16
Kerr betrat die Bank und ging am Empfangstresen entlang bis zum Sektor »Auskünfte und Auslandsgeschäfte«. Er drückte auf einen Klingelknopf, woraufhin eine Frau mit strenger Miene ihre Schreibmaschine verließ und auf ihn zukam.
»Kriminalpolizei Fortrow. Ich möchte gern mit dem Direktor sprechen. Es ist äußerst dringend.«
Er brauchte nur kurz zu warten, dann wurde er in das Büro des Direktors geführt. Nach kurzer Begrüßung sagte er: »Ich habe hier zwei Bündel Banknoten, von denen wir gern gewußt hätten, ob Sie uns etwas dazu sagen können.« Er legte die beiden Umschläge auf den Tisch.
»Ich nehme an, Sie wissen, daß wir heutzutage nur noch von Zwanzigern eine Liste führen, ganz einfach, weil mehr nicht möglich ist. Sollte es sich also um Zwanziger handeln …?«
»Leider nicht, es sind Zehner.«
»Dann werde ich Ihnen nicht weiterhelfen können, fürchte ich.« Er leerte den ersten Umschlag und breitete die zweiundfünfzig Pfund aus, die darin waren, wobei er die Zehnpfundnoten von Einpfundnoten trennte. Sorgfältig studierte er jeden einzelnen Schein. »Nein. Nichts zu finden. Wir hätten nicht einmal dann eine Nummernliste, wenn diese Scheine in unserer Filiale ausgegeben worden wären. Ich sehe auch auf keinem irgendeine besondere Kennzeichnung.« Mit geübten Bewegungen sammelte er die Scheine ein und steckte sie in den Umschlag zurück. Dann leerte er den zweiten Umschlag. Er blätterte die Zehnpfundnoten durch. »Alle ziemlich abgegriffen und schmutzig; die warten sozusagen nur darauf, verschnürt und zum Einstampfen geschickt zu werden. Fortlaufende Nummern kann ich nicht entdecken.« Er legte den Stapel auf den Tisch und begann, jeden Schein einzeln hochzunehmen. Als er etwa den halben Stoß durchgegangen war, prüfte er einen Schein wesentlich gründlicher und tat ihn schließlich zur Seite. Als er ans Ende kam, hatte er noch zwei weitere Scheine auf den ersten gelegt. Dann untersuchte er diese noch einmal. »Auf jeden dieser Scheine hatte jemand Zahlen geschrieben – Kassierer machen sich häufig einen Vermerk, wie viele Scheine noch in dem Stoß sind, der offen in ihrer Kasse liegt. Es besteht also eine geringe Möglichkeit, daß jemand hier bei uns seine Handschrift wiedererkennt. Ich werde es gleich herausfinden.«
Nach zehn Minuten kam er zurück. »Sieht aus, als hätten Sie endlich Glück. Diese Zehnpfundnote …«, er legte sie an den Rand des Schreibtisches, »da stehen drei Zahlengruppen drauf, in Bleistift geschrieben, und eine Sieben hat einen waagerechten Strich, so wie man sie auf dem Kontinent zu schreiben pflegt. Nun, eine unserer Kassiererinnen ist in Frankreich geboren und hat eine ganze Reihe von Jahren dort gelebt. Sie ist sich ziemlich sicher, diese Zahlen geschrieben zu haben, weil außerdem hinter jeder Zahl noch ein Punkt steht. Das ist eine weitere Angewohnheit von ihr, die sie nicht ablegen kann. Sehen Sie selbst, dann wissen Sie, was ich meine.«
Kerr nahm den Schein in die Hand. Der waagerechte Strich war eindeutig zu erkennen, der Punkt hinter den Zahlen nicht so sehr. »Wie sicher ist sie sich ihrer Aussage?«
»Ich sagte ihr schon, sie müsse sich darauf gefaßt machen, mit Ihnen zu sprechen.« Er bat sie über den Hausapparat in sein Büro.
