47

Er öffnete selbst die Tür. Älter, so dünn wie immer und mit demselben durchdringenden Blick. Aus dem Inneren der Wohnung schlug Adrià ein intensiver Geruch entgegen, von dem er zunächst nicht wusste, ob er ihn mochte oder nicht. Mehrere Sekunden stand Senyor Berenguer in der offenen Tür, als könnte er den Besucher nicht auf Anhieb erkennen. Mit einem akkurat gefalteten Taschentuch tupfte er sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Endlich sagte er:

»Na, so was! Ardèvol!«

»Darf ich reinkommen?«, fragte Ardèvol.

Nach weiterem sekundenlangem Zögern ließ er ihn ein. Drinnen war es noch wärmer als draußen. Der Eingangsbereich war ziemlich groß, sehr ordentlich und sauber, mit einer prachtvollen Pedrell-Garderobe von achtzehnhundertsiebzig, die ein Vermögen wert sein musste, mit Schirmständer, Spiegel und vielen Verzierungen. Und einer Konsole in der Ecke, eindeutig Chippendale, mit einem Trockenblumengesteck darauf. Er führte ihn in ein Zimmer, in dem an einer Wand ein Utrillo und ein Rusiñol hingen. Das Sofa war von Torrijos Hermanos, ein Einzelstück, vermutlich das einzige überhaupt, das den historischen Brand der Werkstatt überlebt hatte. Und an einer anderen Wand die liebevoll gerahmte Doppelseite einer Handschrift. Adrià wagte nicht, näher heranzugehen und nachzusehen, um was es sich handelte, doch von weitem schien es ihm ein Text aus dem sechzehnten oder frühen siebzehnten Jahrhundert zu sein. Irgendwie spürte er trotz der fleckenlosen, peniblen Ordnung das Fehlen einer weiblichen Hand. Alles war zu sachlich, zu fachmännisch, um darin zu leben. Unwillkürlich schweifte sein Blick durch den ganzen Raum und über die vertraute, sehr zierliche Chippendale-Konsole in der Ecke. Senyor Berenguer ließ ihn gewähren, sicher nicht ohne Stolz. Sie nahmen Platz. Der Ventilator, der sich vergeblich bemühte, die Hitze erträglicher zu machen, wirkte wie ein geschmackloser Anachronismus.

»Na, so was«, wiederholte Senyor Berenguer.

Adrià sah ihn an. Jetzt erkannte er den Geruch, der in der heißen Luft lag: Es war der Geruch des Ladens, derselbe, der ihn jedesmal umgeben hatte, wenn er sich unter der Aufsicht seines Vaters, Cecílias oder Senyor Berenguers dort aufhielt. Ein Heim mit dem Geruch und der Atmosphäre eines Geschäfts. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre war Senyor Berenguer offenbar noch nicht im Ruhestand.

»Was also hat es mit dem Eigentümer der Geige auf sich?«, fragte ich unvermittelt.

»Wie das Leben so spielt.« In seiner Miene lag unverhohlene Genugtuung.

»Wie spielt das Leben denn so?«, fragte Sheriff Carson unwirsch.

»Wie spielt das Leben denn so?«

»Der Eigentümer ist aufgetaucht.«

»Der sitzt hier vor Ihnen. Das bin ich.«

»Nein. Das ist ein Herr aus Antwerpen, der schon ziemlich alt ist. Die Nazis haben ihm die Geige abgenommen, als er nach Auschwitz kam. Er hatte sie neunzehnhundertachtunddreißig gekauft. Nach den Einzelheiten müssen Sie den Herrn selbst fragen.«

»Und wie kann er das belegen?«

Senyor Berenguer lächelte und schwieg.

»Ihnen bringt das sicher eine gute Provision.«

Senyor Berenguer fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, lächelte und schwieg aber weiter.

