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»Sie wissen sicherlich«, sagte der Pathologe und starrte Constable Bressett durch die obere Hälfte seiner Zweistärkenbrille an, »daß der Tod durch Vagus-Unterversorgung, Sauerstoffmangel im Gehirn oder Asphyxie eintritt, wenn der Hals abgeschnürt wird?«

Das wußte Constable Bressett nicht, noch kümmerte es ihn. Er hoffte nur, daß ihm nicht schlecht würde.

Der Gerichtsmediziner beugte sich tiefer über den nackten Körper, der ausgestreckt auf dem Autopsietisch lag. »Hm!« machte er.

Bressett versuchte verzweifelt, an etwas anderes zu denken als an den Mann, der da auf dem Tisch lag, die Augen hervorgequollen, mit hochgezogener Nase, aufgeworfenen und höhnisch verzerrten Lippen und herausgetretener Zunge, in die sich die Zähne in einem letzten verbissenen Todeskampf eingegraben hatten.

»Interessant!« sagte der Pathologe. »Nummer sechs, bitte.«

Sein Assistent, ein angemessen grämlich dreinblickendes Individuum, reichte ihm ein neues Messer mit einem langen, gebogenen Griff.

Davon, an Leichenschauen teilnehmen zu müssen, hatte in den Polizei-Werbebroschüren nichts gestanden, dachte Bressett verbittert. Wie hatte es da doch geheißen? Möchten Sie einen echten Männerberuf ergreifen und sich einfach riesig vorkommen? Im Augenblick fühlte er sich wie ein armes Würstchen, das immer weniger wird.

»Es ist interessant, wie viele Leute glauben, daß die Füße, wenn man sich erhängen will, frei über dem Boden schweben müßten. Purer Unsinn. Ein großer Teil derer, die sich – oft versehentlich – erhängen, tut dies, obwohl sie mit ihren Beinen den Boden berühren. Letztes Jahr hatte ich den Fall, daß sich ein junger Mann im Sitzen erhängt hat. Wissen Sie, wie das passiert ist?«

Bressett gab keine Antwort.

»Er zog sich Frauenkleider an, ging in den Wald, breitete ein paar Zeitschriften mit Aktfotos aus, befestigte ein Seil an einem Baum und legte sich die Schlinge um den Hals. Anscheinend ziehen Masochisten beträchtlichen Lustgewinn daraus, ihren Kopf in eine Schlinge zu stecken: Flirt mit dem letzten Schmerz, habe ich es mal nennen hören. Wohl die einzige Art zu flirten, die solch ein Mensch kennt – ist was?«

Bressett fröstelte.

»Das Seil zog sich enger um seinen Hals, als er sich hin und her bewegte, und drückte die Schlagader ab. Noch bevor er wußte, was passierte, wurde er bewußtlos. Dann setzte Asphyxie ein, und alles war vorbei.«

Bressett wußte, die im Wohnheim würden ihn nachher gnadenlos in die Mangel nehmen, weil sie ganz genau wußten, wie empfindlich er war: Na, war’s eine saftige Leichenschau? Weißt du schon, daß es Spaghetti zum Abendessen gibt?

Etwa zwanzig Minuten später ging der Pathologe zu der Doppelspüle hinüber, streifte die langen Handschuhe ab, zog den grünen Kittel aus und wechselte die grünen Gummistiefel gegen Straßenschuhe aus; dann ließ er heißes Wasser in eines der Becken laufen und schrubbte sich die Hände mit desinfizierender Seife. Er benutzte ein frisches Handtuch, um sich mit penibler Sorgfalt die Hände abzutrocknen, und erst, als er das Handtuch in einen Wäschekorb geworfen hatte, wandte er sich wieder an Bressett: »Das hier ist ein interessanter Fall, wirklich, sehr interessant.« Seine Worte zeigten eine Spur von Schärfe. »Ich habe selbstverständlich Blut- und Urinproben entnommen. Ich rechne damit, von einem hohen Blutalkoholspiegel zu hören.« Er begann eine Wanderung auf einem kleinen Abschnitt des schmalen Ganges zwischen dem Spülbecken und dem Tisch, auf dem die Leiche jetzt von dem Assistenten zusammengenäht wurde. »Ist Ihnen überhaupt etwas über Strangulation bekannt?« fragte er plötzlich mit scharfer Stimme, so als habe er eine Vorlesung gehalten und wolle nun herausfinden, ob einer seiner Studenten eingedöst war.

