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Erst gestern Abend, als ich durch die regennassen Straßen von Vallcarca spazierte, wurde mir bewusst, dass es ein unverzeihlicher Fehler war, in diese Familie hineingeboren zu werden. Plötzlich erkannte ich: Ich war stets allein gewesen, hatte mich nie auf meine Eltern oder einen Gott verlassen können, die mir die Suche nach Lösungen abgenommen hätten, wenngleich ich mir als Jugendlicher angewöhnt hatte, die Last des Denkens und die Verantwortung für meine Taten auf einen vagen Glauben und die verschiedensten Lektüren abzuwälzen. Gestern Abend, als ich nach meinem Gespräch mit Doktor Dalmau im Regen nach Hause ging, kam ich zu dem Schluss, dass ich diese Last ganz allein tragen muss. Niemand außer mir ist für die Erfolge und Misserfolge in meinem Leben verantwortlich. Sechzig Jahre habe ich für diese Erkenntnis gebraucht. Ich hoffe, du verstehst mich und merkst, wie schutzlos und einsam ich mich fühle und wie schrecklich ich dich vermisse. Trotz allem, was uns trennt, dienst du mir als Beispiel. Trotz meiner Panik will ich von nun an ohne Rettungsplanke durch die Fluten treiben. Trotz einiger Fingerzeige habe ich noch immer keinen Glauben, keinen Priester, keine allgemeingültigen Codes, die mir meinen Weg ins Ungewisse ebnen könnten. Ich fühle mich alt, und der Sensenmann winkt mir, ihm zu folgen, er hat den schwarzen Läufer gerückt und bedeutet mir nun mit einer höflichen Geste, dass ich am Zug bin. Er weiß, dass mir kaum noch Bauern bleiben. Immerhin: Noch ist nicht morgen, und ich überlege, mit welcher Figur ich ziehen kann. Ich sitze allein vor dem Blatt Papier, meiner letzten Chance.

Vertrau mir nicht zu sehr. Aufzeichnungen wie diese – für einen einzigen Leser verfasste Memoiren – sind anfällig für Lügen, und ich weiß, ich werde versuchen, immer auf allen vieren zu landen wie die Katzen; trotzdem will ich mich bemühen, nicht allzu viel zu erfinden. Alles war genau so oder noch schlimmer. Ich weiß, dass ich es dir schon viel früher hätte erzählen sollen; aber es ist schwierig, und selbst jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.

Im Grunde genommen begann alles vor mehr als fünfhundert Jahren damit, dass ein verzweifelter Mann um Aufnahme ins Kloster Sant Pere de Burgal bat. Hätte er das nicht getan, oder hätte ihm der Prior Dom Josep de Sant Bartomeu die Aufnahme verweigert, dann würde ich dir jetzt nicht all das berichten, was ich berichten will. Aber so weit kann ich nicht zurückgehen. Ich fange später an. Viel später.

»Dein Vater …, hör zu, mein Sohn …, dein Vater …«

Nein, nein: Auch hier will ich nicht anfangen. Besser, ich beginne mit dem Arbeitszimmer, in dem ich vor deinem eindrucksvollen Selbstbildnis sitze und schreibe. Dieses Arbeitszimmer ist meine Welt, mein Leben, mein Universum, in dem fast alles Platz hat außer der Liebe. Als ich noch mit kurzen Hosen herumlief und im Herbst und Winter Frostbeulen an den Händen hatte, durfte ich es nur zu ganz bestimmten Zeiten betreten. Oder aber ich schlich mich heimlich hinein. Ich kannte jede Ecke und jeden Winkel, und einige Jahre lang unterhielt ich hinter dem Sofa ein sicheres Geheimversteck, das ich allerdings nachher jedes Mal aufräumen musste, damit Lola Xica es nicht beim Staubwischen entdeckte. Wenn ich das Zimmer offiziell betrat, musste ich mich benehmen, als wäre ich zu Besuch, und die Hände auf dem Rücken halten, während mein Vater mir das neueste Manuskript zeigte, sieh nur, das habe ich in einem Trödelladen in Berlin gefunden, und lass bloß deine Finger bei dir, dass ich nicht wieder mit dir schimpfen muss. Neugierig beugte sich Adrià über das Manuskript.

