25

Er wollte mit Tecla kommen. Ich sagte ihm, ich hätte nur ein Bett in der Wohnung, und wenn sie sich amüsieren wollten … Das war ein Vorwand, die beiden hätten ja einfach in die Jugendherberge gehen können. Aber dann stellte sich heraus, dass Tecla sowieso nicht kommen konnte, weil sie zu viel Arbeit hatte, was – wie er mir später gestand – in Wirklichkeit bedeutete, dass Teclas Eltern ihr nicht erlaubten, mit diesem schlaksigen Kerl mit den Zottelhaaren und dem traurigen Blick eine so lange Reise zu unternehmen. Ich war froh, dass er nicht mit seiner Freundin kam, denn sonst hätten wir uns nicht in Ruhe unterhalten können, was in Wirklichkeit bedeutete, dass es Adrià vor Neid den Atem verschlagen und er Bernat gesagt hätte, was willst du denn mit einer Frau, weißt du nicht, dass Freunde das Wichtigste sind, Blödmann? Freunde! Und das hätte er nur aus bbeschissenem Neid und aus Verzweiflung gesagt, weil ich sah, dass mein Liebeskummer mit Kornelia den gleichen Weg ging wie mit dir, Liebste, mit dem einzigen Unterschied, dass ich Kornelias Geheimnis kannte. Ihre Geheimnisse. Und was dich betraf … Ich fragte mich immer noch, warum du nach Paris verschwunden warst. Kurz gesagt: Bernat kam allein, mit einer Übungsgeige und großer Lust zu reden. Es kam mir so vor, als wäre er noch ein Stückchen gewachsen. Er war schon eine gute Handbreit größer als ich. Und er begann allmählich, die Welt ein bisschen weniger ungeduldig zu betrachten. Manchmal brachte er sogar ein grundloses Lächeln zustande, einfach so, weil das Leben schön war.

»Bist du verliebt?«

Sein Lächeln wurde breiter. Ja, er war verliebt. Hoffnungslos verliebt, nicht wie ich hoffnungslos verwirrt über eine Kornelia, die, sobald ich wegsah, mit einem anderen mitging, weil wir in einem Alter waren, in dem man Erfahrungen sammeln muss. Ich beneidete Bernat um sein ruhiges Lächeln. Aber eine Kleinigkeit machte mich stutzig: Als er es sich in meinem Zimmer auf dem Klappbett bequem machte, öffnete er den Geigenkasten. Jeder mehr oder weniger professionelle Violinist schleppt in seinem Geigenkasten nicht bloß die Geige mit sich herum, sondern sein halbes Leben: zwei oder drei Bögen, Harz für die Saiten, ein Foto, Partituren in einer Seitentasche, Ersatzsaiten und die einzige jemals erschienene Konzertkritik aus einer Regionalzeitung. Bernat hatte seine Übungsgeige dabei, seinen Bogen und sonst nichts. Ach ja, und eine Mappe. Die Mappe war das Erste, was er aufschlug. Darin lag ein achtlos zusammengehefteter Text, den er mir gab. Hier, lies mal.

»Was ist das?«

»Eine Erzählung. Ich bin Schriftsteller.«

Der Tonfall, in dem er sagte, ich bin Schriftsteller, gefiel mir nicht, er hat mir nie gefalllen. Mit dem für ihn typischen Mangel an Feingefühl erwartete Bernat von mir, dass ich die Erzählung auf der Stelle las. Ich nahm den Text, las den Titel, überflog die Geschichte und sagte, du, das muss ich mir in Ruhe ansehen.

»Klar, klar. Ich gehe ein bisschen spazieren.«

»Nein. Ich werde sie mir heute Abend vornehmen, das ist die richtige Zeit zum Lesen. Erzähl mir mal, wie Tecla so ist.«

Er sagte mir, sie sei so und so, habe zwei reizende Grübchen, und er habe sie am Konservatorium des Liceu kennengelernt, wo sie im Schumann-Quintett das Klavier und er die erste Geige spielte.

»Spielt sie gut?«

Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären wir gar nicht losgekommen, und so schnappte ich mir meinen Anorak, sagte, komm mit, und ging mit ihm ins Deutsche Haus, wo es voll war wie immer. Ich hielt heimlich Ausschau nach Kornelia und einer ihrer Erfahrungen und hörte deshalb Bernat nur mit halbem Ohr zu. Der sagte gerade, nachdem er sicherheitshalber das Gleiche bestellt hatte wie ich, ich vermisse dich, aber ich will nicht im Ausland studieren und …

»Das ist ein Fehler.«

»Ich möchte lieber innere Landschaften bereisen. Deshalb habe ich auch angefangen zu schreiben.«

»Das ist doch Blödsinn. Du musst reisen, dir Lehrer suchen, die dir mal kräftig den Staub abklopfen.«

»Das Zeug hier ist ja widerlich.«

»Nein: Es ist Sauerkraut.«

»Wie?«

»Xucrut – man gewöhnt sich dran.«

Bislang keine Spur von Kornelia. Nach einer halben Wurst ging es mir schon besser, und ich hatte sie fast vergessen.

»Ich will die Geige sausen lassen«, sagte Bernat, ich glaube, um mich zu provozieren.

»Das verbiete ich dir.«

»Wartest du auf jemanden?«

»Nein, wieso?«

»Nur so, du bist so … na ja, du siehst aus, als würdest du auf jemanden warten.«

»Warum sagst du, dass du die Geige sausen lassen willst?«

»Warum hast du aufgehört?«

»Das weißt du doch. Ich kann nicht spielen.«

»Ich auch nicht. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst: Es fehlt mir an Seele.«

»Wenn du im Ausland studierst, wirst du sie finden. Nimm Unterricht bei Kremer oder bei diesem jungen Kerl, Perlman. Oder sorg dafür, dass Stern dich spielen hört. Hör mal, Bernat, in Europa gibt es eine Menge großer Lehrer, von denen wir nichts wissen. Mach Dampf. Gib alles. Oder geh nach Amerika.«

»Als Solist habe ich keine Zukunft.«

»Dummes Zeug.«

»Sei still, du verstehst mich nicht. Ich kann nicht weiter kommen, als ich schon bin.«

»Na gut, dann wirst du eben ein passabler Orchestermusiker.«

»Ich will aber immer noch die Welt erobern.«

»Die Entscheidung liegt bei dir: Entweder du wagst es, oder du wagst es nicht. Und die Welt kannst du von deinem Notenständer aus erobern.«

»Nein. Es macht mir einfach keinen Spaß mehr.«

»Bist du denn nicht glücklich, wenn du Kammermusik spielst?«

Bernat zögerte einen Augenblick; zweifelnd starrte er die Wand an. Ich überließ ihn seinen Zweifeln, denn in diesem Augenblick kam Kornelia herein, Arm in Arm mit einer neuen Erfahrung, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich folgte ihr mit Blicken. Sie übersah mich geflissentlich und setzte sich hinter mich. Ich spürte eine fürchterliche Leere in meinem Rücken.

»Vielleicht doch.«

»Was?«

Bernat sah mich verwundert an. Dann erklärte er geduldig. »Vielleicht bin ich ansatzweise glücklich, wenn ich Kammermusik spiele.«

Mir war Bernats Kammermusik an diesem Abend völlig schnurz. Das Wichtigste war die Leere, das Prickeln in meinem Rücken. Ich drehte mich um und tat so, als hielte ich nach der blonden Kellnerin Ausschau. Kornelia lachte, während sie die in Plastik eingeschweißte Würstchenkarte studierte. Die Erfahrung hatte einen drohenden, widerwärtigen und völlig unpassenden Schnauzer und war das genaue Gegenteil der großen, blonden Erfahrung von vor zehn Tagen.

