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Sie landeten auf einer mehr schlecht als recht asphaltierten Piste, auf der das Flugzeug so durchgerüttelt wurde, dass er fürchtete, niemals die Gepäckausgabe zu erreichen, sofern es auf dem Flughafen von Kikwit so etwas überhaupt gab. Um sich vor der jungen Frau mit der gelangweilten Miene auf dem Nachbarsitz keine Blöße zu geben, tat er, als läse er, während er sich im Geist die genaue Lage der Notausgänge vergegenwärtigte. Es war die dritte Maschine, die er seit seinem Abflug aus Brüssel hatte besteigen müssen, und in dieser war er bereits der einzige Weiße. Doch es störte ihn nicht, dass er auffiel, das brachte seine Arbeit nun einmal mit sich. Das Flugzeug hielt über hundert Meter von dem kleinen Gebäude entfernt. Sie mussten zu Fuß gehen und sich beeilen, damit ihre Schuhsohlen nicht an dem vor Hitze aufgeweichten Asphalt kleben blieben. Er holte die kleine Reisetasche, heuerte gegen ein saftiges Entgelt einen Taxifahrer an, der sich ihm mit seinem Geländewagen und seinen Benzinkanistern beflissen andiente, und nachdem sie drei Stunden den Kwilu entlang gefahren waren, verlangte der Taxifahrer noch mehr Dollars, weil es ab jetzt gefährlich würde. Kikongo, Sie verstehen schon. Er zahlte, ohne Einspruch zu erheben, denn in seinem Budget war alles berücksichtigt, Betrug eingeschlossen. Er wurde noch eine Stunde lang durchgeschüttelt, denn die Straße war genauso holprig wie die Landebahn, und je länger sie fuhren, desto zahlreicher, höher und dichter wurden die Bäume. Das Auto hielt vor einem halb verwitterten Schild.
»Bebenbeleke«, sagte der Fahrer in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Wo zum Teufel ist das Krankenhaus?«
Der Taxifahrer wies mit der Nase in Richtung Abendrot. Ein paar Holzlatten in Form eines Hauses. Es war nicht ganz so heiß wie am Flughafen.
»Wann soll ich Sie wieder abholen?«, fragte der Taxifahrer.
»Ich gehe zu Fuß zurück.«
»Sie sind verrückt.«
»Ja.«
Er griff nach seiner Tasche und ging auf die wacklige Bretterbude zu, ohne sich von dem Taxifahrer zu verabschieden. Der spuckte auf den Boden und freute sich diebisch, denn so konnte er noch in Kikongo vorbeischauen, seine Vettern besuchen und womöglich einen Fahrgast für die Rückfahrt nach Kikwit auftreiben, dann müsste er erst in vier, fünf Tagen wieder arbeiten.
Ohne sich umzuwenden, wartete er, bis das Motorgeräusch des Taxis verklungen war. Dann ging er zu dem einzigen Baum auf der Lichtung, einem seltsamen Baum, der gewiss einen unaussprechlichen Namen hatte, und holte eine große tarnfarbene Tasche, die an den Stamm gelehnt war, als hielte sie ein Schläfchen, und die er dort offensichtlich erwartet hatte. Damit bog er um die Ecke und sah das, was vermutlich der Haupteingang von Bebenbeleke war. Ein längliches Vordach, unter dem drei Frauen in Liegestühlen saßen und schweigend zusahen, wie die Zeit verging. Eine Tür gab es nicht. Und drinnen keine Rezeption. Ein dämmriger Korridor, beleuchtet vom flackernden Licht einer generatorbetriebenen Glühbirne. Und ein Huhn, das ins Freie flüchtete, als wäre es bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er wandte sich an die drei Frauen auf der Veranda.
»Doktor Müss?«
Eine der Frauen, die älteste, wies mit einer Kopfbewegung ins Innere des Hauses. Der rechte Gang, bestätigte die jüngste, aber im Moment hat er Visite.
Er ging hinein und nahm den rechten Gang. Kurz darauf fand er in einem verstaubten Zimmer einen alten Mann in einem makellos weißen Kittel, der einen kleinen Jungen abhorchte. Das Kind warf seiner danebenstehenden Mutter hilfesuchende Blicke zu.