»Mein Vater hat sie legal erstanden.«

»Dein Vater hat sie sich unter den Nagel gerissen und gerade mal ein paar Dollar dafür bezahlt.«

»Und woher wollen Sie das wissen?«

»Ich war dabei. Dein Vater war ein Bandit, der jeden ausgenommen hat, egal wen. Zuerst die Hals über Kopf flüchtenden Juden, dann die geordnet und organisiert flüchtenden Nazis. Und nebenbei jeden, der auf den Hund gekommen war und dringend Geld brauchte.«

»Was ja wohl Teil seines Geschäfts war. Und bestimmt haben Sie ihn dabei unterstützt.«

»Dein Vater war ein Mann ohne Skrupel. Er hatte eine Besitzurkunde verschwinden lassen, die in der Geige gefunden worden war.«

»Ich kann Ihnen weder glauben noch trauen. Ich weiß, dass Sie zu allem fähig sind. Ich wüsste gern, wie Sie zu diesem Torrijos und dem Pedrell in der Diele gekommen sind.«

»Das hat alles seine Ordnung, keine Sorge. Ich habe zu jedem meiner Stücke Dokumente. Ich bin kein Betrüger wie dein Vater. Die Art, wie er gestorben ist, hat er sich letztlich selbst zuzuschreiben.«

»Was?« Stille. Senyor Berenguer lächelte spöttisch. Wahrscheinlich um ein wenig Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, nötigte mich Carson zu der Frage, habe ich Sie richtig verstanden, Senyor Berenguer?

Senyor Falegnami hatte eine zierliche Damenpistole gezogen und zielte nervös auf Fèlix Ardèvol. Der rührte sich nicht vom Fleck, vielmehr schien er ein Lächeln zu unterdrücken und schüttelte den Kopf, als hätte ihm etwas gründlich die Laune verdorben.

»Sie sind allein. Wie wollen Sie meine Leiche loswerden?«

»Es wird mir ein innerer Reichsparteitag sein, mich mit diesem Problem zu befassen.«

»Es gibt noch ein größeres: Wenn ich nicht auf meinen zwei Beinen aus dem Haus komme, wissen meine Männer da draußen ganz genau, was zu tun ist.« Herrisch wies er auf die Pistole. »Und jetzt bekomme ich sie für zweitausend. Ist Ihnen bewusst, dass Sie für die Alliierten eine der zehn meistgesuchten Personen sind?« Das sagte er aufs Geratewohl und in einem Ton, als tadelte er ein widerspenstiges Kind.

Doktor Voigt sah, wie Ardèvol ein Bündel Geldscheine aus der Tasche nahm und auf den Tisch legte. Mit ungläubig aufgerissenen Augen ließ er die Pistole sinken. »Das sind gerade mal tausendfünfhundert.«

»Gleich verliere ich die Geduld, Herr Doktor Voigt.«

Dies war Fèlix Ardèvols Feuertaufe im Handelsgewerbe. Nach einer halben Stunde war er wieder draußen auf der Straße, die Geige in der Hand, und ging mit noch leicht beschleunigtem Puls, aber beschwingtem Schritt und dem befriedigenden Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Keiner erwartete ihn, um zu tun, was er zu tun hatte, falls er nicht auf seinen zwei Beinen aus dem Haus käme, und er war stolz auf seine Durchtriebenheit. Allerdings hatte er nicht mit Falegnamis Notizbuch gerechnet. Und auch seinen gehässigen Blick übersehen. Und am Nachmittag, ohne seine Seele Gott oder dem Teufel, Senyor Berenguer oder Pater Morlin zu empfehlen, zeigte er einen gewissen Doktor Aribert Voigt bei der Polizei an, einen ehemaligen Offizier der Waffen-SS, der sich im Ufficio della Giustizia e della Pace versteckte, getarnt als harmloser, dicker, glatzköpfiger Pförtner mit verlorenem Blick und Knollennase, wobei Ardèvol von Voigts ärztlicher Tätigkeit gar nichts wusste. Ebenso wenig wie Doktor Budden wurde auch Doktor Voigt nie mit Auschwitz-Birkenau in Verbindung gebracht. Die entsprechenden Unterlagen waren offenbar rechtzeitig verbrannt worden, und während sich alle Fragen um den verschwundenen Doktor Mengele und sein Umfeld drehten, hatten die eifrigen Forscher in den anderen Lagern Zeit, Beweise zu vernichten. Dazu musste man das allgemeine Chaos in Betracht ziehen, die zahllosen Listen mit Namen von Angeklagten, die Unfähigkeit des Sergeant Major, der das Verfahren einleiten sollte und von dieser Aufgabe schlicht überfordert war, und alles miteinander hatte zur Folge, dass der wahre Doktor Voigt und dessen tatsächliche Aktivitäten unerkannt blieben. Man verurteilte ihn als Offizier der Waffen-SS zu fünf Jahren Haft, denn eine Beteiligung an Kriegshandlungen oder Vernichtungsmaßnahmen im grausamen Stil der meisten SS-Einheiten konnte ihm nicht nachgewiesen werden.