»Das ist Deutsch, oder?« Unwillkürlich streckte er die Hand aus.

»Na, na, na, da schaut wieder einer mit den Fingern.« Der Vater schlug ihm auf die Hand. »Was hast du gesagt?«

»Ob das Deutsch ist.« Adrià rieb sich die schmerzende Hand.

»Ja.«

»Ich möchte Deutsch lernen.«

Fèlix Ardèvol betrachtete seinen Sohn voller Stolz und sagte, bald kannst du damit anfangen, mein Sohn.

Eigentlich war es gar kein Manuskript, sondern ein Stapel vergilbter Blätter, auf deren Titelseite in altertümlicher Schrift stand: Der begrabene Leuchter. Eine Legende.

»Und wer ist Stefan Zweig?«

Vater, der gerade eine Randkorrektur neben dem ersten Absatz unter die Lupe nahm, antwortete mir nicht etwa, ein Schriftsteller, mein Sohn, sondern erwiderte nur zerstreut, ach, das ist irgend so ein Kerl, der sich vor zehn oder zwölf Jahren in Brasilien umgebracht hat. Jahrelang wusste ich nicht mehr über Stefan Zweig, als dass er irgend so ein Kerl war, der sich vor zehn, zwölf, dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahren in Brasilien umgebracht hatte; bis ich dann das Manuskript lesen konnte und ein wenig mehr über ihn erfuhr.

Und dann war die Besuchszeit zu Ende, und Adrià verließ das Arbeitszimmer mit der Ermahnung, bloß keinen Lärm zu machen: Zu Hause durfte man nicht rennen und nicht schreien, nicht einmal mit der Zunge schnalzen, denn wenn Vater nicht gerade ein Manuskript unter die Lupe nahm, kontrollierte er seinen Bestand mittelalterlicher Landkarten oder überlegte sich, wie er an die Neuerwerbungen gelangen könnte, nach denen es ihn in den Fingern juckte. Der einzig zulässige Lärm war, in meinem Zimmer Geige zu üben. Aber ich konnte ja schlecht den ganzen Tag das Arpeggio Nr. XXIII aus dem Livro dos exercícios da velocidade rauf und runter spielen, das mich dazu brachte, die Trullols zu hassen, mir aber die Freude am Geigespielen nicht verdarb. Nein, ich hasste die Trullols nicht. Aber sie ging mir auf die Nerven, vor allem, weil sie so sehr auf der Übung XXIII bestand.

»Ich meine ja nur, ein bisschen Abwechslung wäre nicht schlecht.«

»Hier« – und sie klopfte mit der Spitze des Geigenbogens auf die Partitur – »findest du alle Schwierigkeiten auf einer einzigen Seite. Diese Übung ist einfach ingeniös.«

»Aber ich …«

»Bis Freitag will ich die XXIII fehlerfrei. Einschließlich Takt 27.«

Manchmal war die Trullols einfach blöd. Aber meistens fand ich sie eigentlich ganz passabel. Und manchmal mehr als das.

Bernat war der gleichen Ansicht. Als ich O livro dos exercícios da velocidade durchnahm, kannte ich Bernat noch nicht. Aber über die Trullols waren wir uns einig. Sie muss wohl eine gute Lehrerin gewesen sein, auch wenn sie, soviel ich weiß, nicht in die Geschichte eingegangen ist. Ich glaube, ich muss meine Gedanken erst einmal ordnen, ich bringe alles durcheinander. Ja, gewisse Dinge weißt du schon, vor allem die, die dich betreffen. Aber es gibt Teile meiner Seele, von denen du vermutlich nichts weißt, weil es schlicht unmöglich ist, einen anderen Menschen ganz und gar zu kennen, selbst wenn …

Obwohl der Laden eindrucksvoller war als das häusliche Arbeitszimmer, mochte ich ihn weniger, vielleicht weil ich mich bei meinen Besuchen – die kaum häufiger waren als die im Arbeitszimmer – unwillkürlich überwacht fühlte. Allerdings bot der Laden den Vorteil, dass ich dort die wunderschöne Cecília betrachten konnte, in die ich bis über beide Ohren verliebt war. Ihr stets sorgfältig frisiertes Haar war galaktisch blond, und sie hatte leuchtend rote volle Lippen. Und immer war sie mit ihren Katalogen und Preislisten zugange, schrieb Etiketten oder begrüßte die wenigen Kunden mit einem Lächeln, das ihre vollkommenen Zähne aufblitzen ließ.

