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Fusil betrachtete eingehend den Umschlag und den Brief, an den eine Notiz geheftet war: Auf Spuren untersucht. Bestimmt hatte man Fingerabdrücke gefunden und mußte sie jetzt mit denjenigen all der Leute, die das Blatt möglicherweise angefaßt hatten, vergleichen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Abdruck zu finden, der von einem Unbekannten stammte und der zu etwas führen würde, war so gering, daß Fusil sie zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht in Betracht zog.

Abgestempelt war der Brief am Vortag in Newcastle. Der Umschlag wies keinerlei Besonderheiten auf, so daß es Tausende von Möglichkeiten gab, wo er gekauft sein konnte. Der Maschinenanschlag war regelmäßig und das Schriftbild sauber.

Also ein Feuer, und danach eine Million Pfund – oder ein zweites, größeres Feuer, und dann ein Lösegeld von zwei Millionen. Das erinnerte ihn seltsamerweise an die Geschichte von dem »bescheidenen« Araber, der sich als Belohnung Weizen erbat, und zwar ein Korn auf dem ersten Feld eines Schachbretts, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten … Wie viele Billionen von Weizenkörnern hatte man für das letzte Feld gebraucht?

War in ihrem Fall ein Spinner am Werk? Erstaunlich viele kranke Menschen schrieben Briefe, mit denen sie drohten oder bettelten, bloßstellten oder prophezeiten. Solche Briefe waren jedoch gewöhnlich weitschweifig und selbstgefällig abgefaßt, während der hier sachlich und direkt war. Nein, entschied er, dieser Brief stammte höchstwahrscheinlich nicht von einem Verrückten. Er las ihn noch einmal ganz langsam durch, wobei er versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Vielleicht kam er von einer terroristischen Vereinigung, wie die Unterschrift vermuten ließ? Es sah ganz danach aus. Und trotzdem … Er konnte nur noch nicht in Worte fassen, woher seine Zweifel rührten.

Er wählte die Nummer der Fortrow Gazette und ließ sich mit dem Herausgeber verbinden. »Hier ist Bob. Vielen Dank, daß Sie sich wegen des Briefes mit mir in Verbindung gesetzt haben. Natürlich sind wir dabei, ihn gründlich zu überprüfen … Nein, wir sind noch zu keinem Schluß gekommen, doch will ich mal so weit gehen, zu behaupten, daß er meiner Meinung nach nicht von einem Verrückten stammt … Ja, ich setze mich noch mit der Abteilung für Terrorismusbekämpfung in Verbindung … Ja, diesen Punkt wollte ich mit Ihnen besprechen. Ich weiß, Sie brennen darauf, die Sache zu drucken, aber ich bitte Sie darum, sie noch zurückzuhalten, ja? Fred, sehen Sie es doch mal von dieser Seite aus: Sie veröffentlichen den Brief, und schon bekommt es ein Haufen Leute mit der Angst zu tun, wozu es auch allen Grund gäbe. Schließlich kann jemand, der ein Gebäude in Brand stecken will, unter -zigtausenden von Möglichkeiten wählen, während es für die Polizei nicht einen Funken Hoffnung gibt, ihn daran zu hindern. Sollte ich mich aber irren, und der Brief sich doch als das Werk eines Verrückten herausstellen, dann haben sich all diese Menschen völlig umsonst geängstigt. Auf der anderen Seite müssen wir, wenn der Brief ernstgemeint ist, noch eine Vielzahl von Dingen klären, bevor wir uns der Öffentlichkeit stellen können … Aber sicher, ich weiß, daß ich Sie gewissermaßen bitte, sich selbst die Schlinge um den Hals zu legen oder die Luft anzuhalten oder was auch immer. Aber spielen Sie diesmal mit, und ich gebe Ihnen als erstem die Story, wenn das nächstemal ein Stadtrat mit einem vierzehnjährigen Schulmädchen im Bett gefunden wird … Vielen Dank!«

Er legte auf. Dann rief er das Grafschaftspräsidium an, um mit Menton, Chiefsuperintendent und Leiter des C.I.D., zu sprechen.

