand stieg er wieder aus.

»Du hältst mich wohl für blöd, was?«

»Was ist denn jetzt schon wieder?« Ich stelle mir vor, dass Vater eher wütend als verängstigt war.

»Wo ist die Storioni?«

»Ach, verdammt, da haben Sie sie doch!«

Als Antwort hob Voigt die Geige und zerschlug sie an einem Felsen am Straßenrand

»Was machen Sie denn da?«, rief Vater erschrocken.

Voigt hielt ihm die zerschlagene Geige vor die Augen. Die Decke war zersplittert, sodass man die Inschrift erkennen konnte: Casa Parramon, Carrer del Carme. Vater verstand gar nichts.

»Das kann nicht sein! Ich habe sie selbst aus dem Tresor geholt!«

»Dann haben sie sie dir wohl schon vor einiger Zeit gestohlen, du Idiot!«

Ich würde gerne glauben, dass Vater sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte, als er sagte, na, wenn das so ist, verehrter Signor Falegnami, dann habe ich keine Ahnung, wer dieses wertvolle Instrument haben könnte.

Voigt hob eine Augenbraue, und einer der Männer versetzte Vater einen Schlag in den Magen, dass der zusammenklappte und nach Luft rang.

»Streng dein Gedächtnis an, Ardèvol.«

Und da Vater nicht wissen konnte, dass sich Vial in diesem Augenblick in den Händen von Bernat Plensa i Punsoda befand, dem Lieblingsschüler von Senyoreta Trullols am Städtischen Musikkonservatorium von Barcelona, nutzte es auch nichts, dass er sein Gedächtnis anstrengte. Für alle Fälle sagte er, ich weiß es nicht, Ehrenwort.

Voigt zog eine kleine, handliche Damenpistole aus der Tasche.

»Ich glaube, wir werden eine Menge Spaß haben«, sagte er. Er zeigte auf die Pistole. »Kennst du sie noch?«

»Natürlich. So kriegen Sie Ihre Geige aber nicht.«

Wieder ein Schlag in die Magengrube, aber es hatte sich doch gelohnt. Wieder klappte er zusammen. Und wieder rang er mit offenem Mund und hervorquellenden Augen nach Luft. Ich weiß nicht, was dann geschah. Die hastige Winterdämmerung war der Nacht und der Straflosigkeit gewichen, in der sie meinen Vater so übel zurichteten, dass es meine Vorstellungskraft übersteigt.

»Howgh.«

»Mensch, wo habt ihr denn gesteckt?«

»Selbst wenn dein Vater Vial dabeigehabt hätte, hätten sie ihn fertiggemacht.«

»Schwarzer Adler hat recht«, warf Carson ein. »Er war ein toter Mann, wenn du mir den Ausdruck erlaubst.« Er spuckte trocken aus. »Und er wusste es, als er aus dem Haus ging.«

»Warum hat er sich die Geige nicht angesehen?«

»Er war zu aufgeregt, um zu merken, dass er nicht Vial bei sich hatte.«

»Danke, Freunde. Aber ich fürchte, das ist kein Trost.«

Voigt folterte meinen Vater unter strenger Einhaltung des Morlin in Damaskus gegebenen Ehrenworts, meinem Vater kein Haar zu krümmen, weil der schon völlig kahl war. So und nicht anders muss es gewesen sein. Wie Brünnhilde, die Siegfried ungewollt in den Tod schickte, indem sie seinen Feinden seinen verwundbaren Punkt verriet, habe ich meinen Vater, der mich nicht liebte, in den Tod geschickt, indem ich die Geige austauschte. Und so, wie Brünnhilde zum Gedenken an Siegfried ewige Rache schwor, schwor der Taugenichts Ardèvol, die Geige für alle Ewigkeit im Haus zu behalten. Ich tat es zum Gedenken an meinen Vater, ja. Aber heute muss ich gestehen, dass ich es auch tat, weil es mich allein bei dem Gedanken, dass sie eines Tags weg sein könnte, in den Fingern kribbelte.

Das Schweigen des Sammlers
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