Er setzte sich auf eine grellgrüne Bank zu zwei Frauen, die sich über irgendetwas aufregten, das anscheinend die Routine von Bebenbeleke unterbrochen hatte, und ein ums andere Mal dieselben Worte wiederholten wie eine Litanei. Er stellte die größere Tasche auf dem Boden ab, was ein metallisches Geräusch verursachte. Allmählich wurde es dunkel. Als Doktor Müss mit der letzten Patientin fertig war, hob er zum ersten Mal den Kopf und sah ihm mit aller Selbstverständlichkeit ins Gesicht.
»Soll ich Sie auch untersuchen?«, fragte er zur Begrüßung.
»Ich will nur die Beichte ablegen.«
Er stellte fest, dass der Arzt nicht nur alt, sondern uralt war. Er bewegte sich wie von einer unerschöpflichen Energie getrieben, was einen falschen Eindruck vermittelte. Sein Körper war der eines Mannes in den Achtzigern. Auf dem Foto, das er von ihm gesehen hatte, war er höchstens sechzig.
Als wäre es das Normalste von der Welt, dass ein Europäer ins Krankenhaus von Bebenbeleke kam, um zu beichten, wusch sich Doktor Müss die Hände an einem Waschbecken, das erstaunlicherweise einen Wasserhahn hatte, und winkte dem Besucher, ihm zu folgen. In diesem Moment setzten sich zwei Männer mit dunklen Brillen und wichtigem Gehabe auf die grüne Bank, nachdem sie die beiden Frauen verscheucht hatten. Der Doktor führte seinen Gast in einen kleinen Raum, vermutlich sein Büro.
»Bleiben Sie zum Abendessen?«
»Ich weiß es nicht. Ich plane nicht so lange im Voraus.«
»Also, ich höre.«
»Ich hatte große Mühe, Sie zu finden, Herr Doktor Budden. Ich hatte Ihre Spur in einem Trappistenkloster verloren und lange nicht herausfinden können, wohin Sie verschwunden waren.«
»Wie ist es Ihnen schließlich gelungen?«
»Indem ich im Hauptarchiv des Ordens nachgeschaut habe.«
»Ach ja, diese Manie, alles zu dokumentieren und zu archivieren. War man entgegenkommend?«
»Bisher dürfte noch niemand gemerkt haben, dass ich dort war.«
»Abgesehen von der falschen Fährte ins Baltikum, gab es Hinweise auf Stuttgart, Tübingen und Bebenhausen. Dort half mir eine sehr liebenswürdige alte Dame, zwei und zwei zusammenzuzählen.«
»Meine Cousine Herta Landau, nicht wahr? Sie war schon immer ein Schwatzmaul. Sie muss hocherfreut gewesen sein, jemanden zum Plaudern zu haben. Verzeihung, fahren Sie fort.«
»Nun ja, das ist schon alles. Es hat mich Jahre gekostet, die Zusammenhänge zu begreifen.«
»Dafür hatte ich mittlerweile Gelegenheit, ein wenig von dem wiedergutzumachen, was ich angerichtet habe.«
»Mein Auftraggeber hätte sich gewünscht, dass es schneller gegangen wäre.«
»Warum nehmen Sie mich nicht fest und stellen mich vor Gericht?«
»Mein Auftraggeber ist schon alt. Er duldet keinen Aufschub, weil er bald sterben wird, wie er sagt.«
»Aha.«
»Und er will nicht sterben, ohne Ihre Leiche gesehen zu haben.«
»Verstehe. Und wie haben Sie es geschafft, mich zu finden?«
»Puh, da steckt viel Routinearbeit dahinter. Mein Beruf ist sehr langweilig, ich verbringe eine Unmenge Zeit damit, überall herumzuschnüffeln, bis mir irgendwann ein Licht aufgeht. So ging das Tag um Tag, aber schließlich habe ich begriffen, dass das Bebenhausen, das ich suchte, gar nicht in Baden-Württemberg liegt. Und jetzt habe ich sogar fast den Eindruck, als hätten Sie möglichen Verfolgern damit den Weg weisen wollen.«
Er bemerkte, dass der Doktor sich ein Schmunzeln verkniff.