»Was hast du?«

»Ich? Was soll ich denn haben?«

»Ich weiß nicht. Du bist so …«

Adrià lächelte der Kellnerin zu, die gerade vorbeiging, und bestellte noch ein bisschen Brot, dann sah er Bernat an und sagte, nun sag schon, entschuldige, ich war bloß …

»Also, wenn ich Kammermusik spiele, bin ich vielleicht …«

»Siehst du? Und wenn du mit Tecla den gesamten Beethoven spielst?«

Das Kribbeln im Rücken war so unvermindert heftig, dass ich nicht darüber nachdachte, ob ich gerade dummes Zeug redete.

»Ja, das könnte ich. Aber wozu? Wer wird uns bitten, ein Konzert zu geben? Oder das Ganze auf ein Dutzend LPs aufzunehmen?«

»Na, weißt du … Allein, dass man es tut … Entschuldige mich einen Augenblick.«

Ich stand auf und ging aufs Klo. Als ich an Kornelia und ihrer Erfahrung vorbeikam, starrte ich sie an, sie hob den Kopf, sah mich, sagte hallo und widmete sich dann wieder der Würstchenkarte. Hallo. Als wäre es das Normalste von der Welt, nachdem man sich ewige Liebe – oder doch fast – geschworen und miteinander geschlafen hatte, sich eine neue Erfahrung zu schnappen und wenn man sich begegnete, hallo zu sagen und dann weiter die Würstchenkarte zu studieren. Ich konnte mich nicht beherrschen und sagte im Vorbeigehen, die Bratwurst hier ist sehr gut, Fräulein. Und ich hörte die Erfahrung in umwerfendem Bayerisch noch fragen, wer ist denn der Kerl mit der Bratwurst? Kornelias Antwort hörte ich nicht, weil ein paar Kellnerinnen mit vollen Tabletts mich in Richtung Toilette drängten.

Wir mussten über den mit Eisenspitzen bewehrten Zaun klettern, um bei Nacht auf dem Friedhof spazieren gehen zu können. Es war bitterkalt, aber das tat uns beiden gut, denn wir hatten – er über seiner Kammermusik und ich wegen der neuen Erfahrungen – literweise Bier getrunken. Ich erzählte ihm von meinem Hebräischunterricht, von den Philosophieseminaren, die ich in mein Studium einschob, und von dem Entschluss, für den Rest meines Lebens zu studieren, und wenn ich an der Universität unterrichten kann, phantastisch, aber wenn nicht, werde ich Privatgelehrter.

»Und womit willst du deinen Lebensunterhalt verdienen? Wenn du das überhaupt nötig hast.«

»Ich kann ja immer zum Abendessen zu dir kommen.«

»Wie viele Sprachen sprichst du?«

»Und du lässt das Geigespielen nicht sausen.«

»Ich bin kurz davor.«

»Und warum hast du sie dann mitgebracht?«

»Für Fingerübungen. Sonntag spiele ich bei Tecla zu Hause.«

»Ist doch prima, oder?«

»Ja. Und aufregend. Ich muss ihre Eltern beeindrucken.«

»Was werdet ihr denn spielen?«

»César Franck.«

Eine Minute lang dachte ich, und sicher auch er, an den Beginn der Sonate von Franck, dieses Zwiegespräch zwischen zwei Instrumenten, das in seiner Eleganz der Auftakt zu einem Hochgenuss war.

»Mir tut es leid, dass ich mit dem Geigespielen aufgehört habe«, sagte ich.

»Zu spät, um dich zu beschweren, alte Schwuchtel.«

»Ich sage das bloß, damit du es nicht in ein paar Monaten bereust und mich dann verfluchst, weil ich dich nicht gewarnt hätte.«

»Ich denke, ich will lieber Schriftsteller sein.«

»Ich finde es völlig in Ordnung, dass du schreibst. Aber deswegen musst du doch nicht auf …«

»Würdest du verdammt noch mal endlich aufhören, mich ständig zu bevormunden?«

»Du kannst mich mal.«

»Hast du was von Sara gehört?«

Schweigend gingen wir bis zum Ende des Wegs und blieben am Grab eines gewissen Franz Grübbe stehen. Ich merkte, dass es gut gewesen war, ihm nichts von Kornelia und meinem Kummer zu erzählen. Schon damals war es mir sehr wichtig, welchen Eindruck ich auf andere machte.

Bernat sah mich forschend an, wiederholte aber seine Frage nicht. Es war so schneidend kalt, dass mir die Augen tränten.

»Wer ist dieser Grübbe?«

Adrià betrachtete nachdenklich das grobe Kreuz.

Franz Grübbe, 1918-1943. Mit zitternder, wütender Hand schob Lothar Grübbe eine Brombeerranke beiseite, die jemand dort abgelegt hatte, wie um ihn zu kränken. Die Dornen rissen ihm die Haut auf, aber er merkte es nicht, weil sein Denken seit einiger Zeit gänzlich von seinem Unglück in Anspruch genommen war. Liebevoll legte er einen Strauß Rosen auf das Grab, weiß wie die Seele seines Sohnes.

»Du reitest dich noch ins Verderben«, sagte Herta, die trotz allem darauf bestanden hatte mitzukommen. »Diese Blumen erregen Aufmerksamkeit.«

»Ich habe nichts zu verlieren.« Lothar richtete sich auf. »Im Gegenteil: Ich bin ja reich belohnt durch den Heldentod meines tapferen Sohnes.«

Er sah sich um. Sein Atem stand als dichte weiße Wolke vor seinem Mund. Er wusste, dass die Rosen, ein Aufschrei der Empörung, schon am Abend erfroren sein würden. Aber es war nun einen Monat her, dass sie Franz symbolisch hier begraben hatten, und er hatte Anna versprochen, ihm am sechzehnten jedes Monats Blumen zu bringen, solange er noch laufen konnte. Es war das Mindeste, was er für seinen Sohn, den Helden und Märtyrer, tun konnte.

»War das jemand Wichtiges, dieser Grübbe?«

»Hm?«

»Warum bleibst du gerade hier stehen?«

»Franz Grübbe, neunzehnhundertachtzehn bis neunzehnhundertdreiundvierzig.«

»Wer ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Meine Güte, ist es kalt hier in Tübingen! Ist das immer so?«

Lothar Grübbe hatte Hitlers Machtergreifung mürrisch schweigend mit ansehen müssen und sich auch seinen Nachbarn gegenüber mürrisch und schweigsam gezeigt; die taten so, als bemerkten sie nichts, und sagten untereinander, der Mann bringt sich noch in Teufels Küche. Und wenn Lothar Grübbe allein im Park spazieren ging, sagte er mürrisch zu seiner Anna, es kann doch nicht sein, dass niemand aufbegehrt, das ist doch unmöglich. Und dann kam Franz von der Universität zurück, wo er seine Zeit damit vergeudet hatte, Gesetze zu studieren, die jetzt von den neuen Machthabern außer Kraft gesetzt wurden, und für Lothar Grübbe brach eine Welt zusammen, als sein Franz mit vor Begeisterung leuchtenden Augen zu ihm sagte, Papa, ich habe, wie der Führer es von uns verlangt, um Aufnahme in die SS gebeten und werde sicher genommen, weil ich nachweisen konnte, dass unser Stammbaum seit fünf oder sechs Generationen makellos ist. Und Lothar sagte verblüfft und entsetzt, was haben sie denn mit dir gemacht, Junge, wie kannst du nur …

