10
Bressett, als jüngster Polizist und zu gutmütig, um sich energisch genug zu wehren, hatte eine Unmenge langweiliger Routinearbeiten aufgehalst bekommen. Er bemühte sich gerade, ein T23-Formular sorgfältig mit der Maschine auszufüllen, als die telefonische Mitteilung durchkam, daß Albert Mickeys Fingerabdrücke aktenkundig waren.
Er rief im Registeramt an und bat um Einzelheiten.
Albert Mickey: neunundvierzig Jahre alt, Geburtsort London. Eine Kette von Festnahmen und Verurteilungen wegen kleinerer Vergehen, dazu mehrere Male weiterer, ebenfalls geringfügiger Delikte verdächtigt, jedoch mangels Beweisen nicht verurteilt. Vor achtzehn Jahren Ada Partridge geheiratet, läßt sich irgendwann scheiden (Datum liegt nicht vor), lebt dann bekanntermaßen eine Zeitlang mit zwei Frauen zusammen, wird bei einer von ihnen der Kuppelei verdächtigt. Nähere Bekannte oder Verwandte nicht erwähnt, ebensowenig wie die Adresse seiner Frau; kein spezieller Umgang.
Nachdem er gebeten hatte, ihm die Akte zuzusenden, legte Bressett auf. Mickey schien einer von diesen kleinen Gaunern gewesen zu sein, die nicht viel Phantasie besitzen und irgendwie zu altmodisch sind, um Gewalt anzuwenden. Als Krimineller eine Niete. Warum wurde er ermordet? Falls es Mord war.
Bressett ging über den Korridor zu Campsons Büro. Der Sergeant telefonierte gerade, und er mußte fast fünf Minuten warten, bevor er ihm den Bogen mit den Einzelheiten aus Mickeys Akte übergeben konnte.
»Das hilft uns nicht viel weiter«, sagte Campson.
»Stimmt, Sergeant.«
»Wir müssen irgendwie herausfinden, auf was er gestoßen ist, und mit wem er es zu tun bekam. Für den Anfang sollten Sie sich mal anhören, was seine Frau uns zu sagen hat.«
»Aber ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt …«
»Ich kann lesen«, schnitt Campson ihm das Wort ab. »Und hier steht doch nur, was die von der Registratur behaupten, und die sind die meiste Zeit zu faul, genaue Nachforschungen anzustellen. Halten Sie sich also an die letzte Adresse, finden Sie heraus, wo sie geheiratet haben, hören Sie sich bei seinen Verwandten um … Irgend jemand wird schon wissen, wo sie jetzt steckt. Haben Sie eigentlich schon die Leute in dieser Pension verhört, um etwas aus seiner jüngsten Vergangenheit zu erfahren?«
Bressett schwankte, ob er darauf hinweisen sollte, daß Mickey vermutlich keine Angehörigen gehabt hatte, entschied sich dann aber klugerweise, es nicht zu tun. »Nein, Sergeant.«
»Und warum nicht, verdammt noch mal? Muß ich Ihnen denn in allen Einzelheiten vorkauen, was Sie zu tun haben, und wie Sie es zu tun haben?«
»Es fehlte einfach die Zeit …«
»Dann nehmen Sie sich die Zeit!«
Bressett gab keine Antwort. Der Sergeant hatte etwas von einem Schinder an sich, und Bressett war nicht der Typ, sich gegen einen Ranghöheren aufzulehnen.
»In Ordnung. Nun gehen Sie schon.«
Bressett ging in den Mannschaftsraum zurück. Dort saß Smith hinter seinem Schreibtisch und rauchte. Er war vierunddreißig, sah aber älter aus, und seinem Gesicht nach hätten ihn viele als einen Mann beschrieben, dem man möglichst keinen Gebrauchtwagen abkauft. »Hetzen Sie noch immer durch die Gegend?« fragte er. »Seit ein paar Tagen ist das hier ja das reinste Irrenhaus!« Smith war leicht sprachbehindert und nuschelte daher ein wenig. »Wenn ich mich in meine alte Abteilung zurückversetzen lassen könnte, wäre ich weg wie der Blitz.« Er war auf eine kaltschnäuzige Weise so völlig ohne Ehrgeiz, wie Bressett naiv ehrgeizig war. Sein einziges Bestreben war, den Arbeitstag irgendwie zu überstehen, ohne sich körperlich oder geistig anzustrengen.
