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Meine Schwester starb zwei Wochen nach diesem Gespräch mit Senyor Berenguer. Ihr Mann sagte, weder sie noch sonst jemand habe gewusst, dass sie krank war. Sie war weit über siebzig geworden, und ich hatte sie lange nicht gesehen, doch wirkte sie auch aufgebahrt wie eine elegante Frau. Adrià wusste nicht, was er fühlte, Trauer, Distanz, etwas Eigentümliches. Er wusste nicht, wie ihm zumute war. Saras gekränkte Miene bereitete ihm größere Sorgen als die Frage, welche Gefühle ihn mit Daniela Amato de Carbonell verbanden – so ihr Name unter der aufgestellten Fotografie.
Ich sagte nicht, Sara, meine Schwester ist gestorben. Als Tito Carbonell mich anrief, um mir mitzuteilen, dass seine Mutter tot war, hatte ich eigentlich damit gerechnet, er würde mir etwas über die Geige sagen, und einen Moment lang begriff ich nicht, wovon er sprach, dabei sagte er einfach, sie ist in der Trauerhalle von Les Corts, falls du sie noch mal sehen möchtest, und morgen beerdigen wir sie, und ich legte auf und sagte nicht, Sara, meine Schwester ist gestorben, denn vermutlich hättest du gefragt, du hast eine Schwester? Oder du hättest gar nichts gesagt, denn in jenen Tagen redeten wir nicht miteinander.
In der Trauerhalle herrschte viel Betrieb. Auf dem Friedhof von Montjuïc waren wir etwa zwanzig Personen. Daniela Amatos Grabnische hatte einen herrlichen Meerblick. Was nützt ihr das, hörte ich hinter mir jemanden sagen, während die Friedhofsarbeiter die Nische zumauerten. Cecília war nicht gekommen, oder man hatte sie nicht benachrichtigt, oder sie lebte nicht mehr. Senyor Berenguer übersah mich geflissentlich. Und Tito Carbonell bezog neben ihm Stellung, als wollte er sein Territorium markieren. Der Einzige, den dieser Tod erschütterte, schien Albert Carbonell zu sein, der sich von einem Augenblick zum nächsten und völlig unerwartet einem einsamen Dasein als Witwer ausgesetzt sah. Adrià war ihm nur wenige Male begegnet, doch empfand er ein gewisses Mitleid mit diesem verzweifelten, sichtlich gealterten Mann. Als wir über die langen Friedhofswege zurückgingen, näherte er sich mir, fasste mich beim Arm und sagte, danke, dass du gekommen bist.
»Das war doch selbstverständlich. Es tut mir sehr leid.«
»Danke. Womöglich bist du damit der Einzige. Alle anderen stellen Berechnungen an.«
Wir schwiegen; die Geräusche der Trauergesellschaft, die knirschenden Schritte auf dem Kiesweg, die gedämpften Stimmen, der eine oder andere Fluch über die Schwüle in Barcelona, gelegentliche Hustenanfälle begleiteten uns, bis wir bei unseren Autos angelangt waren, und Albert Carbonell nutzte diese Zeit, um mir zuzuflüstern, nimm dich in Acht vor diesem Schlitzohr Berenguer.
»Hat er mit Daniela im Laden gearbeitet?«
»Zwei Monate. Dann hat Daniela ihn an die Luft gesetzt. Seither hassten sie einander bis aufs Blut und versäumten keine Gelegenheit, sich das gegenseitig spüren zu lassen.«
Wieder machte er eine Pause, als fiele es ihm schwer, gleichzeitig zu gehen und zu sprechen. Ich glaubte mich schwach zu erinnern, dass er Asthmatiker war, aber vielleicht täuschte ich mich auch. Jedenfalls fuhr er fort und sagte, Berenguer hat einen Vogel; er ist krank.
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es sage. Er ist nicht richtig im Kopf. Und er hasst Frauen. Er kann es nicht ertragen, wenn eine Frau klüger ist als er. Oder an seiner Stelle Entscheidungen trifft. Das macht ihn wahnsinnig und frisst ihn innerlich auf. Sei auf der Hut, nicht, dass er dir etwas antut.«
»Halten Sie das für denkbar?«
»Bei Berenguer kann man nie wissen.«
An Titos Wagen verabschiedeten wir uns. Wir schüttelten uns die Hände, und er sagte, pass auf dich auf. Daniela hat oft mit Zuneigung von dir gesprochen. Schade, dass ihr euch nicht nähergestanden habt.
»Als kleiner Junge war ich einmal einen ganzen Tag lang in sie verliebt.«
Er stieg bereits ins Auto, und ich weiß nicht, ob er mich gehört hatte. Durch die Scheibe winkte er mir noch ein vages Lebewohl zu. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.
Erst auf dem Heimweg, als ich überlegte, ob ich dir davon erzählen sollte oder nicht, mitten im dichten Verkehr um die Kolumbussäule, wo es von Touristen wimmelte, die sich gegenseitig fotografierten, fiel mir auf, dass Albert Carbonell der erste Mensch war, der nicht Senyor Berenguer sagte, wenn er von Senyor Berenguer sprach.
Als ich die Haustür aufschloss, hätte Sara mich fragen können, wo warst du? Und ich hätte sagen können, auf der Beerdigung meiner Schwester; und sie, du hattest eine Schwester? Und ich, ja, eine Halbschwester; und sie, das hättest du mir ruhig früher sagen können; und ich, du hast mich ja nie danach gefragt, wir hatten auch praktisch keinen Kontakt. Aber warum hast du mir nicht wenigstens jetzt gesagt, dass sie gestorben ist? Weil ich dann von deinem Freund Tito Carbonell hätte reden müssen, der mir die Geige wegnehmen will, und wir hätten uns wieder gezankt. Doch als ich die Haustür aufschloss, fragtest du nicht, wo warst du, und ich sagte nicht, auf der Beerdigung meiner Schwester, und du sagtest nicht, du hattest eine Schwester? Und dann bemerkte ich deine Reisetasche im Flur. Adrià sah sie verwundert an.
»Ich fahre nach Cadaqués«, sagte Sara.
»Ich komme mit.«
»Nein.«
Und sie verschwand ohne jede Erklärung. Es ging so schnell, dass ich mir der Tragweite des Ganzen gar nicht bewusst war. Als Sara abgereist war, riss Adrià, bangen Herzens und noch immer verwirrt, ihre Schränke auf und fühlte sich schlagartig erleichtert: Anscheinend hattest du nur ein paar Sachen zum Wechseln mitgenommen.