»Vater: Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit und sehen einer strahlenden Zukunft entgegen.«

Lothar war vor seinem begeisterten Sohn in Tränen ausgebrochen, und dieser hatte ihn ob seiner Schwäche und Weinerlichkeit gerügt. In der Nacht erzählte er es seiner Anna, verzeih mir, Anna, ich ganz allein bin schuld, weil ich ihm erlaubt habe, so weit weg von zu Hause zu studieren; und nun ist er vom Faschismus angesteckt, meine liebste Anna. Und Lothar Grübbe hatte noch lange Zeit Grund zum Weinen, denn eines schlimmen Tages schickte der junge Franz, der wieder von zu Hause weggegangen war, weil er die vorwurfsvollen Blicke seines Vaters nicht mehr ertrug, ein begeistertes Telegramm, in dem es hieß, Papa, die dritte Kompanie der Waffen-SS wird an die Südfront verlegt, stop. Endlich kann ich für den Führer mein Leben geben, stop. Wenn es so weit kommt, weine nicht um mich, stop. Ich werde ewig in Walhalla leben, stop. Und Lothar weinte und beschloss, den Inhalt des Telegramms für sich zu behalten, und in dieser Nacht erzählte er seiner Anna nichts davon.

Drago Gradnik musste seine riesige Gestalt weit vorbeugen, um die dünne Stimme des Mannes in der Poststelle von Jesenice durch das Rauschen der von der Eisschmelze geschwollenen Save zu hören.

»Was haben Sie gesagt?«

»Dieser Brief wird seinen Adressaten nie erreichen.«

»Warum?«, fragte Gradnik mit Donnerstimme.

Der alte Postbeamte setzte seine Brille auf und las laut vor: Fèlix Ardèvol, 283 Valencia ulica, Barcelona, Španija. Dann gab er dem Riesen den Brief zurück.

»Der Brief wird unterwegs verloren gehen, Hauptmann. Alle Sendungen in diesem Postsack gehen nach Ljubljana.«

»Ich bin Korporal.«

»Das ist mir egal: Er wird trotzdem verloren gehen. Ist Ihnen bewusst, dass wir im Krieg sind?«

Ganz gegen seine Gewohnheit wies Gradnik drohend auf den Beamten und sagte mit der tiefsten und unangenehmsten Stimme, die er aufbrachte, Sie lecken jetzt eine Fünfzig-Para-Briefmarke ab, kleben sie auf den Umschlag, stempeln den ab, stecken ihn in den Sack, den ich mitnehmen soll, und lassen mich gehen. Verstanden?

Obwohl sie draußen schon nach ihm riefen, wartete Gradnik, bis der beleidigt schweigende Mann die Befehle dieses verrückten Partisanen befolgt hatte. Als er fertig war, steckte er den Brief in den Sack mit den wenigen Sendungen, die nach Ljubljana gingen. Der riesige Korporal nahm den Sack und ging hinaus auf die sonnige Straße. Zehn Männer riefen ungeduldig vom Lastwagen herab nach ihm, und als der Fahrer ihn herauskommen sah, ließ er den Motor an. Auf der Ladefläche lagen sechs oder sieben ähnliche Säcke, und daneben kauerte Vlado Vladić, rauchte, sah auf die Uhr und sagte, verdammt, Korporal, Sie sollten doch nur den Sack holen.

Doch der Lastwagen mit den Postsäcken und einem guten Dutzend Partisanen konnte nicht losfahren, denn vor ihnen bremste ein auffälliger Citroën, drei Partisanen sprangen heraus und brachten ihnen die neuesten Nachrichten: Am heutigen Tag, dem Palmsonntag, waren drei Kompanien der SS-Division »Das Reich« in Slowenien eingerückt, während die Luftwaffe das Zentrum Belgrads in Schutt und Asche legte und die königliche Regierung Hals über Kopf floh, allen voran der König selbst. Kameraden, es ist Zeit, euer Leben für die Freiheit zu geben. Ihr werdet nach Kranjska Gora fahren und die Division der Waffen-SS aufhalten. Und Drago Gradnik dachte, nun werde ich also sterben, gelobt sei der Herr. Ich werde in Kranjska Gora mein Leben verlieren bei dem Versuch, eine unaufhaltsame Division der Waffen-SS aufzuhalten. Und er verzagte auch diesmal nicht. In dem Augenblick, als er die Soutane an den Nagel gehängt und sich einem aktiven Partisanenkommando angeschlossen hatte, um seinem Land zu dienen, wusste er, dass er im Irrtum war. Aber er konnte nichts anderes tun, denn vor ihm lag das Böse, sei es in Form von Pavelićs Ustascha, sei es die teuflische SS, und da musste die Theologie der tristen Notwendigkeit weichen. Sie erreichten Kransjka Gora, ohne einem einzigen Teufel begegnet zu sein, und der eine oder andere dachte schon, dass die Information vielleicht nicht besonders zuverlässig war; aber am Ortsausgang, auf der Landstraße nach Borovška, sagte ihnen ein Kommandant ohne Sterne, mit kroatischem Akzent und einem Zwanzig-Tage-Bart, dies ist die Stunde der Wahrheit; es wird ein Kampf auf Leben und Tod gegen die Nazis, und ihr Partisanen seid die Kämpfer für die Freiheit und gegen den Faschismus. Habt kein Erbarmen mit dem Feind, wie er kein Erbarmen mit seinen Feinden hatte und auch keines mit euch haben wird. Drago Gradnik hätte am liebsten hinzugefügt, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Aber er verkniff es sich, weil der Kommandant ohne Sterne gerade erklärte, wie jede Gruppe von Verteidigern vorzugehen habe. Gradnik hatte Zeit zu denken, dass er zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich würde töten müssen.

»Und jetzt zack-zack den Hügel hinauf! Viel Glück!«

Der Großteil des Trupps, mit Maschinengewehren, Handgranaten und Mörsern ausgestattet, besetzte die sicheren Stellungen. Die Schützen wurden wie Adler an den höchsten Punkten postiert. Flink – mit Ausnahme von Hochwürden Gradnik, der schnaufte wie ein Wal – bezogen sie ihre Posten, jeder mit seinem Gewehr und nur dreizehn Ladestreifen ausgerüstet. Wenn euch die Kugeln ausgehen, nehmt Steine; und wenn sie in Reichweite kommen, erwürgt sie; aber sie dürfen nicht ins Dorf gelangen. Die besonders guten Schützen hatten ein Nagant mit Zielfernrohr zugeteilt bekommen. Und das bedeutete, er musste den Gegner ansehen, im Auge behalten, ihm folgen und ihn gewissermaßen kennenlernen, bevor er ihn tötete.

Als Drago Gradnik schon glaubte, an seinem eigenen Keuchen zu ersticken, half ihm eine Hand die letzte Stufe hinauf. Es war der Serbe Vlado Vladić, der dort oben kniete, auf die einsame letzte Kurve der Landstraße zielte und sagte, Korporal, wir müssen darauf achten, in Form zu bleiben. Über ihnen kreisten die aufgescheuchten Pirole und schrien, als wollten sie sie an die Deutschen verraten. Die beiden Männer schwiegen ein paar Minuten lang, während Gradnik Atem schöpfte.

»Was haben Sie vor dem Krieg gemacht, Korporal?«, fragte der serbische Partisan in schauderhaftem Slowenisch.