»Eigentlich nicht, Sir.«

»Nun, es ist ein interessantes Gebiet.« Interessant bedeutete offensichtlich höchstes Lob. »Beim Erhängen endet die Schlinge, die über den Kopf gezogen wird, gewöhnlich in einem Knoten, und dieser Knoten steht einerseits über, andererseits drückt er sich in den Hals. Befand er sich im Nacken, dann hat der Tote ein bleiches Gesicht; lag er dagegen an einer Seite des Halses, dann läuft die entsprechende Gesichtshälfte rot an, und zwar aufgrund der völligen Zusammenpressung der dort befindlichen Arterien und Venen. Wenn man also feststellt, daß das Gesicht auf der Seite, wo der Knoten saß, blaß ist, dann beginnt man sich zu fragen … Sagen Sie, wo befand sich der Knoten im vorliegenden Fall?«

Bressett sah sich genötigt, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. »Links.«

»Aber die linke Gesichtshälfte ist doch blaß, nicht wahr?«

Ob es ihm wohl jemals gelingen würde, diesen gefolterten Gesichtsausdruck zu vergessen?

»Wir haben uns also zunächst einige interessante Fragen zu stellen. Selbstverständlich werde ich in meinem Bericht nur feststellen, daß die begründete Möglichkeit besteht, daß es kein Selbstmord war. Beweise, für das eine oder das andere, müssen aus anderen Quellen kommen.« Der Gerichtsmediziner verhielt plötzlich den Schritt. »Was ist mit dem Strick?«

»Dem, Strick?« wiederholte Bressett dümmlich, ganz erfüllt von dem Gefühl, daß sein Magen revoltierte und ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat.

Der Pathologe blickte ihn an, und in seinen Augen funkelte es kurz amüsiert auf. »Der Strick, mit dem er erhängt wurde. Er könnte sich als äußerst bedeutsam herausstellen. Hat man eine sorgfältige, genaue Beschreibung gemacht, in welcher Weise der Strick über das Bett lief?«

»Ich … Ich nehme es an, Sir.«

Der Mediziner blickte auf die Uhr. »Na schön, das wär’s dann wohl. In ein paar Stunden muß ich die nächste Leichenschau vornehmen – auch ein äußerst interessanter Fall. Kommen Sie doch noch mal vorbei und schauen Sie zu.«

Bressett schluckte kurz, dann schüttelte er den Kopf.

 

Fusil hielt sich im vorderen Raum auf, als der Anruf kam.

»Mr. Jepson, Sir, von der Feuerbrigade«, sagte der Sergeant vom Dienst und reichte ihm den Hörer.

Jepson hatte eine hohe, krächzende Stimme, die zu seinem dürren Frettchengesicht und dem herausstechenden Adamsapfel paßte. »Wie ich erfahren habe, Inspektor, möchten Sie etwas über die in der vergangenen Nacht gemeldeten Brände erfahren, und ob einer davon Brandstiftung gewesen sein könnte? Nun, bei einem ist dies mit ziemlicher Sicherheit gegeben: Ein dreiseitig offener Heuschober auf der Beanpole-Farm in Wrexley Green, fast vollständig gefüllt mit Heuballen. Der Alarm kam um zweiundzwanzig Uhr siebenundvierzig, die lokale Feuerwehr traf um zweiundzwanzig Uhr neunundfünfzig dort ein. Es gelang ihr nicht, das Feuer unter Kontrolle zu bringen, aber da in unmittelbarer Nähe keine weiteren Gebäude stehen, sah man keine Notwendigkeit, weitere Löschzüge anzufordern und ließ das Feuer einfach ausbrennen.