»Haben Sie Musikinstrumente?«

Der Mann, der vor Cecília stand, hatte nicht einmal den Hut abgenommen. Er sah sich um: Lampen, Leuchter, Kirschbaumstühle mit feinen Intarsien, Sofas aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, Vasen aller Größen und aller Epochen … Mich nahm er gar nicht wahr.

»Nur ein paar wenige, aber wenn Sie mir folgen wollen …«

Diese paar wenigen waren zwei Geigen und eine Bratsche mit mäßigem Klang, aber wie durch ein Wunder unversehrten Darmsaiten; des Weiteren eine zerbeulte Tuba, zwei prächtige Waldhörner und eine Trompete, die der Gemeindediener des Tals verzweifelt geblasen hatte, um die Menschen der umliegenden Täler zu warnen, dass der Wald von Paneveggio brannte und die Einwohner von Pardàc die Nachbardörfer um Hilfe baten, selbst die von Welschnofen, bei denen es kürzlich ebenfalls gebrannt hatte, und auch die von Moena und Soraga, denen vielleicht der alarmierende Brandgeruch schon um die Nase wehte. Man schrieb das Jahr 1690, und die Erde war rund für beinahe jedermann: Wenn ein Schiff in Richtung Westen aufbrach und unbekannten Krankheiten, gottlosen Wilden, Land- und Meerungeheuern, Eis, Sturm und Regenfluten entging, kehrte es von Osten her zurück, die Seeleute hagerer und ausgezehrter, mit verlorenem Blick, ihre Nächte von Albträumen erfüllt. Und im Sommer dieses Jahres 1690 lief in Pardàc, Moena und den benachbarten Ortschaften alles zusammen, was Beine hatte, und starrte auf das Unglück, das ihnen, dem einen mehr, dem anderen weniger, die Lebensgrundlage zerstörte. Ohnmächtig mussten sie zusehen, wie das Höllenfeuer ganze Fuder kostbaren Holzes verschlang. Als ein gottgesandter Regen es endlich löschte, durchkämmte Jachiam, der vierte und pfiffigste Sohn des alten Mureda aus Pardàc, den ganzen Wald nach brauchbarem Holz, das vom Feuer verschont geblieben war. Auf halbem Weg hinunter zur Klamm kauerte er neben einer jungen, verkohlten Tanne nieder, um seine Notdurft zu verrichten. Aber was er da sah, verdarb ihm die Lust, sich zu erleichtern: ein paar harzgetränkte Kienspäne, umhüllt von einem Lappen, der nach Kampfer oder irgendeiner anderen merkwürdigen Substanz roch. Ganz vorsichtig wickelte er das von den Flammen unberührte Stück Stoff aus, und als er es erkannte, schwindelte ihn: Der schmutzig grüne Lappen mit Saumstichen aus noch schmutzigerem gelbem Garn war aus dem Wams des dicken Bulchanij Brocia de Moena geschnitten. Und als er zwei weitere, allerdings völlig verbrannte Stoffhaufen fand, verstand er, dass Bulchanij, das Ungeheuer, seine Drohung wahr gemacht hatte, die Familie Mureda und mit ihr das ganze Dorf Pardàc zu vernichten.

»Bulchanij.«

»Ich rede nicht mit Hunden.«

»Bulchanij.«

Bei dem düsteren Klang seiner Stimme wandte der andere sich unwillig um. Bulchanij de Moena hatte einen Schmerbauch, auf dem er – hätte er noch länger gelebt und ihn gut genährt – irgendwann wunderbar seine Arme hätte aufstützen können.