»Ich war Bäcker.«

»Wer’s glaubt. Sie waren Priester.«

»Warum fragst du mich, wenn du es doch weißt?«

»Ich möchte beichten, Hochwürden.«

»Ich bin im Krieg. Und ich bin kein Priester.«

»Doch, das sind Sie.«

»Nein. Ich habe mich gegen die Hoffnung versündigt. Ich bin derjenige, der beichten sollte. Ich habe die Soutane …«

Plötzlich verstummte er: Hinter der einsamen Kehre erschien ein kleiner Panzer, gefolgt von zwei, vier, acht, zehn, ach du heilige Scheiße, zwanzig oder dreißig oder auch tausend Panzerwagen voller Soldaten. Und dahinter drei oder vier Kompanien zu Fuß. Unbeeindruckt von Hass und Angst zeterten die Pirole weiter.

»Wenn’s gleich losgeht, Hochwürden, nehmen Sie den rechten Oberleutnant und ich den linken. Lassen Sie Ihren nicht eine Sekunde lang aus den Augen.«

»Den Großen, Schlanken?«

Jetzt sind wir wirklich dem Tode nah, dachte Gradnik mit angstvollem Herzen.

Als der ganze Tross vorbeigefahren war, sah der junge SS-Obersturmbannführer Franz Grübbe an der Spitze seiner Abteilung zu dem linken Hügel hinüber, über dem Vögel kreisten, die er nie zuvor gesehen hatte. Er blickte auf, allerdings nicht weit genug, um den Feind zu entdecken, weil er in Gedanken schon ganz bei dem glorreichen Moment war, in dem ganz Europa dem Führer unterstehen und Deutschlands leuchtendem Vorbild folgen würde. Dabei wartete gerade auf dem linken Hügel eine Hundertschaft gut getarnter Partisanen auf das Zeichen des kroatischen Kommandanten – die erste Maschinengewehrsalve auf die Fahrzeuge. Und Drago Gradnik, geboren in Ljubljana am dreißigsten August achtzehnhunderfünfundneunzig, Schüler am Jesuitenkolleg seiner Heimatstadt, der beschlossen hatte, sein Leben Gott zu weihen, beseelt von seiner Frömmigkeit, an das bischöfliche Seminar in Wien übergewechselt hatte und dort dank seiner intellektuellen Fähigkeiten auserwählt worden war, an der Pontificia Università Gregoriana Theologie und am Pontificio Istituto Biblico Bibelexegese zu studieren, weil die Kirche große Hoffnungen in ihn setzte, betrachtete eine gute Minute lang durch das Visier seines Nagant diesen widerlichen jungen SS-Offizier an der Spitze des Trupps, den es aufzuhalten galt, wie er mit siegesgewissem Blick den Hügel hinaufsah.

Und dann ging der Zauber los. Einen Moment lang wirkten die Soldaten völlig überrascht von dem Widerstand, den sie so fern von Ljubljana nicht erwartet hatten. Kaltblütig verfolgte Gradnik durch das Zielfernrohr die Bewegungen seines Opfers und dachte, wenn du jetzt den Abzug drückst, Drago, bleibt dir der Zutritt zum Paradies für immer verwehrt. Du hast den Mann vor dir, den du schließlich wirst töten müssen. Der Schweiß lief ihm in die Augen, aber er ließ nicht zu, dass er ihm die Sicht nahm. Sein Entschluss war gefasst, und er durfte sein Opfer nicht aus dem Blick verlieren. Endlich hatten alle Soldaten ihre Waffen geladen, wussten aber nicht so recht, wohin sie zielen sollten. Dabei waren die Panzerwagen und ihre Insassen schon schwer getroffen.

»Jetzt, Hochwürden!«

Beide schossen gleichzeitig. Gradniks SS-Offizier stand direkt vor ihm, das Gewehr im Anschlag, und spähte immer noch suchend umher. Dann sank er plötzlich mit blutüberströmtem Gesicht gegen die Begrenzungsmauer hinter ihm und ließ das Gewehr fallen, reglos. Der junge SS-Offizier Franz Grübbe hatte keine Zeit mehr, an den Kampfesruhm, die neue Ordnung oder das glorreiche Morgen zu denken, das er den Überlebenden durch seinen Tod bescherte. Er konnte sich nicht mehr über die unbekannten Vögel wundern oder überlegen, woher die Schüsse kamen, weil ihm der halbe Schädel weggeschossen worden war. Und Gradnik erkannte, dass es ihm gleichgültig war, ob ihm das Paradies verwehrt blieb, weil er getan hatte, was er tun musste. Er lud sein Nagant nach und fegte mit dem Zielfernrohr über die feindlichen Linien hinweg. Ein SS-Leutnant schrie seinen Soldaten zu, sie sollten sich neu formieren. Gradnik zielte auf seinen Hals, damit er aufhörte zu schreien, und drückte ab. Dann lud er kaltblütig und ohne die Nerven zu verlieren erneut und erledigte ein paar weitere Unteroffiziere.

Noch vor Sonnenuntergang war die Kolonne der Waffen-SS verschwunden und hatte ihre Toten und die zerstörten Fahrzeuge zurückgelassen. Wie die Geier schwärmten die Partisanen hügelabwärts aus, um die Leichen zu plündern. Von Zeit zu Zeit ertönte ein kalter Knall aus der Pistole des Kommandanten ohne Uniform, der mit einem harten Zug um den Mund den Verwundeten den Gnadenschuss versetzte.

Die überlebenden Partisanen hatten strikte Anweisung, die Toten zu durchsuchen und Waffen, Munition, Stiefel und Lederjacken einzusammeln. Drago Gradnik ging, wie von einer geheimnisvollen Kraft angezogen, zu seinem ersten Toten hinüber. Es war ein junger Mann mit einem freundlichen Gesicht. Er lehnte noch immer an der Mauer und starrte Gradnik unter dem kaputten Helm aus blutigen Augen an. Er hatte keine Chance gehabt. Verzeih mir, mein Sohn, sagte Drago Gradnik. Er sah, wie Vlado Vladić mit zwei Kameraden die Erkennungsmarken einsammelte, um dem Feind die Identifizierung der Toten zu erschweren. Bei Gradniks Leiche angekommen, riss er auch ihr ohne zu zögern die Marke ab. Gradnik rief: »Warte! Gib sie mir!«

»Hochwürden, wir müssen …«

»Ich habe gesagt, du sollst sie mir geben!«

Vladić zuckte mit den Achseln und gab ihm die Marke.

»Ihr erster Toter, was?«

Dann fuhr er mit seiner Arbeit fort. Drago Gradnik betrachtete die Marke. Franz Grübbe. Sein erster Toter war ein junger SS-Offizier namens Franz Grübbe. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie er die Witwe oder die Eltern des Toten besuchte, um sie trösten und ihnen auf Knien zu gestehen, ich war’s, ich habe es getan. Dann steckte er die Marke in die Tasche.

Wir standen immer noch vor dem Grab. Ich zuckte die Schultern und beharrte, lass uns zurückgehen, es ist verdammt kalt. Und Bernat antwortete, wie du willst, du bestimmst, das hast du mein Leben lang getan.

»Du kannst mich mal.«

Als wir, starr vor Kälte, über den Friedhofszaun zurück in die Welt sprangen, zerriss ich mir die Hose, und wir ließen die Toten mit ihren ewigen Geschichten einsam und kalt in der Dunkelheit zurück.

Ich las Bernats Text nicht; völlig erschöpft von der Reise, schlief mein Freund ein, kaum dass er den Kopf aufs Kissen gelegt hatte, und ich dachte, während ich auf den Schlaf wartete, lieber über den Untergang des Römischen Reiches und den damit einhergehenden Zusammenprall der Kulturen nach und überlegte mir, ob so etwas im heutigen Europa auch noch möglich wäre. Aber plötzlich drängten sich Kornelia und Sara in meine angenehmen Gedanken, und ich wurde sehr traurig. Und ich traute mich nicht einmal, meinem besten Freund davon zu erzählen.