»Hat Ihnen Bebenhausen gefallen?«
»Sehr.«
»Es ist mein verlorenes Paradies.« Doktor Müss wischte die Erinnerung mit einer Handbewegung weg, und jetzt lächelte er wirklich. »Sie haben lange gebraucht«, sagte er.
»Wie gesagt … Als ich den Auftrag bekam, waren Sie sehr gut versteckt.«
»Weil ich arbeiten und wiedergutmachen wollte.« Neugierig fragte er: »Wie gehen solche Aufträge vonstatten?«
»Sehr professionell und sehr … kalt.«
Doktor Müss stand auf, holte aus einem Schränkchen, wohl einem Kühlschrank, eine Schüssel, die mit einer unkenntlichen Masse gefüllt war, und stellte sie zusammen mit zwei Tellern und zwei Löffeln auf den Tisch.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus … Aber in meinem Alter muss ich essen wie ein Vögelchen: wenig und oft. Sonst könnte ich in Ohnmacht fallen.«
»Vertrauen Ihre Patienten denn einem so alten Arzt?«
»Sie haben keinen anderen. Ich hoffe, das Krankenhaus wird nicht geschlossen, wenn ich sterbe. Ich verhandele das gerade mit den Behörden der Dörfer Beleke und Kikongo.«
»Tut mir leid, Herr Doktor Budden.«
»Ja.« Über den Brei in der Schüssel sagte er: »Das ist Hirse. Besser als gar nichts, glauben Sie mir.«
Er bediente sich und schob seinem Gesprächspartner die Schüssel hin. Mit vollem Mund sagte er:
»Was meinen Sie mit ›sehr kalt und sehr professionell‹?«
»Ach, alles Mögliche …«
»Nein, bitte, es interessiert mich wirklich.«
»Also, zum Beispiel: Ich kenne meine Auftraggeber nicht. Und die mich natürlich auch nicht.«
»Klingt logisch. Aber wie läuft das ab?«
»Dafür gibt es Techniken. Man hat immer eine indirekte Kontaktmöglichkeit, aber man muss äußerst vorsichtig sein, um sicherzugehen, dass man es in jedem Fall mit der richtigen Person zu tun hat. Und man muss lernen, keine Spuren zu hinterlassen.«
»Klingt auch logisch. Aber heute hat Makubulo Joseph Sie hierher gefahren, und der kann den Schnabel nicht halten, sodass er mittlerweile aller Welt erzählt haben dürfte …«
»Er erzählt, was ich will, dass er erzählt. Was er verbreiten soll, habe ich ihm auf dem Silbertablett serviert. Sie werden verstehen, wenn ich nicht ins Detail gehe … Woher wissen Sie eigentlich, dass ich mit diesem Taxifahrer gekommen bin?«
»Ich habe das Krankenhaus von Bebenbeleke vor vierzig Jahren gegründet. Ich erkenne hier jeden Hund am Bellen und jedes Huhn am Gackern.«
»Heißt das, Sie sind aus Mariawald direkt hierher gekommen?«
»Interessiert Sie das?«
»Ich finde es faszinierend. Ich hatte viel Zeit, über Sie nachzudenken. Haben Sie immer allein gearbeitet?«
»Ich arbeite nicht allein. Schon vor Sonnenaufgang sind hier drei Krankenschwestern, um die Patienten zu versorgen. Ich stehe auch früh auf, aber nicht ganz so früh.«
»Es tut mir leid, Sie aufzuhalten.«
»Heute ist eine Unterbrechung nicht so schlimm, denke ich.«
»Und was tun Sie sonst noch so?«
»Nichts. Ich widme für den Rest meines Lebens all meine Kraft den Bedürftigen, zu jeder Stunde, die mir noch bleibt.«
»Das klingt nach religiösem Gelübde.«
»Nun ja … Ich bin immer noch ein halber Mönch.«
»Sie haben das Kloster doch verlassen.«
»Ich bin aus dem Trappistenorden ausgetreten und habe das Kloster verlassen, aber ich fühle mich nach wie vor als Mönch. Ein Mönch ohne Klostergemeinschaft.«
»Lesen Sie auch die Messe und das alles?«
»Ich bin kein Priester. Non sum dignus.«
Eine Pause entstand, in der sie den Hirsebrei fast aufaßen.
»Schmeckt gut«, sagte der Besucher.
