18

»Mutter.«

»Was ist?«, fragte sie, ohne den Kopf von den Papieren auf dem Tisch zu heben, der eigentlich zur Lektüre von Dokumenten und Handschriften diente.

»Hörst du mir zu?«

Doch sie las eifrig in den Finanzberichten Caturlas, des Mannes, den sie engagiert hatte, um im Laden klar Schiff zu machen. Ich wusste, dass sie mich nicht beachtete, aber jetzt oder nie.

»Ich gebe das Geigespielen auf.«

»In Ordnung.«

Und sie las weiter in Caturlas Berichten, die sehr spannend sein mussten. Als Adrià aus dem Zimmer ging, die Seele in kaltem Schweiß gebadet, hörte er, wie seine Mutter die Brille absetzte und, klick-klick, die Bügel zusammenklappte. Gewiss sah sie ihn jetzt an. Adrià wandte sich um. Ja, sie sah ihn an, die Brille in der einen Hand, in der anderen einen Stapel Berichte.

»Was hast du gesagt?«

»Ich gebe das Geigespielen auf. Ich mache den siebten Kurs noch fertig, aber dann ist Schluss.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Ich habe mich schon entschieden.«

»In deinem Alter kannst du so etwas nicht entscheiden.«

»Und ob ich kann.«

Mutter legte Caturlas Bericht weg und stand auf. Bestimmt überlegte sie, wie wohl mein Vater mit dieser Aufsässigkeit umgegangen wäre. Für den Anfang bediente sie sich eines leisen, vertraulichen, drohenden Tonfalls.

»Du wirst den siebten machen, dann den achten, und anschließend wirst du die zweijährige Virtuosenausbildung absolvieren, und wenn du so weit bist, wirst du auf die Julliard School gehen oder eine andere, die Maestro Manlleu und ich für dich aussuchen werden.«

»Mutter, ich will kein Musikerleben führen.«

»Warum nicht?«

»Damit werde ich nicht glücklich.«

»Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein.«

»Ich schon.«

»Maestro Manlleu sagt, du bist begabt.«

»Maestro Manlleu verachtet mich.«

»Maestro Manlleu will dich nur anstacheln, weil du manchmal so lahm bist.«

»Mein Entschluss steht fest. Und wenn du dich auf den Kopf stellst«, wagte ich hinzuzusetzen.

Das war eine Kriegserklärung. Aber es ging nicht anders. Ich verließ Vaters Arbeitszimmer, ohne mich umzusehen.

»Howgh.«

»Ja?«

»Du kannst schon mal die Kriegsbemalung auflegen. Schwarz und weiß vom Mund bis zu den Ohren und zwei gelbe Linien von oben nach unten.«

»Mach dich nicht lustig über mich, ich zittere am ganzen Leib.«

Adrià verkroch sich in seinem Zimmer, entschlossen, nicht eine Handbreit nachzugeben. Krieg war Krieg.

In den folgenden zwei Wochen hörte man bei uns zu Hause nur Lola Xicas Stimme, weil sie sich als Einzige bemühte, den Anschein von Normalität zu wahren. Mutter war ständig im Laden, ich in der Universität, und beim Abendessen schwiegen wir uns an und starrten beide auf unsere Teller, während Lola Xicas Blick zwischen uns hin und her wanderte. Es war kaum auszuhalten und so schlimm, dass selbst die Freude darüber, dich wiedergefunden zu haben, für einige Tage von der Geigenkrise überschattet wurde.

Das Gewitter brach an dem Tag los, an dem ich das nächste Mal zu Maestro Manlleu musste. An diesem Morgen richtete meine Mutter, bevor sie in den Laden ging, zum ersten Mal in dieser Woche das Wort an mich. Ohne mich anzusehen, als wäre mein Vater gerade erst gestorben: »Nimm die Storioni mit zum Unterricht.«

Ich erschien also mit Vial bei Maestro Manlleu, und während wir durch den Flur zum Musikzimmer gingen, hörte ich ihn mit schmeichlerischer Stimme sagen, wollen wir doch mal sehen, ob wir dir nicht ein Repertoire zusammenstellen können, an dem du mehr Spaß hast. Einverstanden, mein Junge?

