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Rsrsrsrsrsrsrsrs.
Adrià saß auf dem Klo und las Le forme de contenuto. Er hörte die Klingel laut und deutlich und dachte, ach je, der Botenjunge von Can Múrria kommt aber auch immer im unpassendsten Moment. Es dauerte eine ganze Weile, bis es wieder klingelte, und er sagte sich, ich hätte die Klingel gegen etwas Moderneres austauschen sollen. Vielleicht wäre ein Dingdong fröhlicher.
Rsrsrsrsrsrsrsrsrsrs.
»Ja, verdammt, ich komme ja schon!«, murrte er.
Mit dem Eco unter dem Arm öffnete er die Tür, und da standest du, Liebste, auf dem Treppenabsatz vor mir, mit ernster Miene und einer ziemlich kleinen Reisetasche; du sahst mich aus deinen dunklen Augen an, und eine ganze Minute lang waren wir beide wie gelähmt, sie auf dem Treppenabsatz, er in der Wohnung, haltsuchend an die Tür gelehnt in dem Versuch, die Überraschung zu verdauen. Und nach dieser endlosen Minute fiel ihm nichts Besseres ein als zu fragen, was willst du, Sara. Unfassbar: Das war das Einzige, was mir einfiel.
»Darf ich reinkommen?«
Du darfst in mein Leben eintreten, du darfst tun, was du willst, Sara, Liebste.
Aber sie trat erst mal nur in die Wohnung und stellte ihre Tasche ab. Und wieder standen wir uns eine Minute lang gegenüber, diesmal in der Diele. Dann sagte Sara, ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen. Und da sah ich, dass sie eine gelbe Rose in der Hand trug.
Schon Goethe hat gesagt, dass es nicht gutgehen kann, wenn man im Alter versucht, sich seine Jugendträume zu erfüllen. Wer das Glück nicht im richtigen Augenblick erkannt oder genutzt hat, für den ist es bei aller Mühe zu spät. In der Liebe, die man im Alter wiederfindet, lebt höchstens eine zärtliche Erinnerung an glückliche Zeiten fort. Eduard und Ottilie gingen ins Wohnzimmer, um Kaffee zu trinken. Sie legte die Rose mit eleganter Nachlässigkeit auf dem Tisch ab.
»Der Kaffee ist gut.«
»Ja. Er ist von Múrria.«
»Den gibt es noch, den Feinkostladen?«
»Klar.«
»Was denkst du?«
»Ich will nicht …« Im Grunde wusste ich nicht, was ich sagen sollte, Sara. Deshalb kam ich gleich auf den Punkt: »Wirst du bleiben?«
»Unter einer Bedingung. Und verzeih mir.« Ottilie sah zu Boden.
»Welche?«, fragte Eduard zögernd.
»Dass du das zurückgibst, was dein Vater gestohlen hat. Verzeih.«
»Was er gestohlen hat?«
»Ja. Dein Vater hat die Notlage vieler Leute ausgenutzt, um sie zu erpressen. Vor dem Krieg, während des Kriegs und nach dem Krieg.«
»Aber ich …«
»Was glaubst du denn, worauf sein Geschäft beruhte?«
»Ich habe den Laden verkauft«, sagte er.
»Wirklich?«, fragte Sara überrascht. Das klang fast ein wenig enttäuscht.
»Ich will kein Krämer sein, und ich habe die Methoden meines Vaters niemals gutgeheißen.«
Stille. Sara trank einen Schluck Kaffee und sah ihm in die Augen. Ihr Blick war so forschend, dass Adrià sich zu einer Erklärung genötigt sah: »Hör zu: Ich habe einen Antiquitäten- und Trödelladen verkauft. Ich weiß nicht, welche Objekte daraus mein Vater mit unlauteren Methoden erstanden hat. Sicher nur die wenigsten. Und ich habe mit der ganzen Geschichte abgeschlossen«, log ich.
Sara saß zehn Minuten lang schweigend da, nachdenklich vor sich hinstarrend, ohne Adrià zu beachten; und ich hatte Angst, dass sie mir unerfüllbare Forderungen stellen würde, um so einen Vorwand zu haben, wieder zu verschwinden. Die gelbe Rose lag auf dem Tisch und lauschte unserem Gespräch. Ich sah Sara in die Augen, und sie wich meinem Blick nicht etwa aus, sondern war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie mich gar nicht wahrnahm. Es war ein Zug, den ich nicht an dir kannte, Sara, und den ich seither nur in ganz besonderen Augenblicken bei dir gesehen habe.
»Gut«, sagte sie nach einer Ewigkeit. »Wir können es versuchen.« Und sie trank noch einen Schluck Kaffee. Ich war so nervös, dass ich gleich drei Tassen hintereinander leerte, was eine schlaflose Nacht verhieß. Jetzt sah sie mir in die Augen, dass es wehtat, und sagte, mir scheint, du hast Schiss.
»Ja.«
Und Adrià nahm sie bei der Hand und führte sie ins Arbeitszimmer zu der Kommode mit den Manuskripten.
»Die ist neu«, sagtest du.