Es war einige Jahre später um die Tageszeit, als die Al-Qaimariyya-Straße voller Männer in Kaftanen war, die aus der majestätischen Omayyaden-Moschee kamen und über die Auslegung der Sure dieses Freitags sprachen oder sich auch nur über die gestiegenen Preise für Schuhe, Tee und Gemüse aufregten. Doch gab es dort auch eine Menge Leute, die aussahen, als hätten sie noch nie eine Moschee betreten, und auf den schmalen Terrassen des Al-Nawfara oder der anderen Kaffeehäuser saßen, ihre Wasserpfeife rauchten und versuchten, nicht darüber nachzudenken, ob es dieses Jahr wohl einen weiteren Staatsstreich geben würde.

Wenige hundert Meter von dort entfernt saßen mitten im Labyrinth der Gassen auf dem Rand eines Brunnens zwei schweigende Männer, deren Blicke sich gen Westen verloren, zum Bab al-Jabiya, Richtung Mittelmeer, wo allmählich die Sonne versank. Ein zerstreut Vorübergehender hätte die beiden für streng Gläubige halten können, die darauf warteten, dass sich die Sonne zur Ruhe begäbe und die Dunkelheit hereinbräche; auf den magischen Augenblick, von dem an ein weißer Faden nicht mehr von einem schwarzen Faden zu unterscheiden wäre und Mawlid an-Nabi begänne und der Name des Propheten allgegenwärtig wäre und für alle Zeiten gepriesen würde. Und es kam der Moment, als ein menschliches Auge einen weißen nicht mehr von einem schwarzen Faden unterscheiden konnte und, auch wenn sich das Militär nicht darum scherte, in ganz Damaskus Mawlid an-Nabi begangen wurde. Die beiden Männer auf dem steinernen Brunnenrand rührten sich erst, als sie unsichere Schritte vernahmen. Ein Abendländer, das hörten sie an der Art zu gehen, dem Stampfen und Keuchen. Sie wechselten einen stummen Blick und standen auf. Aus einer schmalen Seitenstraße bog ein dicker Mann mit einer große Nase um die Ecke, der sich mit einem Taschentuch die Stirn trocknete. Er kam direkt auf sie zu.

»Ich bin Doktor Zimmermann«, sagte er.

Die beiden Männer setzten sich wortlos in Bewegung, gingen mit raschem Schritt durch die Gassen, die den Basar säumten, und der dicke Mann hatte Mühe, sie nicht an einer Abzweigung oder zwischen den Passanten zu verlieren, bis sie in immer weniger belebte Gassen kamen und schließlich durch eine halboffene Tür in einen Laden schlüpften, der vollgestopft war mit kupfernen Gerätschaften. Er folgte ihnen. Sie schlängelten sich durch den schmalen Pfad, den die aufgestapelten Waren frei ließen, zu einem Vorhang im rückwärtigen Teil des Ladens und standen gleich darauf in einem Innenhof, wo ein Dutzend Kerzen brannte und ein kleiner, kahlköpfiger Mann im Kaftan ungeduldig auf und ab ging. Als dieser sie eintreten sah, ignorierte er die beiden Führer, schüttelte dem Abendländer die Hand und sagte, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Die Führer verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren.