Sie war eine attraktive Frau, wie Kerr sofort feststellte – attraktiv im Sinne von damenhaft und gepflegt; bestimmt brauchte sie sich auch nicht zu genieren, wenn sie einen Bikini trug.
»Miss Weaver, das ist Kriminalconstable Kerr. Er möchte Ihnen ein paar Fragen zu den Geldscheinen stellen, die ich Ihnen eben gezeigt habe.«
Sie drehte sich um und sah Kerr an.
Er schenkte ihr sein wärmstes Lächeln. »Was Sie Ihrem Direktor gesagt haben, hilft uns ein Riesenstück weiter; nur eines muß ich ganz genau wissen: Wie sicher sind Sie, daß Sie diese Zahlen wirklich geschrieben haben? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Miss Weaver – ich zweifle nicht im geringsten an Ihren Worten. Aber wenn Sie vor Gericht aussagen müßten, daß diese Zahlen von Ihnen geschrieben wurden – könnten Sie das dann beschwören, oder müßten Sie zugeben, daß es sich doch nicht mit Bestimmtheit sagen ließe?«
Sie überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. »Kann ich den Schein nochmal sehen?«
Der Direktor gab ihn ihr.
Sie studierte die Zahlen. »Ich bin ganz sicher, daß ich diese Zahlen geschrieben habe.«
»Großartig. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Als sie den Raum verlassen hatte, nahm der Direktor den Schein und starrte darauf. »Miss Weaver hat diese Note in der Hand gehabt, also ist sie wahrscheinlich in unserer Stadt in Umlauf gewesen. Das heißt allem Anschein nach, daß sie hier in unserer Filiale einging, und das wiederum bedeutet, daß sie – so wie sie aussieht – zum Einstampfen bestimmt war.« Er sah hoch. »Der Geldsack, der bei dem Überfall auf unsere Bank erbeutet wurde, enthielt Geld, das eingestampft werden sollte. Heißt das also, daß Sie herausgefunden haben, wer den Überfall ausgeführt hat?«
»Diese Geldscheine sind im Zusammenhang mit einem Fall aufgetaucht, der auf den ersten Blick überhaupt nichts mit dem Bankraub zu tun hat. Aber jetzt sieht es so aus, als ob es da einen Zusammenhang gäbe.«
»Wird es Ihnen möglich sein, mit Sicherheit anzugeben, ob unter meinen Angestellten ein Verräter ist, und wenn ja, seinen Namen zu nennen, oder aber ein für alle Mal diesen Verdacht auszuräumen?«
»Das sollte uns jetzt eigentlich möglich sein.«
Der Direktor nickte. »Gut. Ich bin fest davon überzeugt, daß sich alles aufklären wird.«
Kerr bat um einen Umschlag und steckte den Geldschein hinein. Dann schrieb er Datum, Ort und Miss Weavers Namen darauf und setzte zu guter Letzt seine Unterschrift darunter.
Es war spät am Abend, und der heftige Wind aus Nordosten hatte Sturmstärke erreicht; die Regengüsse wurden immer anhaltender. Freiwillig ging bei diesem Wetter kaum jemand hinaus, und selbst Straßendiebe, Stadtstreicher und die kleinen Glücksspieler ließen sich nicht auf der Straße sehen.
Fusil zündete sich eine Zigarette an, die er aus Campsons Päckchen genommen hatte, weil ihm der Pfeifentabak ausgegangen war. Er war entsetzlich müde, seine Augenlider kamen ihm vor, als hingen bleierne Gewichte daran. Doch er gönnte sich auch nicht die kleinste Pause – er gehörte zu denen, die immer bis zum völligen Zusammenbruch arbeiten.