»Was zum Teufel willst du?«

»Wo ist dein Wams?«

»Was geht’s dich an?«

»Du trägst es nicht. Zeig’s mir.«

»Verpiss dich. Bildest du dir vielleicht ein, nur weil ihr in der Scheiße sitzt, müssten wir aus Moena alles tun, was ihr sagt?« Bulchanij starrte ihn hasserfüllt an. »Ich denke gar nicht daran, es dir zu zeigen. Und jetzt hau ab, Hundsfott, du stehst mir in der Sonne.«

Da zückte Jachiam, der vierte Sohn des alten Mureda, in kalter Wut das Entrindungsmesser, das er stets am Gürtel trug, und jagte es dem dicken Bulchanij Brocia in den Bauch wie in den Stamm eines Ahorns, den es zu schälen galt. Bulchanij riss Mund und Augen sperrangelweit auf, weniger vor Schmerz als vor Staunen darüber, dass ein Hundsfott aus Pardàc es wagte, ihn anzurühren. Als Jachiam Mureda das Messer wieder herauszog, gab es ein hässliches blubberndes Geräusch von sich und war rot von Blut, und Bulchanij sackte auf seinem Stuhl zusammen, als entwiche ihm durch die Wunde die Luft.

Jachiam sah den menschenleeren Weg hinauf und hinunter, dann lief er unbedacht los in Richtung Pardàc. Hinter dem letzten Haus von Moena bemerkte er, wie die Bucklige von der Mühle, die gerade mit einem Bündel nasser Wäsche daherkam, ihn mit offenem Mund anstarrte, als habe sie alles gesehen. Statt ihrem Blick mit dem Messer zu Leibe zu rücken, schritt er nur rascher aus. Er war noch keine zwanzig Jahre alt und ein Meister darin, den Klang des Holzes zu wecken – und doch war sein Leben soeben in Scherben gegangen.

Seine Familie reagierte besonnen: Sie schickten gleich jemanden mit den Beweisstücken in die Nachbargemeinden, um zu belegen, dass Bulchanij ein Brandstifter war, der ihnen aus Rachsucht den Wald angezündet hatte, aber die aus Moena beschlossen, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, und bliesen zur Jagd auf den vermaledeiten Jachiam Mureda.

»Sohn«, sagte der alte Mureda, und sein Blick war noch trauriger als sonst, »du musst fliehen.« Er gab ihm einen Beutel mit der Hälfte des Goldes, das er in dreißig Jahren als Waldbauer im Paneveggio zusammengespart hatte, und keines seiner Kinder muckte gegen diese Entscheidung auf. In feierlichem Tonfall fuhr er fort: »Auch wenn keiner die richtigen Bäume zu finden und den Klang des Holzes zu wecken vermag wie du, mein lieber Sohn, viertes Kind dieses unglücklichen Hauses, ist dein Leben mehr wert als der beste der Ahornstämme, die wir von nun an nie wieder werden verkaufen können. Und so entgehst du dem Verderben, dem wir nun anheimfallen, weil Bulchanij aus Moena uns unser Holz genommen hat.«

»Vater, ich …«

»Verschwinde, flieh, aber stell es klug an. Geh nach Welschnofen, denn sie werden dich in Siròr gewiss suchen. Wir werden das Gerücht ausstreuen, du wärst in Siròr untergekrochen. Hier in den Tälern bist du nicht sicher. Du hast eine lange, lange Reise vor dir, die dich weit weg von Pardàc führen wird. Flieh, mein Sohn, und Gott schütze dich.«

»Aber Vater, ich will nicht weg von hier! Ich will im Wald arbeiten.«

»Den haben sie uns niedergebrannt. Als was willst du denn arbeiten, du Kindskopf?«

»Ich weiß es nicht, aber wenn ich aus den Tälern weggehe, sterbe ich!«

»Wenn du heute Nacht nicht verschwindest, werde ich dich höchstpersönlich umbringen. Hast du jetzt verstanden?«