Schließlich fiel die Wahl auf Bebenhausen, weil Adrià seinen historischen Tag hatte und …

»Nein: Dein ganzes Leben ist historisch. Für dich ist alles Geschichte.«

»Die historischen Ereignisse sind nun mal die Erklärung für das heutige Geschehen. Und heute habe ich meinen historischen Tag, und wir fahren nach Bebenhausen, weil ich ja, wie du selbst gesagt hast, immer bestimme.«

Es war bitterkalt. Die armen Bäume an der Wilhelmstraße vor der Universität ertrugen, nackt und kahl, in Erwartung besserer Zeiten geduldig den Winter.

»Ich könnte hier nicht leben. Mir würden die Hände abfrieren, und dann könnte ich die Griffe …«

»Na, wenn du das Geigespielen sowieso sausen lässt, kannst du auch gleich hier bleiben.«

»Habe ich dir schon von Tecla erzählt?«

»Ja.« Adrià setzte sich in Trab. »Beeil dich, da ist unser Bus!«

Im Bus war es genauso kalt wie draußen, aber die Leute knöpften sich trotzdem den Mantelkragen auf. Bernat begann, sie hat zwei Grübchen, die sehen aus wie …

»Wie Bauchnabel, das hast du schon gesagt.«

»Hör mal, wenn es dir nicht recht ist, müssen wir nicht …«

»Hast du kein Foto von ihr dabei?«

»Nein, daran habe ich gar nicht gedacht.«

Bernat hatte kein Foto von Tecla dabei, weil er noch keines von ihr gemacht hatte. Er hatte nicht einmal einen Fotoapparat, und auch Tecla hatte keinen, aber das ist egal, ich kann sie dir immer wieder beschreiben, ohne dass es mir zu viel wird.

»Aber mir wird es zu viel.«

»Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch mit dir rede, wenn du immer so garstig bist.«

Adrià öffnete Bernats kostbare Mappe, nahm den Blätterstapel heraus und zeigte ihn ihm.

»Weil ich deine geistigen Ergüsse lese.«

»Hast du es etwa schon gelesen?«

»Noch nicht.«

Adrià las die Titelseite, blätterte aber nicht weiter. Bernat musterte ihn verstohlen. Der Bus fuhr durch ein enges Tal, aber keiner von ihnen hatte einen Blick übrig für die weiß bepuderten Tannen beiderseits der Landstraße. Zwei endlos scheinende Minuten geschah nichts, und Bernat dachte, wenn er sich schon so lange mit dem Titel beschäftigt, heißt das … Vielleicht findet er ihn bedeutungsvoll, vielleicht versetzt er ihn mitten in die Geschichte, wie mich, als ich die erste Seite geschrieben habe. Aber Adrià starrte die fünf Wörter des Titels an und dachte, ich weiß nicht, warum ich nicht zu ihr hingehen und sagen kann, vergiss es, Kornelia, es ist aus und vorbei, du hast dich benommen wie die letzte Schlampe, und von nun an werde ich mich auf meine Sehnsucht nach Sara konzentrieren. Aber er wusste genau, dass das nicht stimmte, denn sobald er vor Kornelia stünde, würde er dahinschmelzen, der Mund würde ihm offen stehen, und er würde tun, was sie verlangte, selbst wenn sie ihm sagte, er solle verschwinden, weil eine neue Erfahrung auf sie wartete, mein Gott, warum bin ich bloß so ein Schwächling.

»Und, gefällt er dir? Er ist gut, was?«

Adrià fuhr auf, aus seinen Gedanken gerissen: »He, wir sind ja schon da!«

Sie stiegen an der Landstraße aus. Vor ihnen lag, kalt und still, Bebenhausen. Eine weißhaarige Frau, die mit ihnen zusammen ausgestiegen war, lächelte sie an. In einer spontanen Eingebung bat Adrià sie, ein Foto von ihnen zu machen, mit meiner Kamera hier, sehen Sie? Die Frau stellte ihren Einkaufskorb ab, nahm den Fotoapparat und sagte, ja, natürlich, wo muss man drücken?

»Hier. Sehr freundlich, vielen Dank.«

Die beiden Freunde postierten sich so, dass im Hintergrund der unter einer unwirtlichen dünnen Eisdecke liegende Ort zu sehen war. Die Frau drückte auf den Auslöser und sagte, das war’s. Adrià nahm die Kamera und hob den Korb vom Boden auf. Er winkte der Frau zu, sie könne vorausgehen, er werde ihr den Korb tragen. Alle drei gingen bergan auf die Häuser zu.

»Vorsicht«, sagte sie Frau, »der vereiste Asphalt ist tückisch.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Bernat neugierig, rutschte im selben Augenblick aus und landete unsanft auf dem Hosenboden.

»Das hat sie gesagt«, sagte Adrià lachend.

Beschämt stand Bernat auf, fluchte leise vor sich hin und versuchte, gute Miene zu machen. Am Ende des Hügels angekommen, gab Adrià der Frau den Korb zurück.

»Touristen?«

»Studenten.«

Er gab ihr die Hand und sagte, Adrià Ardèvol, sehr erfreut.

»Herta«, sagte die Frau. Sie nahm den Korb und ging entschlossenen Schrittes davon.

Es war noch kälter als in Tübingen, geradezu unanständig kalt in dem stillen, dunklen Kreuzgang, in dem sie warteten, dass es zehn Uhr schlug und die Führung begann. Die übrigen Besucher hatten sich in den windgeschützteren Vorraum zurückgezogen. Unter ihren Füßen knirschte die unberührte Eisschicht des Nachtfrosts.

»Wie schön es hier ist«, sagte Bernat bewundernd.

»Mir gefällt es hier sehr. Ich war schon sechs oder sieben Mal hier, im Frühling, im Sommer, im Herbst … Es ist ein Ort der Ruhe.«

Bernat seufzte zufrieden und sagte, wie kannst du bloß angesichts der Schönheit und des Friedens dieses Kreuzgangs nicht gläubig sein.

»Diejenigen, die hier gelebt haben, haben zu einem rachsüchtigen, zürnenden Gott gebetet.«

»Du könntest ruhig etwas respektvoller sein.«

»Ich sage das im Ernst, Bernat, und voller Trauer.«

Wenn sie schwiegen, hörten sie nur das Eis unter ihren Schritten knirschen. Die Vögel hatten sich vor der Kälte verkrochen. Bernat holte tief Luft und stieß eine weiße Wolke aus wie eine Lokomotive. Und Adrià fuhr fort: »Der Gott der Christen ist ein zürnender, rachsüchtiger Gott. Wer ein Unrecht begeht und nicht bereut, wird mit ewigem Höllenfeuer gestraft. Das erscheint mir eine so unangemessene Reaktion, dass ich mit diesem Gott nichts zu tun haben will.«

»Aber …«

»Aber was.«

»Er ist der Gott der Liebe.«

»Wer’s glaubt, wird selig: Du schmorst auf ewig in der Hölle, weil du die Messe geschwänzt oder deinen Nächsten bestohlen hast. Wo soll denn da die Liebe sein?«

»Das ist eine sehr einseitige Sicht.«

»Mag sein: Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet.« Adrià blieb stehen: »Es gibt andere Dinge, die mir mehr zu schaffen machen.«

»Wie zum Beispiel?«

»Das Böse.«

»Was?«

»Das Böse. Warum lässt dein Gott es zu? Er verhindert das Böse nicht, er beschränkt sich darauf, den Übeltäter auf ewig in der Hölle schmoren zu lassen. Warum verhindert er das Böse nicht? Hast du darauf eine Antwort?«

»Nein … Nun ja … Gott achtet den freien Willen des Menschen.«

»Das wollen dich die Priester glauben machen, weil sie raffiniert sind; in Wirklichkeit haben sie nämlich auch keine Erklärung dafür, warum Gott dem Bösen untätig zusieht.«

»Der Übeltäter wird bestraft.«

»Ja. Sehr spaßig: Nachdem er alle seine Übeltaten begangen hat.«

»Ich weiß es nicht, Adrià, verdammt, mit dir kann man nicht reden. Mir fehlen die Argumente, du weißt schon… Ich bin eben einfach gläubig.«

»Verzeih, ich will dich nicht … Aber du hast mit dem Thema angefangen.«

Eine Tür ging auf, hinter dem Fremdenführer trat ein Grüppchen Neugieriger ein, und die Besichtigung auf Französisch begann.