»Mir hängt es, ehrlich gesagt, zum Hals heraus. Ich vermisse viele Gerichte. Sauerkraut, zum Beispiel. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an den Geschmack, aber ich vermisse es.«
»Hätte ich das gewusst …«
»Aber nein, dass ich es vermisse, heißt ja nicht …« Er schluckte einen Löffel voll Hirse. »Ich verdiene kein Sauerkraut.«
»Übertreiben Sie jetzt nicht? Also, es steht mir vielleicht nicht zu, aber …«
»Es steht Ihnen ganz gewiss nicht zu.«
Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und schüttelte seinen Kittel, der noch immer blütenrein war. Er räumte die Schüssel ab, ohne den anderen zu fragen, und dann saßen sie einander an dem leeren Tisch gegenüber.
»Und das Klavier?«
»Habe ich aufgegeben. Non sum dignus. Sogar die Erinnerung an die Musik, die ich früher verehrt habe, verursacht mir Übelkeit.«
»Jetzt übertreiben Sie wieder, nicht wahr?«
»Verraten Sie mir Ihren Namen.«
Schweigen. Der Besucher überlegte einen Moment.
»Wozu?«
»Aus Neugierde. Ich kann sowieso nichts damit anfangen.«
»Lieber nicht.«
»Wie Sie meinen.«
Unwillkürlich mussten beide lächeln.
»Ich selbst kenne meinen Auftraggeber nicht. Aber er hat mir ein Codewort genannt, das Sie aufklären wird, wenn Sie möchten. Sind Sie nicht neugierig zu erfahren, wer mich geschickt hat?«
»Nein. Wer auch immer Sie schickt, mir sind Sie willkommen.«
»Ich heiße Elm.«
»Danke für Ihr Vertrauen, Elm. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich muss Sie bitten, sich eine andere Beschäftigung zu suchen.«
»Ich erledige zurzeit meine letzten Aufträge. Ich setze mich zur Ruhe.«
»Ich fände es schön, wenn dies ihr letzter Auftrag wäre.«
»Das kann ich nicht versprechen, Herr Doktor Budden. Ich würde Ihnen gern eine heikle Frage stellen.«
»Nur zu, ich habe Ihnen ja auch eine gestellt.«
»Warum haben Sie sich nicht der Justiz überantwortet? Ich meine, als Sie aus dem Gefängnis entlassen wurden und glaubten, Ihre Verbrechen noch nicht gesühnt zu haben …, da hätten Sie doch …«
»Im Gefängnis oder tot hätte ich den Schaden nicht wiedergutmachen können.«
»Und wenn er nicht wiedergutzumachen ist, was dann?«
»Wir sind eine Gemeinschaft, die auf einem Felsbrocken hockt und durchs Weltall schwirrt, als suchten wir ständig im Nebel nach einem Gott.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Kann ich mir denken. Was ich damit sagen will, ist, dass man das Böse, das man einem Menschen angetan hat, an einem anderen wiedergutmachen kann. Entscheidend ist, dass man es wiedergutmacht.«
»Außerdem wollten Sie sicher vermeiden, dass Ihr Name …«
»Stimmt, auch das wollte ich vermeiden. Seit meiner Entlassung aus dem Gefängnis besteht mein Leben nur aus Verstecken und Wiedergutmachen. Wohlwissend, dass ich den Schaden, den ich angerichtet gabe, niemals werde gutmachen können. Seit sechzig Jahren schlage ich mich damit herum und habe es noch keinem Menschen anvertraut.«
»Ego te absolvo und so weiter. Oder?«
»Spotten Sie nicht. Damit habe ich es einmal versucht. Das Problem ist aber, dass meine Sünden nicht vergeben werden können, weil sie zu schwerwiegend sind. Ich habe mein Leben darauf verwendet, dafür zu büßen, wusste aber, dass ich, wenn der heutige Tag käme, immer noch ganz am Anfang stehen würde.«
»Wenn ich mich recht erinnere, muss die Reue doch bloß stark genug sein …«
»Hören Sie auf. Sie haben ja keine Ahnung!«
»Ich hatte Religionsunterricht.«
»Und was hat der Ihnen genützt?«
»Das müssen gerade Sie sagen.«
Wieder lächelten sie beide. Doktor Müss schob die Hand unter seinen Kittel ins Hemd. Blitzschnell beugte sich der andere über den Tisch und packte ihn beim Handgelenk. Langsam zog der Arzt ein schmutziges, gefaltetes Stück Stoff heraus. Als der Besucher sah, was es war, ließ er den Arm des Doktors los. Dieser legte den Lappen, der wohl irgendwann einmal in zwei Teile zerschnitten worden war, auf den Tisch und faltete ihn mit zeremoniellen Gesten auseinander. Das Tuch maß etwa zwei Spannen im Quadrat und ließ noch schwach das blau-weiße Karomuster erkennen. Der Gast betrachtete es gespannt. Er warf dem Doktor einen Blick zu, doch dieser hatte die Augen geschlossen. Betete er? Erinnerte er sich?