Menton kam herein. Er sah krank aus: Müdigkeit, die die Sinne benebelt, hatte ihm schon immer böse zugesetzt. »Ich habe gerade mit dem Chiefconstable gesprochen.« Er setzte sich schwer auf die Schreibtischkante. »Er hat mit dem Bürgermeister telefoniert und mit dem hiesigen Parlamentsabgeordneten und mit dem Büro des Innenministers und wahrscheinlich auch mit dem Weihnachtsmann … Die Lage wird kritisch.«
»Um das herauszufinden, hätte er die nicht alle anzurufen brauchen.«
»Der Druck, das Lösegeld zu zahlen, nimmt ständig zu. Wenn wir unser Scheitern zugeben, werden wir zahlen müssen, um dieser Erpressung ein Ende zu bereiten – und dann beginnt das Gerangel, wer die Rechnung zu begleichen hat.«
»Noch sind wir nicht gescheitert.«
»Genau genommen sind wir das erst in der Sekunde, bevor das große Feuer ausbricht. Nur daß es dann zu spät ist, es zuzugeben.«
»Jetzt haben wir doch wenigstens eine Spur, der wir nachgehen können.«
»Eine überaus schwache Spur.«
»Deutlich genug.«
Menton starrte Fusil verständnislos an. War das dickköpfiger Stolz, daß der sich weigerte, den Tatsachen ins Auge zu sehen, oder ein eiserner Charakter, der ihn weitermachen ließ? Wie stark mußte der Glaube eines Mannes an sich selbst sein, um nicht in Panik zu geraten bei dem Gedanken, daß sein Vorgehen möglicherweise das Schicksal von Hunderten besiegelte? »Haben Sie schon im Labor nachgehört?«
»Ja. Die haben mich fast in der Luft zerrissen. Sobald irgendwelche Ergebnisse vorlägen, würde man mich informieren; bis dahin solle ich sie gefälligst in Ruhe arbeiten lassen.«
Menton glitt vom Schreibtisch, ging mit hängenden Schultern ans Fenster und starrte hinaus in Nacht und Nässe. Fusil drückte die halbgerauchte Zigarette aus.
Das Klingeln des Telefons riß Fusil, der in seinem Sessel eingenickt war, aus dem Schlaf. Er richtete sich auf und versuchte, während er den Hörer aufnahm, seinen schlafbenebelten Kopf klar zu bekommen.
»Hallo? Gerichtslabor hier. Wir haben sämtliche Analysen mit dem Pulver angestellt – eine Sauarbeit, weil nur so wenig davon da war. Puderzucker und Kaliumchlorat.«
Fusil dankte dem Mann, der seiner Stimme nach zu urteilen genauso müde war wie er selber, und legte auf. Er nahm seine Pfeife und öffnete den abgegriffenen Tabakbeutel, bevor ihm wieder einfiel, daß er keinen Tabak mehr hatte. Er sog an der leeren Pfeife. Mickey hatte also einen oder auch mehrere der Bankräuber erkannt und, dumm wie er war, geglaubt, mit einem Schlag aus seinem Niveau ausbrechen und sich in Erpressung versuchen zu können. Der von ihm Erpreßte hatte gezahlt, um sich Mickeys Schweigen so lange zu sichern, bis er seine Ermordung arrangiert hatte. Die Geldscheine hatte jemand angefaßt, der mit der Mischung in Berührung gekommen war, die höchstwahrscheinlich bei den Bränden verwendet wurde. Die Bankräuber zu identifizieren hieße demnach, mit ziemlicher Sicherheit zu wissen, wer hinter der Erpresserbande steckte … Der Verräter in der Bank würde aller Wahrscheinlichkeit nach wenigstens einen der Bankräuber kennen.
Sie hatten nie ausreichend Zeit gehabt, um sich voll auf den Bankraub zu konzentrieren. Doch nach allem, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatten, schien eines sonnenklar: Wenn es einen Verräter gab – und Fusil zweifelte nicht daran –, dann hieß er Morgan oder Hanner. Beide waren verhört worden, beide hatten Alibis.