»Das Kloster von Bebenhausen, das wir nun besichtigen werden, wurde elfhundertachtzig von Rudolf I. von Tübingen gegründet und achtzehnhundertsechs säkularisiert.«

»Was bedeutet säkularisiert?« (Eine Frau mit granatrotem Mantel und dickrandiger Brille.)

»Das heißt, dass es nicht länger als Kloster diente.«

Schmeichelnd fuhr der Fremdenführer fort, er freue sich über ein kulturell interessiertes Publikum, das die Architektur des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts offenbar einem Glas Schnaps oder Bier vorziehe. Dann erzählte er, dass das Kloster im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts als Versammlungsort für verschiedene politische Gruppierungen gedient hatte, bis kürzlich beschlossen worden war, es vollständig wiederherzurichten, um den Besuchern ein realistisches Bild von dem Leben zu vermitteln, das einst in diesem Zisterzienserkloster geherrscht hatte. Noch in diesem Sommer beginnen die Restaurierungsarbeiten. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen, wir kommen nun zur ehemaligen Klosterkirche. Vorsicht auf den Stufen. Gut festhalten, Werteste, denn wenn Sie sich das Bein brechen, verpassen Sie meine hochinteressanten Erläuterungen. Fast alle Zuhörer schmunzelten.

Die verfrorenen Besucher betraten, sorgfältig auf die Stufen achtend, die Kirche. Erst drinnen bemerkte Bernat, dass Adrià fehlte. Während der Führer erklärte, in diesem Kirchenraum finden sich noch zahlreiche Elemente der Spätgotik wie etwa das Bogengewölbe über unseren Köpfen, schlich Bernat zurück in den Kreuzgang, wo er Adrià auf einem weiß beschneiten Stein sitzen und lesen sah … ja, er las tatsächlich seine Seiten! Ängstlich beobachtete er ihn. Schade, dass er keinen Fotoapparat hatte: Er hätte zu gern den Augenblick festgehalten, in dem Adrià, sein geistiger und intellektueller Mentor, der Mensch, dem er im Leben am meisten und am wenigsten vertraute, in die Literatur vertieft war, die er selbst aus dem Nichts erschaffen hatte. Einen Moment lang fühlte er sich so bedeutend, dass er die Kälte vergaß. Er ging in die Kirche zurück. Die Gruppe stand mittlerweile unter einem Fenster, das bei irgendeinem Anlass beschädigt worden war, und gerade fragte einer der Frierenden, wie viele Mönche zur Glanzzeit des Klosters hier gelebt hatten.

»Im fünfzehnten Jahrhundert waren es an die hundert«, antwortete der Führer.

Wie die Seiten meiner Erzählung, dachte Bernat. Und er stellte sich vor, dass sein Freund jetzt wahrscheinlich auf Seite sechzehn angelangt war, wo Elisa sagt, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als von zu Hause wegzugehen.

»Aber wo willst du denn hin, dummes Kind?«, fragte Amadeu entsetzt.

»Nenn mich nicht dummes Kind«, ereiferte sich Elisa und warf mit einem Ruck ihr langes Haar zurück.

Wenn Elisa wütend war, bildeten sich in ihren Wangen Grübchen, die an kleine Bauchnabel erinnerten, und dieser Anblick brachte Amadeu stets um Rede und Verstand.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, Sie dürfen hier nicht allein bleiben. Sie müssen sich der Gruppe anschließen.«

»Kein Problem«, sagte Bernat, hob zum Zeichen seiner Unschuld die Arme und überließ seine Figuren Adriàs aufmerksamer Lektüre. Er folgte als Letzter der Gruppe, die gerade die Treppe hinabging, Vorsicht, bei dieser Witterung sind die Stufen spiegelglatt. Adrià saß noch immer im Kreuzgang und las, ungeachtet der Kälte, und für einen Augenblick war Bernat der glücklichste Mensch auf Erden.

Er beschloss, noch einmal Eintritt zu zahlen und die Führung mit einer neuen Gruppe zu wiederholen. Im Kreuzgang saß reglos Adrià und las, er hob nicht einmal den Kopf. Und wenn er erfroren ist?, fragte sich Bernat erschrocken und merkte nicht, dass er dabei am meisten bedauern würde, dass ein erfrorener Adrià seine Erzählung nicht zu Ende lesen konnte. Er beobachtete ihn, während er hörte, wie der Führer, diesmal auf Deutsch, erklärte, das Kloster von Bebenhausen, das wir nun besichtigen werden, wurde elfhundertachtzig von Rudolf I. von Tübingen gegründet und achtzehnhundertsechs säkularisiert.

»Was bedeutet säkularisiert?« (Ein großer, dünner junger Mann in einem leuchtend blauen Anorak.)

Als der Führer bei dem Satz angekommen war, in diesem Kirchenraum finden sich noch zahlreiche Elemente der Spätgotik wie etwa das Bogengewölbe über unseren Köpfen, war Bernat schon an der Tür; er schlich sich in den Kreuzgang zurück und verbarg sich dort hinter einer Säule. Nein: Adrià war noch nicht erfroren, denn er blätterte gerade um, schüttelte sich kurz und las dann konzentriert weiter. Er musste sich beim Lesen Mühe geben, dass weder Sara noch Kornelia zu Elisa wurden. Seite vierzig oder fünfundvierzig, schätzte Bernat, die Stelle, an der Elisa mit wehender Mähne den Hang von Cantó hinaufradelt; aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ihr Haar ja wohl kaum wehen, wenn sie mühsam in die Pedale tritt. Da muss ich noch mal ran. Wenn sie bergab fahren würde, dann ginge es. Na gut, dann radelt sie eben mit wehender Mähne den Hang von Cantó hinunter. Es muss ihm ja wirklich gut gefallen, dass er nicht mal die Kälte spürt. Bernat schlich zu den Besuchern zurück, die in diesem Augenblick einträchtig die Köpfe hoben, um die Kassettendecke zu bewundern, ein Meisterwerk der Intarsienkunst, und eine Frau mit strohblondem Haar sagte, wunderbar, und sah Bernat an, als erwartete sie ein ästhetisches Urteil von ihm. In seiner Euphorie nickte Bernat drei, vier Mal, wagte aber nicht, wunderbar zu sagen, weil man ihm dann sofort angemerkt hätte, dass er kein Deutscher war, was ihm peinlich gewesen wäre. Die Frau mit dem strohblonden Haar gab sich mit Bernats wortloser Zustimmung zufrieden und sagte noch einmal, wunderbar, aber dieses Mal leiser, nur zu sich selbst.