»Wenn ich die siebte Klasse hinter mir habe, höre ich auf mit dem Geigenunterricht. Habt ihr mich alle verstanden? Ich habe andere Prioritäten im Leben.«

»Du wirst es jeden Tag deines Lebens bereuen, die falsche Entscheidung getroffen zu haben.« (Mutter)

»Feigling.« (Manlleu)

»Lass mich nicht im Stich, mein Freund.« (Bernat)

»Degenerierter.« (Manlleu)

»Dabei spielst du besser als ich!« (Bernat)

»Schwuchtel.« (Manlleu)

»Und die vielen Stunden, die du darauf verwendet hast? Soll das alles umsonst gewesen sein?« (Mutter)

»Launischer Zigeuner.« (Manlleu)

»Und was willst du tun?« (Mutter)

»Studieren.« (Ich)

»Das ließe sich doch mit der Geige verbinden, oder nicht?« (Bernat)

»Was studieren?« (Mutter)

»Bastard.« (Manlleu)

»Schwuchtel.« (Ich)

»Pass bloß auf, sonst drehe ich mich um und gehe.« (Manlleu)

»Weißt du überhaupt, was du studieren willst?« (Mutter)

»Howgh.« (Schwarzer Adler, der tapfere Arapaho-Häuptling)

»He, was du studieren willst, habe ich gefragt. Medizin?« (Mutter)

»Undankbarer Kerl.« (Manlleu)

»Mensch, Adrià, komm schon!« (Bernat)

»Geschichte.« (Ich)

»Ha!« (Mutter)

»Was ist?« (Ich)

»Du wirst sterben, vor Hunger und vor Langeweile.« (Mutter)

»Geschichte?!« (Manlleu)

»Ja.« (Mutter)

»Aber Geschichte ist doch …« (Manlleu)

»Wem sagen Sie das.« (Mutter)

»Verräter!« (Manlleu)

»Und Philosophie will ich auch studieren.« (Ich)

»Philosophie?« (Mutter)

»Philosophie?« (Manlleu)

»Philosophie?« (Bernat)

»Noch schlimmer.« (Mutter)

»Warum noch schlimmer?« (Ich)

»Wenn alle Stricke reißen, wirst du eben Anwalt.« (Mutter)

»O nein. Ich verabscheue diese alles regelnde Normativierung des Lebens.« (Ich)

»Klugscheißer.« (Bernat)

»Du widersprichst nur um des Widerspruchs willen. So einer bist du also!« (Manlleu)

»Ich möchte die Menschheit verstehen, indem ich ihre kulturelle Entwicklung studiere.« (Ich)

»Klugscheißer, sag ich doch. Gehen wir ins Kino?« (Bernat)

»Gern, auf geht’s. Wohin?« (Ich)

»Ins Publi.« (Bernat)

»Ich verstehe dich nicht, mein Junge.« (Mutter)

»Wirrkopf.« (Manlleu)

»Geschichte, Philosophie … Siehst du nicht ein, dass man damit nichts anfangen kann?« (Mutter)

»Mutter, sag nicht so was! Du schockierst mich.« (Ich)

»Geschichte, Philosophie … Siehst du nicht ein, dass man damit nichts anfangen kann?« (Manlleu)

»Was wissen Sie schon!« (Ich)

»Großmaul!« (Manlleu)

»Und die Musik? Was kann man mit der anfangen?« (Ich)

»Du würdest viel Geld damit verdienen. Sieh es mal von dieser Seite.« (Manlleu)

»Geschichte, Philosophie … Siehst du nicht ein, dass man damit nichts anfangen kann?« (Bernat)

»Tu quoque?« (Ich)

»Was?« (Bernat)