Nun, was die Ursache des Brandes angeht, lautet die wichtigste Frage: War es Selbstentzündung? Sie tritt in der Regel nur ab dem achten und bis zum achtzigsten Tag nach der Heuernte auf, in unserem Fall wurde das Gras in dem Zeitraum zwischen Anfang Mai und Mitte Juni gemäht. Dazu kommt, daß bei Selbstentzündung die Hitze im Innern entsteht, wobei ein deutlicher und charakteristischer Geruch ausströmt; das Feuer arbeitet sich entsprechend von innen nach außen. Ich habe mit dem Bauern gesprochen, und er ist sich ganz sicher, daß es vor vierzehn Tagen, als er anfing, Heu zu entnehmen, noch keinerlei Geruch gegeben hat, und daß das erste, was er von dem Brand gesehen hat, Flammen an den Außenseiten waren, während in der Mitte die oben liegenden Ballen noch nicht brannten. Dieses Feuer entstand also entweder durch Fahrlässigkeit oder durch Brandstiftung.«

»Alles klar. Ich schicke jemanden raus, um den Bauern und seine Leute zu befragen.«

»Ich habe schon mit ihm gesprochen, und …«

»Ich bin überzeugt davon, daß Sie dies taten, Mr. Jepson. Wir müssen jedoch die weiteren Untersuchungen selbst durchführen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Er verabschiedete sich und legte auf. Wenn es fürs Reden Geld gäbe, wären manche Leute Millionäre. Er rief Yarrow zu sich.

»Fahren Sie ’raus nach Wrexley Green auf die Beanpole-Farm und untersuchen Sie den Brand, den die dort letzte Nacht in ihrem Schober hatten. Was Sie suchen sollen, sind Beweise für Brandstiftung, denn das Heu kann sich nicht selbst entzündet haben.«

»Jawohl, Sir«, sagte Yarrow; sein Tonfall ließ durchblicken, daß jetzt, wo er die Sache in die Hand nahm, die Aufklärung unmittelbar bevorstand.

Wenn Yarrow bloß nicht so schrecklich selbstgefällig wäre, dachte Fusil, aufs neue irritiert.

 

Yarrow fuhr im Dienst-Hillman nach Wrexley Green, einem Dorf, das aus einer Straßenkreuzung bestand, um die sich eine Kneipe, ein Kramladen und eine Handvoll Bauernhöfe verteilten. Eine ältere Frau auf einem Fahrrad – sie erinnerte ihn an seine farblose Tante Ethel, die den größten Teil ihres Lebens mit dem Lutschen von Pfefferminzbonbons zugebracht hatte – zeigte ihm etwa eine Meile weit den Weg, der an einigen Bungalows und viel struppigem Waldland vorbeiführte.

Er parkte vor dem Haus, und da die Vordertür offensichtlich selten benutzt wurde, wanderte er um das Gebäude herum zur Hintertür. Ein angeketteter Hofhund bellte einige Male und zog sich dann vor dem rauhen Wind in seine Hütte zurück. Yarrow klopfte an die Tür, dann starrte er auf den Wald, der bis an das Ende des aufgeweichten Gartens heranwuchs: Kahle Bäume, ein Gewirr von Farnkraut, Brombeergebüsch und Unkraut, darüber eine krächzende Krähe. Nur einer, der schon jenseits von Gut und Böse war, konnte den Wunsch haben, auf dem Land zu leben.

Das Urbild eines Bauern öffnete Yarrow die Tür: groß, dick und freundlich. Seine Frau, nicht minder groß und freundlich, bot Yarrow sofort einen Becher Kaffee an.