Bei der vierten Führung trat der Fremdenführer, der Bernat schon seit geraumer Weile misstrauisch beobachtet hatte, im Kreuzgang nahe an ihn heran und sah ihm tief in die Augen, als könnte er in ihnen lesen, ob dieser stumme, einsame Tourist sich über ihn lustig machte oder vielmehr dem Zauber von Bebenhausen oder vielleicht sogar dem seiner Erläuterungen verfallen war. Bernat starrte hochinteressiert in das Faltblatt, das er vor lauter Nervosität schon ganz zerknüllt hatte, und der Führer schüttelte den Kopf, schnalzte mit der Zunge und sagte, das Kloster von Bebenhausen, das wir nun besichtigen werden, wurde elfhundertachtzig von Rudolf I. von Tübingen gegründet und achtzehnhundertsechs säkularisiert.

»Wunderbar. Was bedeutet säkularisiert?« (Eine hübsche junge Frau, eingemummt wie ein Eskimo und mit einer rot gefrorenen Nase).

Als die Besucher nach gebührender Bewunderung der Kassettendecken das Kloster verließen, vermutete der zwischen ihnen verborgene Bernat, dass Adrià jetzt schon etwa auf Seite achtzig sein musste, bei jener bewegenden Szene, in der Elisa das Wasser aus dem Teich lässt, sodass die zwölf Goldfische sterben, um so die beiden Jungen nicht körperlich, sondern seelisch zu strafen – die Überleitung zum überraschenden Ende, auf das er, bei aller Bescheidenheit, besonders stolz war.

Es war die letzte Besuchergruppe gewesen. Bernat blieb im Kreuzgang und beobachtete, nun ganz unverhohlen, Adrià, der gerade Seite einhundertdrei umblätterte, das Ganze dann zusammenfaltete und eine Zeitlang gedankenverloren auf die Buchsbaumhecken starrte. Dann stand er plötzlich auf, und mit einem Mal entdeckte ich Bernat, der mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck ansah und sagte, ich dachte schon, du wärst erfroren. Schweigend gingen wir hinaus, und Bernat fragte mich schüchtern, ob ich eine Führung hätte machen wollen, und ich antwortete, nicht nötig, ich kenne sie schon auswendig.

»Ich auch«, sagte er.

Draußen sagte ich ihm, ich bräuchte jetzt dringend einen heißen Tee.

»In Ordnung. Und, was sagst du?«

Adrià sah seinen Freund ratlos an. Der nickte mit dem Kinn zu dem Papierstapel in Adriàs behandschuhter Hand hin. Acht, zehn oder vielleicht auch tausend Sekunden verstrichen in beklommenem Schweigen, dann sagte Adrià, ohne Bernat in die Augen zu sehen, der Text ist furchtbar. Grauenhaft. Er hat keine Seele; ich fand kein einziges Gefühl glaubhaft geschildert. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber es hat mir überhaupt nicht gefallen. Ich weiß nicht, wer Amadeu ist; aber was noch schlimmer ist: Es ist mir auch völlig egal. Von Elisa ganz zu schweigen.

»Das meinst du nicht ernst.« Bernat war so bleich, wie Mutter es gewesen war, als sie sagte, dein Vater ist jetzt im Himmel.

»Doch. Ich verstehe nicht, warum du dich darauf versteifst zu schreiben, wenn du doch mit der Musik …«

»Du bist ein Arschloch.«

»Du hättest ihn mir ja nicht zu lesen geben brauchen.«

Am nächsten Morgen saßen sie im Bus zum Stuttgarter Bahnhof, weil der Zug von Tübingen nach Stuttgart aus irgendwelchen Gründen ausgefallen war.

Beide starrten hinaus in die Landschaft, Bernat hartnäckig in feindseliges Schweigen gehüllt und mit einer seit dem lehrreichen Besuch in Bebenhausen sorgfältig gewahrten eisigen Miene.

»Du hast mal zu mir gesagt, seinen engsten Freund lügt man nicht an. Denk dran, Bernat, und hör auf, die beleidigte Leberwurst zu spielen, verdammt noch mal.«

Er sagte das laut, weil es einem ein wunderbares Gefühl von Freiheit und Abgeschiedenheit verleiht, in einem deutschen Bus Katalanisch zu sprechen.

»Entschuldigung, sprichst du mit mir?«

»Ja. Und du hast damals noch gesagt, dieser Drecksack von bestem Freund ist nicht imstande, mir die Wahrheit zu sagen, sondern benimmt sich lieber wie alle anderen auch, ach, das ist toll, Bernat, so wortgewaltig … Mir fehlt es an Schwung. Und du solltest mich nicht belügen. Lüg mich nie wieder an, Adrià, oder wir sind die längste Zeit Freunde gewesen. Erinnerst du dich an diese Worte? Das hast du gesagt. Und noch mehr: Du hast gesagt, ich weiß, dass du mir als Einziger die Wahrheit sagst.« Mit einem Seitenblick: »Und das werde ich immer tun, Bernat.« Dann blickte er nach vorn und fügte hinzu: »Wenn ich die Kraft dazu habe.«

Sie schwiegen, während der Bus einige neblig-feuchte Kilometer zurücklegte.

»Ich spiele, weil ich nicht schreiben kann«, sagte Bernat und starrte dabei aus dem Fenster.

»So gefällst du mir!«, rief Adrià aus, und die Frau, die ihm gegenüber saß, dachte, laute Südländer, das sind bestimmt Türken. Die beiden schwiegen lange, doch allmählich hellte sich Bernats Miene auf, und er wandte sich seinem Freund zu: »So gefalle ich dir? Was willst du denn damit sagen?«

»Wahre Kunst entsteht aus Enttäuschung. Wer glücklich ist, ist nicht kreativ.«

»Also, wenn das so ist, bin ich ein Wahnsinnskünstler.«

»He, vergiss nicht: Du bist verliebt.«

»Das stimmt. Aber mein Herz ist auch das Einzige, was funktioniert«, erklärte Bernat »Alles andere ist Mist.«

»Ich tausche auf der Stelle mit dir«, entgegnete Adrià aus tiefster Seele.

»Einverstanden. Schade, dass das nicht geht. Wir sind dazu verdammt, einander zu beneiden.«

»Was wohl die Frau uns gegenüber denkt?«

Bernat sah die Frau an, und diese starrte hartnäckig auf die Landschaft hinaus, die jetzt schon städtischer wurde, aber unverändert grau und verregnet war. Er war froh, endlich die eisige Miene ablegen zu können, die beizubehalten ziemlich anstrengend war, so beleidigt man auch sein mochte. Nachdenklich sagte er: »Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, sie heißt Ursula.«

Ursula warf ihm einen kurzen Blick zu, öffnete ihre Tasche und schloss sie wieder, sicher aus Verlegenheit, dachte Bernat.

»Und sie hat einen Sohn in unserem Alter«, spann Adrià den Faden weiter.

»Vielleicht heißt sie ja auch Barbara.«

»Ja. Oder Ulrike.«

»Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich dich nicht besucht.«

»Wenn du was gewusst hättest?«

»Dass dir meine Erzählung nicht gefällt.«

»Schreib sie noch mal. Aber aus Amadeus Sicht.«

»Die Hauptfigur ist aber Elisa.«

»Sicher?«

Die beiden schwiegen. Nach einer Weile sagte Adrià: »Sieh es dir einfach noch mal an: Du erzählst das Ganze aus Amadeus Sicht und …«

»Schon gut, schon gut, ich schreibe sie neu. Einverstanden?«

Auf dem Bahnsteig umarmten sich Bernat und Adrià, und Frau Ursula dachte, das ist ja wohl die Höhe, diese Türken, und das am helllichten Tag, und dann ging sie zum Abschnitt B, der ein ganzes Stück weiter vorne lag.