»Nein, Sir, ich hielt es für angebracht, erst einmal Ihnen Bericht zu erstatten, bevor ich mich an London wende und um Auskunft bitte, ob sie diese O.F.S.D. kennen. Ich habe noch nie von dieser Organisation gehört … Ja, ich melde mich umgehend wieder bei Ihnen … Den Brief haben die von der Spurensicherung gerade in Arbeit.«

Menton mit seiner Veranlagung zur Pedanterie stellte noch mehrere Fragen, die Fusil völlig überflüssig fand. Dann legte er auf, und Fusil rief Scotland Yard an und bat, mit der Abteilung für Terrorismusbekämpfung verbunden zu werden. Dem betreffenden Inspektor schilderte er kurz die Ereignisse.

»Ist Ihnen die Organisation für soziale Gerechtigkeit schon einmal untergekommen?« fragte er schließlich.

»Auf Anhieb fällt mir dazu nichts ein, aber ich will mich mal erkundigen. Bleiben Sie bitte am Apparat.«

Fusil, ungeduldig wie immer, trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.

»Hallo? … Nein, bisher sind wir noch nicht auf diese Organisation gestoßen. Aber das will heutzutage nicht allzuviel heißen. Manchmal kommt es uns vor, als ob sie nur so aus dem Boden schießen, diese neuen Gruppierungen, die mitzumischen versuchen und Forderungen nach diesem oder jenem oder ganz was anderem stellen … Haben Sie denn keine sonstigen Anhaltspunkte, von denen wir ausgehen könnten – Herkunft, Zielsetzung oder mögliche Kontakte zu anderen Gruppen?«

»Nein.«

»Na schön, ich werde mich umhören. Ich nehme doch an, daß Sie uns hinzuziehen werden?«

»Soviel ich weiß, ja.«

»Dann schicken wir auch jemanden zu Ihnen runter; nur mag der Himmel wissen, wen – wir sind derart unterbesetzt, daß wir ganz vergessen haben, was dienstfrei heißt!«

»Das gibt’s doch gar nicht!«

Der Inspektor lachte. »Nun ja, ich tröste mich immer damit, daß wir zwar möglicherweise mal an Magengeschwüren, aber wohl kaum vor Langeweile sterben werden.«

 

Constable Kerr stand vor dem großen Schreibtisch mit der Lederplatte und fuhr sich mit den Fingern durch die braunen Locken, als wolle er eine ordentliche Frisur daraus machen. »Ich kann es Ihnen nachfühlen, Sir«, sagte er.

»Das bezweifle ich.« Der Bankdirektor, ein dünner, verschnupfter Mann, schniefte. »Ist Ihnen eigentlich klar, daß mich die Polizei nun schon zum vierten oder fünften Mal mit ihrem Besuch belästigt?«

»Ich fürchte, Angelegenheiten wie diese ziehen sich meistens ziemlich in die Länge.«

»Aber doch wohl kaum über Monate hinaus?« Diese Constables von der Kripo werden aber auch immer jünger und unverschämter, dachte er säuerlich.

Er hatte ihn nicht gebeten, Platz zu nehmen, doch Kerr setzte sich und sagte: »Es geht um folgendes: Wir nehmen an, daß die Einbrecher interne Informationen gehabt haben müssen. Das heißt, daß einer Ihrer Angestellten entweder bestochen oder erpreßt worden ist, gewisse Fakten zu verraten. War es Erpressung, dann taucht auf dem Konto der entsprechenden Person nichts Ungewöhnliches auf; war es aber Bestechung, dann liegt der Fall wahrscheinlich anders. Falls jemand zum Beispiel mehrere Wochen lang kein Geld abgehoben hat, was man schließlich für die täglichen Einkäufe braucht, oder falls ein größerer Scheck eingereicht wurde …«

»Hören Sie, Constable, wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir gewisse Kenntnisse über die finanziellen Dinge des Alltagslebens zuzugestehen?«

Kerr grinste, was ihn noch jünger als vierundzwanzig aussehen und erkennen ließ, daß es für ihn nicht allzuvieles im Leben gab, was er übertrieben ernst genommen hätte. »Das erspart mir die Mühe, es Ihnen erklären zu müssen … Findet sich also irgend etwas von Interesse auf einem der Konten Ihrer Mitarbeiter?«

»Interessant ist wohl kaum das Wort, das ich verwenden würde.« Der Direktor stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und preßte Daumen und Fingerspitzen gegeneinander. Über das so entstandene Dreieck hinweg starrte er Kerr an. »Wie Sie vielleicht wissen …« Er schniefte. »Jeder Bankangestellte ist aufgrund seines Arbeitsvertrages verpflichtet, seine Konten nur bei der eigenen Bank zu unterhalten. Ich bin also mit sämtlichen Personalkonten vertraut und kann mit Entschiedenheit behaupten, daß sich nicht ein einziges, was Gutschriften oder Abhebungen betrifft, in auffälliger Weise geändert hätte.«