Da gab es doch so einen alten Spruch bei der Polizei, zutreffender als die meisten anderen: Hast du Zweifel, halte dich an das Offensichtliche. Morgan behauptet also, das Geld sei ihm von Mr. Coutts, dem Stiefvater seiner Frau, geschenkt worden. Der hat das bestätigt, und Bankauszüge bewiesen, daß er Morgan einen Scheck über dreitausend Pfund gegeben hatte. Nur … Schlagartig erkannte Fusil, was er übersehen hatte – etwas, das ganz offensichtlich war oder doch zumindest gewesen wäre, wenn er dem Fall nur mehr Zeit hätte widmen können.
Vor Aufregung überstürzten sich seine Gedanken.
Er sprang auf. Er mußte Coutts vernehmen, brauchte dazu aber noch einen weiteren Beamten als Begleitung. Eigentlich war Campson dieser Beamte, aber der würde selbst in solch einem Ernstfall wie diesem immer noch mit der Dienstvorschrift unter dem Arm herumlaufen. Wenn es aber derart hart auf hart zuging, war kein Raum mehr für Vorschriften, wenigstens dann nicht, wenn die erzielten Ergebnisse mehr zählten als die Art und Weise, mit der sie erzielt worden waren. Er brauchte jemanden, der ihm ähnlich war und bereit, im Notfall die Dienstvorschrift auch mal außer acht zu lassen. Er rief im Wachraum an. Kerr trat ein. Aus seinem Gesicht sprach die Anspannung, seine Augen waren gerötet, seine Wangen stoppelig.
»Setzen Sie sich«, sagte Fusil aufgeräumt. »Ich hatte gerade das Labor an der Strippe. Der Puder im Umschlag war tatsächlich Zucker und Kaliumchlorat.«
Kerr stieß einen kurzen Pfiff aus. »Somit hätten wir also die Verbindung zwischen Brandstiftern und den Bankräubern.«
»Meiner Meinung nach sind es ein und dieselben. Wir wissen ja, daß die Bankgeschichte nicht hingehauen hat, und die Räuber nur mit einem Bruchteil dessen, was sie sich erhofft hatten, davongekommen sind – also haben sie sich diese Lösegeldsache ausgedacht.« Fusils lange Finger begannen, auf den Schreibtisch zu trommeln. »Wir haben also die Spur, hinter der wir so verzweifelt her waren.«
Kerrs Stimme klang ganz aufgeregt. »Erkenne den Verräter in der Bank und bringe ihn dazu, den Namen des Mannes zu verraten, dem er die Informationen verkauft hat … Aber unsere Ermittlungen gingen doch in diese Richtung, nur führten sie zu nichts.«
»Wer von den beiden Verdächtigen ist mit größerer Wahrscheinlichkeit der Täter?«
»Morgan, ganz ohne Frage.«
»Woher kamen die dreitausend Pfund?«
»Vom Stiefvater seiner Frau, Coutts; dem sind wir doch nachgegangen.«
»Bis ans Ende?«
»Ich verstehe nicht, Sir?«
»Haben Sie jemals nachgeforscht, woher Coutts die dreitausend hatte?«
Kerr schüttelte langsam den Kopf.
Fusil stand auf. »Wir brauchen die Antwort, und zwar verdammt schnell. Das bedeutet, Druck auszuüben. Ich brauche jemanden als Verstärkung, aber da wir dem Mann wahrscheinlich ziemlich hart zusetzen müssen, möchte ich den, der mitkommt, darum bitten und es nicht befehlen.«
Der Inspektor war also bereit, dachte Kerr, notfalls ein Geständnis zu erzwingen, ungeachtet der möglichen Folgen. Da Fusil stets dazu neigte, seine Arbeit als Kreuzzug gegen das Böse zu sehen, bedeutete ihm seine Karriere jetzt, wo das Leben unschuldiger Menschen auf dem Spiel stand, nur wenig.
»Sir, ich würde gerne mitgehen«, sagte Kerr, im vollen Bewußtsein der Konsequenzen, die seine Entscheidung haben konnte.