»Wie konnten Sie tun, was Sie getan haben?«
Doktor Müss öffnete die Augen.
»Sie wissen doch gar nicht, was ich getan habe.«
»Ich habe mich informiert. Sie gehörten zu einer Gruppe von Ärzten, die den hippokratischen Eid gebrochen haben.«
»Trotz Ihres Berufs sind Sie ein gebildeter Mann.«
»Wie Sie. Ich möchte nicht versäumen, Ihnen zu sagen, dass Sie mich anwidern.«
»Ich verdiene Verachtung.« Er schloss die Augen und sagte, als rezitierte er: »Ich habe mich versündigt gegen die Menschen und gegen Gott. Im Namen einer Idee.«
»Glaubten Sie daran?«
»Ja. Confiteor.«
»Und Empfindungen wie Erbarmen und Mitleid?«
»Haben Sie Kinder getötet?« Doktor Müss sah ihm in die Augen.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass ich derjenige bin, der hier die Fragen stellt.«
»Verstehe. Dann wissen Sie also, wie es sich anfühlt.«
»Ein Kind weinen zu sehen, während man ihm bei lebendigem Leib die Haut vom Arm reißt, um die Auswirkungen von Infektionen zu studieren … und kein Mitleid dabei zu empfinden?«
»Ich war kein Mensch, Pater«, gestand Doktor Müss.
»Wenn Sie kein Mensch sind, wie können Sie dann bereuen?«
»Ich weiß es nicht, Pater. Mea maxima culpa.«
»Keiner Ihrer Kollegen hat Reue gezeigt, Herr Doktor Budden.«
»Weil sie wissen, dass man für eine so ungeheure Sünde nicht auf Vergebung hoffen kann, Pater.«
»Einige haben Selbstmord begangen, und andere sind geflohen wie Ratten und haben sich versteckt.«
»Ich maße mir nicht an, über sie zu richten. Ich bin einer von ihnen, Pater.«
»Aber Sie sind der Einzige, der das Böse wiedergutmachen will.«
»Keine vorschnellen Urteile. Ich muss keineswegs der Einzige sein.«
»Ich bin umfassend informiert. Was übrigens Aribert Voigt angeht …«
Trotz seiner Selbstbeherrschung konnte Doktor Müss nicht verhindern, dass es ihn bei der Erwähnung dieses Namens von Kopf bis Fuß durchfuhr.
»Wir haben ihn geschnappt.«
»Geschieht ihm recht. Und möge Gott mir verzeihen, Pater, denn mir geschieht es genauso recht.«
»Wir haben ihn bestraft.«
»Ich kann dazu nichts sagen. Es ist alles zu ungeheuerlich. Die Schuld greift zu tief.«
»Wir haben ihn schon vor Jahren erwischt. Freut Sie das nicht?«
»Non sum dignus.«
»Er hat geweint und um Gnade gefleht. Und er hat sich in die Hosen gemacht.«
»Ich werde nicht um Voigt weinen, kann mich über das, was Sie mir da sagen, aber auch nicht freuen.«
Der Besucher sah den Doktor eine Weile unverwandt an.
»Ich bin Jude«, sagte er schließlich. »Ich erledige Aufträge, aber ich tue es gern. Verstehen Sie?«
»Vollkommen, Pater.«
»Wissen Sie, im Grunde glaube ich …«
Konrad Budden riss erschrocken die Augen auf, als fürchtete er, sich wieder dem greisen Kartäuser gegenüber zu sehen, der starr auf einen Riss im Holz des eisigen Beichtstuhls blickte. Doch dieser Elm, der mit seinem von vielen Geschichten gezeichneten Gesicht vor ihm saß, betrachtete keinen Riss. Er sah ihm direkt in die Augen. Müss erwiderte seinen Blick.
