23
»Du bist übergeschnappt, mein Sohn.«
Die Mutter setzte sich in den Sessel, in dem sie immer Kaffee trank. Adrià hätte das Thema nicht ungeschickter zur Sprache bringen können. Manchmal wundere ich mich, dass sie mich nicht öfter zum Teufel gejagt hat. Anstatt zu sagen, Mutter, ich habe beschlossen, in Tübingen weiterzustudieren, worauf sie geantwortet hätte, in Deutschland? Fühlst du dich denn nicht wohl hier, Junge?, sagte ich, Mutter, ich muss dir etwas sagen.
»Was denn?« Erschrocken setzte sie sich in den Sessel, in dem sie immer beim Kaffeetrinken saß; erschrocken, weil wir seit Jahren zusammenleben, ohne das Bedürfnis, uns viel zu sagen, vor allem aber ohne das Bedürfnis zu sagen, Mutter, ich muss dir etwas sagen.
»Nun ja, ich habe mich vor einiger Zeit mit einer gewissen Daniela Amato unterhalten.«
»Mit wem hast du dich unterhalten?«
»Mit meiner Halbschwester.«
Mutter sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Schon hatte ich sie für den Rest der Unterhaltung gegen mich: Du bist ein Kindskopf, der keine Ahnung hat, wie es zugeht auf der Welt. Du hast überhaupt keine Halbschwester.
»Dass ihr sie mir vorenthalten habt, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Daniela Amato aus Rom. Ich habe ihre Telefonnummer und ihre Adresse.«
»Was ist das für eine Verschwörung?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Dieser Gaunerin darfst du nicht trauen.«
»Sie sagt, sie wäre gern Teilhaberin des Ladens.«
»Weißt du, dass sie dir Can Casic gestohlen hat?«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Vater es ihr geschenkt. Sie hat mir nichts gestohlen.«
»Sie ist wie ein Vampir. Sie will uns den Laden wegnehmen.«
»Nein. Sie will Teilhaberin werden.«
»Warum glaubst du wohl, dass sie das will?«
»Ich weiß es nicht. Weil er Vater gehört hat?«
»Jetzt gehört er jedenfalls mir, und meine Antwort auf jeden Vorschlag dieser aufgetakelten Schnepfe ist nein.«
Oje, das war kein guter Einstieg gewesen. Sie sagte nicht Hure und auch nicht bbeschissen, wie bei jenem anderen Mal, das ich sie hatte fluchen hören. Mir gefiel die gewählte Ausdrucksweise meiner Mutter. Mit langen Schritten wanderte sie stumm im Esszimmer auf und ab und überlegte, ob sie mit ihren Schmähungen fortfahren sollte oder lieber nicht. Sie entschied sich für lieber nicht:
»Ist das alles, was du mir sagen wolltest?«
»Nein. Ich wollte dir auch noch sagen, dass ich ausziehe.«
Mutter setzte sich wieder in den Sessel, in dem sie immer Kaffee trank. »Du bist übergeschnappt, mein Sohn.« Schweigen. Nervöse Hände. »Hier hast du doch alles. Was habe ich dir getan?«
»Nichts. Warum solltest du mir etwas getan haben?«
Ihre Hände flatterten vor Nervosität, bis sie tief durchatmete, um sich zu beruhigen, und beide Hände flach auf den Schoß legte.
»Und der Laden? Willst du denn nicht irgendwann die Verantwortung dafür übernehmen?«
»Das reizt mich nicht.«
»Schwindler. Es ist dein Lieblingsplatz.«
»Nein. Ich mag die Sachen im Laden. Aber die Arbeit …«
Sie sah mich an, wie mir schien, mit leichtem Groll.
»Du musst mir einfach widersprechen. Wie immer.«
Warum haben meine Mutter und ich uns nie geliebt? Es ist mir ein Rätsel. Mein Leben lang habe ich Kinder beneidet, die sagen konnten, autsch, Mama, mein Knie tut weh, und die Mutter verscheuchte den Schmerz mit einem simplen Kuss. Meine Mutter hatte solche Kräfte nicht. Wenn ich es wagte, ihr zu sagen, mein Knie tut weh, versuchte sie erst gar nicht, selbst das Wunder zu bewirken, sondern beauftragte Lola Xica damit, während sie ungeduldig darauf wartete, dass meine intellektuelle Superbegabung endlich andere Arten von Wundern zeitigte.