»Nichts, schon gut.« (Ich)

»Hat dir der Film gefallen?« (Bernat)

»Mehr oder weniger.« (Ich)

»Eher mehr oder eher weniger?« (Bernat)

»Eher weniger.« (Ich)

»Damit kann man nichts anfangen!« (Mutter)

»Mir gefällt es aber.« (Ich)

»Und der Laden? Willst du dort einsteigen?« (Mutter)

»Darüber reden wir später.« (Ich)

»Howgh.« (Schwarzer Adler, der tapfere Arapaho-Häuptling)

»Jetzt nicht, du verdammte Nervensäge.« (Ich)

»Außerdem will ich Sprachen studieren.« (Ich)

»Englisch reicht doch.« (Manlleu)

»Welche Sprachen?« (Mutter)

»Latein und Griechisch vertiefen und mit Hebräisch, Aramäisch und Sanskrit anfangen.« (Ich)

»Oje! Womit habe ich das verdient …?« (Mutter)

»Latein, Griechisch und was noch?« (Manlleu)

»Hebräisch, Aramäisch, Sanskrit.« (Ich)

»Bist du noch zu retten?« (Manlleu)

»Kommt drauf an.« (Ich)

»Alle Stewardessen sprechen Englisch.« (Manlleu)

»Wer?« (Ich)

»Um für ein Konzert nach New York zu fliegen, brauchst du garantiert kein Aramäisch.« (Manlleu)

»Wir sprechen verschiedene Sprachen, Mestre Manlleu.« (Ich)

»Widerling.« (Manlleu)

»Hören Sie auf, mich zu beleidigen.« (Ich)

»Langsam begreife ich! Mit einem Vorbild wie mir bist du überfordert.« (Manlleu)

»Nein, ganz im Gegenteil.« (Ich)

»Was soll das heißen, ganz im Gegenteil? Was meinst du mit ganz im Gegenteil?« (Manlleu)

»Es musste mal gesagt werden.« (Ich)

»Du bist kaltschnäuzig, arrogant, abscheulich, dumm, eingebildet, ekelhaft, abstoßend, hochnäsig!« (Manlleu)

»Meinetwegen.« (Ich)

»Es musste mal gesagt werden.« (Manlleu)

»Bernat.« (Ich)

»Was ist?« (Bernat)

»Gehen wir an der Mole spazieren?« (Ich)

»Gut.« (Bernat)

»Dein Vater wird noch im Grab den Kopf über dich schütteln!« (Mutter)

Es tut mir leid, aber als Mutter das sagte, an diesem Tag mitten in unserem Krieg, konnte ich nicht an mich halten und brach in wieherndes, übertrieben lautes Gelächter aus. Ich wusste, dass Lola Xica den Wortwechsel aus der Küche mit angehört hatte und auch ein Schmunzeln unterdrückte. Mutter, kreidebleich, begriff zu spät, was sie da von sich gegeben hatte. Doch wir waren alle erschöpft, und so beließen wir es dabei. Es war der siebte Tag unserer kriegerischen Auseinandersetzung.

»Howgh.« (Schwarzer Adler, der tapfere Arapaho-Häuptling)

»Du, ich bin müde.« (Ich)

»Schon gut. Aber du musst wissen, das ihr einen Zermürbungskrieg angefangen habt, einen Grabenkrieg wie den Ersten Weltkrieg. Du darfst nicht vergessen, dass du an drei Fronten kämpfst; ich will nur, dass du dir darüber im Klaren bist.« (Schwarzer Adler, der tapfere Arapaho-Häuptling)

»Du hast recht. Aber ich weiß, dass ich nicht den Ehrgeiz habe, zur Musikerelite zu gehören.« (Ich)

»Und verwechsle vor allem nicht Taktik mit Strategie.« (Schwarzer Adler, der tapfere Arapaho-Häuptling)

Sheriff Carson spuckte Tabak auf den Boden und sagte, durchhalten, Mann, du schaffst das schon! Wenn du dein Leben mit Lesen verbringen willst, ist das deine Sache, halt dich an deine Bücher. Dann können dir alle anderen gestohlen bleiben, du wirst sehen.