»Ja, ich weiß, was Sie glauben, Pater: dass mir kein Platz im Paradies zusteht.«
Der andere sah ihn schweigend an, ohne sich seine Überraschung anmerken zu lassen. Konrad Budden fuhr fort:
»Und Sie haben recht. Meine Sünde ist so schändlich, dass die wahre Hölle die ist, zu der ich mich selbst verdammt habe, indem ich mir meine Schuld eingestehe und damit weiterlebe.«
»Das kann ich nicht nachvollziehen.«
»Das ist auch gar nicht meine Absicht. Ich verschanze mich weder hinter der Idee, die uns damals leitete, noch hinter der Kaltherzigkeit, mit der wir uns die Hölle, die wir anderen bereiteten, erträglicher machten. Ich erwarte von niemandem Vergebung. Nicht einmal von Gott. Ich habe nur um eine Chance gebeten, dem Grauen etwas entgegenzusetzen.«
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und sagte, doleo, mea culpa. Tag für Tag durchleide ich das Gleiche mit der gleichen Intensität.
Schweigen. Allmählich bemächtigte sich eine sanfte Stille des ganzen Krankenhauses. Der Fremde glaubte, von fern die gedämpften Geräusche eines Fernsehapparats zu hören. Doktor Müss senkte die Stimme, bemüht, seine Erregung zu verbergen.
»Halten Sie es geheim, oder werden nach meinem Tod alle erfahren, wer ich bin?«
»Mein Auftraggeber will, dass es geheim bleibt. Er zahlt, also hat er das Sagen.«
Schweigen. Ja, ein Fernseher. Es klang sonderbar an diesem Ort. Der Gast lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Sie wollen also nicht wissen, wer mich schickt?«
»Nicht nötig. Sie sind im Namen aller hier.«
Mit sachter Geste, ein wenig feierlich, legte Müss die Hände flach auf den schmutzigen Lappen.
»Was ist das für ein Lappen?«, fragte der andere. »Eine Serviette?«
»Auch ich habe meine Geheimnisse.«
Der Doktor ließ die Hände auf dem Lappen und sagte, wenn es Ihnen recht ist, ich wäre dann so weit.
»Würden Sie freundlicherweise den Mund aufmachen …«
Konrad Budden schloss ergeben die Augen und sagte, wann immer Sie wollen, Pater. Vor dem Fenster hörte man das aufgebrachte Gackern eines Huhns, das sich gleich zur Nachtruhe begeben würde. Und weiter weg Gelächter und Beifall aus dem Fernseher. Dann öffnete Eugen Müss, Bruder Arnold Müss, Doktor Konrad Budden den Mund, um das Letzte Abendmahl zu empfangen. Er hörte, wie der Reißverschluss der Tasche energisch aufgezogen wurde. Er hörte ein metallisches Klicken, das ihn in eine weitere Hölle stürzte, und verstand es als zusätzliche Buße. Sein Mund blieb offen. Den Schuss hörte er nicht mehr, dafür war die Kugel zu schnell.
Der Besucher steckte die Pistole in den Gürtel und nahm eine Kalaschnikow aus der Tasche. Bevor er den Raum verließ, faltete er den Lappen, der dem Doktor so heilig gewesen war, sorgfältig zusammen, als wäre er auch ihm heilig, und steckte ihn ein. Das Opfer saß noch aufrecht auf dem Stuhl, mit zertrümmertem Kiefer, aber fast ohne zu bluten. Nicht einmal der weiße Kittel hatte einen Fleck. Zu alt, um noch Blut zum Vergießen zu haben, dachte er, während er das Maschinengewehr entsicherte und sich anschickte, seine Tat zu vertuschen. Er lauschte, woher die Fernsehgeräusche kamen. Er wusste, dass dies die Richtung war, in die er gehen musste. Der Mord an dem Arzt durfte keinesfalls bekannt werden, und um das zu gewährleisten, war er entschlossen, mit dem Rest umso mehr Aufsehen zu erregen. Das gehört in diesem Beruf nun einmal dazu.