»Fühlst du dich denn nicht wohl hier?«
»Ich habe beschlossen, in Tübingen weiterzustudieren.«
»In Deutschland? Fühlst du dich denn nicht wohl hier?«
»Ich will die Vorlesungen von Wilhelm Nestle hören.«
Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, ob Nestle noch unterrichtete. Im Grunde wusste ich nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Tatsächlich war er zu der Zeit, als wir von ihm sprachen, seit über acht Jahren tot. Aber es stimmte, dass er in Tübingen gelehrt hatte, und deshalb wollte ich in Tübingen studieren.
»Wer ist das?«
»Ein Philosophiehistoriker. Außerdem möchte ich Coseriu kennenlernen.«
Das war nicht gelogen. Er hatte den Ruf, unerträglich, aber genial zu sein.
»Wer ist das?«
»Ein Linguist. Einer der größten Philologen des Jahrhunderts.«
»Diese Studien werden dich nicht glücklich machen, mein Sohn.«
Nun ja, rückblickend muss ich ihr wohl recht geben. Nichts hat mich je wirklich glücklich gemacht, außer dir, der Person, die mir das größte Leid zugefügt hat. Ich war dem Glück oft nah; ich habe etliche Freuden erlebt. Ich habe Augenblicke des Friedens genossen und unermessliche Dankbarkeit gegenüber der Welt oder einzelnen Menschen empfunden. Ich bin mit schönen Dingen und Gedanken in Berührung gekommen. Und gelegentlich spüre ich das Kribbeln, das der Besitz kostbarer Gegenstände verursacht, und dann verstehe ich die Sammelleidenschaft meines Vaters. Doch in meinem jugendlichen Unverstand lächelte ich damals nur herablassend und entgegnete, und wer sagt, dass ich verpflichtet bin, glücklich zu sein. Dann schwieg ich befriedigt.
Ich starrte sie entgeistert an. Mit vier Worten hatte sie mich zu etwas gemacht, dessen man sich schämen musste. Und wütend fuhr ich sie an: »Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich will studieren, unabhängig davon, ob ich glücklich werde oder nicht.«
Adrià Ardèvol war ein solcher Klugscheißer. Könnte ich mein Leben noch einmal von vorn beginnen, würde ich als Erstes nach dem Glück suchen und es möglichst gut verpacken, um es mein ganzes Leben lang bei mir zu tragen. Ohne weitere Ansprüche. Hätte mir ein Sohn eine solche Antwort gegeben, wie ich sie meiner Mutter gegeben habe, hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Aber ich habe keinen Sohn. Ich war nur mein Leben lang Sohn. Sara, warum hast du nie Kinder gewollt?
»Du willst nur fort von mir.«
»Nein«, log ich. »Warum sollte ich?«
»Du willst fliehen.«
»Unsinn!«, log ich wieder. »Warum sollte ich?«
»Warum erklärst du es mir dann nicht?«
Nicht einmal volltrunken würde ich ihr von Sara erzählen, von meinem Verlangen, mich aufzulösen, neu zu beginnen, auf der Suche nach ihr ganz Paris auf den Kopf zu stellen, von meinen beiden vergeblichen Besuchen im Haus der Voltes-Epsteins, bis Saras Eltern mich beim dritten Mal eingelassen und mir in wohlgesetzten Worten erklärt hatten, dass ihre Tochter freiwillig nach Paris gezogen sei, um, so habe sie wörtlich gesagt, Abstand von Ihnen zu gewinnen, weil es ihr Ihretwegen sehr schlecht ging. Sie werden sich denken können, dass Sie in diesem Haus kein gern gesehener Gast sind.
»Aber ich …«
»Junger Mann, lassen Sie es gut sein. Wir haben nichts gegen Sie«, log Saras Vater, »aber verstehen Sie bitte, dass wir unsere Tochter beschützen müssen.«
Ich verzweifelte und verstand überhaupt nichts mehr. Senyor Voltes erhob sich und forderte mich mit einer Handbewegung zum Gehen auf. Langsam gehorchte ich. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, weil ich schon immer nah am Wasser gebaut hatte, doch sie fühlten sich an wie Schwefelsäure, die Furchen in meine gedemütigten Wangen ätzte.
»Das muss ein Missverständnis sein.«
»Den Eindruck haben wir nicht«, sagte Saras Mutter (groß, ehemals dunkles, jetzt leicht ergrautes Haar und dunkle Augen, wie ein Foto von Sara in dreißig Jahren) in ihrem gutturalen Katalanisch. »Sara will nichts mehr von Ihnen wissen. Nie wieder.«
Schritt für Schritt ging ich auf die Wohnzimmertür zu, hielt aber noch einmal inne: »Hat sie keine Notiz, keinerlei Nachricht für mich hinterlassen?«
»Nein.«
Ich verließ die Wohnung, in der wir uns, als Sara mich noch liebte, manchmal heimlich aufgehalten hatten, ohne mich von diesen höflichen, aber unerbittlichen Herrschaften zu verabschieden. Leise fiel die Tür hinter mir ins Schloss, und ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen, als könnte ich so noch eine Weile in Saras Nähe sein. Dann begann ich haltlos zu weinen.
»Weder ergreife ich die Flucht, noch habe ich einen Grund dazu.« Ich machte eine Pause, um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Hast du mich verstanden, Mutter?«
Damit hatte ich meine Mutter zum dritten Mal angelogen.
»Ich habe dich sehr gut verstanden.« Sie sah mir in die Augen. »Hör zu, Adrià.«
Es war das erste Mal, dass sie mich nicht Sohn, sondern Adrià nannte. Das erste Mal in meinem Leben. Am zwölften April neunzehnhundertpaarundsechzig.
»Ich höre.«
»Wenn du nicht willst, brauchst du nicht zu arbeiten. Widme dich deiner Geige und deinen Büchern. Und wenn ich sterbe, holst du dir einen Geschäftsführer in den Laden.«
»Sprich nicht vom Sterben. Und mit der Geige ist Schluss.«
»Wie heißt das, wo du hinwillst?«
»Tübingen.«
»Wo ist das?«
»In Deutschland.«
»Und was hast du da verloren?«
»Coseriu.«
»Wer ist das?«
»Du hängst wohl wirklich nur an der Uni herum, um Mädchen aufzureißen, was? Sprachwandeltheorie. System, Norm und Rede, sagt dir das nichts?«
»Komm schon, wer ist das?«
»Ein rumänischer Sprachwissenschaftler, bei dem ich studieren möchte.«
»Jetzt erinnere ich mich düster …«
Er verfiel in mürrisches Schweigen, hielt es aber nicht lange aus: »Kannst du denn nicht hier weiter studieren? Schließlich hast du die Hälfte schon hinter dir und schreibst hervorragende Noten, verdammt noch mal.«
Ich sagte nicht, dass ich gern bei Nestle studieren würde, denn als Bernat und ich uns in der Cafeteria der Fakultät trafen, umgeben von Geschrei, Gedränge, Hektik und Milchkaffees, wusste ich bereits, dass Wilhelm Nestle schon lange tot war. Es wäre mir vorgekommen wie die Fälschung eines Zitats in der Fußnote.
Nachdem ich zwei Tage nichts von ihm gehört hatte, kam er, um für das Examen zu üben, als wäre ich sein Lehrer. Adrià öffnete ihm die Tür, und zur Begrüßung streckte ihm Bernat drohend einen Finger entgegen.
»Ist dir klar, dass in Tübingen auf Deutsch unterrichtet wird?«
»Wenn du willst, kannst du auf der Storioni spielen«, erwiderte Adrià kalt lächelnd auf Deutsch und winkte ihn herein.
»Ich weiß zwar nicht, was du gesagt hast, aber ich bin einverstanden.«
Und während er den Bogen sorgsam mit Harz einrieb – wenig, damit die Haare nicht verklebten –, murrte er, es wäre nett gewesen, wenn du mit mir darüber gesprochen hättest.
»Weil ich zufällig dein bester Freund bin.«
»Darum sage ich es dir ja jetzt.«
»Dein engster Freund, du Mistkerl! Du hättest sagen können, mir schwirrt da eine verrückte Idee durch den Kopf; ich würde nämlich gern ein paar Wochen in Tübingen verbringen. Was hältst du als mein bester und engster Freund davon? Unter Freunden führt man solche Gespräche, weißt du noch?«
»Du hättest gesagt, ich solle es mir aus dem Kopf schlagen. Und dieses Gespräch haben wir schon geführt.«
»Nicht unter diesen Vorzeichen.«
»Du willst mich nur immer in Reichweite haben.«
Statt einer Antwort legte Bernat die Partituren auf den Tisch und begann mit dem ersten Satz des Beethoven-Konzerts. Nach der Einleitung übernahm ich den Part eines verstimmten Orchesters, indem ich die Klaviernoten mitsummte und sogar den Klang einiger Instrumente nachahmte. Am Ende war ich erschöpft, aber glücklich und begeistert, denn Bernat hatte es fehlerfrei und mit etwas mehr als reiner Perfektion gemeistert; als wollte er klarstellen, dass ihm meine letzte Äußerung nicht gefallen hatte. Als er geendet hatte, unterbrach ich die anschließende Stille nicht.
»Und?«
»Gut.«
»Sonst nichts?«
»Sehr gut. Anders.«
»Anders?«
»Anders. Wenn ich richtig gehört habe, warst du wirklich drin in der Musik.«
Wir schwiegen. Er setzte sich und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann sah er mir in die Augen. »Du willst fliehen. Ich weiß nicht, vor wem, aber du willst fliehen. Ich hoffe, nicht vor mir.«
Ich sah die Partituren durch, die er mitgebracht hatte. »Ich halte es für eine gute Idee, dass du die vier Massià-Stücke spielen willst. Wer wird dich am Klavier begleiten?«
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es stinklangweilig sein könnte, dieses ganze Zeug über die Ideen und so zu studieren, das du studieren willst?«
»Massià hat es verdient. Und sie sind sehr schön. Am liebsten mag ich das Allegro spirituoso.«
»Und wieso willst du überhaupt bei einem Linguisten studieren, wo es dir doch eigentlich um Ideengeschichte geht?«
»Sei vorsichtig bei der Chaconne, die hat ihre Tücken.«
»Du Dreckskerl, bleib hier.«
»Ja«, sagte er. »Von der Kunstakademie.«
»Und worum geht es?« Die abweisende, misstrauische Gestalt Senyora Voltes-Epsteins schüchterte ihn ein. Er schluckte und sagte, es fehlt noch etwas, um die Umschreibung durchführen zu können, und dazu brauchen wir ihre Anschrift.
»Gar nichts brauchen Sie.«
»Aber ja. Den Rückmeldeschein.«
»Und was soll das sein?« Sie schien ehrlich neugierig.
»Nichts. Eine Kleinigkeit. Aber der Antragsteller muss selbst unterschreiben.« Er schaute auf die Papiere und korrigierte sich in beiläufigem Ton: »Die Antragstellerin.«
»Lassen Sie mir die Papiere hier, und ich …«
»Nein, nein. Dazu bin ich nicht befugt. Wenn Sie mir vielleicht wenigstens den Namen der Pariser Schule sagen, wohin die Immatrikulation übertragen wurde …«
»Nein.«
»Der Akademie liegt er nicht vor … Uns liegt er nicht vor«, verbesserte er sich.
»Wer sind Sie?«
»Verzeihung?«
»Meine Tochter hat keine Immatrikulation übertragen. Wer sind Sie?«
»Und dann hat sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Bumm!«
»Sie hat dich durchschaut.«
»Ja.«
»Scheiße.«
»Danke, Bernat.«
»Ich fühle mich so … Ich hätte mich nicht so dumm anstellen dürfen.«
»Nein, nein. Du hast getan, was du konntest.«
»Ich könnte mich schwarzärgern.«
Nach einem längeren bedrückten Schweigen sagte Adrià, es tut mir leid, aber ich glaube, ich muss ein bisschen weinen.