»Auch nicht das von Brian Morgan?«

»Ich sagte Ihnen doch, kein einziges Konto.«

»Schade. Dann verläuft also auch diese Spur im Sande.«

»Es hört sich merkwürdig an, Constable, wenn bedauert wird, daß jeder ehrlich ist.«

Wieder grinste Kerr. »In unserem Beruf ist es nun mal so, daß uns offensichtliche Unehrlichkeit das Leben erleichtert.«

»Nicht ein einziges Mitglied meines Personals ist unredlich. Niemand hätte jemals irgendeine Information über unser Alarmsystem weitergegeben.«

»Nun, Sie haben sicher recht, und wir müssen uns weiterquälen. Was ist dieser Morgan eigentlich für ein Mensch?«

»Warum kommen Sie immer so hartnäckig auf ihn zurück?«

»Weil er der einzige ist, dessen Lebensstil nach dem Überfall aufwendiger geworden ist: Farbfernseher, ein neues Auto, Urlaub mit seiner Frau in Griechenland …«

»Das läßt sich ganz einfach erklären, und ich hätte gedacht, Sie wüßten es bereits: Morgans Schwiegervater schenkte ihm dreitausend Pfund. Derselbe Fragenkomplex wurde mir schon zu Beginn dieser äußerst langwierigen Untersuchung vorgelegt, und ich konnte bestätigen, daß seinem Konto zu Lasten des Stiefvaters seiner Frau ein Scheck über die erwähnte Summe gutgeschrieben wurde.«

»Ich wünschte, mein Schwiegervater könnte es sich ebenfalls leisten, mir mal einfach drei Riesen zuzustecken … Sie können mir also auch bei den Finanzen von jemand anderem nicht weiterhelfen?«

»Nein.«

»Dann vielen Dank. Wenn wir Glück haben, brauche ich Sie nicht noch einmal zu belästigen.«

Auf seinem Weg über die High Street blieb Kerr vor dem Schaufenster eines großen Einrichtungshauses stehen, in dem ein kleines zweisitziges Sofa in hellem Grün ausgestellt war. Vor zwei Tagen waren er und Helen nach einem Kinobesuch an diesem Geschäft vorbeigekommen, und sie war plötzlich stehengeblieben, hatte auf das Sofa gestarrt und nach einer ganzen Weile mit sehnsüchtiger Stimme gesagt: »Wenn wir uns doch bloß so ein Sofa leisten könnten – genau so eins habe ich mir, seit wir verheiratet sind, immer gewünscht.« Er hätte alles darum gegeben, einfach hineinzugehen und es ihr kaufen zu können, doch allein die Anzahlung bei einem Ratenkauf hätte ihren Haushaltsplan auf Monate hinaus durcheinandergebracht. Vielleicht sollte er sich doch besser einen Job in einer der Autofabriken in den Midlands suchen: Keine Disziplinarvorschriften mehr, keine Angst mehr davor, sich plötzlich einem bewaffneten, unberechenbaren Verbrecher gegenüber zu sehen und – wenn überhaupt – dem Bett im Krankenhaus oder dem Grab nur um Haaresbreite zu entkommen. Statt dessen genug Lohn, um seiner Frau jedes gewünschte Sofa zu kaufen … Kerr lebte stark gegenwartsbezogen, und tiefsinnige Gedanken waren ihm eher fremd, aber manchmal wunderte er sich doch über die paradoxe Einstellung der modernen Gesellschaft, die gerade der Arbeit derjenigen den geringsten Wert beimaß, die am meisten dazu beitrugen, daß deren Regeln und Normen eingehalten wurden. Als er dem Schaufenster den Rücken kehrte, hielt vor ihm auf der Straße ein roter Ferrari mit satt röhrendem Auspuff; der Fahrer war ungefähr in seinem Alter. Als sich die Verkehrsschlange wieder in Bewegung setzte, verschwand der Wagen im goldfarbenen Licht des späten Nachmittags, der allmählich in Dämmerung überging. Manche Leute lebten doch in einer völlig anderen Welt. War der Fahrer wohl auf dem Weg zu einer rasanten Blondine, die ihm Versprechen und Erfüllung gab? Würden sie vielleicht in einem Restaurant speisen, wo die Preise einen Normalverbraucher beim bloßen Gedanken an seine Brieftasche erblassen lassen würden? Er lachte plötzlich laut heraus. Zum Teufel damit! Das Leben spielt so manchen Streich, und vielleicht lag dieser Ferrarifahrer schon in einer halben Stunde hinter einer Kurve, die er statt mit dreißig mit hundert durchfahren hatte, blutüberströmt auf der Straße.