Bressett ging zu einem der Bücherschränke und zog ein Londoner Telefonverzeichnis heraus.
»Der Alte benimmt sich wie jemand, der gleich zwei Kater hat. Warum macht dem nicht endlich mal einer klar, daß es keine Prämie dafür gibt, wenn man sich vor lauter Schufterei einen Gehirnschlag holt? Mein letzter Inspektor hatte die richtige Einstellung: Nur nicht totarbeiten, sonst freut sich die Pensionskasse.«
Bressett suchte die Nummer heraus, die er brauchte, und wählte. Er bat um genauere Angaben über die Trauung von Albert Mickey und Ada Partridge vor achtzehn Jahren. Er entschuldigte sich und sagte, er wisse auch nicht, an welchem Datum oder wo die Eheschließung stattgefunden hätte. »Stellen Sie sich vor, wir haben hier auch rein gar nichts zu tun!« knurrte der Mann am anderen Ende der Leitung wütend.
Kerr betrat den Hof hinter der Polizeistation, als Fusil gerade aus dem Gebäude kam. »Guten Morgen!« rief er und beeilte sich klarzustellen, daß er keinesfalls mit seinem Morgenbericht eine Stunde zu spät dran war: »Ich komme gerade von der Vernehmung Mr. Hanners, des stellvertretenden Filialleiters dieser Bank.«
»Und?« Fusil verhielt sich kurzangebunden, wenn er unter Druck stand: Man konnte schließlich nicht von ihm erwarten, seine Zeit mit der Wahrung von Höflichkeitsformen zu vergeuden.
»Ich bin sicher, daß es da etwas gibt, nur kann ich ihn bis jetzt noch nicht darauf festnageln. Er hat Angst, aber nicht davor, über den Bankraub zu sprechen.«
»Hat er irgendeine seiner früheren Aussagen geändert?«
»Nein, er ist dabei geblieben.«
Ein Windstoß fegte über den Hof und schlug Fusil den Mantelkragen gegen die Wange. »Wir haben viel zu viel Arbeit, um weiter eine zweifelhafte Spur zu verfolgen, dazu noch in einem Fall, der wahrscheinlich nie geklärt werden wird. Und doch …« Er ähnelte einem Jagdhund, dem befohlen wird, eine Ratte fallenzulassen, der aber versucht, sie ein letztes Mal kräftig zu schütteln.
»Also ich glaube, Hanner bricht zusammen, wenn wir nur kräftig Druck auf ihn ausüben. Vielleicht sollte ich ihm jetzt mal zu Hause einen Besuch abstatten und mich demonstrativ bei ihm umsehen …«
»Ich hatte eigentlich angenommen, Sie würden ihn gestern abend privat aufsuchen und nicht heute vormittag in der Bank?« Kerr verfluchte im stillen seine Vertrauensseligkeit. Natürlich, so hatte Fusils Auftrag gelautet. »Ich kam zu der Überzeugung, es würde ihn stärker verunsichern, wenn ich in Abänderung meines eigentlichen Vorhabens zu seinem Arbeitsplatz ginge.« Aus Fusils Blick sprach spöttischer Unglaube. »Ich verstehe«, sagte er ruhig. Es war nicht das erste Mal seit der innerpolizeilichen Neuorganisation, daß er, wenn er es mit einem der Constable zu tun hatte, die schon früher bei ihm gewesen waren, nicht ganz so strenge Maßstäbe anlegte: Merkwürdigerweise – wenn man von der Einstellung ausging, die er normalerweise vertrat – ließ er bei ihnen ein wenig die Zügel schleifen. »Dann werden Sie heute abend meinen ursprünglichen Befehl befolgen. In der Zwischenzeit schnappen Sie sich einen von den Motorisierten und fahren raus zur Steerforth Road. Dort ist in einer Garage ein Auto ausgebrannt, vermutlich Brandstiftung. Also die üblichen Untersuchungen.«
Sie trennten sich; Fusil ging zu seinem Auto, und Kerr betrat das Haus und ging nach vorne durch, um mit dem diensthabenden Sergeant zu sprechen. »Ich brauche Unterstützung, Sergeant, einen Mann mit Auto.«
»Tut mir leid, Junge, von denen schuftet schon jeder bis an den Rand der Erschöpfung.«
»Es ist für Mr. Fusil.«
Der Sergeant musterte ihn mit düsteren Blicken.
»Und er sagte, die Sache habe Vorrang vor allem anderen.«
Der Sergeant drehte sich um. »Reg, ruf am besten Andy zum Fronteinsatz. Den können wir noch am ehesten entbehren.«
Zehn Minuten später verließen Kerr und Polizeiconstable Andy Croft die Wache im Dienst-Hillman, einem Auto, das eigentlich schon längst sein Gnadenbrot verdient hatte.
Vor den Garagen in der Steerforth Road schob ein Polizeiconstable Wache, vorschriftsmäßig mit Regenmantel und Helm bekleidet und dadurch notdürftig vor dem Regen geschützt, und hielt die wenigen Schaulustigen in Schach.
»Hallo, da sind ja die Geistesgrößen!« rief er, froh, Gesellschaft zu bekommen.
»Nicht zu vergessen die Muskelpakete!« Croft wies mit dem Daumen auf Kerr.
»Und jeder Witz garantiert mit Bart«, sagte Kerr fröhlich. »Wie wär’s, Andy, wenn du dich an die Arbeit machtest und die Nummern zu finden versuchtest?«
»Dazu brauche ich deine Hilfe.«
»Wie bitte? Ich und mir die Hände schmutzig machen? Du kannst völlig selbständig arbeiten, Junge.«
»Elender Spielverderber!« Croft kehrte ihnen den Rücken zu, holte hinten aus dem Hillman einen schmuddeligen Overall und zog ihn über die Uniform. Er tauschte seine Schuhe gegen Gummistiefel aus und ging dann mit einer Taschenlampe in die schwarz verbrannte, stinkende Garage.
Kerr sprach mit dem Constable. »Wissen Sie, wem dieses Auto gehört?«
»Einem Mann namens Huggins, er wohnt Nummer siebenundfünfzig. Den hätten Sie mal hören sollen, wie er sich über das Feuer ausließ – als hätte es da einen Rolls Royce erwischt und nicht einen Vauxhall … Mann, Sie haben doch gerade nichts zu tun! Geben Sie mir Deckung, während ich für ’ne Zigarettenlänge im Auto verschwinde – ich hatte noch keine Gelegenheit, eine zu rauchen, seit mein Dienst heute anfing.«
»Einen Moment noch. Die Garagentür steht offen – wissen Sie, wie sie war, als die Feuerwehrleute eintrafen?«
»Da stand sie einen Spalt breit über dem Erdboden, höchstwahrscheinlich, damit das Feuer Zug bekam. Aber jetzt hören Sie um Himmels willen auf, Fragen zu stellen und lassen Sie mich endlich ein Stäbchen zwischen die Kiemen schieben.« Er hastete hinüber zum Hillman.
Kerr ging zur Garage. Das Tor war jetzt auf knapp zwei Meter hochgezogen; es war völlig schwarz, und an einer Stelle hatte das Metall durch die Hitze des Feuers zu schmelzen begonnen. Das Schloß war intakt und von sichtlich guter Qualität.
Er kehrte dem Auto den Rücken zu und starrte in den Regen. Normalerweise nahm er seine Arbeit eher auf die leichte Schulter, nicht nur, weil das seiner Natur entsprach, sondern auch, weil es ihn in gewisser Weise schützte vor den düsteren, oft erschreckenden Aspekten seiner Arbeit. Aber es gab Fälle – und dieser hier war einer davon – wo er die Dinge nicht mehr so leicht nehmen konnte. Es war nur zu einfach, sich den Holocaust vorzustellen: Ein volles Warenhaus, in das Helen zufällig einkaufen gegangen war … Die Explosion, gefolgt von einem heftigen Feuer, das alle Fluchtwege abschnitt …
»Glück gehabt!« rief Croft. »Fang an zu schreiben.« Er wartete, bis Kerr so weit war. »Zwei-zwei-vier-sechs-eins-neun-MR.«
»Und was ist das: Die Motor- oder die Fahrgestell-Nummer?«
»Die Motornummer. An die andere komme ich nicht ran, und wenn ich die nächsten zwölf Stunden in dem Wrack herumstochere. Laß uns bloß so schnell wie möglich abhauen. Diese verdammte Garage ist einfach zum Kotzen.«
Also auch Croft litt unter allzu lebhafter Einbildungskraft, dachte Kerr.
Sie verließen die Garage, und der andere Constable stieg wieder aus dem Auto und gesellte sich mitten auf der Straße zu ihnen. »Das eine gebe ich Ihnen schriftlich – es ist wärmer hier draußen als dort drinnen in der verkohlten Nässe … Haben Sie gefunden, was Sie suchten?«
»Die Hälfte, aber das reicht«, erwiderte Kerr. »Ich mache mich auf den Weg, um ein paar Worte mit dem Besitzer zu wechseln.«
»Machen Sie sich darauf gefaßt, daß er zusammenbricht und sich an Ihrer Schulter ausweint.«
Jemanden, der den seelischen Streß ihrer Arbeit nicht berücksichtigte, hätten ihre häufigen Späße über Situationen, die eigentlich ernst oder teilweise sehr gefährlich waren, wahrscheinlich verwirrt oder gar entrüstet.
Huggins, ein kleiner, dicker Mann, redete wie ein Wasserfall. »Das Auto war tipptopp in Ordnung, alles was recht ist. Ich hab’s jeden Sonntagmorgen poliert – bei schönem Wetter draußen, und wenn’s naß war drinnen in der Garage. Das schönste Auto auf der ganzen Straße, alles was recht ist. Und scheckheftgepflegt! Dazu kommt, daß über zweihundert Pfund an Extras drinsteckten. Und was ist es jetzt? Ein einziger Haufen Schrott.« Schrott.«
»Aber es war doch versichert, nehme ich an?« fragte Kerr.
»Ja. Aber sagen Sie selbst – können die mir meine Arbeit ersetzen? Werden die etwa sagen: Das war das schönste Auto auf der ganzen Straße, mit Extras im Wert von zweihundert Pfund – also wollen wir dem armen Kerl eine faire Entschädigung zahlen? Die doch nicht! Versicherungen sind doch alle gleich. Scharf auf dein Geld, aber wenn’s ans Zahlen geht, von Ehrlichkeit keine Spur.«
»Interessehalber – wie hoch war es denn versichert?«
»Auf zwölfhundert Pund, aber doppelt so viel wert, alles was recht ist. Oder können Sie sich vorstellen, daß man mit zwölfhundert Pfund so ein Auto kaufen kann? Das ist doch nicht Ihr Ernst! Ich frage mich bloß, warum sich die Brandstifter nicht die hintere Garage ausgesucht haben! Das Auto, das da drinsteht, wird nicht mal gewaschen!«
»Warum sprechen Sie von Brandstiftern im Plural?«
»Waren doch zwei, oder etwa nicht?«
»Woher wissen Sie das?«
»Die alte Tante Nesbitt sagte so was. Die weiß doch alles, die alte Hexe.«
»Und woher sollte sie es wissen?«
»Sie hat die Männer gesehen. Und was hat sie getan? Ich werd’s Ihnen sagen: nichts! Ging einfach wieder ins Bett oder was weiß ich. Hat nicht mal die Feuerwehr gehört, die taube alte Glucke.«
»Wo wohnt sie?«
»Nebenan.« Er zeigte auf das Haus. »Das eine sage ich Ihnen, hier kann keiner einen Schritt machen, ohne daß sie hinter dem Vorhang hervorschielt, um zu sehen, was läuft.«
Man weiß doch vorher nie, welch unvermuteten Verlauf so ein Fall nehmen kann, dachte Kerr. »Könnte ich jetzt bitte einen Blick auf Ihre Fahrzeugpapiere werfen?«
Die eingetragene Motornummer entsprach derjenigen, die Croft am Wrack entdeckt hatte: Also waren die Autos nicht ausgetauscht worden. »Noch eine letzte Frage: Können Sie sich erinnern, ob Sie die Garage gestern abend abgeschlossen haben?«
»Natürlich habe ich das getan! Meinen Sie etwa, ich würde mein Auto einfach so stehenlassen, damit jeder es klauen kann? Aber viel hat es mir ja nicht genützt, oder?«
Kerr drückte dem kleinen, dicken Mann nochmals sein Bedauern aus, dann verließ er das Haus und ging über den kurzen Pfad zum Gartentor. Als er den Gehsteig betrat, kam Croft auf ihn zugelaufen. »Nun komm endlich, laß uns abhauen. Ich muß zurück aufs Revier …«
»Du wirst dich noch so lange gedulden müssen, bis ich mit der alten Klatschbase von nebenan gesprochen habe.«
»Laß dir nur schön Zeit, und mach dir bloß keine Gedanken um andere«, gab Croft schlechtgelaunt zurück.
Die Haustür von Nummer fünfundfünfzig öffnete sich, noch ehe Kerr Gelegenheit hatte, auf den Klingelknopf zu drücken.
»Ich habe Sie den Weg entlangkommen sehen«, sagte Mrs. Nesbitt. Sie war eine dünne, formlose Frau, die noch formlosere Kleider trug. Ihr Gesicht war lang und schmal, und über einer ausgeprägten Hakennase saßen ein Paar scharfe, braune Knopfaugen. »Sie sind einer von den Polizisten, nicht wahr? Sie waren vorhin in der Garage.«
»Das stimmt.«
»Wie bitte? Sie müssen ein bißchen lauter sprechen. Heutzutage sprechen alle so leise.«
Sie war also taub, aber nicht gewillt, es zuzugeben.
Er folgte ihr in ein düster möbliertes Wohnzimmer, das peinlich sauber war, aber so tot wie ein Raum, der seit Jahren nicht bewohnt wird. Kerr schrie ihr die Frage zu, ob sie in den frühen Morgenstunden irgend etwas beobachtet hätte, was mit dem Feuer in der Garage zu tun haben könnte.
Sie nickte, und mit einem Lächeln, das ihr Gesicht mit Leben erfüllte und völlig verwandelte, sagte sie: »Ich schlafe nachts nicht mehr viel – ein kleines Nickerchen, und schon wache ich wieder auf. Dann lese ich manchmal, oder ich hänge meinen Erinnerungen nach. Wissen Sie, wenn man älter wird, lebt man viel in der Vergangenheit. Ich kann mich glücklich schätzen, ich habe schöne Erinnerungen.«
Nach dem, was Huggins gesagt hatte, und ihrem Aussehen nach hatte er sie anfänglich für die typische Klatschbase gehalten, eine ältliche Frau, die hinter Spitzenvorhängen alles, was draußen vor sich geht, genau beobachtet. Jetzt erkannte er, daß sie eine Frau war, die sich tapfer mit der Einsamkeit des Alters abgefunden hatte und deren Interesse an ihren Mitmenschen nicht schäbige Schnüffelei war, sondern die warmherzige Neugier einer Frau, die den Menschen noch immer zugetan ist, auch wenn diese keine Zuneigung mehr für sie zeigen.
Sie saß in einem großen Ohrensessel, die mageren, wie mit Pergament überzogenen Hände ordentlich auf dem Schoß gefaltet. »Ich wachte heute zeitig auf, und weil ich durstig war, beschloß ich, mir eine Tasse Tee zu machen; ich habe einen kleinen Kocher im Gästeschlafzimmer stehen, dadurch erspare ich mir das Runtergehen. Während ich darauf wartete, daß das Wasser im Kessel zu kochen anfing, schaute ich hinaus auf die Straße, weil das immer so interessant ist, auch wenn sie leer ist – mein Mann pflegte zu sagen, daß ihm der Anblick eines Schiffes genüge, um sich vorstellen zu können, wie er auf ihm davonsegelt. Und wenn ich auf die Straße blicke dann stelle ich mir immer vor, wie ich einen Ausflug mit dem Auto mache.« Traurigkeit überflog ihr Gesicht: Offensichtlich war es lange her, seit jemand sie zu einer Autofahrt eingeladen hatte. »Nun, ich sah also einen Wagen herankommen und bis vor die Garagen fahren. Zwei Männer stiegen aus und öffneten die mittlere Tür auf der linken Seite. Und dann ging einer von ihnen hinein.«
»Wissen Sie zufällig, wieviel Uhr es war?«
»Es muß nach zwei gewesen sein, weil es kurz vor zwei war, als ich beschloß, mir Tee zu kochen.«
»Konnten Sie erkennen, was für ein Auto es war?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kenne mich mit den heutigen Autos überhaupt nicht aus.«
»Haben Sie sich das Nummernschild gemerkt?«
»Ich kam nicht auf den Gedanken, daß es einen Grund geben könnte, darauf zu achten. Ich dachte mir ganz einfach, die beiden seien Freunde von Mr. Huggins, die ihm etwas in seine Garage stellen.«
»Und welche Farbe hatte das Auto?«
»Ich glaube … Ich glaube, es war dunkelblau, aber ich möchte nicht, daß Sie jetzt denken, ich könnte das mit Sicherheit behaupten.«
»Können Sie die beiden Männer beschreiben?«
»Sie waren zu weit weg. Und als das Wasser kochte, machte ich mir meinen Tee und kümmerte mich nicht weiter um die beiden. Es tut mir ja so leid.«
»Aber ich bitte Sie – Sie haben uns sehr geholfen.«
»Wirklich? Das freut mich.«
»Sagen Sie – wissen Sie, wann das Feuer ausbrach?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich ging zurück in mein Schlafzimmer, das nach hinten raus liegt; ich bin zwar nochmal aufgewacht, wollte mir aber nicht die Mühe machen, frischen Tee zu kochen, und bin daher nicht mehr im Gästezimmer gewesen. Erst als es hell wurde, stand ich auf und ging nach unten und sah all die Leute auf der Straße. Dann ging ich nach draußen und fragte, was denn passiert sei, und versuchte, Mr. Huggins das von seiner Garage und den Männern zu erzählen, aber der war sehr aufgeregt und nannte mich eine … Nun, es war kein sehr hübscher Name!«
»Ich nehme an, Mrs. Nesbitt, daß ihn die Sache mit seinem Auto ziemlich aus der Fassung gebracht hat.«
»Das glaube ich auch. Der Ärmste!« Doch dann fuhr sie ziemlich kühl fort: »Als ich jung war, hätte ein Gentleman niemals so zu einer Dame gesprochen!«
Sie fing an, ihm von früher und von dem Leben, das sie geführt hatte, zu erzählen. Erst das Klingeln an der Haustür unterbrach sie. Kerr öffnete, und auf Crofts ungeduldige Frage, ob er denn den Rest des Tages hier zu verbringen gedenke, verabschiedete er sich von Mrs. Nesbitt, jedoch nicht, ohne ihr versprochen zu haben, sich mal wieder bei ihr sehen zu lassen.
»Dunton hier, Gerichtslabor. Zu Albert Mickey: Die Blutprobe bei dem Verstorbenen ergab knapp vier Promille, allgemeinverständlich ausgedrückt: Der Mann war sturzbesoffen, mit Sicherheit zu keiner vernunftgemäßen Handlung fähig.
Den Strick haben wir untersucht, und eigentlich ist nichts Neues dazu zu sagen. Verdammt guter Manila-Hanf – kriegt man heutzutage nicht mehr allzu häufig zu Gesicht – aber nichts Außergewöhnliches dran; falls Sie uns die Rolle bringen können, von der das Stück abgeschnitten wurde, ließe sich möglicherweise die Herkunft feststellen. Die Schlinge war zu einem laufenden Palstek geknüpft, was einen an Seeleute denken läßt, nur ist das natürlich durch nichts bewiesen und will außerdem in einer Hafenstadt nicht viel heißen. Die Fasern waren bei einem kurzen Stück nach oben aufgerichtet, und aufgrund des Zusammenhangs zwischen dieser Tatsache und der Art und Weise, wie der Strick am Bett befestigt war, können wir mit Sicherheit behaupten, daß mit dem Strick ein schweres Gewicht über eine harte Oberfläche gezogen wurde.
Unter seinen Fingernägeln fanden sich außer Schmutz keine Spuren menschlicher Gewebe- oder Zellteile. Es läßt sich also mit Bestimmtheit sagen, daß er niemanden gekratzt hatte … Und das wär’s schon in dieser Sache.
Nun zu den beiden Briefen aus Ihrem Brand- bzw. Lösegeldfall. Für beide wurde dieselbe Schreibmaschine benutzt, eine Olympia. Wir könnten sie genau charakterisieren, wenn Sie uns eine zu Vergleichszwecken zur Verfügung stellen. Das Papier wird bei einer der größten Firmen hergestellt und im ganzen Land vertrieben. Keine besonderen Merkmale auf einem der beiden Blätter. Die Herkunft der Umschläge konnte bis jetzt noch nicht geklärt werden, ihre Qualität ist minderwertig. Zu den Briefmarken ist nichts zu sagen, außer daß sie nicht gefälscht sind.«
Polizisten und Kriminalbeamte in Fortrow und Newcastle befragten weiterhin Apotheker und Drogisten, den Großhandel und sämtliche Firmen, die mit Chemikalien handelten, um möglicherweise etwas über einen auffälligen Kauf von Schwefelsäure oder Kaliumchlorat zu erfahren: Eine höchst undankbare Aufgabe.