»Ich hatte Schwierigkeiten bei der Zollkontrolle am Flughafen.«

»Alles geregelt?«

Der Mann nahm den Hut ab und fächelte sich damit Luft zu. Er antwortete nur mit einer Geste: ja, alles geregelt.

»Pater Morlin«, begann er.

»Hier bin ich immer David Duhamel. Immer.«

»Monsieur Duhamel. Was haben Sie herausgefunden?«

»Eine Menge. Aber ich will Nägel mit Köpfen machen.«

Und im Licht der zwölf Kerzen machte Pater Félix Morlin Nägel mit Köpfen. Er sprach flüsternd, während der andere aufmerksam zuhörte, als handelte es sich um eine Beichte ohne Beichtstuhl. Er sagte, Fèlix Ardèvol habe sein Vertrauen missbraucht, Doktor Zimmermanns Lage ausgenutzt und ihm die kostbare Geige praktisch gestohlen. Obendrein habe er das geheiligte Gesetz der Gastfreundschaft gebrochen, indem er Doktor Zimmermanns Versteck an die Alliierten verraten habe.

»Dieser ungerechtfertigten Anzeige habe ich fünf Jahre Zwangsarbeit zu verdanken. Dafür, dass ich meinem Land im Krieg gedient habe.«

»Einem Krieg gegen die Ausbreitung des Kommunismus.«

»Gegen die Ausbreitung des Kommunismus, ganz recht.«

»Und was haben Sie jetzt vor?«

»Ihn finden.«

»Schluss mit dem Blutvergießen«, rief Pater Morlin aus. »Auch wenn Ardèvol ein wetterwendischer Kerl ist und Sie geschädigt hat, ist er trotzdem noch mein Freund, das sollten Sie wissen.«

»Ich will nur meine Geige zurück.«

»Schluss mit dem Blutvergießen, habe ich gesagt. Andernfalls werden Sie mich kennenlernen.«

»Ich habe nicht die Absicht, ihm ein Haar zu krümmen. Mein Ehrenwort.«

Als wäre dieses Versprechen ein verlässliches Führungszeugnis, nickte Pater Morlin, zog einen gefalteten Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn Zimmermann. Der faltete ihn auseinander, näherte ihn einer der Kerzen, überflog ihn, legte ihn wieder zusammen und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden.

»So war die Reise doch wenigstens zu etwas nütze.« Er fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht und sagte, Scheißhitze, wie kann man nur in einem solchen Land leben.

»Wie haben Sie sich seit Ihrer Entlassung den Lebensunterhalt verdient?«

»Als Psychiater natürlich.«

»Ah.«

»Und Sie, was verschlägt Sie nach Damaskus?«

»Interne Ordensangelegenheiten. Aber Ende des Monats kehre ich ins Kloster Santa Sabina zurück.«