»Du hast aber ein gutes Gedächtnis.«
Adrià zog die ersten beiden Schubladen auf, und ich nahm meine Manuskripte heraus, meine Schätze, die meine Finger zittern ließen: meine Descartes, meine Goncourts … und sagte: Das alles gehört mir, Sara, ich habe es von meinem Geld gekauft, weil ich es gerne sammle oder besitze oder erwerbe – was weiß ich. Es ist meins, weil ich es gekauft habe und nicht irgendjemandem weggenommen.
Das sagte ich dir und wusste doch, dass es wahrscheinlich gelogen war. Eine schwere, dunkle Stille senkte sich über uns. Ich wagte nicht, sie anzusehen. Aber als sich die Stille in die Länge zog, warf ich ihr einen raschen Blick zu. Sie weinte leise.
»Was hast du?«
»Verzeih mir. Ich bin nicht gekommen, um über dich zu richten.«
»In Ordnung … Aber ich will, dass alles klar ist zwischen uns.«
Sie schnäuzte sich sacht, und ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, na ja, wer weiß, woher Morral sie bekommt und mit welchen Methoden.
Ich zog die untere Schublade auf, in der die Recherche, der Zweig und die Gründungsurkunde von Sant Pere de Burgal lagen. Gerade als ich ihr sagen wollte, dass diese Manuskripte meinem Vater gehört hatten und sehr wahrscheinlich auf Erpress…, schob sie die Schublade zu und sagte noch einmal, verzeih mir, ich habe kein Recht, über dich zu richten. Und ich schwieg wie ein Schuft.
Ein wenig verwirrt nahmst du an meinem Arbeitstisch Platz, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, ich glaube, es war Masse und Macht von Canetti.
»Und die Storioni ist rechtmäßig erworben«, log ich wieder und zeigte auf den Schrank mit den Instrumenten.
Mit Tränen in den Augen sah sie mich an – sie wollte mir glauben.
»In Ordnung«, sagtest du.
»Und ich bin nicht mein Vater.«
Du lächeltest schwach und sagtest, verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir, dass ich einfach so in deine Wohnung gekommen bin.
»Es ist unsere Wohnung, wenn du willst.«
»Ich weiß nicht, ob du eine … Ob du … irgendeine Beziehung hast, die …« Sie holte Luft: »Ob es eine andere Frau gibt. Ich möchte nichts kaputt machen, was …«
»Ich bin zu dir nach Paris gekommen. Hast du das schon vergessen?«
»Ja, aber …«
»Es gibt keine andere Frau«, log ich zum dritten Mal, wie Petrus.
Und auf dieser Grundlage nahmen wir unsere Beziehung wieder auf. Ich weiß, dass es unklug von mir war, aber ich wollte dich um jeden Preis halten. Nun erst sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf das Stück Wand, an dem die kleinen Bilder hingen. Sie ging zu ihnen hin, streckte die Hand aus und berührte – wie ich, als ich klein war – mit zwei Fingern ganz leicht die Miniatur von Abraham Mignon mit einem Strauß üppiger gelber Gardenien in einem Tontopf. Und ich sagte nicht, immer musst du alles mit den Fingern ansehen, sondern lächelte glücklich. Sie drehte sich um, seufzte und sagte, es ist noch alles wie früher. So wie ich es mir Tag für Tag vorgestellt habe, all diese Jahre. Sie betrachtete mich, plötzlich heiter, und fragte, warum bist du zu mir gekommen?
»Um die Wahrheit wiederherzustellen. Weil ich es nicht ertragen konnte, dass du die ganze Zeit über dachtest, ich hätte dich beleidigt.«
»Ich …«
»Und weil ich dich liebe. Und warum bist du gekommen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich liebe dich auch. Vielleicht bin ich gekommen, um … Ach, nichts.«
»Sag schon.« Ich nahm ihre beiden Hände, um sie zum Sprechen zu ermuntern.
»Aaalso … um wiedergutzumachen, dass ich mit zwanzig Jahren so schwach war.«
»Ich kann auch nicht über dich richten. Es ist nun mal so gekommen.«
»Und auch …«
»Was?«
»Und auch, weil mir nicht aus dem Sinn ging, wie du mich angesehen hast, als du im Treppenhaus vor mir standest.«
Sie lächelte, in ihre eigenen Gedanken versunken.
»Weißt du, wie du ausgesehen hast?«, fragte sie.
»Wie ein Lexikonvertreter.«
Sie lachte los, dein Lachen, Sara!, und sagte, ja, ja, ganz genau so. Aber gleich darauf wurde sie wieder ernst und sagte, ja, ich bin zurückgekommen, weil ich dich liebe. Wenn du es willst. Und ich dachte nicht mehr daran, dass ich an diesem Tag schon zu viel gelogen hatte. Ich konnte dir nicht einmal mehr sagen, dass mich damals im achten Arrondissement die Panik packte, als du mit der Klinke in der Hand vor mir standest, als wolltest du mir jeden Augenblick die Tür vor der Nase zuschlagen. Das habe ich dir nie gesagt. Als guter Lexikonvertreter habe ich meine Angst überspielt. Im tiefsten Inneren meines Herzens war ich zu dir nach Paris in die rue Laborde 48 gekommen, um dich sagen zu hören, dass du nichts mehr von mir wissen wolltest, sodass ich guten Gewissens ein Kapitel abschließen und in Ruhe weinen konnte. Aber nachdem Sara in Paris nein zu mir gesagt hatte, kam sie zu mir nach Barcelona und sagte, ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen.