44

Headington House war so ruhig und schön gelegen wie Adrià erwartet hatte. Ehe Sara auf die Klingel drückte, sah sie ihn lächelnd an, und Adrià wusste, dass er das meistgeliebte Wesen der Welt war, und musste sich beherrschen, um sie nicht just in dem Moment abzuküssen, in dem ein Dienstmädchen die Tür aufmachte und gleich darauf die strahlende Gestalt Aline de Gunzbourgs erschien. Sara und ihre entfernte Tante umarmten sich schweigend wie alte Freundinnen, die sich seit Jahren nicht gesehen hatten; oder wie Kolleginnen, die trotz einer gewissen Rivalität tiefe Achtung voreinander empfanden; oder wie zwei gebildete Damen sehr unterschiedlichen Alters, die beruflich miteinander zu tun hatten und einen ausgesucht höflichen Umgang pflegten; oder wie Nichte und Tante, die sich noch nie im Leben begegnet waren; oder wie zwei Menschen, die wussten, dass sie um Haaresbreite dem langen Arm der Abwehr, der Gestapo und der SS entgangen waren, weil die Vorsehung sie zu bestimmten Zeiten von bestimmten Orten ferngehalten hatte. Denn das Böse trachtet danach, jedes Streben nach noch so bescheidenem Glück zu vereiteln, und setzt alles daran, die größtmögliche Verwüstung anzurichten. Spermien, Eizellen, frenetische Tänze, vorzeitige Tode, Reisen, Fluchten, Bekanntschaften, Illusionen, Zweifel, Zerwürfnisse, Versöhnungen, Umzüge und so viele andere Hindernisse, die dieses Wiedersehen hätten hintertreiben sollen, waren mit dieser herzlichen Umarmung zwischen zwei Unbekannten zunichte gemacht, zwei wunderbaren Frauen, einer sechsundvierzigjährigen und einer über siebzigjährigen, zwei sprachlos lächelnden Frauen in der Tür von Headington House.

»Kommt rein.«

Sie begrüßte mich, immer noch lächelnd. Wir drückten uns wortlos die Hand. Ja, im Eingangsbereich erfreuten zwei gerahmte Bach-Partituren das Auge des Besuchers. Ich riss mich zusammen, und es gelang mir, Aline de Gunzbourgs Lächeln freundlich zu erwidern.

Es wurden zwei unvergessliche Stunden in Isaiah Berlins Arbeitszimmer im Obergeschoss von Headington House, umgeben von Büchern, während die Uhr auf dem Kaminsims die Zeit viel zu schnell vergehen ließ. Berlin war sehr niedergeschlagen, als ahnte er, dass er sechs Monate später sterben würde. Er hörte Aline zu, lächelte fein und sagte, mir geht bald die Puste aus. Dann seid ihr es, die weitermachen müsst. Und leiser fuhr er fort, ich fürchte den Tod nicht, er ärgert mich nur. Er ist mir lästig, aber ich habe keine Angst vor ihm. Wo du bist, ist der Tod nicht, wo der Tod ist, bist du nicht. Angst vor ihm zu haben, ist also reine Zeitverschwendung. Und weil er so viel davon sprach, war ich sicher, dass er Angst vor dem Tod hatte, wahrscheinlich ebenso viel wie ich. Und dann fügte er noch hinzu, Wittgenstein habe gesagt, der Tod sei kein Ereignis des Lebens. Und Adrià kam es in den Sinn, ihn zu fragen, was ihn am Leben am meisten erstaunte.

»Was mich erstaunt?« Er dachte nach. Es war, als käme das Ticken der Uhr von weit her und bemächtigte sich des Raumes und unserer Gedanken. »Was mich am meisten erstaunt …«, wiederholte er und antwortete schließlich: »… ist wahrscheinlich die simple Tatsache, dass ich trotz all des Grauens die Gelassenheit und die Lebensfreude nicht verloren habe in diesem schlimmsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte. Denn es war mit Abstand das schlimmste. Und nicht nur für die Juden.«

Er sah mich scheu an, zögernd, als suchte er nach dem richtigen Ausdruck, und setzte nach einer Weile hinzu, ich bin glücklich gewesen, habe aber immer mit den nagenden Schuldgefühlen des Überlebenden zu kämpfen gehabt.

»Wie bitte?«, fragten Aline und Sara zugleich.

Erst da bemerkte ich, dass er diese letzten Worte auf Russisch gemurmelt hatte, und übersetzte sie, ohne mich zu rühren, ohne den Blick von ihm zu wenden, denn Berlin war noch nicht fertig. Auf Englisch fuhr er fort, was habe ich getan, damit mir nichts geschehen ist? Er schüttelte den Kopf. Eine schwere Bürde, mit der die meisten Juden dieses Jahrhunderts leben müssen.

»Ich glaube, das mussten die Juden früherer Jahrhunderte auch«, warf Sara ein.

Berlin sah dich verblüfft an und nickte stumm. Und wie um die traurigen Gedanken abzuschütteln, erkundigte er sich nach Professor Adrià Ardèvols Veröffentlichungen. Offenbar hatte er die Geschichte des europäischen Denkens mit großem Interesse gelesen und fand es sehr gut, allerdings hielt er Der ästhetische Wille nach wie vor für ein ganz besonderes kleines Juwel.

»Ich fasse es gar nicht, dass Sie das Buch überhaupt in die Hände bekommen haben.«

»Oh, daran ist ein Freund von euch schuld. Weißt du noch, Aline? Diese beiden komischen Vögel, einer zwei Meter groß, der andere anderthalb …« Er sah geradeaus auf die Wand und erinnerte sich schmunzelnd. »Ein sonderbares Gespann.«

»Isaiah …«

»Sie wollten partout, dass ich es lese, und deshalb haben sie es mir gebracht.«

»Isaiah, hast du Lust auf einen Tee?«

»Ja, bitte …«

»Möchtet ihr einen Tee?« Tante Alines Frage richtete sich jetzt an alle.

»Welche Freunde von mir?«, fragte Adrià verwundert.

»Ein Gunzbourg. Aline hat so viele Verwandte, dass ich sie manchmal durcheinanderwerfe.«

»Gunzbourg …«, wiederholte Adrià verständnislos.

»Moment mal …«

Berlin stand schwerfällig auf und ging in eine Ecke des Raums. Ich sah Tante Aline und Sara einen Blick wechseln und fand das alles sehr merkwürdig. Berlin kam mit einem Exemplar meines Buches zurück. Mit Stolz bemerkte ich, dass fünf oder sechs Zettelchen zwischen den Seiten hervorragten. Er schlug es auf, nahm eins der Zettelchen heraus und las laut vor: Bernat Plensa aus Barcelona.

»Ach so, ja, natürlich«, sagte Adrià geistesabwesend.

Ich erinnere mich kaum noch an das weitere Gespräch, weil mir der Kopf schwirrte. Ein Dienstmädchen brachte auf einem großen Tablett alles, was man für eine wahrhaft königliche Teestunde brauchte. Wir sprachen noch über viele andere Dinge, an die ich mich nur vage erinnern kann. Welch ein Genuss, welch ein Luxus, diese kleine Unterhaltung mit Isaiah Berlin und Tante Aline …

»Was weiß denn ich!«, gab Sara jedes der drei Male zurück, die Adrià auf der Rückfahrt fragte, ob sie wisse, was Bernat mit all dem zu tun habe. Und beim vierten Mal sagte sie, warum lädst du ihn nicht zu einer Tasse von diesem Tee ein, den wir gekauft haben?

»Mmh, köstlich. Englischer Tee schmeckt einfach anders, findet ihr nicht?«

»Freut mich, dass du ihn magst. Aber lenk nicht ab.«

»Ich?«

»Ja. Wann warst du bei Isaiah Berlin?«

»Bei wem?«

»Isaiah Berlin.«

»Und wer soll das sein?«

»Die Macht der Ideen. Über die Freiheit. Russische Denker

»Wovon sprichst du überhaupt?« Und zu Sara gewandt: »Was ist denn mit Adrià los?« Dann hob er seine Tasse und sagte noch einmal: »Sehr gut, der Tee«, und kratzte sich am Kopf.

»Der Igel und der Fuchs«, sagte Adrià, und es klang wie ein Zugeständnis ans große Publikum.

»Du bist nicht mehr ganz dicht.« Zu Sara: »Ist er schon lange in diesem Zustand?«

»Isaiah Berlin hat mir gesagt, du hättest ihm Der ästhetische Wille zu lesen gegeben.«

»Was redest du da?«

»Bernat, was ist hier los?«

Adrià sah Sara an, die damit beschäftigt war, allen Tee nachzuschenken, obwohl keiner darum gebeten hatte.

»Sara, was ist hier los?«

»Wieso?«

»Ihr verheimlicht mir doch etwas …« Plötzlich kam ihm ein Gedanke: »Du und ein sehr kleiner Kerl. Als ein komisches Gespann hat Berlin euch bezeichnet. Wer war der andere?«

»Also, der Kerl ist wirklich nicht mehr ganz dicht. Ich war noch nie in Oxford, damit du es nur weißt.«

Schweigen. Es gab keine tickende Uhr auf dem Kaminsims. Doch man spürte die leichte Brise, die von dem Urgell an der Esszimmerwand ausging, wo die Sonne noch immer den Glockenturm von Santa Maria de Gerri beschien, und man hörte das Rauschen des Flusses, der von Burgal herabströmte. Auf einmal wies Adrià mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Bernat und sagte ganz ruhig mit der Stimme von Sheriff Carson:

»Du hast dich verplappert, Kleiner.«

»Ich?«

»Du kennst Berlin nicht, hast nie von ihm gehört, weißt aber, dass er in Oxford lebt.«

Bernat schaute Sara an, die seinem Blick auswich. Adrià beobachtete sie beide und sagte, tu quoque, Sara?

»Sara quoque.« Bernat gab sich geschlagen. Mit gesenktem Kopf sagte er, ich fürchte, es gibt da eine Kleinigkeit, die ich vergessen habe, dir zu erzählen.

»Dann los. Ich höre.«

»Alles begann vor …« Wieder sah Bernat Sara an. »Fünf oder sechs Jahren?«

»Siebeneinhalb.«

»Ja. Zeitrechnung ist nicht meine Stärke … Siebeneinhalb Jahre ist es her.«

Kaum dass sie die Bar betreten hatte, hielt er ihr ein Exemplar der deutschen Ausgabe von Der ästhetische Wille unter die Nase. Sie sah auf das Buch, sah Bernat an, gab es ihm dann mit fragender Miene zurück und setzte sich.

»Möchte die Dame etwas trinken?« Das Lächeln des glatzköpfigen Kellners, der aus dem Dunkel aufgetaucht war, geriet etwas zu untertänig.

»Zwei Wasser«, verlangte Bernat unwirsch. Der Kellner schnitt im Weggehen eine Grimasse und knurrte, je größer der Kerl, desto größer der Flegel, das habe schon sein Vater immer gesagt. Bernat beachtete ihn nicht.

»Ich habe eine Idee, die ich mit dir besprechen möchte, aber du musst mir schwören, dass du Adrià kein Wort davon sagst.«

Sie verhandelten: Wie soll ich dir etwas schwören, wenn ich gar nicht weiß, worum es geht. Er darf nichts davon wissen. Einverstanden, aber sag mir zuerst, worum es geht, sonst kann ich nicht schwören. Es ist aber etwas Verrücktes. Ein Grund mehr, nicht zu schwören, es sei denn, es ist etwas so Verrücktes, dass es sich schon wieder lohnt. Es ist etwas sehr Verrücktes, das sich lohnt. Verflixt, Bernat. Ich brauche dich als Komplizin, Sara.

Nach diesem Hin und Her kamen sie überein, dass Saggas Schwur provisorisch sein sollte und sie ihn zurückziehen dürfte, wenn ihr die Verrücktheit zu weit ginge.

»Du hast doch gesagt, deine Familie sei mit Isaiah Berlin bekannt. Trifft das noch zu?«

»Ja, schon …, seine Frau ist über ein paar Ecken mit irgendwelchen Vettern der Epsteins verschwägert.«

»Wäre es vielleicht möglich …, dass du mich mit ihm in Kontakt bringst?«

»Was hast du vor?«

»Ihm dieses Buch bringen. Er muss es lesen.«

»Also, ich weiß nicht …«

»Es wird ihm bestimmt gefallen.«

»Du spinnst ja. Warum sollte er etwas von einem Unbekannten lesen, der …«

»Ich sage doch, es ist verrückt«, fiel er ihr ins Wort, »aber ich möchte es gern versuchen.«

Sara dachte eine Weile nach. Ich stelle mir vor, wie du beim Nachdenken die Stirn kraust, Liebste. Ich sehe dich in irgendeiner Bar sitzen und Bernat, diesen Spinner, ungläubig ansehen. Du sagst, warte mal, und ich sehe dich in deinem Taschenkalender blättern, die Nummer von Tante Chantal finden und sie vom Telefon der Bar aus anrufen, das mit Chips funktionierte. Bernat hatte sich vom Kellner Dutzende von Chips geben lassen, die man nach und nach fallen hörte, während Sara sagte, allô, ma chère tante, ça marche bien? (…) Oui. (…) Oui. (…….) Aoui. (……….) Aaooui. (………….), und Bernat steckte mit stoischer Miene einen Chip nach dem anderen in den Apparat, verlangte herrisch mehr Chips vom Kellner, das ist ein Notfall!, und legte zur Sicherheit einen Hundertpesetenschein auf die Theke, und Sara sagte immer noch Oui. (……………) Oui. (………………..). Aoui. (………………………………….), bis der Kellner sagte, Schluss jetzt, er sei schließlich nicht die Telefònica, er habe keine Chips mehr, und daraufhin begann Sara, ihr Tantchen geschickt nach den Berlins auszufragen, kritzelte hastig etwas in ihren Kalender und sagte, oui, oui, oui!!!, und während sie sich bei ma chère tante für die Auskunft bedankte, klickte es im Hörer, die Verbindung war mangels Chips unterbrochen, und sie fühlte sich unbehaglich, weil sie sich von ihrer chère tante Chantal nicht hatte verabschieden können.

»Was hat sie gesagt?«

»Sie will versuchen, Aline zu erreichen.«

»Wer ist Aline?«

»Berlins Frau.« Sara blickte auf ihre unleserlichen Notizen: »Aline Elisabeth Yvonne de Gunzbourg.«

»Großartig, dann haben wir es ja!«

»Langsam, wir haben eine Kontaktperson. Aber die muss ja noch …«

Bernat riss ihr den Kalender aus der Hand.

»Wie, sagst du, heißt sie?«

Sie nahm ihm das Büchlein wieder ab und sah nach.

»Aline Elisabeth Yvonne de Gunzbourg.«

»Gunzbourg?«

»Ja, warum? Die Familie ist sehr … Halb Russen, halb Franzosen. Barone und so. Das sind wirklich reiche Leute.«

»Herrgott noch mal.«

»Psst, nicht fluchen.«

Bernat gab dir einen Kuss oder zwei oder drei oder vier, denn ich glaube, er war immer ein bisschen in dich verliebt. Jetzt, da ich deinen Einspruch nicht mehr fürchten muss, kann ich es dir ja ruhig sagen; ich glaube nämlich, jeder Mann war ein bisschen in dich verliebt. Ich war ganz und gar in dich verliebt.

»Aber Adrià muss das doch wissen!«

»Nein. Ich sage ja, es ist vollkommen verrückt.«

»Es ist vollkommen verrückt, aber er muss Bescheid wissen.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es ist ein Geschenk, das ich ihm machen möchte. Und es scheint mir ein größeres Geschenk, wenn er es niemals erfährt.«

»Aber wenn er es nicht weiß, kann er dir doch niemals dankbar dafür sein.«

Und wahrscheinlich musste der Kellner am anderen Ende des Tresens ein Schmunzeln unterdrücken, als er den Mann laut werden und sagen hörte, keine Widerrede, Senyora Voltes-Epstein. Ich will es so. Kannst du es mir schwören?

Es folgten einige Sekunden gespannten Schweigens, dann sank der Mann flehend vor der Frau auf die Knie, und die elegante Frau schlug die Augen nieder und sagte:

»Ich schwöre es dir, Bernat.«

Der Kellner strich sich mit der Hand über die Glatze und kam zu dem Schluss, dass Verliebte sich immer zum Narren machten. Wenn die sich mit meinen Augen sehen könnten … Die Frau ist jedenfalls bildschön, erste Sahne, da gibt es nichts. Ich würde mich auch zum Narren machen, wenn sie mir gegenüber säße.

Zudem stellte sich auch noch heraus, dass Franz-Paul Deckers vorbildlicher Hornist, der schüchterne, kleine, blonde, heimlich Klavier spielende Romain Gunzbourg ein Sproß der Familie Gunzbourg war und Aline Elizabeth Yvonne de Gunzbourg selbstverständlich kannte. Romain entstammte dem armen Zweig der Familie, und wenn du willst, rufe ich Tante Aline auf der Stelle an.

»Was du nicht sagst … Tante Aline!«

»Ja. Sie hat einen Ich-weiß-nicht-was geheiratet, einen bedeutenden Philosophen oder so. Aber sie leben schon immer in England. Worum geht es denn?«

Und Bernat gab Romain rechts und links einen Kuss, obwohl er nicht in ihn verliebt war. Sein Plan bekam Rückenwind. Sie mussten sich noch bis zum Frühjahr gedulden, bis zu den Konzertauftritten der Osterwoche, und kurz zuvor führte Romain ein langes Telefongespräch mit seiner Tante Aline und gewann sie für Bernats Vorhaben. Und als sie zum Schlusskonzert ihrer kleinen Orchestertournee in London waren, nahmen sie einen Zug nach Oxford, wo sie am späten Vormittag eintrafen. Headington House wirkte verwaist, und die Türglocke hatte einen aristokratischen Klang. Sie wechselten einen erwartungsvollen Blick, aber niemand öffnete, obwohl sie sich für diese Uhrzeit angekündigt hatten. Nein. Doch, da, trippelnde Schritte. Und endlich ging die Tür auf. Eine elegante Dame sah sie erstaunt an.

»Tante Aline«, sagte Romain Gunzbourg.

»Romain?«

»Ja.«

»Wie groß du geworden bist!«, log sie. »Du gingst mir doch kaum bis hierher …« Sie zeigte auf die Höhe ihrer Taille. Dann besann sie sich auf ihre konspirative Rolle, die ihr sichtlich Spaß machte, und ließ die beiden ein.

»Er wird euch empfangen. Aber ich kann euch nicht garantieren, dass er es lesen wird.«

»Danke, Senyora. Vielen Dank«, sagte Bernat.

Sie standen in einem kleinen Empfangsraum mit gerahmten Bach-Partituren an den Wänden. Bernat wies mit dem Kinn auf eine davon. Romain trat neben ihn und sagte leise:

»Ich sage doch, dass ich zum armen Teil der Familie gehöre.« Und mit Blick auf die gerahmte Notenschrift fügte er hinzu: »Das ist bestimmt ein Original.«

Eine Tür öffnete sich, und Tante Aline führte sie in ein geräumiges Zimmer, dessen Wände vollständig von Büchern verdeckt waren, zehnmal so vielen wie bei Adrià. Außerdem gab es einen Tisch mit Stapeln dick gefüllter Mappen und Stößen von Büchern, aus denen zahlreiche Papierchen als Lesezeichen ragten. Und an diesem Tisch saß in einem Sessel Isaiah Berlin mit einem Buch in der Hand und blickte den beiden Fremden, die in sein Heiligtum eingedrungen waren, neugierig entgegen.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte ihn Sara nach seiner Rückkehr.

Berlin wirkte müde. Er sprach wenig, und als Bernat ihm das Exemplar von Der ästhetische Wille überreichte, drehte und wendete er es, um es zunächst von außen zu begutachten, und schlug es dann beim Inhaltsverzeichnis auf. Eine endlose Minute lang war es mucksmäuschenstill. Tante Aline blinzelte ihrem Neffen spitzbübisch zu. Berlin klappte das Buch zu, behielt es aber in der Hand.

»Und warum, finden Sie, sollte ich das lesen?«

»Na ja … Wenn Sie nicht wollen …«

»Machen Sie jetzt keinen Rückzieher, junger Mann. Warum wollen Sie, dass ich es lese?«

»Weil es gut ist. Es ist sehr, sehr gut, Senyor Berlin. Adrià Ardèvol ist ein tiefsinniger und kluger Mann. Aber er lebt zu weit weg vom Zentrum der Welt.«

Isaiah Berlin legte das Buch auf den Tisch und sagte, ich lese jeden Tag und stelle jeden Tag fest, dass ich noch fast gar nichts gelesen habe. Mitunter lese ich etwas auch ein zweites Mal, aber nur Bücher, bei denen sich eine zweite Lektüre lohnt.

»Und wann lohnt die sich?«, fragte Bernat, als wäre er Adrià.

»Wenn ein Buch Faszinationskraft besitzt und man gebannt ist von seiner Intelligenz oder seiner Schönheit. Allerdings regt sich bei der zweiten Lektüre naturgemäß auch oft der Widerspruchsgeist.«

»Was willst du damit sagen, Isaiah?«, mischte sich Tante Aline ein.

»Ein Buch, das es nicht wert ist, noch einmal gelesen zu werden, ist es eigentlich überhaupt nicht wert, gelesen zu werden.« Er schaute seine Gäste an. »Hast du ihnen einen Tee angeboten?« Dann blickte er auf Adriàs Buch und hatte seine praktische Anregung schon wieder vergessen, als er fortfuhr: »Aber bevor wir es gelesen haben, wissen wir nicht, ob es eine zweite Lektüre verdient. Das Leben ist grausam.«

Tee gab es nicht, denn Romain hatte seiner Tante zu verstehen gegeben, dass sie die kurze Zeit lieber nutzen wollten, und so plauderten sie noch eine Weile über alles Mögliche, während Bernat und Romain nebeneinander auf der Sofakante saßen. Schließlich unterhielten sie sich auch über die Orchestertournee.

»Horn? Und warum spielst du Horn?«

»Ich liebe den Klang«, antwortete Romain Gunzbourg.

Als sie ihm beim Abschied mitteilten, dass sie am Abend in der Royal Festival Hall spielen würden, versprach er, sich das Konzert im Radio anzuhören.

Das Programm bestand aus der Leonore (der Ouvertüre Nr. 3), der zweiten Symphonie von Robert Gerhard und der vierten von Bruckner mit Gunzbourg am Horn und einigen Dutzend anderen Musikern. Es klappte alles. Gerhards Witwe war anwesend und nahm gerührt den Blumenstrauß entgegen, der eigentlich Decker zugedacht war. Und nach fünf Konzerten waren sie ausgelaugt und geteilter Meinung darüber, ob es sich rentierte, während der Saison solche Minitourneen zu unternehmen, oder ob es gescheiter wäre, die kleinen Sommer-Engagements eines Großteils der Orchestermitglieder durch eine besser organisierte Tournee zu ergänzen, oder ob sie ganz auf Tourneen verzichten sollten, denn bei der Bezahlung tun wir schon genug, wenn wir zu den Proben erscheinen, oder vielleicht nicht?

Im Hotel fand Bernat eine dringende Nachricht vor und dachte schon, Llorenç sei etwas passiert. Es war das erste Mal, dass er sich Sorgen um seinen Sohn machte, denn er hatte immer noch das Bild des Jungen mit dem unausgepackten Buch vor Augen.

Es handelte sich um eine hastig hingekritzelte Telefonnotiz. In der Handschrift des Rezeptionisten der Abendschicht stand da, Isaiah Berlin habe angerufen und erwarte Bernat schnellstmöglich im Headington House, am besten gleich morgen, es sei äußerst wichtig.

»Tecla.«

»Wie war’s?«

»Gut. Poldi Feichtegger war auch da. Bewundernswert, sie ist weit über achtzig. Der Blumenstrauß war größer als sie selbst.«

»Ihr kommt doch morgen zurück, nicht wahr?«

»Na ja … ich muss noch einen Tag dranhängen, weil …«

»Weil was?«

Bernat, getreu seiner besonderen Eigenart, sich das Leben sauer zu machen, mochte Tecla nicht verraten, dass Isaiah Berlin mit ihm über mein Buch sprechen wollte, nachdem er es mit allergrößtem Interesse in einem Zug gelesen und schon wieder von vorn angefangen hatte, weil er die Gedanken darin so brillant und tiefgründig fand, dass er mich gern kennenlernen wollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihr das zu sagen. Aber Bernat muss sich das Leben sauer machen, sonst wäre er nicht Bernat. Er bezweifelte, dass Tecla ein Geheimnis bewahren konnte, worin ich durchaus seiner Meinung bin. Und darum zog er es vor zu schweigen und antwortete nur, er müsse unbedingt noch etwas erledigen.

»Was musst du denn erledigen?«

»Eine Sache. Es ist … es ist nicht leicht zu erklären.«

»Dich mit deinem Hornisten besaufen?«

»Nicht doch. Ich muss nach Oxford, weil … Es gibt da ein Buch, das … Sei’s drum, übermorgen bin ich wieder daheim.«

»Kannst du das Ticket umbuchen?«

»Oh, gut, dass du mich erinnerst!«

»Besser wäre es schon, wenn du vorhast, mit dem Flugzeug zurückzukommen. Wenn du überhaupt vorhast zurückzukommen.«

Und sie legte auf. Mist, dachte Bernat, ich habe es wieder mal vermurkst. Doch am nächsten Morgen buchte er seinen Flug um, fuhr mit dem Zug nach Oxford, wo Berlin ihm sagte, was er ihm zu sagen hatte, und ihm einen Brief für mich mitgab, in dem es hieß, lieber Herr Ardèvol, Ihr Buch hat mich sehr beeindruckt. Die ganze Abhandlung über die Frage nach dem Warum der Schönheit. Und dass sich diese Frage in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte stellen lässt. Und Ihre Begründung, weshalb man sie von der unerklärbaren Existenz des Bösen unmöglich trennen kann. Ich habe es einigen meiner Kollegen bereits wärmstens empfohlen. Wann erscheint die englische Übersetzung? Herzliche Grüße, Isaiah Berlin. Ich bin Bernat sehr dankbar, dass er Berlin veranlasst hat, mein Buch zu lesen, denn das hatte weitreichende Folgen für mich, vor allem aber bin ich ihm dankbar für die Hartnäckigkeit, mit der er stets auf mein Wohlergehen bedacht war. Und ich vergelte es ihm, indem ich freiheraus über seine Texte spreche und ihn damit in tiefe Depressionen stürze. Alles nicht so einfach, mein Freund.

»Schwöre mir noch einmal, dass du es Adrià niemals sagen wirst.« Er sah sie durchdringend an. »Hast du mich verstanden, Sara?«

»Ich schwöre.« Und nach einer Weile: »Bernat.«

»Hmm?«

»Danke. In Adriàs Namen und in meinem.«

»Nichts zu danken. Ich bin Adrià eine Menge schuldig.«

»Was bist du ihm schuldig?«

»Ich weiß nicht. Eine Menge. Er ist mein Freund. Er ist … Obwohl er so gebildet ist, will er immer noch mein Freund sein und meine Krisen aushalten. Nach all den Jahren.«

Das Schweigen des Sammlers
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