»Das war weiß Gott ein Feuer hoch drei!« sagte Ochett, und einen Moment lang verließ ihn seine Fröhlichkeit. »Rund hundert Tonnen, das meiste davon wirklich gutes Heu: Kein Füllselzeugs dabei. Mußten hart arbeiten dafür, wo’s doch dauernd geschüttet hat. Kaum daß der Tau morgens runter war, standen wir schon auf den Wiesen beim Heuwenden, preßten die Ballen, als die Sonne hoch stand, und waren noch munter genug, alles aufzugabeln, als hätte es nie auch nur einen verdammten Schauer gegeben!«

Yarrow interessierten Mühe und Plage der Heuernte herzlich wenig. »War das Heu versichert?« fragte er.

»Na klar. Aber Heu ist knapp dieses Jahr, und für das, was ich von der Versicherung bekomme, kann ich mir keine hundert Tonnen von derselben Qualität kaufen, soviel steht schon mal fest.«

»Können Sie sich vorstellen, warum es Feuer fing?«

»Irgend ein verdammter Idiot wird’n Streichholz drangehalten haben, darum.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wenn ich Heu mache, gibt’s keine Selbstentzündung. Und von meinen Leuten würde nie einer in der Nähe des Schobers rauchen. Irgendein dummes Schwein hat das Feuer gelegt, und wenn ich den Kerl in die Finger kriege …«

»Das überlaß man lieber der Polizei, Fred«, sagte seine Frau.

»Da wird auch viel bei ’rauskommen, was? Selbst wenn die den finden, kommt er höchstwahrscheinlich mit Bewährung davon. Viel zu milde ist man heutzutage bei uns! Ich werd’ Ihnen verraten, wie man diesen Dreckskerl kurieren könnte: Im nächsten Frühjahr hierher schicken und bei der Heuernte arbeiten lassen! Der legt kein Feuer mehr an irgendeine Scheune!«

Yarrow verstand den bitteren Zorn darüber, die Früchte so viel harter Arbeit vernichtet zu sehen, aber Verständnis hieß noch lange nicht Mitgefühl; das hatte er nur selten gegenüber dem Mißgeschick anderer. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer einen Groll gegen Sie hegen könnte? Vielleicht ein Landarbeiter, den Sie entlassen mußten?«

»Ich mußte seit Jahren keinen Mann entlassen, weil ich immer nur mit ausgesuchten Leuten zusammenarbeite, nicht mit diesen Typen, die nur fürs Rumsitzen und Zuschauen bezahlt werden wollen. Wie ich denen immer sage, bin schließlich ich derjenige, der das ganze Risiko trägt, ohne jedes Jahr bezahlten Urlaub machen zu können …«

Die Bauern sind doch überall gleich, dachte Yarrow. Ein Jammerbild der Armut, aber ein nagelneues Auto in der Garage.

 

Ein Witzbold hat einmal behauptet, daß Spitzel, die als ihr Motiv Dienst am Gemeinwohl angeben, beim zweiten Atemzug mehr Geld für ihre Dienste fordern. Fusil konnte dem nicht zustimmen, denn er kannte ein oder zwei Informanten, deren Gründe dafür, Spitzeldienste zu leisten, nahe an ein gewisses soziales Verantwortungsgefühl herankamen; doch auch ihnen gegenüber fühlte er Verachtung, da er Verräter verabscheute, ganz gleich, was oder wen sie letztlich verrieten.

Todmüde lehnte er sich an die Wand der Telefonzelle und schloß die Augen. Am liebsten wäre er stehend eingeschlafen.

»Hallo!« sagte eine scharfe Stimme.

Fusil nannte seinen Namen. »Ich brauche Hinweise auf die Bande, die unsere Stadt unter Druck setzt. Sie droht, ein Gebäude voller Menschen niederzubrennen. Es gibt ’ne schöne Stange Geld für die richtige Auskunft!«

Als er auflegte, stellte er sich Joe vor: Ein argloses Gesicht, das einen an seinen Lieblingsonkel erinnerte. Joe pflegte Geld immer anzunehmen, es aber nie zu fordern.

Er verließ die Telefonzelle und ging zu seinem Auto zurück. Mit ein bißchen Glück würde er nur ein paar Stunden zu spät nach Hause kommen.