Bernat, der mich immer noch umarmt hielt, sagte, danke, Arschloch, und das meine ich ehrlich.

»Das Arschloch oder das Danke?«

»Dass du mir das über die Unzufriedenheit gesagt hast.«

»Du bist mir jederzeit willkommen, Bernat.«

Dann mussten sie rennen, weil sie nicht beachtet hatten, dass sie in Abschnitt C hätten warten müssen. Frau Ursula, die schon im richtigen Abschnitt stand, sah sie vorbeirennen und dachte, mein Gott, es ist eine Schande.

Außer Atem stieg Bernat in den Waggon. Nach gut einer Minute sah ich ihn immer noch da stehen; er redete mit irgendjemandem, gestikulierte, rückte den Rucksack zurecht und zeigte seine Fahrkarte. Sollte ich einsteigen und ihm helfen oder ihn in Ruhe lassen? Ach was, er würde schon zurechtkommen. Nun beugte er sich vor, um durch das Fenster sehen zu können, und lächelte Adrià zu. Dann ließ er sich erschöpft in den Sitz plumpsen und sah wieder zu ihm hin. Wenn man am Bahnhof seinen besten Freund verabschiedet, sollte man gehen, sobald er eingestiegen ist, aber das hatte Adrià schon versäumt. Er lächelte zurück. Beide mussten den Blick abwenden. Sie sahen gleichzeitig auf die Uhr. Noch drei Minuten. Ich riss mich zusammen, winkte ihm zum Abschied, er rührte sich kaum, und ich ging fort, ohne mich noch einmal umzusehen. Noch am Bahnhof kaufte ich mir die Frankfurter Allgemeine Zeitung und überflog sie, während ich auf den Bus wartete, weil ich nicht über Bernats bittersüßen Blitzbesuch nachdenken wollte. Auf Seite zwölf stand über einer nur eine Kolumne breiten Kurznachricht: Psychiater in Bamberg ermordet. Bamberg? Bayern. Was zum Teufel trieb jemanden dazu, einen Psychiater zu ermorden?

»Herr Aribert Voigt?«

»Das bin ich.«

»Es tut mir leid, ich habe keinen Termin vereinbart.«

»Das macht nichts. Kommen Sie herein.«

Mit einer höflichen Geste ließ Doktor Voigt den Tod ein. Der Besucher nahm auf dem schlichten Stuhl im Wartezimmer Platz, und der Arzt sagte, ich bin gleich für Sie da, und verschwand im Behandlungsraum. Vom Wartezimmer aus konnte man hören, wie Papiere zusammengeschoben und Aktenschränke geöffnet und wieder geschlossen wurden. Schließlich steckte der Arzt den Kopf durch die Tür und bat den Tod in den Behandlungsraum. Der Besucher machte es sich auf dem Stuhl bequem, den der Arzt ihm wies, und dieser setzte sich auf seinen Stuhl und fragte: »Was führt Sie her?«

»Ich bin gekommen, um Sie zu töten.«

Noch bevor Doktor Voigt sich rühren konnte, war der Besucher aufgestanden und hielt ihm eine Star an die Schläfe. Der Druck der Mündung war so stark, dass der Arzt den Kopf senken musste.

»Da ist nichts zu machen, Doktor. Sie wissen ja, der Tod kommt, wenn er kommt. Ohne Terminvereinbarung.«

»Sie sind wohl ein Dichter?«, fragte der Arzt, ohne den Kopf zu heben, während ihm der Schweiß ausbrach.

»Signor Falegnami, Herr Zimmermann, Doktor Voigt … Ich töte Sie im Namen der Opfer Ihrer unmenschlichen Versuche in Auschwitz.«

»Und wenn ich Ihnen sage, dass ich der Falsche bin?«

»Dann lache ich Ihnen ins Gesicht. Sagen Sie es lieber nicht.«

»Ich zahle Ihnen das Doppelte.«

»Ich töte Sie nicht des Geldes wegen.«

Stille. Dem Doktor rannen die Schweißtropfen inzwischen schon von der Nasenspitze. Der Tod schien etwas klarstellen zu wollen: »Ich töte für Geld. Aber nicht Sie. Voigt, Budden, Höß. Bei Höß sind wir zu spät gekommen. Sie und Budden werden von Ihren eigenen Opfern getötet.«

»Ich bitte um Vergebung.«

»Jetzt lache ich wirklich gleich.«

»Ich kann Ihnen verraten, wo Budden steckt.«

»Sieh an, ein Verräter. Schießen Sie los.«

»Wenn Sie mir dafür das Leben schenken.«

»Ihnen wird nichts geschenkt.«

Doktor Voigt unterdrückte ein Schluchzen, rang vergebens um Fassung, schloss die Augen und brach dann, in wütender Ohnmacht, doch in Tränen aus.

»Na los! Machen Sie schon Schluss!«, schrie er.

»Haben Sie es eilig? Ich nicht.«

»Was wollen Sie?«

»Wir machen jetzt ein Experiment mit Ihnen. Wie eines von denen, das Sie an Ihren Versuchskaninchen durchgeführt haben. Oder an Ihren Kindern.«

»Nein.«

»Doch.«

»Wer ist da?« Er wollte den Kopf heben, aber die Pistole hinderte ihn daran.

»Keine Sorge, das sind nur Freunde.« Der Besucher schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Los, her mit der Information über Budden.«

»Ich habe keine.«

»Ach! Wollen Sie ihn etwa retten?«

»Budden ist mir scheißegal. Ich bereue, was ich getan habe.«

»Heben Sie den Kopf«, sagte der Tod, packte ihn beim Kinn und riss seinen Kopf hoch. »Woran erinnern Sie sich?«

Vor ihm standen dunkle, schweigende Schemen, die eine klapprige Stellwand hielten. Daran hingen Fotos: die Männer mit den ausgestochenen Augen, ein weinender Junge mit Knien, die aufgeschnitten waren wie Granatäpfel, die Frau, bei der sie einen Kaiserschnitt ohne Betäubung durchgeführt hatten. Und zwei andere, an die er sich nicht erinnerte.

Wieder brach Doktor Voigt in Tränen aus, schrie Zeter und Mordio. Erst als der Schuss dröhnte, verstummte er.

»Psychiater in Bamberg ermordet. Doktor Aribert Voigt wurde in seiner Praxis im bayerischen Bamberg durch einen Kopfschuss getötet.« Das war neunzehnhundertzweiundsiebzig oder -dreiundsiebzig, ich weiß es nicht mehr genau, und ich war noch nicht lange in Tübingen. Aber ich erinnere mich, dass ich in diesen langen eisigen Monaten wegen Kornelia litt. Von Voigt konnte ich nichts wissen, weil ich das Manuskript auf Aramäisch noch nicht gelesen hatte, nicht alles wusste, was ich jetzt weiß, und dir auch keinen Brief schreiben wollte. Zwei Wochen später hatte ich Examen. Und jeden Tag musste ich eine neue Erfahrung von Kornelia miterleben. Vielleicht habe ich die Zeitungsnotiz auch gar nicht gelesen, Sara. Aber in dieser Zeit wurde in Bamberg ein Psychiater umgebracht, und ich ahnte nicht, dass dieser Mann enger mit meinem Leben verknüpft war als Kornelia und ihre Geheimnisse. Wie seltsam ist doch das Leben, Sara.

Das Schweigen des Sammlers
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