Kerr ging weiter, an mehreren teuren Geschäften vorbei, und wandte sich an der nächsten Ampel nach rechts. Jetzt kam er in eine Gegend, wo im letzten Krieg nicht allzuviel durch Bomben zerstört worden war und es daher noch altmodische, kleine Läden gab, von denen einige offensichtlich hart gegen die Übermacht der Supermärkte und Ladenketten zu kämpfen hatten.

Auf dem Revier angekommen, ging er zum leitenden Sergeant hinauf, dessen Büro zwischen dem des Inspektors und dem Dienstzimmer lag.

»Sergeant, ich bin gerade in der Bank gewesen: Die haben nichts Neues anzubieten. Der Direktor schwört, daß niemand von seinen Angestellten eine Information weitergegeben hat, und die Konten seien alle in Ordnung.«

Campson sprach mit gelangweilter Überlegenheit: »Das hätte ich Ihnen gleich sagen können.«

»Und warum haben Sie’s dann nicht getan und mir den Weg erspart?«

»Weil’s der Alte so wollte.«

Ausnahmsweise hielt Kerr taktvoll den Mund. Es bedurfte keines allzu großen Scharfsinns, um zu begreifen, daß der Sergeant und der Inspektor wohl nie einer Meinung sein würden, wie ihre C.I.D.-Abteilung zu leiten sei. »Brauchen Sie einen Bericht über die Befragung?«

»Stellen Sie nicht so saudumme Fragen! In dreifacher Ausfertigung, alles Wichtige rot unterstrichen.«

»Na, dann werde ich mal gleich an die Arbeit gehen.« Kerr sah auf die Wanduhr: Noch eine Dreiviertelstunde, bis er mit Anstand Feierabend machen konnte.

»Statten Sie diesem Morgan einen Besuch ab, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt«, sagte Campson. »Stellen Sie ihm Fragen über sein Leben – zum Beispiel, wieso er auf Kreta Urlaub machen kann, während unsereins mit einer Bruchbude auf Mallorca vorlieb nehmen muß.«

»Aber Sergeant – das hat man doch alles längst herausgefunden! Der Stiefvater seiner Frau, Mr. Coutts, hat den beiden dreitausend Pfund geschenkt. Die Bankauszüge wurden überprüft: Der Scheck über die drei Riesen ging zu Lasten von Coutts’ Konto …«

»Mr. Fusil möchte, daß alles noch einmal überprüft wird.«

»Aber wozu? Was kann ich denn überhaupt noch Neues fragen?«

»Ihnen wird schon was einfallen – Sie sind doch sonst nicht auf den Mund gefallen.«

»Selig sind, die ohne nachzudenken … Okay, ich werde ihn also morgen früh aufsuchen und …«

Campson schnitt ihm das Wort ab: »Sie werden ihn heute abend aufsuchen«, sagte er freundlich, aber bestimmt.

 

Der nur gegen die Wetterseite durch eine Wand geschützte Heuschober stand rechterhand nahe der alten Hofgebäude, dort, wo man von dem unkultivierten Waldland, das sich nördlich der Straße nach Heathcote erstreckte, ein Stück gerodet hatte. Wenn er voll war, lagerten dort dreitausend Ballen Heu.

Der Wind kam aus südwestlicher Richtung und zerrte an den wenigen Blättern, die sich noch hartnäckig an den Zweigen der Laubbäume festhielten. Ein paar Eiben wuchsen in der Nähe des Schober, und ihre dicht mit Nadeln bewehrten Zweige schlugen gegeneinander und rauschten wie eine weit entfernte Brandung. An der Südseite des Heuschobers züngelte plötzlich ein Flämmchen auf. Ein Windstoß fuhr hinein und drückte es nieder; es schien zu verlöschen, war aber schon nach wenigen Sekunden wieder da, zu erstaunlicher Größe gewachsen, und eine Viertelstunde später schlugen die Flammen bereits hoch über dem Firstbalken zusammen.