Bernats Examen endete mit unserer Chaconne aus der zweiten Suite. Ich hatte sie so oft von ihm gehört … Und immer hatte ich etwas dazu zu sagen, als wäre ich der Virtuose und er der Schüler. Er hatte angefangen, sie einzustudieren, nachdem wir sie im Palau de la Música von Heifetz gehört hatten. Gut. Perfekt. Aber wieder ohne Seele, was vielleicht daran lag, dass er aufgeregt war. Ohne Seele, als hätte die letzte Probe bei mir zu Hause vor kaum vierundzwanzig Stunden nur in meiner Einbildung stattgefunden. Wenn Bernat vor Publikum stand, versiegte sein schöpferischer Quell, dann fehlte ihm der göttliche Hauch, was er durch Eifer und Disziplin wettzumachen versuchte, und das Resultat war gut, aber zu vorhersehbar. Genau das war’s: Mein bester Freund war so verflixt vorhersehbar, selbst in seinen Attacken.
Zum Schluss war er nass geschwitzt und wohl ziemlich sicher, es geschafft zu haben. Die Prüfungskommission, die während der zwei Stunden, die er gespielt hatte, mit säuerlicher Miene zugehört hatte, beriet sich einen Moment und gab ihm dann einstimmig eine Eins und einen persönlichen Händedruck aller drei Mitglieder. Und die Trullols, die im Publikum gesessen hatte, wartete ab, bis Bernats Mutter ihn umarmt und all das getan hatte, was Mütter, die nicht so sind wie meine, nun einmal tun, und dann küsste sie ihn auf die Wange, tief gerührt, wie es bei Lehrern manchmal vorkommt, und ich hörte, wie sie zu ihm sagte, du bist der Beste, den ich je hatte. Du hast eine glänzende Zukunft vor dir.
»Spitzenklasse«, sagte Adrià.
Bernat hörte auf, seinen Bogen zu entspannen, und blickte seinen Freund an. Schweigend legte er den Bogen in den Geigenkasten und klappte ihn zu. Adrià versicherte ihm noch einmal: Ausgezeichnet, mein Lieber, Glückwünsch!
»Gestern habe ich dir gesagt, dass ich dein Freund bin. Dass du mein Freund bist.«
»Ja. Dein engster Freund, hast du gesagt.«
»Genau. Seinen engsten Freund lügt man nicht an.«
»Wie bitte?«
»Ich habe mein Soll erfüllt, weiter nichts. Mir fehlt es an Schwung.«
»Heute hast du deine Sache gut gemacht.«
»Du hättest es besser gemacht als ich.«
»Was redest du da? Ich habe seit zwei Jahren keine Geige angefasst.«
»Und dieser Drecksack von bestem Freund ist nicht imstande, mir die Wahrheit zu sagen, sondern benimmt sich lieber wie alle anderen auch …«
»Was soll das?«
»Lüg mich nie wieder an, Adrià.« Er trocknete sich die Stirn ab. »Ich finde deine Kommentare ärgerlich und gemein.«
»Na ja, ich …«
»Aber ich weiß ja, dass du mir als Einziger die Wahrheit sagst.« Er zwinkerte Adrià zu und sagte auf Deutsch: »Auf Wiedersehen.«
Als ich die Zugfahrkarte in der Hand hielt, begriff ich, dass in Tübingen zu studieren viel mehr bedeutete, als an die Zukunft zu denken. Es bedeutete das Ende meiner Kindheit; es bedeutete, mein Arkadien hinter mir zu lassen. Ja, ja, ich war ein einsames, unglückliches Kind mit gefühllosen Eltern, die nur meine Intelligenz im Blick hatten und denen es nicht in den Sinn kam, dass ich mich für den Tibidado interessieren könnte und die Automaten sehen wollte, die sich bewegten wie Menschen, wenn man eine Münze hineinsteckte. Aber als Kind hat man die Fähigkeit, den Duft der Blume wahrzunehmen, die im giftigen Schlamm blüht. Und glücklich zu sein mit diesem fünfachsigen Lastwagen, der aus einer Schachtel für Damenhüte bestand. Als ich die Fahrkarte nach Stuttgart kaufte, wusste ich, dass die Zeit der Unschuld vorbei war.