»Vater …«

»Niemand aus Moena wird Hand an eines meiner Kinder legen.«

Und so nahm Jachiam Mureda Abschied von seinem Vater und küsste nacheinander alle seine Geschwister: Agno, Jenn, Max und ihre Frauen; Hermes, Josef, Theodor und Micurà; Ilse und Erika und ihre Männer; und zuletzt Katharina, Matilde, Gretchen und Bettina. Alle waren sie gekommen, um ihm stumm Lebewohl zu sagen, und als er schon an der Tür war, rief die kleine Bettina »Jachiam«, und er drehte sich um und sah, wie das Mädchen die Hand nach ihm ausstreckte. Sie hielt ihm das Medaillon der Muttergottes dai Ciüf von Pardàc hin, das die Mutter ihr auf dem Totenbett anvertraut hatte. Schweigend musterte Jachiam die Geschwister, dann sah er den Vater an, und dieser nickte wortlos. Da ging er zu dem Mädchen, nahm das Medaillon und sagte: »Meine kleine Bettina, ich werde es tragen, bis ich sterbe«, und er wusste nicht, wie recht er damit hatte. Und Bettina strich ihm mit ihren beiden kleinen Händen über die Wangen, ohne zu weinen. Jachiam ging mit tränennassen Augen hinaus, murmelte am Grab der Mutter ein kurzes Gebet und verschwand in derselben Nacht, zog hinauf ins Gebirge, in den ewigen Schnee, hinter dem ein neues Leben, eine neue Geschichte und neue Erinnerungen auf ihn warteten.

»Weiter haben Sie nichts?«

»Wir sind ein Antiquitätengeschäft«, sagte Cecília in dem eisigen Tonfall, mit dem sie Männer gern in Verlegenheit brachte, und fuhr ein wenig spöttisch fort: »Versuchen Sie es doch mal in einem Musikgeschäft.«

Mir gefiel Cecília, wenn sie grimmig tat. Dann war sie noch hübscher als sonst. Sogar hübscher als Mutter. Als Mutter zu jener Zeit.

Von dort, wo ich stand, konnte ich Senyor Berenguers Büro sehen. Ich hörte, wie Cecília den enttäuschten Kunden, der immer noch seinen Hut auf dem Kopf trug, hinausbegleitete, und während das Läuten der Türglocke und Cecílias »Auf Wiedersehen, der Herr« erklangen, hob Senyor Berenguer den Kopf und zwinkerte mir zu.

»Adrià.«

»Ja.«

Er hob die Stimme: »Wann wirst du abgeholt?«

Ich zuckte mit den Achseln. Ich wusste nie genau, wann ich wo sein sollte. Meine Eltern wollten mich nicht allein zu Hause lassen und brachten mich, wenn beide ausgingen, in den Laden. Ich hatte nichts dagegen, denn so konnte ich mir in Ruhe die unglaublichsten Gegenstände ansehen, die schon ein ganzes Leben hinter sich hatten und nun geduldig auf ihre zweite, dritte oder vierte Chance warteten. Zum Zeitvertreib malte ich mir dann gerne ihr Leben in den verschiedensten Häusern aus.

Irgendwann kam dann Lola Xica, um mich abzuholen, stets in Eile, weil sie das Abendessen machen musste und noch nichts vorbereitet hatte. Darum zuckte ich mit den Schultern, als Senyor Berenguer mich fragte, wann ich abgeholt würde.

»Komm her«, sagte er und winkte mit einem leeren Blatt Papier. »Setz dich an den Tudor-Tisch und mal ein bisschen.«

Ich habe nie gern gemalt, weil mir das nicht liegt, und zwar kein bisschen. Darum habe ich immer dein zeichnerisches Talent bestaunt, das mir wie ein Wunder erschien. Senyor Berenguer schlug mir vor, ein bisschen zu malen, weil es ihn nervös machte, wenn ich nichts tat, was ja gar nicht stimmte, weil ich die Zeit mit Nachdenken verbrachte. Aber Senyor Berenguer durfte man nicht widersprechen. Also setzte ich mich an den Tudor-Tisch und tat beschäftigt, damit er Ruhe gab. Ich holte Schwarzer Adler aus der Tasche und versuchte, ihn zu zeichnen. Armer Schwarzer Adler, sollte er sich je auf diesem Blatt Papier sehen … Übrigens hatte Schwarzer Adler noch keine Zeit gehabt, Sheriff Carson kennenzulernen, denn ich hatte ihn gerade erst am Morgen von Ramon Coll gegen meine Weiss-Mundharmonika eingetauscht. Wenn Vater das erfährt, bringt er mich um.

Senyor Berenguer war ein seltsamer Mensch; wenn er lächelte, fürchtete ich mich ein wenig vor ihm, und ich konnte ihm nicht verzeihen, dass er Cecília wie eine Dienstmagd behandelte. Aber er wusste mehr als jeder andere über meinen Vater, den großen Unbekannten.

Das Schweigen des Sammlers
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