»Danke, Carson.« (Ich)

»Keine Ursache.« (Sheriff Carson)

Es war der siebte Tag, und wir legten uns alle schlafen, erschöpft von der Anspannung und erfüllt von der Sehnsucht nach einem Waffenstillstand. Diese Nacht war die erste von vielen, in denen ich von Sara träumte.

Strategisch gesehen war es sehr gut, dass sich die Streitkräfte des Dreibunds untereinander bekriegten: In Maestro Manlleus Haus gerieten die Türkei und Deutschland aneinander. Und das war von Vorteil für die Entente, die somit Zeit hatte, ihre Wunden zu lecken und konstruktiv über Sara nachzudenken. Wie die Chroniken belegen, war die Schlacht zwischen den früheren Verbündeten blutig und grausam und das Geschrei aus Manlleus Haus weithin zu hören. Senyora Ardèvol warf ihm all das an den Kopf, was sie sich jahrelang verkniffen hatte, und hielt ihm vor, den Jungen, der zwar viele Flausen im Kopf, aber außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten hatte, nicht bei der Stange gehalten zu haben.

»Jetzt übertreiben Sie mal nicht.«

»Mein Sohn ist hochbegabt. Wussten Sie das nicht? Hatten wir nicht hinreichend darüber gesprochen?«

»In diesem Haus gab es und gibt es nur einen Hochbegabten, Senyora Ardèvol.«

»Mein Sohn braucht eine liebevolle Hand. Ihr Ego, Senyor Manlleu …«

»Maestro Manlleu.«

»Sehen Sie? Ihr Ego trübt Ihre Sicht auf die Realität. Wir werden unsere finanzielle Vereinbarung überdenken müssen.«

»Das ist ungerecht. Schließlich ist Ihr hochbegabter Sohn an allem schuld.«

»Spielen Sie nicht den Witzbold, das ist kläglich.«

Von hier aus gingen sie direkt zu den Beschimpfungen über (Degenerierte, Zigeunerin, Feigling, Schwuchtel, kaltschnäuziges, arrogantes, abscheuliches, dummes, eingebildetes, ekelhaftes, abstoßendes, hochnäsiges Weibsbild tönte es von der einen Seite, von der anderen kam immer nur, wie erbärmlich!).

»Was haben Sie gesagt?«

»Erbärmlich.« Sie hielt ihr Gesicht ganz dicht vor seines: »Erbärmlich!«

»Dass Sie mich beleidigen, hat gerade noch gefehlt. Ich bringe Sie vor Gericht.«

»Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen ein paar Anwälte auf den Hals zu schicken. Jetzt zahle ich Ihnen nicht einmal mehr den nächsten Monat. Meinetwegen können Sie … Ich werde mit Yehudi Menuhin sprechen.«

Fast wären sie handgreiflich geworden, als er sagte, Menuhin sei die Farblosigkeit in Person und werde sie das Zehnfache kosten, während sie zur Tür ging, gefolgt von dem schäumenden Manlleu, der immerzu wiederholte, wissen Sie, wie der Unterricht bei Menuhin abläuft? Wissen Sie, wie der das macht?

Als sie den Knall der Tür hörte, die sie selbst wütend zugeschlagen hatte, wusste Carme Bosch bereits, dass ihr Traum, aus Adrià den besten Geiger der Welt zu machen, ausgeträumt war. Was für ein Jammer, Lola Xica. Und ich beschwichtigte Bernat und sagte, er werde sich schon daran gewöhnen, und versprach, mit ihm zusammenzuspielen, wann immer er wollte, bei ihm oder bei mir zu Hause, wo es ihm lieber war. Danach konnte ich endlich aufatmen und ungestört an dich denken.

Das Schweigen des Sammlers
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