Er sagte nichts von seinen Bemühungen, die ehrbare, von Monsignore Benigni vor vielen Jahren gegründete und vom Vatikan 1921 aufgelöste Spionageorganisation wiederzubeleben, weil die vatikanischen Behörden in ihrer Blindheit die einzige wirkliche Gefahr verkannt hatten: den Kommunismus, der ganz Europa verheeren würde. Auch sagte er ihm nicht, dass morgen der siebenundvierzigste Jahrestag seiner Zugehörigkeit zum Dominikanerorden war, in den er mit dem festen Entschluss eingetreten war, der Kirche notfalls unter Aufopferung seines Lebens zu dienen. Siebenundvierzig Jahre war es nun schon her, dass er um Aufnahme ins Ordenskloster von Liège gebeten hatte. Félix Morlin war im Winter 1320 in Girona geboren worden und in einer gottesfürchtigen und barmherzigen Familie aufgewachsen, die sich jeden Abend nach getaner Arbeit zusammenfand, um zu beten. Niemanden überraschte die Entscheidung des jungen Mannes, sich dem frisch gegründeten Dominikanerorden anzuschließen. Er studierte Medizin an der Universität in Wien und wurde mit einundzwanzig Jahren unter dem Namen Ali Bahr Mitglied der Nationalsozialistischen Partei Österreichs. Sein Ziel war es, ein guter Kadi oder ein guter Mufti zu werden, denn er bewunderte die Weisheit, den Gleichmut und die Gerechtigkeit seiner Lehrer. Kurz darauf trat er in die SS ein und erhielt die Mitgliedsnummer 367.744. Nachdem er auf dem Schlachtfeld von Buchenwald unter Doktor Eisel gedient hatte, schickte man ihn am 8. Oktober 1941 als Stabsarzt an die gefährliche Front von Auschwitz-Birkenau, wo er sich selbstlos für das Wohl der Menschheit einsetzte. Doktor Voigt, der Unverstandene, musste fliehen und sich mit verschiedenen Namen wie Zimmermann oder Falegnami tarnen und wartete jetzt im Kreis der Auserwählten geduldig auf den richtigen Zeitpunkt, um die Erde zurückzuerobern, sobald diese wieder eine Scheibe sein würde, die Scharia sich über die ganze Welt verbreitet hätte und allein die Frommen das Recht besäßen, im Namen des Barmherzigen auf ihr zu leben. Und dann würde die Welt von mysteriösem Nebel umwabert, und die Zuständigkeit für dieses Mysterium und alle, die sich daraus ergäben, läge wieder bei uns. So sei es.

Doktor Aribert Voigt strich unwillkürlich über seine Jackentasche. Pater Morlin sagte, am besten, Sie nehmen einen Zug nach Aleppo. Und fahren auch mit dem Zug weiter in die Türkei. Mit dem Taurus-Express.

»Warum?«

»Sie müssen Häfen und Flughäfen meiden. Und sollte der Schienenverkehr unterbrochen sein, was vorkommen kann, dann mieten Sie einen Wagen mit Chauffeur. Dollars wirken Wunder.«

»Ich weiß mich schon zu bewegen.«

»Das bezweifle ich. Sie sind mit dem Flugzeug gekommen.«

»Aber es war absolut sicher.«

»Es ist nie absolut sicher. Immerhin hat man Sie eine Weile aufgehalten.«

»Sie glauben doch nicht etwa, dass man mir gefolgt ist?«

»Das haben meine Leute schon zu verhindern gewusst. Und mich haben Sie nie gesehen.«

»Ich würde Sie selbstverständlich niemals in Gefahr bringen, Monsieur Duhamel. Ich bin Ihnen unendlich dankbar.«

Erst in diesem Moment, als hätte er es beinahe vergessen, löste er seinen Hosengurt, eine Art Stoffschlauch, in dem er mehrere kleine Objekte verbarg. Er brachte ein winziges schwarzes Säckchen zum Vorschein und reichte es Morlin. Der entknotete die Schnur, mit der es zugebunden war. Drei tropfenförmige Diamanten, in deren tausend Facetten sich das Licht der zwölf Kerzen brach und vervielfältigte. Morlin ließ den kleinen Beutel in den Falten seiner Jelaba verschwinden, während Doktor Voigt seinen Gürtel wieder festzog.

»Gute Nacht, Monsieur Zimmermann. Ab sechs Uhr morgens fahren schon Züge nach Norden.«

»Scheißhitze«, sagte Senyor Berenguer, stand auf und drehte den Ventilator, sodass er mehr Luft abbekam.

Adrià erinnerte sich, wie er hinter dem Sofa gekauert und gelauscht hatte, als Senyor Berenguer seinen Vater bedrohte, und sagte leise, Senyor Berenguer, ich bin der rechtmäßige Eigentümer der Geige. Und wenn diese Leute vor Gericht gehen wollen, mögen sie das tun, aber ich kann sie nur warnen, denn in diesem Fall werde ich mich auf die Hinterbeine stellen, und Sie werden das Nachsehen haben.

»Wie du willst. Du bist vom gleichen Schlag wie deine Mutter.«

Das hatte mir noch nie jemand gesagt. Und ich habe es damals auch nicht geglaubt. Vielmehr verabscheute ich diesen Mann, weil er schuld an meinem Streit mit Sara war. Meinetwegen konnte er ruhig Unsinn reden.

Ich erhob mich, denn um glaubwürdig zu erscheinen, musste ich Härte zeigen. Doch kaum stand ich, bereute ich auch schon, was ich gesagt hatte und wie ich die Sache angegangen war. Senyor Berenguer sah mich allerdings so belustigt an, dass ich nicht anders konnte, als vorwärtszupreschen, auch wenn mich die Angst gepackt hatte.

»Meine Mutter sollten Sie lieber aus dem Spiel lassen. Soweit ich weiß, hatte sie Sie fest an der Kandare.«

Ich ging langsam in Richtung Tür und fühlte mich ein bisschen idiotisch. Was hatte ich mit diesem Besuch gewonnen? Ich war kein Stück weitergekommen. Ich hatte lediglich eine Kriegserklärung abgegeben und wusste nicht einmal, ob ich überhaupt Lust auf diesen Krieg hatte. Doch Senyor Berenguer, der hinter mir her ging, leistete mir Hilfestellung.

»Deine Mutter war ein ausgemachtes Miststück, das mir das Leben zur Hölle machen wollte. An dem Tag, als sie starb, habe ich eine Flasche Champagner von Veuve Clicquot geöffnet.« Ich spürte Senyor Berenguers Atem im Nacken, während wir uns auf die Tür zu bewegten. »Ich trinke jeden Tag ein Schlückchen. Er perlt schon längst nicht mehr, aber so zwinge ich mich, täglich einmal an Senyora Ardèvol zu denken, dieses bbeschissene verfluchte Drecksluder.« Er seufzte auf. »Wenn ich den letzten Tropfen getrunken habe, kann ich in Frieden sterben.«

Schon an der Tür, stellte sich ihm Senyor Berenguer in den Weg und machte noch einmal die Geste des Trinkens.

»Jeden Tag, gluck! und runter damit. Um zu feiern, dass die alte Ziege tot ist und ich noch am Leben bin. Du wirst einsehen müssen, Ardèvol, dass deine Frau ihre Meinung nicht ändern wird. Die Juden sind in gewissen Dingen sehr pingelig …«

Er öffnete die Tür.

»Mit deinem Vater konnte man vernünftig reden, und er ließ mir freie Hand, was dem Geschäft zugute kam. Deine Mutter war eine Unruhestifterin. Wie alle Frauen, aber mit einer ganz besonderen Bosheit … Und so trinke ich jeden Tag ein Schlückchen, gluck! und runter damit.«

Adrià trat hinaus auf den Treppenabsatz und wandte den Kopf, um noch einen würdevollen letzten Satz zu sagen wie, diese Beleidigungen werden Sie noch teuer zu stehen kommen oder etwas Ähnliches, doch anstelle von Senyor Berenguers höhnischem Lächeln sah er vor sich nur den dunklen Lack der Tür, die Senyor Berenguer ihm vor der Nase zuschlug.

An diesem Abend, allein zu Hause, versuchte ich mich an den Sonaten und Partitas. Ich brauchte keine Noten, obwohl es Jahre her war, hätte mir jedoch andere Finger gewünscht. Bei der zweiten Sonate begann Adrià zu weinen, weil er tieftraurig war. In diesem Moment kam Sara nach Hause und schaute ins Zimmer. Als sie sah, dass ich es war, der spielte, und nicht Bernat, ging sie wieder hinaus, ohne auch nur hallo zu sagen.

Das Schweigen des Sammlers
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